Oben scheint das Licht - Wolfgang Klietz - E-Book

Oben scheint das Licht E-Book

Wolfgang Klietz

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Beschreibung

"Warum ängstigen mich die Bombenangriffe, die nicht ich, sondern meine Eltern erlebt haben? Warum bin ich sicher, dass der Lastwagen gleich in die Fußgänger rasen wird? Wieso arbeite ich als Journalist im Kosovo und an den Tatorten von Verbrechen? Zunehmend war ich mit irrealen Bildern und Ängsten bis zur Panik konfrontiert. Hinzu kamen Albträume." So schildert der Autor die Symptome seiner Posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS. Erst nach Jahren der Suche fand er Hilfe. Dieses Buch beschreibt seinen Beinahe-Tod unter Wasser und sein Leben mit PTBS, die transgenerationale Weitergabe von Traumata und deren Überwindung. Die Traumatherapeutin des Autors veranschaulicht zudem die Methode der Narrativen Expositionstherapie (NET). Vom Kaufpreis dieses Buchs wird 1 Euro gespendet an vivo international e.V.

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Der Autor

Wolfgang Klietz wurde 1963 in Neumünster geboren und ist dort aufgewachsen. Seit 1989 arbeitet er als Redakteur beim »Hamburger Abendblatt«. Klietz hat Bücher und Aufsätze zur maritimen Geschichte der DDR geschrieben. Er ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und lebt in Hamburg.

 

 

 

 

 

Im Kaufpreis dieses Buchs ist eine Spende von 1 Euro an vivo international e. V. enthalten. Der Verein bietet traumatisierten Menschen weltweit psychologische Hilfe an. Weitere Infos unter www.vivo.org.

Wolfgang Klietz

Oben scheint das Licht

Ein Weg aus dem Trauma

Mit einem Vorwort von PD Dr. Maggie Schauer und einem Beitrag von Kathrin Walter

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Fotos 1–4, 6: Wolfgang Klietz; Foto 5: privat

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-042744-0

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-042745-7

epub:       ISBN 978-3-17-042746-4

»Die Angst vor dem Tod hält uns am Leben«

Dr. Leonard »Pille« McCoy in »Star Trek Beyond«, 2016

Inhalt

 

 

Vorwort

von Maggie Schauer

Einleitung

Krieg und Angst in den Genen

Ein kleiner Junge und der Tod

Die Sehnsucht nach der Gefahr

Knapp der Katastrophe entkommen

Der »Deckel« springt auf

In mir tobt der Krieg

Zum ersten Mal höre ich das Wort »transgenerational«

Eine Linie als Weg zur Heilung

Nachwort

Epilog

»Fass bloß nicht das Trauma an!«

von Kathrin Walter

Danksagung

Weiterführende Literatur und Internetlinks

Vorwort

von Maggie Schauer1

Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug.

Hilde Domin, »Nur eine Rose als Stütze«, 1959

Für Traumaüberlebende ist die Erinnerung an Ereignisse in der eigenen Lebensgeschichte undenkbar und unaussprechlich. Ein Abgrund der Angst, der sich vor dem eigenen Ich auftut.

»Trauma wirft unser Erinnerungsvermögen durcheinander und chiffriert es.«2 Fragmente drängen sich trotzdem und unvorhersehbar auf. Sie beeinflussen jeden Tag, jede Nacht, sind wirklicher als die Realität. Sie aktualisieren sich, beherrschen das Leben, zersetzen die Beziehungen, treiben die Unruhe, vor allem aber verhindern sie viele Lebensmöglichkeiten. Und dies ohne mit den Sinnen greifbar zu sein, ohne dass sie bis zum Bewusstsein vordringen, ohne dass der Mensch diese dunkle Macht in Worte fassen und verstehen könnte.

Das Nicht-darüber-sprechen, Nicht-daran-denken, Nicht-daran-erinnert-werden-wollen wird zum täglichen Spießrutenlauf. »Vermeidung«, ein Kernsymptom der Störung. Die Angst vor der Qual, die mit dem Wiedererleben einhergeht, ist immens. Sie ist es, die Traumasymptome ein Leben lang aufrechterhält.

Das emotionale Gedächtnis ist assoziativ organisiert. Jedes wahrgenommene, gefühlte, körperlich gespürte Erinnerungselement schlägt eine affektive Brücke und befeuert ein anderes. Ein »Furchtnetzwerk« ohne Struktur und Ordnung. Es gibt keinen Halt, die Angst ist allgegenwärtig. Wie also den Schritt ins scheinbare Nichts wagen?

»Man kann sich einem Trauma nur langsam nähern, mit Sorgfalt, mit Teilnahme, mit analytischer Empathie, wenn das Opfer beginnt, sich der Wurzel des Schmerzes zu nähern und sich an das erfahrene Leid erinnert.«3

Die Entstehung des Narrativs

Erster Schritt: Was ein Mensch erleben kann – der Beginn einer Einordnung des Geschehenen in Raum und Zeit4

Da viele Menschen körperliche oder sexuelle Gewalt erleben, Todesnähe, schwere Unfälle in Freizeit und Beruf, Naturkatastrophen, Verletzungen und Begegnungen mit Tod und Grauen, Schrecken, Übergriffe, Leid und Zurückweisung in den Gemeinschaften, Familien, in den sozialen Gruppen, aber auch während des Krieges, organisierter Gewalt, Vertreibung und Flucht, gibt es in der Psychologie Erfahrung mit potenziell traumatisierenden Lebensereignissen.

Im ersten Zugang bietet der Therapeut ein Gespräch darüber an, ob es jemals solche bekannten Ereignisse, die traumatisierend wirken können, im Leben der Person gab. Solche, die große Angst und starke Hilflosigkeit ausgelöst haben. Er hilft dem Patienten, seine Biografie anfangs zunächst von außen zu betrachten, nur die Fakten zu sammeln.

Und alles gründet auf den zwischenmenschlichen Erfahrungen in der Kindheit. Sie prägen den Boden aller Entwicklung. Wurde das Kind gesehen, beantwortet, bedingungslos geliebt? Oder wurde es misshandelt, vernachlässigt, missbraucht? »Sagten im Haushalt lebende Erwachsene verletzende Dinge zu Ihnen, die sie traurig machten, beschämten, demütigten? Mussten Sie zusehen, wie Ihre Mutter geschlagen, erniedrigt, geohrfeigt wurde?«

Der Traumaüberlebende kann diese Fragen jede einzeln zu sich nehmen und in Ruhe überlegen, ob er dies aus seinem Leben kennt, entweder selbst durchlebt hat oder bezeugen musste und wie alt er zu diesem Zeitpunkt war. Eine erste Verortung und Vergeschichtlichung geschieht!

Zweiter Schritt: Die Lifeline – das Leben im Überblick, als Gestalt

Die beiden Achsen »biographische Zeit« und »körperlich-emotionale Aufregung« spannen die Beschaffenheit unseres Lebensdramas auf. Denn was uns emotional und physiologisch bewegt hat, prägt und bewahrt die Erinnerung.

Auf der Lebenslinie wird entlang der Chronologie markiert, was der traumatisierten Person, wann, wieviel Herzklopfen bereitet hat. Die bedeutsamsten Momente, die sich ins »heiße Gedächtnis« eingebrannt haben, gute und schlechte. Von unserer Geburt bis zum heutigen Tage.

Symbole stellen den Lebensverlauf dar: Steine für Traumata und schwere Erlebnisse des Opfers, auch für Trauer, um Verluste und Gestorbene und auch selbst ausgeübte Gewalt. Und Blumen für positive Ereignisse, Erfolge, unvergessliche, wichtige Menschen, Geschenke des Lebens.

Dritter Schritt: Erzählung der gesamten Lebensgeschichte – Narrative Exposition

»Trauma wird sagbar, genau weil jemand das Geschehene in eine Geschichte einzuordnen weiß, und es so erzählbar macht. … Das ist nicht nur eine intellektuelle Herausforderung, sondern auch eine Form moralischer Interaktion mit dem Anderen – und eine hohe Kunstform…«5

Testimony. Wenn der Überlebende seine Geschichte in Form von zusammenhängenden, nacheinander sich ereignenden Erlebnissen erzählt, wird der Gegenüber Zeuge der in der Vergangenheit geschehenen Traumata. Durch geleitete Ex-Position die Situationen wiedererfahren und als Erzähler aus dem Damals heraustreten. Durch Verlangsamung und einfühlsames Verbalisieren das Geschehen nach und nach auffalten und in die Tiefe gehen, bis alles wahrgenommen, gedacht, gefühlt, in seiner Bedeutung verstanden und in Worte gefasst ist.

Wolfgang Klietz hat den Schritt getan, für sich, seine Familie und die vielen anderen Traumaüberlebenden. Er hat eine Therapeutin gefunden, die zuhören und die Narration begleiten konnte.

Sie mögen eine Fußspur hinterlassen – die trägt und Mut macht für andere.

Konstanz, im Mai 2022,PD Dr. Maggie Schauer

1     Die Psychotraumatologin PD Dr. Maggie Schauer ist Privatdozentin und habilitiertes Mitglied der Professor*innen der Universität Konstanz. Zusammen mit Prof. Thomas Elbert und Prof. Frank Neuner hat sie die Narrative Expositionstherapie NET entwickelt (www.net-institute.org). Schauer war jahrzehntelang die Leiterin des Kompetenzzentrums »Psychotraumatologie«. Sie engagiert sich in Kriegs- und Krisengebieten und forscht zu multipler und komplexer Traumatisierung sowie zu transgenerationalen Folgen von Gewalt und Vernachlässigung. Als Gründungsmitglied von vivo international, einer gemeinnützigen Organisation zur Bewältigung und Prävention der psychischen Folgen von traumatischem Stress (www.vivo.org), arbeitet Maggie Schauer mit an der weltweiten Vision zur Beendigung interpersoneller Gewalt.

2     Laudatio von Prof. Seyla Benhabib für Carolin Emcke, anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016.

3     Seyla Benhabib a. a. O.

4     Original: Schauer, M., Neuner, F., Elbert, T. (2005/2011, 2nd Edition) Narrative Exposure Therapy (NET). A Short-Term Treatment for Traumatic Stress Disorders. Cambridge/Göttingen: Hogrefe & Huber Publishers; Deutsches Manual: Neuner, F., Catani, C., Schauer, M. (2021) Narrative Expositionstherapie NET (Bd. 82, Fortschritte der Psychotherapie). Göttingen: Hogrefe.

5     Seyla Benhabib a. a. O.

Einleitung

Ich habe nie zu den Menschen gehört, die von einer »wunderbaren Kindheit« geschwärmt haben. In Talkshows kann man diese Formulierung und ähnliche immer wieder hören: »Wir waren in der Natur, wir waren so frei. Es war eine herrliche Zeit.« Dabei lachen schöne Menschen, die scheinbar Großes vollbracht haben; andernfalls wären sie nicht in der Talkshow und dürften eine Inszenierung aufführen. Ich kenne keinen Menschen, der mit diesen Worten von seiner Vergangenheit berichtet. Kindheit ist nicht gleich Paradies, Kindheit ist Glück und Geborgenheit, aber auch Schmerz, Streit und Einsamkeit und die Erkenntnis, dass das Individuum allein durchs Leben gehen muss und doch die Wärme und Sicherheit des Elternhauses nicht verlassen möchte. Ein Konflikt, der den Menschen gesund ins Dasein des Erwachsenen entlässt. Wenn er nicht dem Tod begegnet, die Welt nicht mehr sicher scheint und sich in einen gefährlichen Ort verwandelt, in dem jeder Moment der vor dem Tod sein könnte.

Ich habe normal gelebt, mit Spielzeugautos und Fußball gespielt, mich verliebt, mit Mädchen geschlafen, studiert, einen tollen Job gefunden, eine tolle Frau und großartige Kinder. »Eigentlich könnte alles so schön sein«, habe ich im vergangenen Jahr gesagt. Dann ging nichts mehr. Die Beine gehorchten nicht, die Hände zitterten, der Horror kam jede Nacht wieder.

Die wahre Geschichte, die ich erzähle, beginnt lange vor meiner Geburt.

Krieg und Angst in den Genen

 

Neumünster/Tungendorf, etwa 1944

Als die Bomber kamen, versteckten sich Helmut und ein Freund hinter einer Hecke. Zuerst kam das Dröhnen der Motoren in dem kleinen Tungendorf an, das direkt an Neumünster angrenzte. Dann fielen die Bomben. Die Jungen, beide um die 15 Jahre alt, konnten das Krachen hören. Kurz darauf sahen sie das Feuer, das in Neumünster ausgebrochen war. Neumünster war für die Alliierten im Zweiten Weltkrieg ein wichtiges Ziel: Hier trafen sich die meisten Eisenbahnlinien und Fernstraßen Schleswig-Holsteins zu einem Knotenpunkt, die Stadt war dicht besiedelt und ein wichtiger Industriestandort. Am nordwestlichen Stadtrand lag der Flugplatz. »Wir hatten Angst«, erzählte mir Helmut Jahrzehnte später, als ich etwa in dem Alter war, in dem er die Bombenangriffe und die Angst erlebte. Helmut war mein Vater.

Er kannte Angst und Gewalt lange vor den Angriffen. Helmut gehörte der Hitlerjugend an und ging nur ungern zu den Treffen. »Dort wurde immer geprügelt«, berichtete er mir. Mein Vater hat nie ausführlich aus seinem Leben und der Kindheit in Tungendorf erzählt, immer nur in kurzen Sätzen.

»Wir konnten sehen, wie Hamburg brannte.« Auch diese Erinnerung gehört zu diesen, bruchstückhaft gebliebenen Erzählungen. »Der Himmel war rot.« Vermutlich schienen die verheerenden Brände der britischen »Operation Gomorrha« bis ins 60 Kilometer entfernte Tungendorf. Im Juni 1943 stand die ferne Hansestadt in Flammen, mindestens 34.000 Menschen starben im Feuersturm. Das wusste Helmut nicht, als er den roten Himmel am südlichen Horizont sah. Doch er verstand, dass ein Inferno in der Stadt wütete, wenn man den Feuerschein selbst von seinem Zuhause aus sehen konnte.

Auch an die »Christbäume« konnte sich mein Vater erinnern. Die Bomber warfen sie ab, doch der Flitter war nicht bedrohlich. Die Besatzungen nutzten Staniolstreifen, um das deutsche Radar zu täuschen. Später hingen die dünnen Metallteile als Lamettaersatz am Weihnachtsbaum.

Helmuts Vater ernährte die Familie als »Tagelöhner«. Mein Vater empfand diesen Begriff nicht als diskriminierend. Tagelöhner arbeiteten bei den Bauern und bekamen Geld, wenn sie ihren Job gemacht hatten. Viel war es nicht, um Helmut, seine Geschwister und ihre Mutter zu ernähren. Nachts mussten sich die Kinder die Betten teilen.

Die genaue Betrachtung der Familiengeschichte offenbarte auch Neuigkeiten. »Wir waren sechs Kinder«, hat mein Vater stets gesagt. Bei der Durchsicht alter Dokumente stoßen mein Bruder und ich jedoch auf Hinweise auf einen weiteren Bruder: Walter Johann Hinrich, geboren am 4. Oktober 1913, also 16 Jahre vor meinem Vater. Der Junge wurde nur zwei Jahre alt. Hat mein Vater nichts von ihm gewusst? Wurde das kurze Leben des Kindes in der Familie verschwiegen? Wir können niemanden mehr fragen und spüren zugleich, welches Leiden im Elternhaus präsent gewesen sein muss. Vater und Mutter verloren ihr erstes Kind, zwei weitere starben als Erwachsene im Zweiten Weltkrieg.

»Ihr sollt es einmal besser haben«, hat mein Vater oft zu meinem Bruder und mir gesagt. Und den Satz: »Bloß keinen Krieg!«

Das Foto des »Führers« liegt im Misthaufen versteckt – Ascheberg, etwa 1944

Das Foto von damals zeigt meine Mutter: ein blondes Mädchen mit Zöpfen. Die junge Johanna*6 gehörte zum nationalsozialistischen Bund deutscher Mädchen und fügte sich dort mit ihrem Aussehen gut ein. Auch der Verwandtschaft hat die blonde Johanna gefallen. Sie war die jüngste unter den Cousins und Cousinen aus einer großen Familie, in der die Männer durchweg der NSDAP angehörten. Onkel »Guschi« machte Karriere bei der Waffen-SS und erzählte später bei Feiern, dass gar nicht so viele Juden gelebt hätten wie angeblich umgebracht wurden. Mein sechs Jahre älterer Bruder Michael* wollte ihm nie die Hand zur Begrüßung reichen.

Die Ascheberger Kinder gingen im Sommer zum Baden an den Plöner See. Meine Mutter weiß nicht mehr, wie alt sie war, als sie beinahe im Wasser umgekommen wäre. Ein großer Junge habe sie nach unten gedrückt – einfach zum Spaß. »Ich kriege jetzt noch eine Gänsehaut«, sagt meine Mutter auch heute noch, wenn sie daran zurückdenkt. Sie hat nie schwimmen gelernt und ist später beim Baden an der See nur bis zum Bauch ins Wasser gegangen.

Auch nach Ascheberg kam der Krieg mit den Bombern. Tief brummend überflogen die Maschinen das Dorf in Richtung Kiel. Dann ging die Familie auf den Dachboden und sah zu, wie die Flak-Scheinwerfer die Flugzeuge suchten. Auch Kiel brannte rot.

Noch mehr Angst hatte die Familie, als die Briten nach Schleswig-Holstein kamen und Nazis verhafteten. Die Soldaten sperrten fast alle Männer aus der Familie in einem Haus ein, das in Ascheberg die »Felsenburg« hieß. Mutters Vater war jedoch nicht dabei. Er hatte die Fotos des Führers und die Hakenkreuze im Misthaufen versteckt.

Vermutlich hatten die Briten meinen Großvater verschont, weil er sich nach damaligen Kriterien nicht schuldig gemacht hatte. Im Ersten Weltkrieg hatte er in Verdun im Schützengraben gekämpft, ein Auge und ein Stück des Hüftknochens verloren. Im Zweiten Weltkrieg konnte er nicht mehr kämpfen.

Zehn Jahre nach dem Einmarsch tauchten die Fotos unterm Misthaufen wieder auf. Sie waren fast unbeschädigt.

Ebenso unbeschadet überstanden bei vielen Männern aus der Familie die Erinnerungen an den Krieg die Zeit. Ich war ein kleiner Junge, als bei Oma Geburtstag gefeiert wurde. An einen alten Mann im schwarzen Anzug erinnere ich mich. Er sprach immer wieder von seiner Zeit als Soldat in Russland, über Feldzüge ganzer Armeen und die Kälte. »Ach, er redet wieder vom Krieg«, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Vermutlich sprach er vom Zweiten Weltkrieg. Zuhören wollte dem alten Mann niemand.

6     Hier wie im Folgenden bei mit Sternchen gekennzeichneten Personen handelt es sich bei ihren Namen um Pseudonyme.

Ein kleiner Junge und der Tod

 

Freibad in Wahlstedt, etwa 1967

Oben scheint das Licht. Weiß durchdringt es das Blau, das immer höher zu steigen scheint. Ohne klare Konturen leuchtet es, gebrochen von den leichten Wellen, immer in Bewegung. Nach oben steigen die Bläschen durch die Stille, nach oben recken sich auch die Arme, um sich festzuhalten, zu greifen, doch das Wasser lässt sich nicht packen. Das totenstille Blau um mich herum gibt nach, auch unter meinen Füßen, die wie meine Hände Halt suchen und ihn nicht finden. Ich sinke unter dem Licht.

Nur wenige Sekunden ist es her, dass ich in das Becken stürzte. Wo ist Papa? Ich hatte ihn an diesem Hochsommertag in dem Freibad aus den Augen verloren. Die Sonne schien. Licht, Hitze und Tausende Füße haben den Rasen in grauen Staub und graue Halme verwandelt. Wo ist Papa? Überall Menschen, aber wo ist er? Ich laufe, ich weine, ich bin allein. Ich laufe schneller.

Dort ist das Schwimmerbecken. Kein Ort für mich, denn ich kann nicht schwimmen, aber ich glaube, mein Papa ist dort. Ich laufe immer noch, das Wasser leuchtet blau, die Menschen juchzen und lachen, die weißen Kunststofflamellen am Rand schlucken das überschwappende Wasser. Die Lamellen kommen auf mich zu, ich bin offenbar ausgerutscht. Doch genau weiß ich den Ablauf bis heute nicht.

Das weiße Licht im sich bewegenden Blau ist die nächste Erinnerung. Ich sinke im Wasser. Nichts zu hören, dann wird es dunkel. Keine Erinnerung an Angst oder Panik, Atemnot und den Versuch zu schreien. Keine Erinnerung an das, was dann passiert sein muss. Wie tief war ich unten? Wie lange? Wann kam der zupackende Griff, der mich, den kleinen Jungen, nach oben ans Licht und vor allem an die Luft zog? Die Bilder sind verschwunden, vermutlich für immer. Wird die Angst übermächtig, zerstört sie die Bilder. Wie ein Filmriss.

Das nächste Bild in meinem Gedächtnis zeigt diffus einen Jungen, einen »großen Jungen«. Ich bin wieder oben und sehe ihn, aber nicht sein Gesicht. Dass er mir das Leben gerettet hat, dass ich ohne ihn ertrunken wäre – das hat er vermutlich erst später verstanden. Auch an sein Gesicht werde ich mich erst später erinnern.