Waffenhändler in Uniform - Wolfgang Klietz - E-Book

Waffenhändler in Uniform E-Book

Wolfgang Klietz

0,0

Beschreibung

Auch Jahrzehnte nach dem Ende der DDR ist nur wenig über den "Ingenieur-Technischen Außenhandel" (ITA) bekannt. Der staatliche Außenhandelsbetrieb im- und exportierte Waffen und militärische Ausrüstung innerhalb des Warschauer Pakts. Im Kontrast zum propagierten Selbstverständnis der DDR als "Friedensstaat" zählten aber auch Diktatoren und sogenannte Befreiungsbewegungen in Entwicklungsländern zu den Geschäftspartnern. Besonders deutlich zeigte sich der Widerspruch im Ersten Golfkrieg in den 80er-Jahren, als die DDR beide Kriegsgegner, Irak und Iran, belieferte. In den späteren Jahren wurde zudem das Ziel, westliche Devisen für das SED-Regime zu erwirtschaften, immer wichtiger für den ITA. Als die Mauer fiel, wurden die Unterlagen in großem Umfang vernichtet, sodass das Wesen und Wirken des ITA bis heute so gut wie unbekannt bleiben konnten. Wolfgang Klietz legt nun nach jahrelangen Recherchen die erste umfassende Untersuchung dieser stets im Geheimen arbeitenden Organisation vor. Ergänzendes Material zum Buch ist online zugänglich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 534

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titelei

Auszug aus Verfassung (KeinKT)

Einleitung

Teil I ITA – ein Instrument im Kalten Krieg

1 Die Anfänge

2 Der Kontext – ITA und IMES: Partner und Konkurrenten

3 Der ITA und die Entwicklungsländer

»Solidarität im Kampf gegen Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus«

Der erste Golfkrieg: Ein Doppelspiel für Devisen

Libyen: Gaddafi und die DDR

Der Nahost-Konflikt: Ein deutscher Staat hilft den Feinden Israels

Waffen für Afrika

Waffen für Asien

Waffen für Mittel- und Südamerika

Ärger mit Moskau und »ungesunde Konkurrenz«

Exkurs: Bargeld für Entwicklungsländer

4 Transporte über See

5 Der ITA im Fokus der Staatssicherheit

Unter der Kontrolle der Stasi

Ein Spion für den Westen in der Spitze des ITA

Operative Personenkontrollen im ITA

6 Der ITA und die westlichen Geheimdienste

7 Wende und Abwicklung

Teil II Strukturen und Personen

8 Auf Ortsbesuch

Der Sitz des ITA und Außenstellen

Das Ausstellungsgelände Horstwalde

Treffpunkt Leipziger Messe

Der Überseehafen in Rostock

Der Hafen Mukran

9 Personal

Die Mitarbeiter

Die Leitung: Ein Offizier als Generaldirektor

10 Der ITA, Planhandel und Beschaffung

Der Prozess der Beschaffung: Alles hängt am Fünfjahresplan

Importe: Lücken in den Akten

Exporte: Lieferungen ohne gesetzliche Grundlage

Lager und Transporte: Postfach 231 in 1100 Berlin

11 Die militärische Zusammenarbeit der Bruderstaaten

12 Die Rüstungsindustrie der DDR

Teil III Fazit und Anhang

Fazit

Danksagungen

Literatur und Quellen

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Register

Ortsregister

Personenregister

Der Autor

Wolfgang Klietz wurde 1963 in Neumünster geboren und ist dort aufgewachsen. Seit 1989 arbeitet er als Redakteur beim Hamburger Abendblatt. Klietz hat Bücher und Aufsätze zur maritimen Geschichte der DDR geschrieben. Außerdem ist im Kohlhammer-Verlag sein Buch Oben scheint das Licht – ein Weg aus dem Trauma erschienen. Er ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und lebt in Hamburg.

Wolfgang Klietz

Waffenhändler in Uniform

Geheime Im- und Exporte der DDR

Verlag W. Kohlhammer

Für Ruth, Rose und Luisa

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.Umschlagabbildung: Tobias Merkle mit Vorlagen von Adobe Stock.Zusatzmaterial online: https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-043460-8

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043460-8

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-043461-5epub:ISBN 978-3-17-043462-2

Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung vom 7. Oktober 1974

Artikel 23

(1)

Der Schutz des Friedens und des sozialistischen Vaterlandes und seiner Errungenschaften ist Recht und Ehrenpflicht der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Jeder Bürger ist zum Dienst und zu Leistungen für die Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik entsprechend den Gesetzen verpflichtet.

(2)

Kein Bürger darf an kriegerischen Handlungen und ihrer Vorbereitung teilnehmen, die der Unterdrückung eines Volkes dienen.

Strafgesetzbuch der DDR5. Abschnitt: Mißbrauch von Waffen und Sprengmitteln

§ 206. Unbefugter Waffen- und Sprengmittelbesitz.

(1)

Wer ohne staatliche Erlaubnis Schußwaffen, wesentliche Teile von Schußwaffen, Munition oder Sprengmittel herstellt, im Besitz hat, sich oder einem anderen verschafft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung bestraft.

(2)

Wer ohne staatliche Erlaubnis Schußwaffen, wesentliche Teile von Schußwaffen, Munition oder Sprengmittel in bedeutendem Umfang oder solche mit hoher Feuer- oder Sprengkraft herstellt, lagert, sich öder einem anderen verschafft, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.

(3)

Der Versuch ist strafbar.

Durch Gesetz vom 14. Dezember 1988 wurden im § 206 Abs. 1 vor dem Wort »bestraft« die Worte »oder mit Geldstrafe« eingefügt, das Wort »oder« wurde gestrichen und vor den Worten »mit Verurteilung auf Bewährung« wurde ein Komma eingefügt.

Einleitung

Am 2. Dezember 1989, also einen knappen Monat nach dem Fall der Mauer, ging der Name des kleinen Dorfes Kavelstorf um die Welt. Journalisten aus vielen Ländern berichteten über eine Sensation mit enormer politischer Brisanz: Empörte Kavelstorfer hatten ein Zwischenlager mit Waffen und Munition entdeckt, die über den nahegelegenen Überseehafen in Rostock exportiert werden sollten. In der bis dahin streng abgeschirmten Halle der Waffenexportfirma Internationale Meßtechnik Import-Export GmbH (IMES) lagerten Millionen Schuss Munition, Maschinengewehre, Handgranaten und andere militärische Ausrüstung. Damit hatten die mutigen Kavelstorfer Bürger enthüllt, dass die DDR im Geheimen für staatliche Waffenschiebereien verantwortlich war – ein Vorgang von historischer Bedeutung.

Diese Enthüllungen beschleunigten den Untergang der DDR und ramponierten das Vertrauen in die herrschenden Eliten ein weiteres Mal. Vielen Bürgern wurde klar, dass die DDR nicht der friedliebende Staat war, den die Propaganda so blumig beschrieb. Schnell waren auch die Drahtzieher bekannt, die wochenlang die Nachrichten bestimmten: Sie arbeiteten für die IMES, eine Firma aus der von Alexander Schalck-Golodkowski geleiteten Abteilung Kommerzielle Koordinierung (KoKo) des DDR-Außenhandelsministeriums. Schalck-Golodkowski selbst wurde am Tag nach der Entdeckung des Kavelstorfer Lagers aus dem Zentralkomitee (ZK) und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) ausgeschlossen und flüchtete tags darauf in den Westen. Damit waren offenbar die Schuldigen gefunden, die im Auftrag der Staatsführung mit Waffen gehandelt hatten, um Devisen für die finanziell klamme DDR zu beschaffen.

Kaum beachtet wurde dagegen eine andere Organisation, die bereits viel länger und in größerem Rahmen im Auftrag des SED-Regimes Waffen ge- und verkauft hatte: der Ingenieur-Technische Außenhandel (ITA). Der Außenhandelsbetrieb (AHB) bestand – seine Vorläuferorganisationen eingerechnet – bereits seit 1956. Die IMES und das geheime Lager in Kavelstorf entstanden erst Anfang der 80er-Jahre. Auch der ITA war offiziell dem Ministerium für Außenhandel unterstellt. Auf Führungsebene bestand er jedoch aus Offizieren der Nationalen Volksarmee (NVA) – Waffenhändlern in Uniform. Die Aktivitäten dieses Außenhandelsbetriebs darzustellen, ist die Absicht dieses Buchs.

In erster Linie waren die ITA-Waffenhändler für den so genannten Planhandel mit Rüstungsgütern verantwortlich. Die Organisation mit Hauptsitz in Berlin-Pankow importierte also Material für die NVA, Polizei und Staatssicherheit und andere »bewaffnete Organe« der DDR aus den anderen Staaten des Warschauer Pakts – im offiziellen Sprachgebrauch: der Warschauer Vertragsorganisation (WVO) – und exportierte eigene Güter dorthin. Zu den militärischen Gütern zählten nicht nur Waffen und Munition, sondern auch Ausrüstung wie Uniformen, Nachrichtentechnik, Küchen oder Feuerlöschgeräte. So weit, so unspektakulär.

Doch von Anfang an übernahmen der ITA und seine Vorgängerorganisationen auch Exporte in Länder außerhalb des Warschauer Pakts und in den sogenannten nichtsozialistischen Wirtschaftsraum. In den ersten Jahren ging es meistens darum, politische Beziehungen zu pflegen und dem jungen ostdeutschen Staat Anerkennung zu verschaffen. Oft wurden Waffen dabei kostenfrei als »Solidaritätsgüter« exportiert. Später, besonders im letzten Jahrzehnt ihres Bestehens, dominierten wirtschaftliche Interessen und das Streben nach den dringend benötigten Devisen das Handeln der DDR. Die Exporte wurden deutlich ausgeweitet. Laut einem Dokument aus dem Archiv von Werner E. Ablaß, dem letzten Staatssekretär im DDR-Ministerium für Abrüstung und Verteidigung, standen Vietnam, Syrien und Äthiopien gefolgt von Kambodscha, Mosambik und Ägypten ganz oben auf der Liste der importierenden Staaten, die nicht zum Warschauer Vertrag gehörten.1 Später standen auf der Kundenliste auch Staaten wie der Irak und Iran, die in den 80er-Jahren den ersten Golfkrieg gegeneinander führten. Der ITA exportierte Rüstungsgüter in den Irak, die IMES belieferte parallel den Iran.

Neben Staaten belieferte die DDR auch sogenannte Befreiungsbewegungen und Terrororganisationen. Zu den Empfängern gehörten auch Diktatoren und Länder, die Terroristen unterstützen. Es ist davon auszugehen und oft auch belegt, dass viele Empfänger die gelieferte militärische Ausrüstung gegen oppositionelle Kräfte im eigenen Land einsetzten. Bei vielen Empfängern von Rüstungsgütern handelte es sich um Staaten, in denen die Menschenrechte massiv verletzt wurden – ein klarer Verstoß gegen Artikel 23 der Verfassung, der jegliche Handlungen verbietet, »die der Unterdrückung eines Volkes dienen«.

Das Selbstverständnis des ITA beschrieb der Außenhandelsbetrieb nach der Wende folgendermaßen:

Der ITA war ein reines Handelshaus. Er besaß keine Lager und war nie Besitzer von Waffen und militärischer Ausrüstung und übte demnach auch keine tatsächliche Gewalt über Kriegswaffen aus.2

Das mag stimmen und ist doch verharmlosend. Die DDR als Staat entbindet es jedenfalls nicht von ihrer Verantwortung. Der Politikwissenschaftler Matthias Bengtson-Krallert bezeichnet die DDR sogar als »Drehscheibe des weltweiten Waffenhandels«.3

Einst von der DDR in die Welt gestreute Bekenntnisse für Frieden, Abrüstung und Terrorismusbekämpfung wirken heute scheinheilig, werden diesen die ostdeutschen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, terroristische Gruppen oder Länder des arabischen Raums gegenübergestellt. Wer solche Unterstützung gewährt, trägt Mitverantwortung für den Einsatz von Waffen.4

Die Spitze von Staat und Partei war stets frühzeitig und bestens informiert über die Waffenexporte und die Anfragen. Die Verteidigungsminister unterrichteten den Generalsekretär ausführlich über die Kaufwünsche, die ausländische Delegationen bei ihren Besuchen in Ost-Berlin geäußert hatten, noch bevor die Gäste den Generalsekretär trafen. Erich Honecker entschied oft selbst, ein formeller Beschluss des Politbüros wurde gegebenenfalls nachgereicht. Ähnlich detailliert berichtete die NVA-Führung über ihre Gespräche bei Auslandsreisen. Honeckers Vorgänger, Walter Ulbricht, der bis 1971 im Amt gewesen war, hatte hingegen zumeist dem Politbüro und dem Sekretariat des Zentralkomitees der SED die Entscheidungen überlassen. Doch schon zu dieser Zeit war Honecker einer der wichtigsten Akteure – als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrats.5

Dass die IMES als Waffenhändlerorganisation der DDR im Gedächtnis der meisten Menschen haften blieb und nicht der ITA, hat mehrere Gründe. Neben dem lückenhaften Quellenmaterial dürfte ein Faktor die große mediale Aufmerksamkeit sein, die die IMES wegen der spektakulären Vorgänge in Kavelstorf erhielt. Offenbar entstand der öffentliche Eindruck, die einzig verantwortliche Organisation für diese Art von Geschäften demaskiert zu haben. Weitere Nachforschungen unterblieben. So kam dem ums Überleben kämpfenden Regime in Ost-Berlin Kavelstorf möglicherweise sogar gelegen: Zwar waren IMES, KoKo und Schalck-Golodkowski entlarvt, aber die Aufmerksamkeit blieb auf sie gerichtet, während Organisationen wie der ITA öffentlich kaum bekannt waren. Auch die Zusammenarbeit von IMES und ITA wurde in den Wendejahren und danach kaum thematisiert: Bei allen Geschäften der IMES war der ITA direkt beteiligt. Als Dienstleister stellte er die Abwicklung sicher – von der Anlieferung und dem Transport bis zum Kontakt mit Schiffsmaklern und der Rechnungsstellung. Ohne den ITA, so viel ist klar, hätte die IMES nicht funktionieren können.

Falls alle Dokumente innerhalb des ITA trugen den Geheimhaltungsvermerk »Geheime Verschlusssache« (GVS) oder »Vertrauliche Verschlusssache« (VVS) und wurden in Koffern oder Schließfächern gelagert, die der jeweilige Mitarbeiter bei Dienstbeginn in der sogenannten VS-Stelle, also dem Aufbewahrungsort für Geheimdokumente, abholen musste. In den Pausen verstauten sie die geheimen Unterlagen wieder in den Panzerschränken.6 Aus den Unterlagen im Bundesarchiv ist ersichtlich, dass zumindest ein Teil der ITA-Akten im Militärarchiv der DDR in Potsdam gelagert wurde. Dieser Bestand mit der Signatur DVW 14-5 umfasste etwa 16 laufende Meter in 519 Akteneinheiten und gelangte nach der Wiedervereinigung vom Militärarchiv in das Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv, in Freiburg im Breisgau. Diese Akten sind gebunden, paginiert und verfügen jeweils über ein ausführliches Inhaltsverzeichnis.7 Die Bezeichnung »ITA-Bestand« war allerdings irreführend, da es sich bei den weitaus meisten Dokumenten um Material der Vorläuferorganisationen handelt.

Auch unter Publizisten, Wissenschaftlern und Archivaren war bis vor wenigen Jahren unbekannt, dass bis weit in die 2000er-Jahre hinein ein weiterer Bestand von ITA-Akten unerschlossen und in Kartons verpackt in Speditionslagern in Großbeeren und an anderen Standorten lag. Diese Akten waren nach der Wende zunächst an die Treuhandanstalt gelangt und danach in diese Lager. Erst 2015 übergab die Nachfolgeorganisation der Treuhand, die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), die Akten dem Bundesarchiv in Freiburg. Mitarbeiter des Bundesarchivs sprachen damals von einem sehr schlechten Bearbeitungszustand der neu hinzugekommenen Unterlagen. Dabei ging es u. a. um den Zustand des Schriftgutes sowie Qualität und Aussagekraft der Abgabeverzeichnisse. Diese Situation führte dazu, dass das Bundesarchiv die neuen Dokumente nicht vorab bewertet hat, sondern den Bestand aus den Lagern vollständig übernahm. Inzwischen, nach der Bewertung, steht fest, dass der größte Teil der Archivalien für die Forschung nutzlos ist. »Simple Buchhaltung«, nannte sie ein Mitarbeiter des Bundesarchivs, der Dutzende sortierte Aktenmeter mit kaum aussagekräftigen Rechnungen für Büromaterial, Gehaltsabrechnungen, Telefonrechnungen und Reisekostenunterlagen fand.8 Für die Fachleute im Bundesarchiv liegt die Vermutung nahe, dass die Treuhand bei der Übernahme der Unterlagen an den Finanzakten, nicht aber an den Sachakten interessiert war. Nach dem Aussortieren von belanglosem Material sind eine Reihe von Dokumenten übrig geblieben, die einen Einblick in die Arbeit und die Geschichte des ITA bieten. Sie werden seit 2018 zusammen mit den anderen ITA-Akten am Standort Berlin-Lichterfelde verwahrt und liegen erst seit 2020 erschlossen zur Einsicht vor. Außerdem hat das Bundesarchiv seit 2018 neue Akten über die IMES freigegeben, die ebenfalls interessante Einblicke in die Organisation des ITA liefern.9

Allerdings ist der Bestand so lückenhaft, dass zu vermuten ist, dass während der Friedlichen Revolution oder möglicherweise auch davor Dokumente vernichtet wurden. Einen Gesamtüberblick über die Aktivitäten des ITA zu erstellen, ist angesichts dieser Lücken nicht mehr möglich. Besonders für die 80er-Jahre liegt eine Reihe von Archivalien vor, unter anderem auch Dokumente der IMES. Umfangreiches Material über die Geschäfte des ITA, zum Beispiel Packlisten und Speditionsunterlagen, sind erst für den Zeitraum ab Mitte 1990 vorhanden.10 Für die Jahrzehnte davor sind viele Informationen unwiderruflich verloren. Die Dokumente gewähren Einblicke, wie der Handel ablief. Die Größenordnungen lassen sich allenfalls erahnen – klar ist aber, dass sie gewaltig waren. Darauf deutet auch das Zahlenmaterial anderer Institutionen hin, zum Beispiel des Ministeriums für Verteidigung oder des Stasi-Unterlagenarchivs, das ich immer wieder herangezogen habe, um Rückschlüsse auf die finanziellen Dimensionen des ITA-Handels zu ziehen. Angesichts der Lücken in der Überlieferung kommt den Dokumenten des Stasi-Unterlagenarchivs im Fall des ITA eine besondere Bedeutung zu. Hier waren diverse Informationen zu finden, die von hoher Relevanz für die Beschreibung der Organisation und ihrer Aktivitäten sind. Zwar darf bei der Lektüre dieser Dokumente nicht übersehen werden, dass sie nicht der Dokumentation für die Nachwelt dienen sollten, sondern im Repressionsapparat einer Diktatur entstanden. Dennoch haben Stasi-Unterlagen nach der Prüfung von Plausibilität wichtige Rechercheergebnisse für dieses Buch geliefert. Doch wie die Unterlagen des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde sind auch die Dokumente im Stasi-Unterlagenarchiv nur teilweise erhalten. Viele Bestände wurden mutmaßlich vernichtet. Außerdem vermuten Experten, dass sie gezielt in Unordnung gebracht wurden, um Konfusion zu schaffen.

So ist die Geschichte des ITA bis heute weitgehend unerforscht und wird es vielen Bereichen wohl auch für immer bleiben. Ausdrücklich bezeichnete der Präsident des Bundesarchivs, Michael Hollmann, 2020 den »speziellen Außenhandel«, also den Außenhandel mit Rüstungsgütern, als Desiderat, als Forschungsthema, das noch nicht erschlossen sei.11 Dass der Außenhandel der DDR bei weitem noch nicht so intensiv beleuchtet worden ist wie beispielsweise die Außen- oder die Verteidigungspolitik, mag daran liegen, dass dem offiziellen Zahlenmaterial stets mit Misstrauen begegnet werden muss. Bereits für den Außenhandel allgemein wurden Statistiken der DDR zuweilen aus politischen Erwägungen manipuliert.12 Umso misstrauischer sollte man bei den Kennziffern für den sogenannten speziellen Außenhandel sein. Insofern stellt dieses Buch ein Wagnis dar. Auch unter Berücksichtigung des neuen Aktenmaterials kann es nur begrenzt Strukturen, Umfang von Im- und Exporten sowie die Geschäfte des ITA außerhalb des Warschauer Paktes beleuchten. Das Thema trotz des Quellenmangels recherchiert und publiziert zu haben, ist ein Risiko, das ich als Autor eingehe, um die Diskussion über eine Organisation der DDR anzustoßen, die auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung kaum Gegenstand eines Diskurses ist.

Dieses Buch ist in zwei Teile untergliedert. Im ersten liegt der Schwerpunkt auf den Exporten der ITA an Entwicklungsländer und ihrem politischen Umfeld sowie auf der Zusammenarbeit mit der IMES. Außerdem liegt der Fokus auf der Rolle der Staatssicherheit und westlicher Geheimdienste. Im zweiten Teil habe ich vertiefend die Strukturen des ITA mit seinem Personal, den regulären Planhandel zur Beschaffung von Militärgütern in der DDR sowie die Rüstungsindustrie beschrieben. Die Transporte des ITA wurden – wie die der IMES – zumeist im Überseehafen Rostock umgeschlagen. Entsprechend liegt ein Fokus dieses Buchs auch bei den Schiffen der DDR-Staatsreederei, der Deutschen Seereederei (DSR).

Um zu demonstrieren, dass die DDR oft Staaten mit Waffen versorgte, die massiv die Menschenrechte missachteten, habe ich Jahresberichte von Amnesty International ausgewertet und die wichtigsten Informationen den einzelnen Empfängerstaaten zugeordnet. Amnesty International listet in den Jahresberichten einzelne Länder ausführlich erst seit 1980 auf. Den meisten der genannten Länder werden aber auch bereits in den 60er-Jahren Verletzungen der Menschenrechte vorgeworfen.

Die in den Dokumenten enthaltenen unterschiedlichen Schreibweise der Ingenieur-Technischen Verwaltung, der Ingenieur-Technischen Hauptverwaltung und des Ingenieur-Technischen Außenhandels habe ich vereinheitlicht. Bei Zitaten wurde die Schreibweise der Originaldokumente erhalten.

Unter https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-043460-8 steht Zusatzmaterial für dieses Buch zur Verfügung. Dazu zählen der sogenannte ITA-Katalog und ein Video über Horstwalde (▸ Kap. 8).

Zusatzmaterial online

Hamburg, den 24. Januar 2024Wolfgang Klietz

Endnoten

1Archiv Werner E. Ablaß, Strausberg.

2BArch, DL 227/655 (ohne Blattangaben).

3Bengtson-Krallert 2017, S. 31.

4Ebd., S. 372.

5Storkmann 2012, S. 57, 64, 73.

6BArch, MfS, HA XVIII/8355, Bl. 6 f.

7Der Bestand kann auf den Seiten des Bundesarchivs (https://invenio.bundesarchiv.de) unter der Signatur DL 227 gesichtet werden.

8Auskunft des Bundesarchivs an den Autor, Email vom 14. 04. 2015.

9Für weitere Informationen zur Weitergabe der Treuhand-/BvS-Akten an das Bundesarchiv vgl. von Loewenich 2020, S. 45 – 52.

10BArch, DL 227/978, Bd. 1 – 2 (ohne Blattangaben).

11Hollmann 2020, S. 15, 26.

12Von der Lippe 1995, S. 1973 – 2193 und Emmerling 2013, S. 17 f.

Teil I ITA – ein Instrument im Kalten Krieg

1 Die Anfänge

»Es macht wieder Spaß einzukaufen«, sagt der Sprecher aus dem Off. Zu sehen sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen von gut gefüllten Geschäften, in denen DDR-Bürger sich über die Auslagen freuen und gern zulangen. »Die Geschäfte haben auch geschmackvolle Importwaren anzubieten.« Zu sehen sind die schönsten Stoffe aus den Nachbarländern, die »mit unseren Erzeugnissen wetteifern«. Der Verkäufer trägt einen eleganten Anzug, die attraktive Kundin sucht geblümte Textilien für ein leichtes Sommerkleid. Zwei Kundinnen sind jedoch mit den Ballen, Farben und dem Design nicht zufrieden. »Der Verkaufsstellenleiter verspricht, der Sache nachzugehen«, sagt der Sprecher. Schnitt: Es folgt ein Blick in die Büros des Ministeriums für Außenhandel und innerdeutschen Handel und der kluge Spruch: »Import und Export müssen sich die Waage halten.« Nur wenn »unsere Betriebe« die Wünsche aus dem Ausland erfüllen können, kann auch importiert werden. So schlicht kann es zugehen, wenn ein Staat den Mangel an geblümten Kleidern erklären will.

Die Szenen stammen aus dem DDR-Film Unser Aussenhandel, der den Zuschauern Nachhilfe in Sachen Im- und Export vermitteln sollte und gleichzeitig die Bedeutung der DDR als Wirtschaftsnation betont. Dazu passen, untermalt von mal seichter, mal dramatischer Streichermusik, Zitate wie diese: »Unsere Erzeugnisse sind in aller Welt geachtet« und »Der Außenhandel als ein entscheidender Bestandteil unserer friedliebenden Außenpolitik und zugleich als Brücke zur Völkerverständigung gibt uns die Möglichkeit, im Rahmen der Export- und Importmöglichkeiten den Lebensstandard entscheidend zu verbessern«.13 Doch der Außenhandel gehörte im Selbstverständnis der DDR auch zu den wichtigsten Instrumenten der Außenpolitik im Kalten Krieg. Und dabei ging es bereits zu Beginn der Geschichte des ostdeutschen Staates nicht nur um Blümchenkleider, sondern auch um Waffen, Munition und weitere Militärgüter.

Außenhandel im Realsozialismus

Doch zunächst ein paar Worte zum Außenhandel im Realsozialismus. Heutigen Lesern mag es schwer fallen, sich eine Vorstellung der Wirtschaft der DDR zu machen. Die DDR war eine zentral verwaltete Planwirtschaft, die von einer Staatlichen Plankommission durch Fünfjahrespläne gesteuert wurde. Privatwirtschaft gab es spätestens nach der Enteignungswelle von 1972 nur noch im Kleinbetrieben mit bis zu zehn Beschäftigten. Größere Betriebe waren als Volkeigene Betriebe (VEB) Staatseigentum. Teils waren mehrere VEBs in Kombinaten bzw. bis Ende der 60er-Jahre in deren Vorläufern, den Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB), integriert. Auch den Außenhandel wickelten staatliche Betriebe ab – die Außenhandelsbetriebe (AHB). Diese produzierten keine eigenen Produkte, sondern waren rein auf den Handel spezialisiert. Um keine Konkurrenz aufkommen zu lassen, deckte jeder AHB zudem ein festgelegtes Wirtschaftssegment ab.

Weitere Besonderheiten für den Außenhandel – und für die ökonomischen Zwänge, die die DDR besonders in späteren Jahren bestimmten – ergaben sich aus der Währungspolitik: Die Mark der DDR war eine reine Binnenwährung und durfte das Land nicht verlassen. Man konnte sie nicht in andere Währungen umtauschen. Für den Handel zwischen den Ostblock-Staaten nutzte man deshalb Verrechnungseinheiten: Bei Geschäften mit Ländern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wurde seit 1963 in der Regel der sogenannte Transferrubel genutzt. Im Grunde hatte dieser keine »Kaufkraft«, sondern diente dazu, die vertraglich vereinbarten und in den jeweiligen Wirtschaftsplänen der Staaten fixierten Tauschgeschäfte vergleichbar zu machen. Für den Handel mit Staaten außerhalb des Ostblocks aber mussten frei konvertierbare, zumeist westliche Währungen genutzt werden (Devisen, »Valuta«). Wieder brauchte man Verrechnungseinheiten, diesmal um die Außenhandelsumsätze sozusagen in die Binnenwährung zu »übersetzen«. In der DDR war die entsprechende Verrechnungseinheit die Valutamark (VM).

Um planen und abrechnen zu können, wurden die Verrechnungseinheiten jährlich umgerechnet und festgelegt: Im Mai 1970 etwa wurde das Verhältnis von einem Transferrubel mit 5,50 DDR-Mark festgelegt.14 Später, seit den 80er-Jahren, lag der Transferrubel stabil bei 4,67 Mark. Die Valutamark orientierte sich an der D-Mark, übernahm also die Wechselkurse anderer Währungen, etwa des Dollars, gegenüber der D-Mark.15 Der offizielle Kurs der Valutamark zur D-Mark lag bei 1 : 1, inoffiziell gab es jedoch einen sogenannten »Richtungskoeffizienten«, um den tatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen – zuletzt, 1989, lag er bei 4,4.

Da die eigene Währung nicht umtauschbar war, war die DDR gezwungen, die Devisen oder »Valuta«, mit denen Importe aus dem westlichen Ausland bezahlt werden konnten, zunächst zu erwirtschaften oder sich zu verschulden. Die Devisennot verschärfte sich im Laufe ihres Bestehens mehr und mehr. Entsprechend groß war der Anreiz, weltmarktfähige Waren gegen »harte Währung« ins nichtsozialistische Ausland zu exportieren, statt an die Bruderstaaten. Neben dem Außenhandel hatte die DDR noch eine Reihe weiterer Strategien, um insbesondere an D-Mark zu gelangen: Einreisende Bundesbürger mussten ab 1964 eine Mindestmenge an D-Mark umtauschen, politische Häftlinge ließ man durch die BRD freikaufen und ab den 70er-Jahren gab es die Intershops, in denen Reisende, ab 1974 aber auch DDR-Bürger mit Devisen Waren aus dem Westen erwerben konnten (▸ Kap. 2).

Aufrüstung für eine neue Armee

Nachdem die UdSSR in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu jedes Gerät, das militärisch nutzbar war, als Reparationsleistung beansprucht hatte, kam am 1. April 1952 die Wende: Die DDR sollte aufrüsten. Vermutlich unter dem Eindruck des Korea-Kriegs gab Stalin DDR-Präsident Wilhelm Pieck bei einem Treffen in Moskau entsprechende Anweisungen. Die Ansage des großen Führers in Moskau war unmissverständlich: Die DDR solle – so der überlieferte Wortlaut – »ohne Geschrei« eine Armee aufbauen. Ein weiterer Anlass für den Aufbau von Streitkräften in der DDR dürfte das Scheitern der sogenannten Stalin-Note gewesen sein, die der Diktator im März 1952 vorgelegt hatte. Darin schlug Stalin die Wiedervereinigung Deutschlands als neutraler Staat mit eigener Armee vor. Ob das lediglich ein Mittel der Propaganda war, um die Einbindung der BRD ins westliche Bündnis zu verzögern oder zu verhindern, ist unter Historikern umstritten. Zeitlich liegen die ablehnenden Reaktionen im Westen, das Treffen mit Pieck in Moskau und der Beschluss, eine DDR-Armee aufzubauen, jedenfalls auffällig eng beieinander. Die Vertreter der DDR betonten bei den Gesprächen, dass die Bewaffnung der Polizei mangelhaft sei und dass eine Volksarmee eine ausreichende Ausrüstung benötige. Einem streng geheimen Protokoll der Gespräche ist zu entnehmen, dass Walter Ulbricht darauf hinwies, dass der »Kern einer Armee in Gestalt von 24 Abteilungen der Kasernierten Volkspolizei« (KVP) bereits bestehe. Diese Abteilungen ließen sich zu Divisionen erweitern. Stalin reagierte darauf mit den Worten, »wirkliche Divisionen« sollten entstehen und auf den Einsatz im Schlachtfeld vorbereitet werden. Schon am 7. April erfuhr Ulbricht dann in Moskau, dass die UdSSR die DDR mit Waffen »vom Revolver bis zum Maschinengewehr« ausrüsten werde. Außerdem solle die KVP Artillerie und Panzer erhalten. Aber auch die industriellen Kapazitäten der DDR sollten für die Erfordernisse der Aufrüstung umgestellt werden.16

Es sollte bis 1956 dauern, dass aus der militärisch organisierten KVP offiziell die Nationale Volksarmee (NVA) entstand. Doch bereits die KVP, die Deutsche Volkspolizei (DVP) und die Staatssicherheit brauchten militärische Ausrüstung – von der Dienstmütze bis zum gepanzerten Fahrzeug. In den ersten Jahren der DDR waren die DVP wie die KVP, die Abteilungen Grenze der Stasi und die Bereitschaften noch mit Waffen ausgerüstet, die die UdSSR von der Wehrmacht erbeutet hatte. Es mangelte an Munition. Schnell stand fest, dass diese Ausrüstung ersetzt werden musste. Doch schon 1954 klagte die KVP über Probleme bei der Realisierung militärischer Importe und bei der Materialplanung. Und so gehörten noch 1956, bei Gründung der NVA, 1.000 Geschütze und Granatwerfer aus der Zeit vor 1945 zur wichtigsten Ausrüstung bei den entscheidenden Waffenarten. In allen Teilstreitkräften war das Soll an großen Systemen – Panzern, Flugzeugen, Schiffen – noch nicht erreicht. Es fehlte außerdem an Bekleidung, Proviant und Funkausrüstung.17

Die DDR stand vor einer enormen Herausforderung: Einerseits war sie durch Kriegsfolgen, Reparationen und die Teilung wirtschaftlich schwach. Andererseits sollte sie militärisch für einen Krieg gegen den »Klassenfeind« aufrüsten und sich im Inneren stabilisieren. Staat und Wirtschaft mussten sich auf die Aufrüstung einstellen. Nach dem Vorbild der UdSSR räumte die DDR dem Sicherheitsapparat ab sofort Priorität in der Volkswirtschaft ein. Die Planwirtschaft erlaubte den direkten Zugriff, um kriegswirtschaftlich benötigte Reserven zu mobilisieren. Diese Strategie wurde von der Sowjetunion quasi auf die junge DDR übertragen. Sie war die Konsequenz aus den historischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, als die UdSSR erst nach schweren Anfangsniederlagen ihre Wirtschaft erfolgreich auf militärische Erfordernisse ausgerichtet hatte. Nach und nach baute die DDR so eine eigene Rüstungsindustrie auf (▸ Kap. 12).

Rüstung via Außenhandel: Die Ingenieur-Technische Verwaltung

Schnell wurde jedoch deutlich, dass die eigene Produktion nicht für die Aufrüstungspläne und Bündnispflichten des selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaats genügte. Er brauchte eine Organisation, die den Bedarf an Waffen und Ausrüstung mithilfe des Außenhandels deckte – vor allem mit Importen aus der Sowjetunion, die als einziges Land im Ostblock alle Waffenarten selbst herstellte und zum großen Teil die Armeen der Bruderstaaten ausrüstete. So einigte sich das Verteidigungsministerium am 25. April 1956 mit dem Außenhandelsministerium über Regularien von Im- und Exporten.18 Die operative Arbeit wurde der neugegründeten Ingenieur-Technischen Verwaltung (ITV) übertragen, einer Vorgängerorganisation des ITA. Damit war ein zentrales Organ von großer Bedeutung entstanden – ein DDR-Pendant der sowjetischen Ingenieur-Hauptverwaltung des Staatlichen Komitees für außenwirtschaftliche Verbindungen beim Ministerrat der UdSSR (GKES), des wichtigsten Lieferanten der bewaffneten Organe im Osten Deutschlands. Die ITV ähnelte bis in die Struktur seinem sowjetischen Vorbild. Zu ihren Aufgaben gehörte die Beschaffung von Waffen und Technik sowie von Ersatzteilen aus dem Ausland. Auch Aufträge für spezielle Exporte wickelte die ITV ab: Sie nahm Bestellungen an und erledigte die Planung für die Lieferungen. Beim Import musste das Militär seine Wünsche melden; die ITV schloss dann die Lieferverträge ab und war für die Abwicklung zuständig. Jede Waffe, jedes militärische Gerät für den Im- und Export ging durch die Bücher der ITV. Daneben übernahm die ITV auch die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit wie den Austausch von Spezialisten, Lizenzen und Dokumenten.

Der Chef der ITV, Oberst Erwin Freyer, unterstand direkt dem Verteidigungsminister, die ITV dessen Stellvertreter für Technik und Bewaffnung. In einer als geheime Verschlusssache eingestuften Akte über »Funktionelle Pflichten des Chefs der Ingenieur-Technischen Verwaltung« vom 17. März 1960 heißt es:

Der Chef der Ingenieur-Technischen Verwaltung hat auf der Grundlage von Befehlen, Anordnungen und Direktiven des Ministers für nationale Verteidigung und der Weisungen der Stellvertreter des Ministers für Technik und Bewaffnung die Arbeit der Verwaltung zu organisieren, zu leiten und die Unterstellten bei der Durchführung der Arbeiten anzuleiten und zu kontrollieren.19

Im Rahmen bestätigter Pläne war er befugt, Verträge abzuschließen. Damit war der Rüstungssektor Teil der Planwirtschaft geworden.

Die ITV war vor allem mit Importen aus der UdSSR beschäftigt; rasch wurde sowjetisches Material eingeführt. »Die wesentlichen Teile der Bewaffnung und Ausrüstung der bewaffneten Organe der DDR wurden [...] über den speziellen Außenhandel sichergestellt«, schreiben die Historiker Torsten Diedrich und Rüdiger Wenzke.20 Um den Aufbau bei der Bewaffnung zu unterstützen, gewährte die UdSSR in den Anfangsjahren günstige Kredite und überließ der DDR gebrauchte Technik. 1955 lag das Importvolumen bereits bei 150 Millionen Mark. Zwischen 1954 und 1956 erhielten KVP und später die NVA vorrangig Panzer, Artilleriesysteme und Jagdflugzeuge aus der UdSSR. 1954 begann der Rüstungshandel mit der ČSSR, 1956 folgten Verträge mit Polen. »Der spezielle Außenhandel begann 1955/56 eine multilaterale Größenordnung anzunehmen.«21 Die kreditfinanzierten Ausgaben für Rüstung in den 50er-Jahren belasteten die DDR bis ins nächste Jahrzehnt.22 Spezielle Importe wurden 1955 aus einem Fonds der Verwaltung für Industriebedarf finanziert.

Anfang der 50er-Jahre residierte die ITV an der Schnellerstraße 1 – 5 in Berlin-Niederschöneweide: im selben Gebäude wie das Zentrale Entwurfs- und Konstruktionsbüro des Ministeriums für Nationale Verteidigung, das vormalige Projektierungsbüro Berlin. Das geht aus Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes (BND) hervor, der gut über die Institutionen an diesem Standort informiert war. Als Zweck des ITV-Büros nennen die besagten Unterlagen die »Erstellung von Projekten für die Rüstungsindustrie vom VEB KBA [Konstruktionsbüro für Anlagen], Berlin, Köpenick«.23 Damit arbeiteten zwei wichtige Institutionen mit direktem Bezug zum Militär Tür an Tür.

Interessant ist die angebliche Terminierung der Beobachtung: Genannt wird das Jahr 1954, doch zu diesem Zeitpunkt existierte das Ministerium – und übrigens auch der BND – noch gar nicht. Beide wurden erst 1956 gegründet. Ebenso widersprüchlich erscheint ein weiterer Bericht aus dem Jahr 1954, der den Schluss zulässt, dass die Organisation Gehlen, der Vorläufer des BND, früh über die Existenz der ITV, ihrer Nachfolgeorganisationen und ihrer Funktion informiert war. In einem Observationsbericht über das Gebäude an der Schnellerstraße ist zu lesen: »ITA koordiniert sämtliche Rüstungsaufträge des WP [Warschauer Pakt] für die DDR«.24 Fest steht, dass in jenem Jahr weder der Warschauer Pakt noch der ITA existierten. Offenbar wurden Einträge nachträglich und fehlerhaft vorgenommen. Informantin war eine Technische Zeichnerin, die bis 1960 im Konstruktionsbüro für Anlagen gearbeitet und sich dann illegal nach West-Berlin abgesetzt hatte.

Weitere Nachbarn der ITV an der Schnellerstraße waren diverse metall- und chemieverarbeitende Betriebe. Ebenfalls an der Schnellerstraße mit der Hausnummer 139 war die VVB UNIMAK beheimatet, unter deren Dach alle Rüstungsbetriebe der DDR zeitweise integriert waren und die 1960 hier ein Zeichenbüro und eine Kfz-Werkstatt für das Militär und die Volkspolizei betrieb.25 Unweit von der Schnellerstraße produzierten an der Sedanstraße zudem die Pertrix-Werke Plattenbatterien für sowjetische U-Boote und Flugzeuge. Das Werk wurde nach Unterlagen des BND bereits Ende der 40er-Jahre beobachtet.26

Aus der ITV-Zeit sind heute nur wenige Dokumente erhalten. Zu den frühesten Aktivitäten gehört ein Vertrag vom 4. Juli 1956 mit der China National Technical Import and Export Cooperation mit Sitz in Peking. Darin ging es um Pläne für ein Institut zur Optimierung von Waffen und Munition der Landstreitkräfte, das mehrere hundert Mitarbeiter haben sollte, sowie für den Bau eines Schießplatzes für Flugabwehrgeschütze. Zu den vom ITV übernommenen Aufgaben gehörte die Definition der Aufgaben und Ziele, Ausrüstung und Personalbedarf. Den Unterlagen des Bundesarchivs ist zu entnehmen, dass die ITV zu diesem Zeitpunkt kaum Erfahrung mit derartigen Geschäften hatte. Zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung waren sich die Mitarbeiter noch nicht schlüssig, welche Kosten die DDR dafür in Rechnung stellen wollte. Bis zum 1. September sollte das nachgeholt werden. Die Volksrepublik China sollte in Rubel bezahlen. Die Rechnung über 257.000 Rubel folgte am 15. Oktober 1956.27 Warum gerade dieses Dokument erhalten blieb und andere aus jener Zeit, die im großen Umfang vorhanden gewesen sein müssen, verschwanden, wird möglicherweise für immer unklar bleiben.

Dem Geschäft vorausgegangen war ein sechswöchiger Besuch einer dreiköpfigen Militärdelegation aus Peking in der DDR im Sommer 1956. Die Gäste besuchten 25 Betriebe sowie Einrichtungen der Armee und informierten sich über Elektrotechnik, Hochfrequenztechnik, Feinmechanik und Optik für militärische Zwecke sowie für Spezialfahrzeuge. Danach übergaben die Chinesen ihren Gastgebern eine Liste mit Wünschen.28 Die Gäste erhielten außerdem technische Dokumentationen für Hunderte militärische Produkte – vom schweren Lastwagen über Feldfernkabel bis zu Schiffsdieseln.29 Bei diesem Besuch wurde auch ein zweites großes Geschäft zwischen der ITV und China angebahnt: der Export eines Hochgeschwindigkeitswindkanals für Triebwerktests von Kampfflugzeugen vom Typ MiG-15. Das Geschäft hatte ein Volumen von 1,9 Millionen Rubel. Geliefert wurde in den Jahren 1959 und 1960.30 Über die Jahre lieferte die ITV auch optische Geräte sowie elektronische Ausrüstung nach China.31

Zu den ersten Exporten der ITV innerhalb des Ostblocks zählten Großschneepflüge für Polen. Das Geschäft war kein besonderer Erfolg: Weil die Kunden mit der Technik unzufrieden waren, kam es zu Reklamationen – noch bis 1959 wurden Maschinen in die DDR zurückgesendet. Ein weiteres frühes Geschäft war die Lieferung von Hochseeschleppern an Bulgarien. Auch das lief nicht reibungslos: Wegen technischer Probleme, insbesondere bei den Dieselmotoren, verzögerte sich die Lieferung.32

Auf internationaler Ebene weitaus bedeutender als die Geschäfte mit China war 1956 die Gründung eines Gremiums, das die Zusammenarbeit der Verteidigungsindustrien in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten koordinieren sollte. Der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission der DDR, Bruno Leuschner, berichtete im Januar 1956 dem Politbüro von der geplanten Einsetzung einer »Kommission für die Fragen der Produktion der Verteidigungsindustrie« im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Die Existenz der Kommission blieb geheim, nicht einmal Leuschners Stellvertreter wusste davon. Die ostdeutsche Delegation wurde vom Leiter des Amtes für Technik angeführt. Ab 1958 wurde die Delegation ausschließlich durch Militärs besetzt. Welche Waffen und andere Ausrüstungen die NVA einsetzte – und zu großen Teilen über die ITV importieren musste –, war durch die Militärökonomische Integration (MöI) im Wesentlichen festgelegt, die ein einheitliches System der Bewaffnung und Ausrüstung des Warschauer Vertrags zum Ziel hatte.33 Vorrangig handelte es sich dabei um sowjetische Produkte, Doppelentwicklungen wurden somit weitgehend vermieden. Standards definierten das Technische Komitee der Vereinten Streitkräfte und der Militärwissenschaftlich-Technische Rat.

Ein Schlaglicht auf den wenig brüderlichen Umgang der Vertragsstaaten untereinander bietet die regelmäßige »Berichterstattung über die Erfüllung der Aufgaben«. Daraus geht beispielsweise für das zweite Quartal 1962 hervor, dass manche Staaten ihren Zahlungsverpflichtungen eher widerwillig nachkamen: Die Sowjetunion stand beim speziellen Außenhandel mit 800.000 Rubeln in der Kreide und hatte damit gerade einmal 64 Prozent ihrer Zahlungsverpflichtungen erfüllt. Die Bulgaren lagen mit zwei Millionen Rubeln im Soll und hatten erst 184.000 gezahlt. Lediglich Polen und Rumänien hatten komplett gezahlt.34

Wechsel ins Außenhandelsministerium: Die Ingenieur-Technische Hauptverwaltung

Einem Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates folgend, wechselte am 1. Juli 1961 die Ingenieur-Technische Verwaltung vom Verteidigungs- ins Außenhandelsministerium und firmierte dort mit erweitertem Namen als Ingenieur-Technische Hauptverwaltung (ITHV). Grund dafür dürfte die Einschätzung des Verteidigungsministers gewesen sein, er sei nicht für die Abwicklung internationaler Lieferungen verantwortlich, die Güter für das Innenministerium und die Staatssicherheit einschließen.35 Die Neuorganisation sollte außerdem der »Verbesserung der materiell-technischen Versorgung« der NVA dienen.36 Die Aufgabe der ITHV war eindeutig definiert:

Die Ingenieur-Technische Hauptverwaltung hat die gesamte Beschaffung von Militärtechnik, Komplettierungs- und Ersatzteilen aus Importen nach den Forderungen der bewaffneten Organe so zu organisieren, dass die operativen Forderungen mit der materiell-technischen Versorgung übereinstimmt.37

Wichtig dabei seien vertragliche Bindungen und die hohe Qualität der Güter. Das Außenhandelsministerium war damit formell zuständig für den kompletten Im- und Export militärischer Güter und der »speziellen Ausrüstung« der Stasi, der Polizei und der Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Verteidigungsministerium und Armee mussten sich nicht länger selbst um Rüstungsimporte kümmern; aus dem Außenhandelsministerium wurde ein Dienstleister fürs Militär. Mit der ITHV war in der DDR – wie in allen Staaten des Warschauer Pakts – nach sowjetischem Vorbild eine Außenhandelsverwaltung für militärische Produkte in einem zivilen Ministerium entstanden.

In der Folge der Neuorganisation zogen Militärs der vormaligen ITV in das zivile Außenhandelsministerium ein, das diesen gegenüber auch weisungsbefugt war.38 Es musste einen eigenen Haushaltstitel für den Betrieb schaffen und den zivilen ITHV-Mitarbeitern Reisen und andere Ausgaben finanzieren. Die ITHV arbeitete im sogenannten Objekt BIII an der Regattastraße 12 in Berlin-Grünau, das von der NVA gesichert wurde. Dort standen den Mitarbeitern die obere Etage des Hauses 4 vollständig und im Erdgeschoss sieben Zimmer zur Verfügung. Wer in dem scheinbar zivil genutzten Gebäude des Außenhandelsministeriums das Sagen hat, war auch nach dem Wechsel von der ITV zur ITHV unmissverständlich klar: Solange der Minister für nationale Verteidigung nicht anders entscheide, bleibe es bei der Nutzung der Räume im Objekt BIII, hieß es in den »Maßnahmen zur Überleitung« vom 28. Juni 1961. Der Chef der ITHV (und später auch der des ITA) unterstand zwar dem zivilen Außenhandelsminister. In militärischen Fragen und disziplinarisch blieb jedoch der Verteidigungsminister sein Vorgesetzter.39 In Zweifelsfällen sollten sich beide Minister einigen und gemeinsam eine Entscheidung treffen. Strukturveränderungen bei der ITHV waren nur mit Zustimmung des Militärs möglich. Beide Ministerien sicherten sich eine enge Zusammenarbeit zu. Das Verteidigungsministerium wurde verpflichtet, dem Außenhandel Informationen über die genutzte Technik zur Verfügung zu stellen. Ausnahmen waren nur bei Systemen mit besonderer Geheimhaltungsstufe zulässig. Für den Transport importierter Güter war ab Grenzübergang das Militär zuständig.

Die ITHV war – wie der Name sagt – eine Verwaltung, kein Betrieb und daher auch personell anders strukturiert als gewöhnliche Außenhandelsbetriebe. Die Leitung setzte sich aus dem Chef der Hauptverwaltung – einem Offizier im Rang eines Generalmajors –, seinem Stellvertreter – einem Oberst –, den Leitern der Hauptabteilungen und »Gehilfen des Chefs für Kaderfragen« zusammen. Stets behielten die Offiziere das Sagen. Auch der Vertreter des Außenhandelsministers war zumeist ein hochrangiger Offizier. Den militärischen Charakter nahm man auch auf anderer Ebene sehr ernst: Jeder Soldat war mit einer Dienstwaffe ausgerüstet. Außerdem lagen Schutzmasken und -kleidung zur Abwehr chemischer Gefahren bereit, ab 1963 auch Entgiftungsausrüstungen.

Die personelle Besetzung in den ersten Jahren war überschaubar. 1962 zum Beispiel wies der Stellenplan 21 Offiziere, einen Stabsfeldwebel und 22 zivile Beschäftigte aus.40 1963 war der Personalbestand gegenüber dem Vorjahr deutlich, um 79 Prozent, angewachsen. Erstmals aufgelistet werden nun auch Außenstellen im Ausland: In Warschau und Prag war jeweils ein Offizier als Attaché beim Leiter der Handelspolitischen Abteilung angesiedelt.41 Um ihre Aufgaben auch im Fall eines Krieges zu gewährleisten, war eine personelle Aufstockung der ITHV im Krisenfall geplant.42 Beim Umstrukturieren innerhalb der ITHV in den 60er-Jahren hatte man die Organisation nicht wie einen nach unterschiedlichen Funktionen differenzierten Betrieb aufgebaut, sondern schlicht nach den im- und exportierten Gütern aufgeteilt.43

Die Arbeit der ITHV beschränkte sich weitgehend auf den Handel mit den sozialistischen Ländern. Dabei ging es beispielsweise im Jahr 1962 um Fahrzeuge, Hauben für Piloten, aber auch Halbleiter- und Mikrowellenbauelemente. Die Abgesandten der beteiligten Staaten trafen sich in bilateralen Kommissionen, um die Lieferungen und den Wissensaustausch abzustimmen. Wie schon bei der ITV gehörten daneben die »technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit zu speziellen Themen« und der Austausch von Spezialisten zu den Aufgaben der ITHV. Den wachsenden Handel mit Rüstungsgütern belegen Dokumente über die Lieferabsprachen innerhalb des Ostblocks. So schraubte die DDR ihre Importwünsche gegenüber Ungarn von 1963 bis 1965 von 10,1 Millionen auf 23,2 Millionen Rubel hoch. Die Anfragen an Rumänien hatten sich knapp vervierfacht. Die Importe aus der UdSSR dagegen lagen in diesem Zeitraum stabil bei etwa 40 Millionen Rubel.44 Auch wenn das Interesse umgekehrt über Jahre teils deutlich geringer war – Rumänien etwa bestellte 1965 für gerade mal 100.000 Rubel bei der ITHV –, verzeichnete auch der Export Steigerungsraten im Siebenjahresplan von 180 Prozent.45 Die Vielfalt der Import- und Exportwaren war enorm: 1961 waren im Importplan 10.000 unterschiedliche Erzeugnisse verzeichnet, 1963 waren es 21.000. Hinzu kamen noch einmal 24.000 Positionen für handelsübliche Erzeugnisse. Die ITHV-Liste von 1963 über handelsübliche Artikel aus zivilen Betrieben, die für den Export an befreundete Armeen infrage kamen, umfasste 39 Seiten.46

Zu den immer wiederkehrenden Problemen gehörte die Ersatzteilbeschaffung, insbesondere aus der Sowjetunion. »Hier ist die Lage weitaus komplizierter als beim zivilen Außenhandel«, hieß es 1962 in einem Bericht an das Ministerium für Außenhandel.47 Ursache hierfür sei eine rasante Entwicklung in der Militärtechnik, die nur noch für zwei oder drei Jahre produziert werde, bis ein neues Produkt komme. Auch die Preisabsprachen würfen Probleme auf, schrieb der ITHV-Chef. Militärtechnik wurde in der UdSSR zu günstigen Preisen produziert. Baute ein Land die Technik mit sowjetischer Lizenz nach, lagen die Produktionskosten höher. Daher sei das Interesse an Exporten vielfach gering, beklagte der ITHV.

Schon damals waren auch Importe aus dem kapitalistischen Ausland nicht tabu, zumindest sofern das Verteidigungsministerium bestellte und die Genehmigung des stellvertretenden Verteidigungsministers vorlag. Andere bewaffnete Organe wie die Staatssicherheit, das Innenministerium und die GST durften dagegen nur Produkte aus dem sozialistischen Wirtschaftsraum anfordern. Ab Planjahr 1963 war die ITHV auch verantwortlich für den Import »handelsüblicher Erzeugnisse aus allen Wirtschaftsgebieten«, also nicht-spezieller Güter. Außerdem übernahm die ITHV den Import ziviler Hubschrauber und Flugzeuge.

Die Befugnisse der ITHV reichten weit. Als der VEB Industriewerke Ludwigsfelde beispielsweise 1962 beim Außenhandelsbetrieb Technocommerz komplette Ersatzteilsätze für die Wartung von MiG-21-Triebwerken im Wert von 3,5 Millionen Rubel orderte und damit gegen die Geheimhaltungsvorschriften verstieß, zog der ITHV die Bestelllisten ein. Die Begründung: Durch sie würden zivile Stellen über die Stärke des MiG-21-Bestands erfahren. Die ITHV pochte darauf, dass Bestellungen bei ihr aufzugeben seien.48

Zur Umorganisation bei der Ausrüstung der Armee und anderer bewaffneter Organe gehörte neben der Gründung der ITHV die Bildung eines Amts für Beschaffung, die der Nationale Verteidigungsrat im Juni 1963 beschlossen hatte. Das Amt wurde dem Verteidigungsminister unterstellt. Es löste die unterschiedlichen Beschaffungsverwaltungen der NVA, des Innenministeriums, der Staatssicherheit und des Zolls ab.49

Abhängig von Rüstungsimporten – Verlustreiche Exporte

Anfragen des Hauptstabes des Verteidigungsministeriums für Lieferungen aus der Sowjetunion nahmen ihren Weg über die ITHV und ihr Büro in Moskau. Wenn es dem Stab dringend erschien, konnte es sich auch um kleine Lieferungen handeln. So bestellte die ITHV im Februar 1962 neben Großlieferungen wie 24 Mehrfachraketenwerfern vom Typ BM-24 inklusive Munition auch Kleinstposten wie drei Tonbandmaschinen oder einen Funksender. Ab 1962 wurden Anfragen aus Berlin in Moskau dann auf einer höheren Ebene behandelt und beschieden. Anträge auf Lizenzübernahmen, technische Dokumentationen, technische Hilfe durch Spezialisten und sämtliche Anfragen zur wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit seien künftig auf Regierungsebene einzureichen, schrieben die Ingenieur-Techniker aus Moskau am 16. Februar 1962 nach Ost-Berlin.50 Anlass für dieses neue Vorgehen sei die wachsende Zahl der Anfragen.

Die große Abhängigkeit der DDR von Rüstungsimporten belegt beispielhaft der Perspektivplan für die Jahre 1964 und 1965, der 52 Seiten lang ist und detailliert von der MP-Munition bis zur Schiffsbewaffnung auflistet, welche Waren eingeführt werden mussten. Größte Posten waren die Panzer- und die Nachrichtentechnik.51 Die ITHV beschränkte sich bei ihren Anfragen nicht allein auf den Rüstungsbereich, sondern fragte auch nach anderen Materialien, die in der Volkswirtschaft gebraucht wurden. Dazu zählten beispielsweise Ausrüstungen für Bergwerke und Geräte für die Gesteinszertrümmerung beim Braunkohleabbau. Ein Magnetron sollte mit Mikrowellen große Steine zerstören und somit Sprengungen überflüssig machen, die teuer waren und Schäden im Umfeld anrichteten.52

Dass die noch junge Volksarmee der DDR und ihre Waffenbeschaffer noch nicht über alle Details des Rüstungskomplexes des Ostblocks Bescheid wussten, offenbart ein Vorgang aus dem Februar 1962. Die ITHV hatte in der UdSSR nach 50 Triebwerken vom Typ WK-1 nachgefragt und erfuhr in Moskau, dass diese dort gar nicht hergestellt wurden. Man möge sich an die Ingenieur-Technische Hauptverwaltung in Polen wenden. Auch in anderen Bereich lief die Zusammenarbeit in den frühen Jahren nicht rund. Zwar konnte die DDR ihre aus der Sowjetunion gelieferten Panzer selbst warten und reparieren. Doch wichtige technische Dokumentationen lagen nicht vor. Ob Moskau die Sorge um die Geheimhaltung der Dokumente umtrieb oder die Weitergabe schlicht vergessen worden war, bleibt offen. Im Februar 1962 schickte das Ministerium jedenfalls eine umfangreiche Liste nach Moskau und bat um die technischen Unterlagen für die Motoren von Schwimmpanzern, Nachtsichtgeräten, Panzerkanonen und Vereisungswarnern für Hubschrauber.53

Gegen die weitverbreitete Einschätzung, die DDR habe nur leichte Waffen, Munition und Schiffe hergestellt, sprechen Dokumente aus dem Jahr 1963. So wurden in jedem Jahr im VEB Maschinenfabrik und Eisengießerei Dessau 175 Getriebe für den Panzer T-34 produziert. Den Auftrag hatte die ITHV erteilt, die bei den Bruderländern die gewünschte Stückzahl erfragt hatte. Die Produktion erfolgte jährlich in Serie. Groß war die Enttäuschung jedoch im Jahr 1963, als die ITHV die Getriebe anbot und verbindliche Anfragen einholen wollte. Offenbar bestand das zuvor bekundete Interesse nicht mehr. Lediglich Bulgarien bestellte 30 Stück. Nicht einmal Polen, das zu den Stammkunden zählte, erteilte einen Auftrag. Vermutlich war das Interesse gering, weil der bis 1958 gebaute Weltkriegspanzer T-34 in absehbarer Zeit ausgemustert werden sollte und der Bedarf an Ersatzteilen bis dahin gedeckt war.54 Dieses Vorgehen belegt ein weiteres Mal die Unerfahrenheit der Außenhändler.

Unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, war der Exporthandel, den die ITHV zu dieser Zeit trieb, ein teures Zuschussgeschäft. 81 Millionen Mark zahlte der spezielle Außenhandel 1963 für den Einkauf der für den Export bestimmten Waren im Inland und erzielte dafür nur Einnahmen in Fremdwährung (»Valuta«) im Gegenwert von 35 Millionen Mark. Besser lief das Geschäft hingegen beim Import: 405 Millionen Mark wurden bei den Planträgern – also bei der NVA und anderen – für die Lieferung der im Ausland bestellten Waren eingenommen: ein Überschuss von 8,7 Millionen Mark. Größter Handelspartner war die Sowjetunion, die für 16 Millionen einkaufte und für 206 Millionen an die DDR verkaufte. Insgesamt hatte die DDR 1963 Rüstungsgüter im Wert von 310 Millionen Mark importiert und für 35 Millionen exportiert. Bei den In- und Exporten ging es letztlich jedoch nicht um betriebswirtschaftliche Aspekte wie Rentabilität, sondern um die Sicherstellung der Ausrüstung für die Armeen.

An den Grenzübergangsstellen herrschte somit reger Verkehr. So meldeten die Außenstellen der Transportgruppe der ITHV für das erste Halbjahr 1965 aus den Grenzübergängen Bad Schandau und Frankfurt/‌Oder 179 Import-Transporte mit 814 Bahn-Waggons und einem Gesamtgewicht von 10.500 Tonnen. Hinzu kamen Tausende weitere Sendungen per Post, über Straßentransporte oder in Rostock als Schiffladung an.55

Erste Lieferungen an nichtsozialistische Länder

Eine Zäsur bei der ITHV folgte nach einer Besprechung über einen neuen »Funktionsverteilungsplan« am 7. Januar 1965. Überschüssige militärische Erzeugnisse aus DDR-Produktion sollten künftig nicht mehr ausschließlich an die bisherigen Vertragspartner wie die Staaten des Warschauer Pakts und China, »sondern auch in solche sozialistischen Länder wie Kuba, Jugoslawien oder junge Nationalstaaten wie die VAR [Vereinigte Arabische Republik]56 o. a.« geliefert werden.57 Außerdem wies der Außenhandelsminister die ITHV an, zwei Mitarbeiter für Sondierungen in die Länder zu entsenden, mit denen man künftig handeln wolle. Sie sollten Sprachkurse besuchen, um künftig ohne Dolmetscher arbeiten zu können. Die Abwicklung sollte der AHB Technocommerz übernehmen, weil das Unternehmen – im Gegensatz zur ITHV – bereits über die entsprechenden Verbindungen in diese Länder verfüge.

Außer den Hilfen für afrikanische und lateinamerikanische Staaten nahm die DDR 1965 auch Kontakte zu einem potenziellen Handelspartner im hohen Norden auf. Anfang 1965 hatten Politbüro und Ministerrat beschlossen, den Handel mit Finnland zu intensivieren und auch militärische Güter aus eigener Produktion zu liefern. Eine Anfrage aus Helsinki hatte das Außenhandelsministerium an die ITHV weitergeleitet.58 Die ITHV stellte Prospektmaterial mit Angeboten zusammen. Dazu zählten Munition, Stahlhelme und Fallschirme sowie optische Geräte und Fernmeldeausrüstung. Einzelheiten wurden auf der Leipziger Messe besprochen.59

Fokussierung auf Vertragsabschlüsse und Lieferungen: Der Ingenieur-Technische Außenhandel

Am 1. Januar 1966 ging die ITHV in zwei Organisationen auf: Den Bereich Spezieller Außenhandel (BSA) und den Ingenieur-Technischen Außenhandel (ITA).60 Sowohl ITA als auch BSA gehörten zum Außenhandelsministerium, wurden aber von Offizieren der NVA geleitet. Der BSA wurde als übergeordneter Bereich im Ministerium für Außenhandel konzipiert und hatte die Aufgabe, in Bezug auf den Handel mit Rüstungsgütern zwischenstaatliche Vereinbarungen zu treffen, Grundsatzfragen zu klären und Importbedarfe abzustimmen. Der ihm unterstellte ITA war zuständig für Verhandlungen, den Abschluss von Verträgen und die Realisierung von Im- und Exporten.61 Dabei wurde festgelegt, den ITA selbstständig im Rahmen der vom BSA und den bewaffneten Organen festgelegten Aufgaben arbeiten zu lassen. Dafür maßgeblich waren stets die im Ostblock vereinbarten Fünfjahrespläne für Lieferungen, die für jedes Jahr noch einmal präzisiert wurden.

»Für den Aufbau und die weitere Entwicklung der Streitkräfte der DDR stellten Importe von Bewaffnung und Ausrüstung, vorwiegend aus der UdSSR, den Grundpfeiler dar«, schreibt NVA-Generalleutnant a. D. und Chef des Militärbereichs der Plankommission, Wolfgang Neidhardt. »Damit ergaben sich für die Einrichtungen des speziellen Außenhandels verantwortungsvolle Aufgaben.«62

2 Der Kontext – ITA und IMES: Partner und Konkurrenten

Band 17, Blatt-Nr. 813, Abteilung C im Register der volkseigenen Wirtschaft des Magistrats von Groß-Berlin, Abteilung Finanzen – dort ist die Geschichte des Ingenieur-Technischen Außenhandels seit 1966 bis zur Auflösung verzeichnet. Eine der geheimsten und am besten abgeschotteten Organisationen der DDR musste sich registrieren lassen wie jeder andere Betrieb auch. Als übergeordnetes Verwaltungsorgan wird durchgehend der Ministerrat der DDR mit dem Ministerium für Außenhandel mit seinen wechselnden Bezeichnungen (bis 1967: für Außenhandel und innerdeutschen Handel, bis 1973: für Außenwirtschaft) angegeben. Als Zusatz folgt stets der Hinweis auf den Bereich Spezieller Außenhandel (BSA), dem der ITA zugeordnet war. Der ITA wurde aus dem Staatshaushalt finanziert und führte auch seine Einnahmen dorthin ab. Handelssprache war Russisch.

Das zivile Führungsorgan des ITA, das Ministerium für Außenhandel mit seinen wechselnden Bezeichnungen, hat nur spärliche Einzelheiten über die Aktivitäten des ITA hinterlassen. Mutmaßlich aus Gründen der Geheimhaltung waren die Informationen in den Dokumenten des Ministeriums knapp und zuweilen für den zivilen Laien undurchsichtig. Als zum Beispiel das Ministerium am 18. April 1975 einen »Marktbearbeitungsplan« der Außenhandelsbetriebe für die sozialistischen Bruderstaaten vorlegte, stand der ITA zwischen dem »AHB Limex – Leichtmetallhallen« und dem »AHB Transportmaschinen – Zweiräder, Melkanlagen, Mühlen« mit dem spärlichen Vermerk »Ausrüstungen«. Sogar den Zusatz »speziell«, in der DDR der verschleiernde Hinweis für einen Rüstungsbezug, hatte man weggelassen. Selbst innerhalb des Ministeriums waren Kontakte zwischen den Mitarbeitern des ITA und Kollegen anderer Betriebe offenbar unerwünscht. Bei Reisen von Wirtschaftsdelegationen sucht man den ITA auf den Teilnehmerlisten in der Regel vergebens.63 Grundsätzlich waren alle Vorgänge des ITA als geheim zu bewerten. In der Arbeitsordnung hieß es unter dem Punkt »Pflichten der Mitarbeiter«: »Alle Mitarbeiter sind zur strengsten Verschwiegenheit über betriebliche Angelegenheiten verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht auch nach Beendigung des Arbeitsrechtsverhältnisses.« Auch die Auskünfte an Gerichte, Ämter und andere staatliche Organe war streng geregelt. In solchen Fällen war grundsätzlich die Genehmigung des ITA-Chefs erforderlich.64

ITA und KoKo – Arbeit innerhalb und außerhalb des Plans

Auch nach der Wende blieben der ITA und seine Aufgaben weitgehend unbekannt. Nicht zuletzt durch die Ereignisse in Kavelstorf stand ein anderer Betrieb stärker im Fokus der Öffentlichkeit: die IMES. Der erst 1982 gegründete Waffenhandelsbetrieb gehörte zum Bereich Kommerzielle Koordinierung des Außenhandelsministeriums, besser bekannt unter der Abkürzung KoKo. Die KoKo nahm innerhalb der Wirtschaft der DDR eine inhaltliche und rechtliche Sonderstellung ein: Während andere Betriebe im Rahmen der Planvorgaben arbeiten mussten, wurden die Grundsätze des Bereichs KoKo bereits bei der Gründung im Jahr 1966 eindeutig definiert: »Maximale Devisenerwirtschaftung außerhalb des Plans«.65 Die KoKo residierte in Ost-Berlin im Internationalen Handelszentrum (IHZ) an der Friedrichsstraße, einem Gebäude, das vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und vom KGB abgesichert wurde. Im IHZ waren 1980 rund 100 Firmen aus 25 kapitalistischen Ländern untergebracht. Dort arbeiteten Firmen aus Ost und West also unter einem Dach.

Den Anstoß hatte Alexander Schalck-Golodkowski gegeben, der seit 1955 im Außenhandelsministerium arbeitete und im Dezember 1965 in einem Schreiben an Politbüromitglied Hermann Matern darauf hinwies, er könne nur mit »mehr oder weniger unseriösen Methoden« Gewinnanteile für die Devisenerwirtschaftung abzweigen. So etwas sei bei staatlichen Außenhandelsbetrieben »im Prinzip« nicht möglich – man sollte zu diesem Zweck einen eigenen Bereich gründen.66 Eben dies wurde die Aufgabe der 1966 ins Leben gerufenen KoKo. In einer Phase der außenpolitischen Isolation der DDR gegründet, sollten ihre Firmen in erster Linie die Devisen erwirtschaften, die per Kredit oder durch die schwierige außenwirtschaftliche Lage sonst nicht zu bekommen waren. »Mit der Schaffung des Bereichs KoKo im Jahre 1966 war offensichtlich beabsichtigt, die Leistungsfähigkeit der starren DDR-Planwirtschaft zu verbessern«, schreibt der Historiker Jürgen Borchert. Auch andere sozialistische Staaten gründeten vergleichbare Firmen für ihre Auslandsgeschäfte.67 Neben der Erwirtschaftung von Devisen wurde KoKo auch für nachrichtendienstlichen Zwecke der Hauptverwaltung A (HVA) eingesetzt, des Auslandsnachrichtendiensts der Staatssicherheit.68 Zu den Aufgaben der KoKo gehörte außerdem die Beschaffung von Hochtechnologie. Damit wollte die DDR das Embargo des 1948 gegründeten Koordinationsausschuss für multilaterale Ausfuhrkontrollen (Coordinating Committee on Multilateral Export Controls, CoCom) der westlichen Staaten umgehen, der festlegte, welche Güter für den Export aus dem Westen in sozialistische Staaten gesperrt waren. Die BRD wandte diese Liste auch für den innerdeutschen Handel an.69 Ende der 80er-Jahre versuchte die DDR verstärkt, Muster westlicher Militärtechnik beschaffen.

Die KoKo-Betriebe waren gegenüber den Betrieben des planwirtschaftlichen Außenhandels, zu dem der ITA gehörte, im Wirtschafts- und Rechtssystem privilegiert. Sie waren von vielen Kontrollinstanzen befreit, hatten sogar Einfluss auf die Zollbestimmungen. Die begrenzte Zahl der beteiligten Personen garantierte ein hohes Maß an Vertraulichkeit für ihre Geschäfte. Auch konnten sie vergleichsweise selbstbestimmt wirtschaften: Die regulären Außenhandelsbetriebe mussten ihre Geschäfte auf ein spezielles Segment konzentrieren. Manche waren einzelnen Kombinaten zugeordnet oder bereits durch ihren Namen auf bestimmte Produkte festgelegt. KoKo dagegen hatte kein festgelegtes Wirtschaftsgebiet und konnte daher effektiver Geschäfte betreiben: Die Betriebe handelten beispielsweise im Westen mit Ölerzeugnissen, erwirtschafteten Devisen mit Müllimporten oder in den Intershops. Außerdem fädelte KoKo den Freikauf von DDR-Häftlingen durch die Bundesrepublik ein, handelte sogar mit Wurst und übernahm später auch Waffengeschäfte. Die KoKo-Betriebe erhielten lediglich eingeschränkte Planvorgaben, die sich in der Regel nur auf die Devisenbeträge bezogen, die sie jährlich zu erwirtschaften hatten, nicht aber auf die Methode, wie dies zu geschehen habe.70 Die Betriebe überwiesen diese Summe nicht direkt, sondern über die KoKo an den Staatshaushalt. Blieb über die festgelegte Summe hinaus Geld übrig, stand es der KoKo für ihre Aktivitäten zur Verfügung und verschaffte ihr einen deutlich größeren Handlungsspielraum als den anderen Außenhandelsbetrieben.71 Der Staat erlaubte den Betrieben der KoKo – im Unterschied zu anderen Außenhandelsfirmen – die Einrichtung von Konten im Ausland und den Zugriff auf Produktionskapazitäten.

Damit war der staatliche Außenhandel der DDR gespalten: Planwirtschaftliche Außenhandelsbetriebe standen der KoKo gegenüber, die flexibel und relativ marktwirtschaftlich agieren konnte.

KoKo und der Handel mit Rüstungsgütern: Gründung der IMES

Der ITA war über Jahrzehnte alleiniger Ex- und Importeur militärischer Güter gewesen. Das änderte sich nach dem 1. April 1979, als Dieter Uhlig bei der KoKo die Verantwortung für den Bereich »Spezielle Technik« und den Handel mit Äthiopien, Mosambik und Angola übernahm – drei Jahre vor der Gründung der IMES. KoKo stieg nun intensiver in den Handel mit Rüstungsgütern ein. Die Waffengeschäfte begannen mit dem Iran und wurden zunächst vom AHB Transinter abgewickelt, der ursprünglich dazu dienen sollte, »die Marktchancen westlicher Firmen in der DDR zu erkunden und interessierte Betriebe in Deutsch-Ost zu vertreten«.72 Schalck-Golodkowski berichtet, im Arbeitskreis »Spezieller NSW-Export«, der beim stellvertretenden Außenhandelsminister angesiedelt war, sei regelrecht gefeilscht worden, ob die Export-Kontingente dem offiziellen oder inoffiziellen Handel zur Verfügung stünden.73

Zu Beginn der 80er-Jahre hatten die Schulden der DDR bedrohliche Ausmaße erreicht, zugleich schränkte die UdSSR ihre Ölexporte ein. Die DDR reagierte: Der planwirtschaftliche Außenhandel musste seine Export-Anstrengungen erhöhen. Gleichzeitig wurden die Importe reduziert.74 Doch die Geschäfte mit Rüstungsgütern liefen immer schlechter. Gerade bei den einfachen Waffen, die die DDR anzubieten hatte, war die Konkurrenz groß, die Zahlungsfähigkeit der Handelspartner begrenzt. Als Hindernis erwies sich darüber hinaus die restriktive Linie der UdSSR beim Verkauf von Militärgütern, die in Lizenz in der DDR produziert wurden, wie die Kalaschnikow mit Munition sowie Handgranaten, Minen, Panzerabwehrwaffen und Flugabwehrgeschosse. Nur mit Genehmigung aus Moskau durfte Ost-Berlin diese Produkte ausführen. Wo eine Ausfuhrgenehmigung vorlag, unternahm die DDR entsprechend enorme Anstrengungen, die Produktion zu erhöhen.75

Im April 1981 legte Schalck-Golodkowski Günter Mittag ein Papier mit dem Titel »Die Zentrale Aufgabenstellung und Unterstellung des Bereichs Kommerzielle Koordinierung« vor. Eine dieser Aufgaben solle künftig sein:

Wahrnehmung außenwirtschaftlicher Aufgaben in Zusammenhang mit der Sicherung und Produktion spezieller Erzeugnisse, einschließlich militärischer Ausrüstungen und Waffen und deren Export im Zusammenwirken mit den entsprechenden Ministerien und zuständigen Organen.76

Noch im selben Jahr fällten Honecker und Mittag die Grundsatzentscheidung, neben dem ITA eine zweite schlagkräftige Institution zu schaffen, die in der Lage wäre, kurzfristig mit Waffen die dringend benötigten Devisen zu erwirtschaften. Einer neuen Organisation unter dem Dach der KoKo wurden schnelle Verkäufe eher zugetraut als dem an Planvorgaben gebundenen ITA. Bei den Waffenexporten zweigleisig vorzugehen, erlaubte der DDR außerdem, direkte Kriegsgegner zu beliefern – wie Iran und Irak im Fall des ersten Golfkriegs oder Nord- und Südjemen (▸ Kap. 3).77 Auch bot eine Organisation jenseits des Plans die Chance, Waffen zu exportieren, ohne vorher das Okay der Führungsmacht UdSSR einzuholen.78

Am 23. November 1981 wies Schalck-Golodkowski den Generaldirektor von Transinter, Helmut Schindler, an, mit Wirkung zum 1. Januar 1982 die IMES GmbH zu gründen. Die Abkürzung stand für den nur selten benutzten Firmennamen »Internationale Messtechnik Import-Export«. Als GmbH befand sich IMES formal im Besitz von Privatpersonen, die aber nur als Strohmänner fungierten und Abtretungserklärungen an die KoKo abgegeben hatten.79 Bereits am 4. Januar 1982 begann IMES mit ihren Geschäften. Die Vorgaben waren klar beschrieben. »Die Firma IMES ist zu einem leistungsfähigen internationalen Waffenhandelsunternehmen zu entwickeln«, hieß es am 14. September 1983 in einem Aktenvermerk.80

IMES handelte auch mit Ländern, mit denen es nach offizieller Doktrin gar keine Geschäfte geben konnte. »Das bedeutet aber nicht, dass die Staatsführung nicht ihr Okay gegeben hatte«, schreibt Harald Möller und fährt fort: »Alle bisher bekannt gewordenen Waffengeschäfte sind durch Günter Mittag und Erich Honecker persönlich abgezeichnet worden.«81 Dieser Handel sollte einer internationalen Öffentlichkeit, aber auch der eigenen Bevölkerung möglichst verborgen bleiben.82

Die Geschäfte der IMES: Durchwachsene Bilanz

Trotz der Gründung von IMES flossen die Devisen nicht wie erhofft. Als die IMES 1982 mit ihren Geschäften begonnen hatte, waren die Erlöse zunächst hoch, sanken aber in den folgenden Jahren deutlich ab. Zum Schluss betrugen die abgeführten Gewinne nur noch zehn bis 20 Millionen Valutamark. Am Anfang konnte das Unternehmen große Mengen an Handfeuerwaffen aus der Staatsreserve an den Iran liefern, danach fehlten attraktive Güter. Die Einnahmen des ITA lagen zumeist um ein Mehrfaches darüber. KoKo zog Konsequenzen wie ein klassisches kapitalistisches Unternehmen: In der Abteilung Handelspolitik wurde Personal abgebaut.83 Zur IMES gehörten 1989 noch 32 Planstellen.84 Um trotz der Probleme an Devisen zu gelangen, schlug KoKo 1987 vor, verstärkt Ersatzteile in der DDR herzustellen, bei Instandsetzungen für Auftraggeber aus dem NSW einzusetzen und zu exportieren.85

In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre wollte sich die DDR – ähnlich wie in den 70er-Jahren – verstärkt auf die Modernisierung ihrer Wirtschaft konzentrieren, war aber nur zahlungsfähig, weil unerwartete Hilfe aus dem Westen kam. Zwei vom bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU) eingefädelte Milliardenkredite bei westdeutschen Großbanken, das damit geschaffene Vertrauen in die DDR-Finanzkraft und die gesteigerten Exporte hatten den ostdeutschen Staat vorläufig finanziell gerettet. Jetzt konzentrierte sich die DDR verstärkt auf Kompensationsgeschäfte: Die DDR »bezahlte« mit Mineralölerzeugnissen oder mit Produkten, die in westlichen Ländern entwickelt und in der DDR produziert worden waren. Importiert wurden Anlagen, die die DDR-Industrie auf einen modernen Stand bringen sollten. KoKo war federführend, diese Geschäfte einzufädeln. Umgesetzt wurden sie in der Regel von den Außenhandelsfirmen, mit denen KoKo eng zusammenarbeitete.86

Mit Blick auf die Aktivitäten der IMES und die erhofften Devisen schreibt Reinhard Buthmann: »Der Waffenexport stellte eher eine Misserfolgs-‍, denn eine Erfolgsgeschichte dar.« Und weiter: »Eine Vielzahl von ›Geschäftsoperationen‹ des 1982 gegründeten Außenhandelsbetriebes IMES misslang oder war ökonomisch ineffizient.«87 Viele Geschäftspartner seien unseriös gewesen. Außerdem scheiterten mehrere Geschäfte an Indiskretionen.

Um eine weitere Expansion im nichtsozialistischen Wirtschaftsraum zu erreichen, war die Gründung eines weiteren Außenhandelsbetriebs neben ITA und IMES geplant, der für den Export der Produkte aus dem VEB Kombinat Spezialtechnik Dresden (KSD) verantwortlich sein sollte.88 Schalck-Golodkowski beauftrage den IMES-Generaldirektor, zum 16. Februar 1987 eine neue Firma zu gründen: Witra. Auch Witra entstand zum Zweck, Devisen im nichtsozialistischen Wirtschaftsraum zu erwirtschaften, und sollte – so soll die offizielle und verschleiernde Darstellung – vorrangig mit Produkten »aus den Gebieten der metallverarbeitenden Industrie und des Gerätebaus für Meß- und Regeltechnik« handeln.89 Tatsächlich übernahm sie dem Import von Embargowaren und Waffen aus dem westlichen Ausland. Sie beschaffte die Güter, die dann von der IMES exportiert wurden.90 Die Beschaffungsaufträge kamen vom KoKo-Chef.

Auch die Witra agierte außerhalb der Planvorgaben. Geschäftsführer des Waffenbeschaffungsunternehmens war stets ein MfS-Mann.91 Zahlen über die Einkäufe der Witra lagen dem Untersuchungsausschuss des Bundestags und seinen Gutachtern nicht vor, sodass unklar bleibt, wie hoch der Anteil der Witra an den Waffenverkäufen der DDR war.92 Die Treuhandanstalt wies der Witra im September 1991 eine unbedeutende Rolle zu.93

Ein weiteres Unternehmen in diesem Spektrum war Camet. Es handelte sich um eine Staatsfirma, die dem HVA-Oberst Gerhard Franke zugeordnet war und auf seine Anweisungen handelte. Die Leitung der Camet hatte Werner Weber. Durch eine Regelung vom 1. September 1980 wurde Camet dem Bereich KoKo »zur ökonomischen Anleitung« unterstellt. Die Abkürzung Camet steht für »Industrievertretungen und Beratungen für Chemie, Agrar und Metallurgie Export/‌Import«. Camet beschaffte ebenfalls Embargowaren und stand unter Beobachtung der Hauptabteilung I (NVA und Grenztruppen) der Staatssicherheit. Auch über diese Waffenhandelsorganisation der DDR ist nur wenig bekannt und überliefert. Der