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"Ödipus auf Kolonos" ist das umfangreichste der drei thebanischen Dramen des athenischen Tragödienschreibers Sophokles. Es wurde kurz vor seinem Tod im Jahr 406 v. Chr. geschrieben und von seinem Enkel (auch Sophokles genannt) beim Dionysosfest im Jahr 401 v. Chr. aufgeführt. In der zeitlichen Abfolge der Dramen spielt "Ödipus auf Kolonos" nach "König Ödipus" und vor "Antigone"; es war jedoch das letzte der drei thebanischen Dramen , das geschrieben wurde. Das Stück beschreibt das Ende von Ödipus' tragischem Leben. Über den Ort seines Todes gibt es unterschiedliche Legenden; Sophokles siedelt ihn in Kolonos an, einem Dorf in der Nähe Athens und gleichzeitig Sophokles' Geburtsort, wohin der geblendete Ödipus mit seinen Töchtern Antigone und Ismene als Bittsteller der Erinyen und des Theseus, des Königs von Athen, gekommen ist.
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Seitenzahl: 87
Ödipus auf Kolonos
Deutsche Neuübersetzung
SOPHOKLES
Ödipus auf Kolonos, Sophokles
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
Diese neue Prosa-Übersetzung basiert auf der englischen Übersetzung meines Freundes George Theodoridis, die im Original zu finden ist unter https://bacchicstage.wordpress.com/sophocles/antigone/, und die er mir für dieses Werk zur Verfügung gestellt hat. George, tausend Dank dafür, und möge Zeus dir ewig gewogen sein. Der deutsche Text steht unter der Creative Commons Lizenz Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0). Was unter dieser Lizenz erlaubt und keineswegs gestattet ist, erfahren Sie unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/.
ISBN: 9783849662271
www.jazzybee-verlag.de
Dramatis Personae. 1
I2
II7
III23
IV.. 30
V.. 43
VI48
VII55
VIII59
Ödipus
Antigone
Ismene
Theseus
Kreon
Polyneikes
Ein Fremder
Ein Bote
Verschiedene Bedienstete
Chor der Ältesten von Kolonos
[Die Szene: Es ist Tag auf dem Lande, in der Nähe eines heiligen Haines. Einige Bäume, hinter denen sich Antigone und Ödipus verstecken können. Zwei Felsen in einiger Entfernung voneinander. Eine Statue des Helden Kolonos im linken Teil der Bühne. Der blinde Ödipus tritt ein, gestützt von seiner Tochter Antigone. Beide sind erschöpft, ungepflegt, tragen zerrissene und schmutzige Kleidung und haben nackte Füße. Ein fast leerer Bettelsack hängt an Ödipus' Schulter].
Ödipus: Nun sag mir, Antigone, sag mir, Tochter eines blinden Greises, sag mir, wo sind wir? Wessen Land ist das, mein Kind? Wer wird es heute sein, frage ich mich? Wer wird zu Ödipus, dem Wanderer, kommen und ihm die üblichen, erbärmlichen Geschenke machen? Ich bitte nur um wenig, bekomme noch weniger, und trotzdem ist es genug für mich. Mein Leid, mein Alter und mein Mut haben mich gelehrt, mit so wenig zufrieden zu sein. Sieh dich um, mein Kind, ob du einen Platz findest, an dem ich mich setzen kann. Boden, auf dem ein Sterblicher frei wandeln kann oder einen Platz irgendwo in der Nähe eines heiligen Hains. Bring mich dorthin und lass mich eine Weile sitzen, bis wir herausgefunden haben, wo wir sind. Wir sind als Fremde hierhergekommen, also müssen wir zuerst mit den Einheimischen sprechen und herausfinden, was wir tun müssen.
Antigone: [Nachdem sie sich umgesehen hat] Ödipus, mein armer Vater! Die Stadtmauern scheinen ziemlich weit von hier entfernt zu sein, und dieser Ort ist, wie ich glaube, ein heiliger Ort oder etwas Ähnliches. Überall stehen Lorbeerbäume, Olivenbäume und Weinreben, und dazwischen höre ich die süße Musik der gefiederten Nachtigallen. Komm hierher, Vater, und ruhe deine müden Glieder hier auf diesem rauen Felsen aus. Für dein Alter hast du einen langen Weg zurückgelegt.
Ödipus: Ah, gut. Dann hilf mir, mich hinzusetzen, und – kümmere dich um mich. Kümmere dich um diesen blinden, alten Mann, meine Liebste.
Antigone: Nach so langer Zeit brauchst du mir nicht mehr zu sagen, was ich tun soll, Vater! [Hilft Ödipus, sich auf den Felsen zu setzen].
Ödipus: Also, sag mir, Antigone. Wo sind wir hier?
Antigone: Nun, ich weiß, dass wir in Athen sind, aber ich weiß nicht genau, in welchem Teil davon.
Ödipus: Stimmt, das haben uns alle Leute gesagt, denen wir auf der Straße begegnet sind.
Antigone: Soll ich gehen und nachforschen?
Ödipus: Ja, meine Liebste. Finde heraus, ob dies ein Ort ist, an dem Menschen leben können.
Antigone: Aber hier leben bereits Menschen, Vater ––– . [Blickt in die Ferne]. Und ich glaube, ich muss gar nicht weggehen, denn da kommt ein Mann in unsere Richtung.
Ödipus: Sagtest du, er kommt in diese Richtung, mein Kind?
[Auftritt ein Fremder].
Antigone: Ja, und jetzt ist er hier. Sprich mit ihm, Vater. Frag den Mann, was dir auf dem Herzen liegt.
Ödipus: Fremder, dieses Mädchen hier, das für mich das Sehen übernimmt, sagt mir, dass du hier bist, direkt vor mir. Du kommst also gerade rechtzeitig, um einige unserer Fragen zu beantworten.
Fremder: [Wütend] Warte! Bevor du mir deine Fragen stellst, komm von diesem Stein herunter! Dies hier ist ein heiliger Ort, der nicht durch sterbliche Füße verunreinigt werden darf.
Ödipus: Oh! Was ist das für ein Ort und welchem Gott ist er geweiht, mein Freund?
Fremder: Es ist ein Ort, der nicht durch den Kontakt zu Menschen entweiht werden darf. Dieser Ort gehört den Töchtern der Erde und der Finsternis, den schrecklichsten aller Göttinnen!
Ödipus: Unter welchem Namen verehrt man sie, mein Freund? Verrate es mir, damit ich zu ihnen beten kann, bitte.
Fremder: Die Leute hier nennen sie die Eumeniden, "die Gütigen, die alles sehen", aber Menschen an anderen Orten haben ganz andere Namen für sie.
Ödipus: Nun, ich hoffe, sie sind einem Bittsteller wie mir freundlich gesonnen, denn ich werde mich nicht von diesem Platz rühren!
Fremder: Wie bitte? Was willst du damit sagen?
Ödipus: Dieser Sitz hier, mein Freund, ist ein Zeichen, ein Zeichen, das mir von meinem Schicksal geschickt wurde.
Der Fremde: Nun, wenn dem so ist, wage ich es nicht, dich aus der Stadt zu vertreiben, bevor ich mich mit den übrigen Bürgern beraten habe.
Ödipus: Um Himmels willen, Fremder, bitte strafe mich nicht mit Verachtung, nur weil ich dir wie ein Bettler vorkomme. Bitte hilf mir bei meinen Fragen.
Fremder: Bitte, dann stell mir deine Fragen. Ich werde dir die Antworten nicht verweigern.
Ödipus: In welchem Land befinden wir uns?
Fremder: Hör gut zu, mein Freund, denn ich werde dir alles sagen, was ich darüber weiß. Dieser ganze Ort hier ist heilig. Er gehört dem höchst verehrten Gott Poseidon. Ihm und dem feuerspeienden Titanen Prometheus ist dieser Ort geweiht, und die Stelle, an der du sitzt, ist das bronzene Tor zu diesem Land, die Schwelle zur Stadt Athen. [Zeigt auf die Statue hinter Ödipus] Die Nachbarstädte hier rühmen sich, dass dieses Land das Reich des großen Reiters Kolonos war, dessen Statue gleich dort drüben steht – und deshalb haben sie diese Stadt nach ihm benannt. Das ist die ganze Geschichte, mein Freund, eine Geschichte, die wir nicht nur mit Worten, sondern mit noch mehr Ehrfurcht würdigen.
Ödipus: Es leben also Menschen hier?
Fremder: Ja. Sie haben sich nach diesem Gott dort benannt, Kolonos.
Ödipus: Wird dieser Ort von einem König oder vom einfachen Volk regiert?
Fremder: Diese Stadt wird von einem König regiert.
Ödipus: Und wer ist es, der dieses Land mit Wort und Tat regiert?
Fremder: Sein Name ist Theseus. Er ist der Sohn des alten Königs Aegeas.
Ödipus: Könnte einer von euch guten Bürgern für mich zum König gehen?
Fremder: Um was zu tun? Dem König eine Nachricht zu überbringen oder ihn zu überreden, hierher zu kommen?
Ödipus: Um ihm zu sagen, dass seine Belohnung groß sein wird, wenn er mir nur ein wenig hilft.
Fremder: Aber welche Belohnung könnte ein Blinder einem König anbieten?
Ödipus: Ich bin blind, ja, aber meine Worte werden Augen haben.
Fremder: Weißt du was, Fremder? Auch wenn du äußerlich einem armen Mann gleichst, kann ich doch erkennen, dass dein Herz das eines edlen Mannes ist. Also gut, du bleibst hier, wo du bist – genau dort, wo ich dich zum ersten Mal gesehen habe, und ich werde nicht in die Stadt, sondern in das Dorf zurückgehen und mit den Leuten dort sprechen. Sie können entscheiden, ob du bleiben darfst oder gehen musst. [Ab]
Ödipus: Meine Liebste, ist der Fremde gegangen?
Antigone: Ja, Vater, er ist gegangen; du kannst frei sprechen. Ich bin die Einzige, die dich hören kann.
Ödipus: [Betet] Oh, große Damen! Ihr mit euren furchterregenden Augen! Ich bete zu euch, ehrwürdige Damen, da dieser Ort, der erste, zu dem ich in diesem Land gekommen bin, euch gehört! Ich bitte euch, ehrwürdige Damen, seid Phoebus Apollo und mir freundlich gesonnen, denn es war Phoebus, der mir meine schreckliche Zukunft prophezeit hat und mir sagte, dass an diesem Ort hier alles enden wird. An diesem Ort hier, so sagte er, werde ich einen einladenden Sitz und auch Schutz finden – an diesem Ort hier, gefürchtete Göttinnen, an diesem Ort, der euch gehört. An diesem Ort, so sagte mir der Gott, werden diejenigen, die mich willkommen heißen, belohnt, und diejenigen, die mich vertreiben, verflucht werden. Man wird mir Zeichen geben, sagte er, Zeichen wie Erdbeben oder Donner oder Blitze von Zeus. Ich kann erkennen, dass dies euer Zeichen ist, meine gefürchteten Göttinnen. Ihr wart es, die mich hierher in diesen Hain geführt haben – wie sonst hätte ich, ein nüchterner Mann, der nie trinkt, mich hierher verirren können? Warum sonst hätte dieser heilige, raue Felsen der erste Ort sein sollen, an dem ich mich ausruhe? Kommt also, ihr Göttinnen, erfüllt das heilige Wort des Phoebus: Bereitet dem Elend ein Ende, das ich ertragen muss, bereitet meinem Leben ein Ende. Es sei denn, ihr haltet mich für ein zu abscheuliches Geschöpf, als dass ihr das tun könntet – ich, ein Sklave des Elends, das größer ist als das jedes anderen Sterblichen. Kommt, kommt nun, ihr sanften Töchter der alten Finsternis! Komm, komm, großes Athen, du Stadt, die den Namen der großen Göttin Pallas Athene trägt! Komm, Athen, du größte Stadt von allen! Hab' Mitleid mit diesem entehrten Geist eines Mannes namens Ödipus, dessen Körper nicht mehr der des jungen, mutigen Mannes ist, der er einst war.
Antigone: Schweig, Vater. Da kommen einige Männer, vermutlich die Ältesten. Sie wollen herausfinden, ob du rechtmäßig an diesem Ort sein darfst.
Ödipus: Ich werde schweigen, meine Tochter, aber verstecke mich! Verstecke mich in den Bäumen, weg von der Straße, damit wir hören können, was sie sagen. Wir müssen wissen, was sie vorhaben, damit wir entsprechend handeln können. [Beide verstecken sich].
[Auftritt der Chor der Ältesten von Kolonos. Sie suchen überall nach Ödipus].
Der Chor: Seht euch überall um, Männer! ––– Wo ist er? ––– Wo versteckt er sich? ––– Unverschämter Mensch! ––– Seht überall nach! ––– Sucht überall! ––– Lasst eure Augen jedes Fleckchen Erde prüfen! ––– Er ist sicher ein Heimatloser, ein Wanderer, ein Fremder! ––– Ganz sicher kein Einheimischer, sonst hätte er es nicht gewagt, diesen heiligen Boden zu betreten! ––– Dieser Boden gehört den Damen mit den grausamen Augen! ––– Bei deren Namen wir zu zittern beginnen! ––– Die Damen, an denen wir nur mit gesenktem Kopf vorbeigehen können! ––– Und mit fest verschlossenen Mündern. ––– Schweigend! ––– Ehrfurchtsvoll Gebete flüsternd! ––– Aber nun, so heißt es, sei jemand gekommen, der keinen Respekt vor den Damen hat! ––– Nun haben wir aber den gesamten heiligen Ort durchsucht und können ihn nicht finden!
[Ödipus und Antigone treten aus ihrem Versteck hervor].
Ödipus: Ich bin es, der diesen Boden betreten hat, meine Freunde. Ich, dessen Ohren seine Augen sind, wie man von den Blinden sagt!
Der Chor: [Erschrocken] Ach! Welch furchtbarer Klang und welch furchtbarer Anblick!
Ödipus: Oh, nein! Ich bitte euch, seht mich nicht an wie einen Verbrecher!
Der Chor: Zeus, unser Beschützer! Wer ist dieser alte Mann?
Ödipus: Männer! Wächter dieses Landes, lasst mich euch sagen, wer dieser alte Mann hier ist. Es ist ein alter Mann, den ein schreckliches Schicksal peinigt! Und hier ist der Beweis: Würde ich mich sonst mit den Augen eines anderen fortbewegen? [Deutet auf Antigone] Würde ich, der einst ein großer Mann war, sonst eine solche Unterstützung brauchen?