Odora Ungewöhnlich - Denise Urbany - E-Book

Odora Ungewöhnlich E-Book

Denise Urbany

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Beschreibung

Odora heißt ein kleines Mädchen, das durch seine Hochsensibilität Dinge sieht, die für andere unsichtbar sind – sie kann sie riechen (»odorare« ital.). Ihre Mitmenschen verschließen die Augen vor dem Offensichtlichen und verstehen sie oftmals nicht. Sie ist eben anders. Beim Heranwachsen verhelfen ihre spezielle Gabe und ihre Menschenfreundlichkeit Odora zu bizarren Begegnungen. Sie geht das Leben mit größtmöglicher Intensität und Humor an, erlebt schwere Enttäuschungen und Verluste und wird ungewollt-gewollt zu einer alleinstehenden Mutter, die trotz aller Widerstände nie aufgibt. Der einfühlsam geschriebene Roman nimmt den Leser mit auf eine Reise voller skurriler Begegnungen und Begebenheiten.

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Seitenzahl: 377

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 5

Zum Buch 6

Widmung 7

PROLOG 8

Erinnerungen 10

Die kleine Odora 11

Odora, die Voyeuse 13

Odora und die Marokkaner 15

Treppenpost für Odora 17

Odora und der Geheimdienst 19

Sonja, singende Omas und ein Eindringling 22

Odora und Herr Unverstand 25

Odora will die Welt retten 30

Liebe und Sprengstoff 36

Odoras Spleen 39

Odora und die Olympiade 42

Mischka und Arafat 45

Die Hellseherin und der Liebeskummer 47

Odoras Entscheidung 51

Odora findet Arbeit 54

Odora und das Rotlichtmilieu 57

Distanz schafft Nähe 60

Odora und der Ziegenmann 62

Liebe hat viele Gesichter 66

Das Geständnis 69

Pippi in Rio-Land 72

Auf der Flucht 76

Odora und die Künstlerin 79

Odora kehrt zurück 85

Odora, das Landei 88

Lagerfeuergeschichten 93

Die Einsicht 96

Odora und Rio 98

Der Anwalt 104

Hallo Wach 108

Die Standpauke 111

Der Unfall 113

Die Notlösung 116

Odoras Plan 119

Odora, die Feige 122

Karma und Sternschnuppen 125

Heimkehr 128

Die Entscheidung 130

Frankfurt 132

Das jiddische Cello 134

Frust 137

Odora will’s wissen 139

Die Aussprache 141

So ist Odora! 144

Odora und Grete 146

Die Galerie 148

Das Geheimnis der Erinnerung 151

Freud und Leid 154

Madeleine 156

Odora in Paris 159

Jean-Paul Belmondo 162

Leib und Seele 165

Das Vertrauenskonto und der Schwur 167

Odora blüht auf 169

Die Neugeburt 173

Das Lämmchen 176

Chaos 178

Das Gespräch 180

Erste Schritte 182

Besuch 186

Das Gourmet-Menü und die Hormone 190

Schicksalsschlag 196

Tapferkeit 199

Die Zeit dazwischen 202

Leben anfangen ist immer 206

Weitergehen 210

Odora und der Dieb 212

Der doppelte Gang nach Canossa 217

Vorfreude 221

Italienischer Frühlingszauber 224

Zukunftsvisionen 228

Der Anfang vom Abschied 233

Hilfe ist besser als Mitleid 237

Es ist vorbei 239

Irland, 2030 242

Tagebuch 244

Der letzte Abschied 246

Eines jeden Trauer 249

TAGEBUCH 252

Neues Leben 256

Aufbruch oder: Zu viel des Guten mit einem Zigarrenhauch Fidel 259

Der Staubsaugerverkäufer 265

Pressereise oder Pollo und das Karlchen 268

Der Fluch der Zigeunerin 272

Im falschen Lebensfilm 275

Das gerettete Kind 278

Besuch aus Irland 281

Die goldene Stimme von Prag 284

Königin einer Nacht 287

Müttertrennung 289

Willkommen in der Villa Kunterbunt! 292

Der Brief 295

Der alte Wolf 298

Der liebe Wolf 302

Der falsche Bräutigam 305

Der böse Wolf 308

Die Scham 312

Der Heilige Geist und das Würmchen 315

Das Geschenk 319

Nicht-Bruder und Nicht-Vater 321

Drachenfeuer 325

Auszeit 328

Lupomann 330

Die Lebenskiste 333

Männer! 335

Marmelade im Kopf 338

Zeitaus 340

Zurück in die Zukunft 342

Irland, 2030 345

EPILOG 348

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-202-5

ISBN e-book: 978-3-99130-203-2

Lektorat: Tobias Keil

Umschlagfotos: Milanares | Dreamstime.com; Nadine Konsbrück: Odora, 2019

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Zum Buch

Odora ist der Name eines kleinen Mädchens, das durch seine hohe Sensibilität viele Dinge sieht und erkennt, die für andere unsichtbar sind – sie kann sie riechen (»odorare« ital.). Diese Gabe, so stellt das Kind beim Heranwachsen fest, ist nicht immer von Vorteil. Insbesondere die Erwachsenen oder ein gewisser Herr Unverstand verschließen nicht nur die Augen vor dem Offensichtlichen, Odora trifft oft auf wenig Gehör und Anerkennung. Sie ist eben anders.

Ihr besonderes Talent und ihre Menschenfreundlichkeit verhelfen ihr zu besonderen Begegnungen, die oft dann eintreten, wenn Odora glaubt, dass das Schicksal es besonders hart mit ihr meint. Sie ist bei aller Hochsensibilität ein starkes Mädchen, das sich seinen Weg aus dem Elternhaus sucht und sich zu einer jungen Frau mausert, die vor allem spontan ihrem Herzen folgt. Sie geht das Leben mit größtmöglicher Intensität und Humor an, erlebt schwere Enttäuschungen und Verluste und wird ungewollt-gewollt zu einer alleinstehenden Mutter, die trotz aller Widerstände nie aufgibt. Zurückblickend gewährt Odora Einblicke in ihr Tagebuch.

Der einfühlsam geschriebene Roman nimmt den Leser mit auf eine Lebensreise voller Abenteuer, skurriler Begegnungen und spannender Begebenheiten, die erst aus der Rückschau, als Puzzleteile, ein Gesamtbild ergeben.

Widmung

Für meinen Vater René Urbany,

in fröhlicher Erinnerung

Für alle, die ich liebte,

die ich liebe und die ich lieben werde.

An alle, dieanderssind.

PROLOG

Wurden Sie jemals des Nachts von ungeschriebenen Geschichten wachgekitzelt?

Zahllose, ungebändigte Worte flüstern einen aus den Kissen heraus in Richtung Schreibtisch, drücken einem den Stift in die Finger, purzeln aus dem Kopf hinaus, gleiten durch den Arm über die Hand als ein Ganzes auf Papier. Auf ewig in einer Geschichte vereint, beenden sie ihr stetes Murmeln, geben endlich Frieden. Es ist wie Magie, sozusagen von Zauberhand entstehen Erzählungen.

So erging es mir Anfang 2019.

Ich befand mich seit ein paar Monaten in Rente, fühlte mich mit 53 Jahren etwas verloren in einem Leben ohne Hast und Eile, so ganz ohneIch muss noch hier und muss noch da.

Es überkam mich, genau wie oben beschrieben, aus dem Nichts heraus.

Schreiben wurde meine Droge, mein Rettungsschiff, mein Anker. Ein heilvoller Sog zog mich in seinen endlosen, befreienden Bann.

Nächtelang, monatelang – bis Odora meinte, dass es reicht.

Ihre Erlebnisse sind ein Teil meines Lebens, manches entsprang meiner Fantasie oder meinem Wunschdenken. Nach und nach entstanden einzelne Episoden, die ich meinen Freunden auf meiner FB-SeiteVilla Kunterbuchwie ein Fortsetzungsroman morgens zum Frühstück pünktlich servierte.

Von vielen Seiten kam die Ermutigung, Odoras Abenteuer doch bitte in einem Buch zu vereinen. Nun habe ich mich getraut.

Unvorstellbar, aber wahr. Mitten in der Nacht hochschrecken und wissen, wie das Buch heißen soll. Aufschreiben. Lachen. Verwundert froh, wenn auch so müde. Ob das was werden soll?

Viele Ideen, unverbraucht. Wirre, durcheinandergewürfelte Sätze. Fruchtbare Erinnerungen beißen sich, ringen miteinander, schweben durch mein Haus.

Es fühlt sich so gut an. Es fühlt sich richtig an.

Schreiben aus dem Traum heraus. Losgelöst, rauschend, nimmt die Erzählung Form an. Fließend wirbelnd wird sie zu meiner Geschichte … Odora.

Ich bin es wirklich … Ich bin der Ursprung all jener Worte, die sich ihren Weg durch die Nacht bahnen, aus mir heraus, ungeniert und kraftvoll durcheinander.

Dieses Buch erzählt von den verschiedenen, nicht alltäglichen Lebensabschnitten von Odora, einem ungewöhnlichen Mädchen, das auf seiner Reise zum Frauwerden seinen ganz eigenen Riecher entwickelt und einsetzt, um das Leben zu meistern. Sie ist himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt, hochsensibel, witzig, schrullig, einsam, tiefgründig, naiv, spontan, fröhlich und traurig. Sie lernt lieben, Abschied nehmen und gut sein lassen.

Vor allem lässt sie sich nicht unterkriegen.

Für jüngere Leser mag dies eine Zeitreise in die 1980er- und 1990er Jahre sein, mit Telefonkabinen statt Handys, mit Schreibheften und Füllfedern anstatt iPads. Ältere Leser werden sich sicherlich schmunzelnd erinnern. Doch das Erwachsenwerden ist zeitlos, an keine Epoche gebunden. Oft schön, nicht leicht – aber ungemein aufregend! Und es hört nie auf!

Erinnerungen

Irland 2030

Es regnete schon den ganzen Tag. Draußen verneigten sich die Bäume vor dem böigen Wind, als huldigten sie seiner Kraft.

Gemütlich saß Odora unter einer kuscheligen Wolldecke in ihrem alten Lehnstuhl. Ihre Hände streichelten den trägen Bauch ihrer Katze Mia, die sich auf ihrem Schoß eingerollt hatte.

Sie sah in den verhangenen Himmel vor dem Fenster und verfolgte, wie die Regentropfen auf den Scheiben in alle Richtungen getrieben wurden, ihr eigenes Tänzchen vollführten.

Getrieben war ich stets … und nicht zu knapp!

Schmunzelnd verglich Odora die kleinen, reinen Wasserperlen mit ihren Gedanken, die mit wachsendem Alter zunehmend in die Vergangenheit schweiften, in alle Himmelsrichtungen ihres Lebens.

»Es wäre langsam an der Zeit, dein Buch zu schreiben, Odora!«

Mia fühlte sich angesprochen, spitzte die Ohren und blickte sie fragend an.

Als sie zum Sprung ansetzte, um graziös auf Odoras Schreibtisch vor dem Fenster zu landen, wusste ihr Frauchen, dass die Zeit tatsächlich gekommen war. Sie erhob sich, wickelte sich umständlich aus ihrer Decke und ließ sie zu Boden gleiten.

Als sie sich ihre Lesebrille auf die Nase schob, war die Welt vor dem Fenster augenblicklich vergessen. Unter den wohlwollenden Blicken ihrer Katze begab sie sich schreibend auf die längst fällige Reise in ihre etwas ungewöhnliche Vergangenheit.

Die kleine Odora

Es schien, als hätten ihre Eltern schon bei der Geburt gewusst, dass ein kleines Mädchen mit einem ganz speziellen Riecher das Licht der Welt erblickte. Sie gaben ihr den wundersamen Namen Odora.

Das Mädchen war ein folgsames, ruhiges Kind. Als sie heranwuchs, wuchs mit ihren Zöpfen die Fantasie. Stundenlang konnte die Kleine allein in ihrem Zimmer verbringen, zur Begeisterung und Entlastung der stets beschäftigten Eltern. Sie spielte mit ihren Puppen, erfand in ihrem kleinen Fantasiereich die verrücktesten Geschichten, fühlte sich dort geborgen und beschützt.

Die Eltern hatten oft Besuch. Immer war im Reich der Großen ein Stockwerk tiefer irgendetwas los. Die Gäste drückten sich die Klinke in die Hand, kamen zum Essen, zum Plaudern und erfüllten das Haus mit lauten, lachenden Stimmen sowie endlosen Diskussionen. Dazu gesellten sich eigenartigen Gerüche.

Manchmal hockte Odora heimlich auf den obersten Treppenstufen und lauschte den Gesprächen. Wenn sie sich ein klein wenig nach vorne beugte, konnte sie die bunte Mischung an Gästen durch das Treppengeländer beobachten und erschnuppern. Manche Besucher fand sie nicht geheuer. Sie rochen so komisch, sie mochte deren Geruch nicht. Dann kribbelte ihre Nase und sie fühlte sich unwohl. Aber deuten konnte Odora das noch nicht.

Mama roch herrlich duftend nach Lotion, wenn sie spät abends in ihr Zimmer schlich, um ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn zu drücken. Aber sie roch auch nach viel Arbeit und irgendwie nach schlechtem Gewissen. Odora liebte die Ausdünstung ihres Vaters, dem stets ein Hauch von Zigarrenrauch und Knoblauch folgte. Mit Letzterem bereitete er tagtäglich einen herzhaften Salat zu. Das war sein Beitrag zum Mittagessen. Bei ihm fühlte sie sich ohne Worte verstanden. Sein Geruch war so fröhlich. Oma, zu der sie oft verfrachtet wurde, roch wunderbar. Nach Backäpfeln mit Zimt zum Beispiel. So wärmend nach Gemütlichkeit.

Bücher lösten alsbald die Puppen ab, in dem kleinen Mädchenzimmer wurde es noch stiller. Durch zahllose Bände aller Art vervielfachte Odora ihre Fantasie. Jedes Mal, wenn sie ein neues Buch aufschlug, zog sie den noch anhaftenden, leichten Duft von Druckerschwärze in sich ein. Es roch nach Wissen, nach Reisen in ferne Länder und nach und nach – ein klein wenig nach Erwachsenwerden.

Odora, die Voyeuse

Einige Jahre später

Es war ein heller, freundlicher Sommertag. In der lichtdurchfluteten Stadt staute sich die Hitze in den Gassen der Altstadt, trieb so manchen Passanten die Schweißperlen ins Gesicht. Touristen und Einwohner standen an jeder auffindbaren Eisdiele Schlange. Ein buntes Gemisch an Sonnenschirmen tänzelte in der Brise eines leichten Sommerwindes über bevölkerten Terrassen.

Odora hatte sich eine dieser Oasen des Verweilens als Schreiblager ausgesucht, bevor sie zum Klavierunterricht musste. Wie so oft lag ein aufgeschlagenes Heft samt Füllfeder zwischen ihren aufgestützten Ellenbogen. Sie nippte genüsslich an ihrer kalten Limonade und ging einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen nach: Leute beobachten. Ab und an neigte sie den Kopf, schrieb einige Zeilen in ihr Heft, widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Menschenmenge. Sie mochte die enge Ansammlung sich in der Hitze windender Körper nicht, da es zu viel Nähe schuf. Das bedeutete für die dreizehnjährige Odora, dass sie den Gefühlen ihr unbekannter Menschen, die sie ungewollt aufsaugte wie ein Schwamm, nicht entkommen konnte. Sie liebte es jedoch, fremden Leuten genau zuzusehen. Ihren Gebärden, ihrer Mimik und der gemeinsamen Interaktion.

Das, was Odora als kleines Mädchen als Duft wahrnahm und je nach Person als angenehm oder unangenehm erschnupperte, hatte sich in der Pubertät zu einer etwas abgeänderten Perzeption entwickelt. Zu dem Geruch hatten sich starke Empfindungen gesellt.

Hinten auf dem Platz, gegenüber der arg bevölkerten Terrasse stand eine ältere Dame in einem Rosenkleid, klammerte sich an ihrer Handtasche fest, als sei es ein Rettungsring. Sie hob die Hand mehrmals über ihre Augen, um diese vor dem flimmernden Licht der Sonne zu beschützen und drehte sich im Sekundentakt um ihre eigene Achse. Sie lächelte und nickte anderen Passanten freundlich zu. Odora verspürte heftig, tief in sich drin, die wahren Emotionen der eigentlich zufrieden dreinblickenden Dame. Hoffnung, Angst und eine Art Verzweiflung.

Sie ergriff ihre Füllfeder, schrieb in ihr Heft. Von einer Dame in einem Rosenkleid. Das eben wahrgenommene Gefühl verleitete sie zu einer tragischen Geschichte, in der sich die ältere Frau hier und heute vor vierzig Jahren mit ihrem Liebsten verabredet hatte. Der Langersehnte kam zur Verabredung, aber sie erkannten sich nicht. Er ging an ihr vorbei und war somit einer von den vielen Passanten geworden, denen die Frau freundlich und suchend zunickte.

So war Odora. Für sie lebte Schreibinspiration vom Feinsten in fast allen Menschen, die sie beobachtete. Dann rankte sich die Fantasie rosengleich von Kopf bis Fuß durch ihr Gemüt. Traumbilder machten sich selbstständig, verwandelten sich in Geschichten, die sogar die junge Schriftstellerin überraschten.

Odora und die Marokkaner

Wie ein längst vergessenes Schiffswrack auf dem Meeresboden war Odora in ihrer Gedankenwelt versunken. Sie schrak auf, als der überforderte Kellner sie nervös fragte, ob sie noch etwas trinken wolle. Der Klavierunterricht!

Odora ergriff ihre Schreibutensilien und bahnte sich einen Weg durch das bunte Gemenge von potenziellen Schreibmusen.

Ignorieren, ignorieren!

Das Mädchen wollte verhindern, jemanden zu erblicken, der ihre Schreibmanie wieder ankurbeln könnte. Nicht, dass ihr Klavierlehrer, Herr Gary Mühlstein, sie für eine Verspätung ermahnen müsste.

»Bonjour, pardon, parlez-vous français?«

Verstört blickte Odora auf. Vor ihr standen zwei dunkelhäutige Kerle. Einer groß und schlank, der andere klein und rundlich. Dieser trug sein krauses, afrikanisches Haar wie Angela Davis. Der Große hatte die gleichen Gesichtszüge wie Jimmy Hendrix. Odora verkniff sich ein Lachen.

»Oui, je parle français«, stammelte sie etwas geniert.

Jaffar und Mohammed, zwei Studenten aus Marokko, befanden sich auf einer Rundreise durch Europa. Sie verbrachten nur einen Tag und eine Nacht in Luxemburg, suchten jemanden, der sich im schönen Städtchen auskannte und sie rumführen könnte.

Na klar! Mensch, wie erkläre ich das dem Klavierlehrer?

Zur Zuvorkommenheit gegenüber Fremden erzogen, hatte sie ihre Entscheidung zwischen Klavierunterricht oder Fremdenführung rasant getroffen.

»Venez avec moi!«

Die erfreuten Marokkaner im Schlepptau, marschierte sie schnurstracks Richtung Kathedrale. Dort, in einem Nebenbau, herrschte Gary Mühlstein über die Klaviertasten.

Odora gab den jungen Männern ein Zeichen sich zu gedulden und enterte das Gebäude mit eiligen Schritten. Vor dem Klavierzimmer hielt sie inne. Mit einem Ohr an der Tür lauschte sie den harmonischen Tönen. Sie war fünf Minuten zu früh.

Es roch furchtbar nach Ärger! Egal! Sie würde die Marokkaner nicht warten lassen. Odora klopfte an, trat ein und traf auf das entgeisterte Gesicht ihres Klavierlehrers.

»Entschuldigung Herr Mühlstein, mir sind Marokkaner begegnet, die brauchen eine Fremdenführerin, jetzt!«

Besagter Herr glotzte sie an, als sehe er ein überirdisches Wesen.

»Ja«, ergänzte Odora, indem sie von einem Bein auf das andere hampelte, »und ehrlich gesagt, würde ich das viel lieber tun als Klavier üben.«

Wäre es möglich gewesen, hätte Herr Mühlstein eine dunkle Ärgerwolke durch das geöffnete Fenster entschwinden lassen. Das sonst so ruhige Gemüt seines Genies verwandelte sich unerbittlich in das eines Stierkämpfers.

Odora schien es, als trage er einen Nasenring.

»Raus hier! Und nie mehr rein!«

Seine Enttäuschung und seine Wut verfolgten Odora, als sie die Treppen hinunter teils rannte, teils stolperte. Das war es dann mit ihrer Klavierkarriere! Sie eilte trotzdem erfreut den wartenden Fremden entgegen. So war Odora. Sie stürzte sich von einer Geschichte in die andere. Das sollte ihr ganzes Leben so bleiben. Oder fast.

Odora blieb über Jahre in stetigem Briefkontakt mit Mohammed, dem Krauskopf. Eines Tages, Anfang der 1980er Jahre, schrieb er ihr einen verzweifelten Brief. Er habe an Studentenprotesten teilgenommen. Würde Odora ihm nicht sofort eine Einladung (Kost und Logis inbegriffen) schicken, würde er im Gefängnis landen. Leider konnte sie der Bitte nicht nachgeben. Sie war noch minderjährig und lebte bei ihren Eltern. Diese sagten, dass das unmöglich sei, sie hätten kein Zimmer frei, um jemanden aufzunehmen. Das schrieb sie Mohammed. Danach erhielt Odora nie mehr ein Lebenszeichen von ihrem marokkanischen Freund. Ihre Briefe kamen ungeöffnet zurück. Noch heute fragt sie sich, was wohl aus ihm geworden ist.

Treppenpost für Odora

Beschwingt von einem abenteuerlichen Tag als Fremdenführerin, machte Odora sich abends auf den Heimweg. Wie immer hatte sie die Zeit vergessen. Keine Telefonkabine weit und breit, um ihre Eltern wegen ihrer Verspätung zu benachrichtigen. Ehrlich gesagt, verschwendete Odora kein Quäntchen ihrer kostbaren Zeit für die Suche.

Schließlich war sie in einer wichtigen Mission unterwegs. Das müssten besonders ihre Eltern verstehen. Diese waren politisch aktiv, oft mit Gästen aus aller Herren Länder unterwegs, wenn diese nicht gerade ihr Haus als Besucher belagerten. Gastfreundschaft wurde in ihrer Familie stets großgeschrieben.

Eingelullt von marokkanischen Anekdoten, die ihre Gedankenwelt bevölkerten wie Händler einen orientalischen Basar, stapfte Odora nach Hause. Ob ihr wohl ein schönes Gedicht oder eine angemessene Geschichte dazu einfallen würde? Vielleicht nach der Standpauke ihrer Mutter, die unvermeidbar war.

Sie fand ein leeres Haus vor. Der Zigarrenduft ihres Vaters schwebte wie ein Abschiedsgruß über dem dunklen Treppenhaus. Die einzige Spur ihrer Mutter war ein Hauch Parfüm, der Odora einen traurigen Schauer ins Herz trieb. Oben auf der Treppe lag er. Der Brief.

Für Odora

Er verhieß nichts Gutes. Sie warf sich seufzend aufs Bett, las den Brief mit der schwungvollen Handschrift ihrer Mutter.

Meine liebe Tochter,

nachdem wir stundenlang auf dich gewartet haben ohne eine Nachricht, wo und mit wem du dich herumtreibst, haben wir uns entschlossen zu gehen. Wir sind dann mal weg! Du brauchst nicht zu wissen, wohin. Wann wir wiederkommen, auch nicht. Es wäre sinnlos, alle unsere Freunde anzurufen, so wie wir deine Kumpels heute alle abtelefoniert haben (!). Du wirst uns nicht finden! In Liebe und Ärger, Mama.

P. S.: Es steht kein Essen im Kühlschrank.

P. S. II: Ich wünsche dir in deinem Leben eine 13-jährige Tochter, die genau so ist wie du. Dann wirst du schnell viele graue Haare zählen können.

P. S. III: Über den Klavierunterricht reden wir noch.

Der Herr Gary Mühlstein war ein Verräter!

Odora wartete die ganze Nacht auf die Rückkehr ihrer Eltern. Sie lag Tränen verdrückend in unzähligen Kissen, plötzlich überwältigt von der furchtbaren Angst, sie zu verlieren. In ihrer Fantasie malte sie sich die schlimmsten Szenarien aus. Ein Autounfall. Sirenen. Das Identifizieren ihrer toten Eltern im Krankenhaus – Verlustängste.

In den frühen Morgenstunden schüttelte sie ihren Kummer ab wie ein nasser Hund den Regen, ergriff ihr Heft und schrieb:

Morgens, wenn die Wörter aus meiner Hand fallen, würde ich euch gerne mit ihnen malen, in bunter Sprache schildern, zusammenhalten durch den Rahmen meiner Liebe – auf ewig – meine Familie.

Von diesem Tag an pflegten Odora und ihre Mutter über Treppenpost miteinander zu kommunizieren, wenn der Haussegen schiefhing. Es verhindere, so ihre Mutter, dass man sich unüberlegt anschrie. Man könnte in besänftigter Stimmung seine Meinung schriftlich kundtun. Danach war eine Diskussion ohne Eskalation möglich.

Odora und der Geheimdienst

Endlich sind sie wieder da!

Odora flitzte zur Haustür, wo ihre Eltern gerade eintraten, umarmte sie stürmisch. Sogar ihre Mutter, die keine Körpernähe mochte, ließ sie gewähren.

Ihr Vater schmunzelte verschmitzt, einen kalten Zigarrenstumpen im Mund.

»Schön, dass du noch lebst«, grummelte ihre Mutter in die Küche entschwindend.

»Ach komm, lass gut sein, sie wurde genügend bestraft!«

Odoras Vater blickte freundlich in die rotgeweinten Augen seiner Tochter.

Er nahm einen komischen Apparat aus seiner Hängetasche, begutachtete ihn kritisch.

»Ob der funktionieren wird?«

»Was ist das denn?«

Neugierig sah Odora ihrem Vater dabei zu, wie er an verschiedenen Rädchen drehte.

»Das wirst du gleich sehen!«

Vater fummelte hastig an dem Gerät herum. Seine Augen funkelten wie die eines Kindes, das ein neues Spielzeug in Händen hält. Als ein grünes Licht aufblinkte, machte er sich erfreut auf den Weg durchs Haus.

Von Wissensdurst getrieben, folgte seine Tochter auf leisen Sohlen. Vater richtete das kuriose Ding zaghaft an alle Lampen und Elektrogeräte in der guten Stube. Als er die Spots über dem Esstisch anpeilte, begann das Gerät zu krächzen und zu knarren. Rote Lichtlein blinkten hektisch neben dem grünen auf.

»Sehr raffiniert! Am Esstisch finden weitgehend die Gespräche mit den Genossen statt.«

Inzwischen hatte Mama sich zu ihrem schlauen Mann gesellt, linste nachdenklich zur Decke.

»Und nun?«

»Jetzt werde ich unsere Tochter aufklären. Den Rest sehen wir später.«

Nachdenklich nestelte er an den Rädchen, bis die kleinen Lichter nicht mehr flimmerten.

Ich verstehe nur Bahnhof! Werden Erwachsene jemals für mich verständlich reden?

Odoras erste Begeisterung war verflogen. Diese Geheimnistuerei nervte sie.

Flugs nahm ihr Vater sie an die Hand, führte sie in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Etwas verlegen blickte er ernsthaft zu seiner Tochter.

»Mein liebes Kind, mit diesem Gerät kann man Wanzen aufspüren.«

»Mensch, ein Apparat, mit dem man Käfer finden kann!«

Odora staunte nicht schlecht.

»Nein Odora, keine Tierchen«, schmunzelte Vater, »es handelt sich um kleine Mikrofone, die versteckt angebracht werden. Damit belauscht man heimlich Gespräche. Nun haben wir Gewissheit: Der Geheimdienst macht lange Ohren in diesem Haus!«

Lange Ohren?

Vater verriet dem entsetzten Mädchen, dass man als Kommunist im Westen als Staatsfeind gelte. Er erzählte ihr vom Kalten Krieg und den Kräfteverhältnissen der Weltmächte. Gebannt lauschte sie seinen Worten, verlor augenblicklich ein Stückchen ihrer kindlichen Unbeschwertheit.

»Du sollst wissen«, ergänzte ihr liebster Staatsfeind, »dass unser Telefon ebenfalls überwacht wird.«

Odora raufte sich die Haare.

»Oh nein, Papa, das heißt ja dann, dass jemand die intimsten Gespräche zwischen mir und meinen Freundinnen mitgehört hat!«

Sie errötete, sprang auf und flüchtete sich in Vaters Arme.

Der musste lachen, hielt sie fest und streichelte über ihr zerzaustes Haar.

»Ach Odora! Das hat die Lauscher bestimmt ganz schön gelangweilt. Kann natürlich sein, dass sie sich dabei köstlich amüsiert haben.«

Das war des Guten doch etwas zu viel! Beleidigt löste sie sich von ihrem Vater, sprang auf und lief in ihr Zimmer. Sein herzhaftes Lachen verfolgte sie noch lange, nachdem sie die Tür zugeschlagen hatte.

Odora verstand jetzt, warum ihre Eltern sich manchmal ins Badezimmer verdrückten, das Radio laut stellten, die Wasserhähne aufdrehten und anschließend wie Teenager geheimnisvoll flüsterten.

Mensch, und ich dachte, die wären nicht ganz dicht!

Sonja, singende Omas und ein Eindringling

Eine Aussprache mit ihrer Mutter, den Klavierunterricht betreffend, stand noch aus, also blieb Odora lieber in ihrem Zimmer. Sollte sie ihr einen neuen Vorwurfsbrief schreiben! Die Ausführungen ihres Vaters hallten in ihr nach. Ihre Eltern Staatsfeinde? War sie dann folglich auch einer? War das gefährlich?

Der Geheimdienst, Wanzen im Haus …

Moment mal! Die Erkenntnis traf sie schlagartig.

Jemand musste im Haus gewesen sein, der diese Wanzen versteckt hatte!

Ein Eindringling! Oder einer jener Gäste, der für sie schlecht roch. Das konnte bedeuten, dass dieser unlautere Absichten hegte.

Odora dachte angestrengt nach. Eine Wolke verbrannter Hirnzellen schwebte über ihrem Kopf.

Da war doch was … Da war doch was … hmmm … Ja!

Vor ein paar Monaten hatten ihre beste Freundin Sonja und sie eine übermütige Mädchenparty veranstaltet. Odoras Eltern waren zwei Tage geschäftlich unterwegs. Die Erlaubnis, dass ihre Freundin das Wochenende mit ihr verbringen durfte, war schnell erteilt. Kaum waren die Erwachsenen abgefahren, hingen die Mädchen am Telefon, schlugen das dicke Telefonbuch auf und suchten nach Nummern von alleinstehenden alten Damen. Die Tochter des Hauses hatte ein Gespür für diese. Sie irrte sich nie bei der Auswahl einer Nummer. Dann riefen sie abwechselnd die Omas an.

»Guten Tag, hier ist RTL. Wenn Sie uns ein altes luxemburgisches Volkslied vorsingen, schicken wir Ihnen umgehend eine RTL-Uhr zu.«

Und die Damen sangen! Jedes Mal! Eine Uhr erhielten die begabten Sängerinnen für diese wahren Glanzleistungen leider nie.

Die Freundinnen amüsierten sich köstlich, nippten zwischendurch am Porto aus Papas gutgefüllter Bar, kicherten endlos. Abends richteten sie sich mit Chips und Cola bewaffnet im Büro ein. Dort stand eine alte, schwarz-weiße Flimmerkiste. Gruselfilme standen auf dem Programm. Es gruselte sich besser zu zweit! Als die Verpflegung ausging, schlüpfte Odora aus dem Büro und hastete in den Keller, wo es Nachschub von allem gab. Unten beschlich sie ein eigenartiges Gefühl.

Ich bin nicht allein hier im Keller. Irgendwas stimmt nicht.

Das Mädchen wollte die Wahrnehmung nicht beachten. Schob sie auf Dracula und seine Opfer, die oben auf sie warteten. Trotz Gänsehaut hastete sie in den Reservekeller. Kaum hatte Odora den Raum beschritten, flog die Tür hinter ihr zu und wurde von außen abgeschlossen.

Das Geräusch des sich herumdrehenden Schlüssels ließ sie vorerst erstarren.

»Sonja! Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank, mach sofort die Tür auf!«

Nichts. Kein Kichern. Kein Mucks auf der anderen Seite. Odora schrie, verfluchte ihre beste Freundin, schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Nichts. Nur grausame Stille. Panik ergriff sie. Plötzlich sprang die Tür wieder auf. Eine kreidebleiche Sonja stand vor ihr.

»Ich war das nicht«, stammelte sie und zeigte mit dem Finger auf die sperrangelweit geöffnete Haustür.

Aus dieser war jemand in die Nacht hinaus entwischt, nachdem er Odora im Keller eingesperrt hatte. Sie war unfähig, die geballten Fäuste, die Sonja galten, zu entspannen.

In jener Nacht flüchteten sie zu deren Eltern, wo sie noch lange unter der Decke zitterten. Sie hatten ihren Gruselabend bekommen. Nur anders als erdacht.

»Odora! Essen ist fertig!«

Aus ihrer Erinnerung gerissen, stand sie auf.

Ha! Denen werde ich das Gericht versalzen! Wollten sie mir die Geschichte vom Eindringling damals nicht glauben.

Von dem Tag an fühlte sich Odora nicht mehr geborgen und sicher zu Hause, wenn sie alleine war. Das war sie leider allzu oft. Sie hatte nackte Angst. Für die Nacht baute Odora in ihrem Bett eine Mauer aus Kissen um sich herum. Hinter diesem Wall, immer bereit, lag eine große Schere zur Verteidigung.

Als Staatsfeind musste man auf Nummer sicher gehen.

Odora und Herr Unverstand

Ein vorzüglicher Geruch lockte Odora zu Tisch, wo ihr Vater seinen Knoblauchsalat genoss. Die Tageszeitung, die er über dem Essen zu lesen pflegte, lag neben seinem Teller. Er blickte kurz auf, lächelte seine Tochter an und vertiefte sich kauend in seine Lektüre.

»Komm, setz dich!«

Mutter stellte energisch eine dampfende Schüssel Rindergulasch auf den Tisch.

»Mama, ich weiß, wie die Wanze ins Haus gelangt ist! Erinnerst du dich noch, wie Sonja und ich vor etwa zwei Monaten …«

»Setz dich hin und iss!«

Das hieß so viel wie: Gib jetzt Ruhe! Der strenge Ton ihrer Mutter ließ daran keinen Zweifel.

»Aber …«

»Ruhe, ich will meine Zeitung lesen!«

Vater wollte ebenfalls nichts hören.

Ihre Erzeuger hatten ein Tochter-Anti-Zuhörerprogramm eingebaut, waren sich nicht bewusst, dass diese Wanzengeschichte Odora zutiefst erschütterte, ihr Furcht bereitete. Verstanden sie denn nicht, dass ihre Tochter hochsensibel*war und jedes einzelne, in allen Lebenslagen ausgesprochene Wort erfühlte und analysierte?

Für sie war Odora nur ein bisschen verrückt.

Immerzu waren sie mit Politik beschäftigt, mit Gästen und unzähligen Versammlungen auswärts, hatten keine Zeit, auf die Belange ihrer Tochter einzugehen. Odora fühlte sich als Störfaktor in der Harmonie und im Leben ihrer Eltern. Die beiden waren so verschieden wie vereint. Sie genügten sich selbst. Ihren Platz zwischen diesen zwei starken Persönlichkeiten fand die vermeintlich komische Tochter nicht. Tief seufzend ergab sie sich einer Trostportion Gulasch.

Wie gehabt wurde nach dem Essen die Welt zerredet. Neugierig und aufmerksam hörte Odora zu und lernte viel. Nachträglich machte es aus ihr eine einfühlsame Zuhörerin. Eine gute Rednerin aber wurde sie nicht, vor allem, wenn es ihre eigene Person betraf.

Draußen in der Welt traf sie ebenso ständig auf den Herrn Unverstand.

An einem ersten Schultag im Gymnasium trat der neue Mathematiklehrer namens Wunzelhocker vor die Klasse und fragte sehr unfreundlich:

»Wer ist Odora?«

Zögernd streckte sie den Finger aus.

»Ich … Ich bin Odora …«

Die ganze Klasse sah sie an, als wäre sie von einem anderen Planeten. Von da an war sie gestempelt, eine Außerirdische, die sich verflogen hatte.

»Ich sag’s dir gleich, dann weißt du, woran du mit mir bist«, echauffierte sich der Professor, indem er mit dem Finger auf sie zeigte.

»Du brauchst nicht zu meinen, dass du in meinem Kurs Extrapunkte bekommst, nur weil du die Tochter deines berüchtigten Vaters bist!«

Odora war zutiefst betroffen, schrumpfte hinter ihrer Schulbank um mindestens drei Köpfe.

Ich hab’ diesen Kerl um nichts gebeten! Was soll das?

Rechnen und Mathematik waren Chinesisch für Odora. Sie war eben ein Mädchen der Buchstaben. Zwei Jahre lang musste die Verzweifelte den Wunzelhocker und dessen Sticheleien ertragen. Verpasste er ihr ein Nachexamen, grinste er sie anmaßend an.

Der Kommentar ihrer Eltern zu dieser Ungerechtigkeit? Sie müsse sich eben in Mathematik anstrengen.

Danke schön! Und dieser mathematische Sadist kann mit mir machen, was er will.

Eine Professorin in Mathematik aber liebte das Buchstabenmädchen.

Frau Pfifferling machte die schlechte Erfahrung mit Herrn Wunzelhocker wieder wett, indem sie anders war! Die Professorin wurde von ihrem Freund mit einer Pferdekutsche zur Schule chauffiert. Odora fand das umwerfend originell! Ihre Mitschüler machten sich über diese ungewöhnliche Frau lustig. Hätte Odora sich getraut, wäre sie zu ihr auf die Kutsche gesprungen und hätte sie umarmt. Und ihren Freund gleich mit! Aus Solidarität!

Leider gelang es der Authentischen ebenfalls nicht, die hohe Kunst der Mathematik in Odoras Kopf hineinzupflanzen. Sie versuchte es zumindest! Ließ hie und da bei ihrer Benotung Gnade walten.

Odoras Gedanken schweiften zum Herrn Unverstand und den streng katholischen Eltern ihrer Freundin Ännchen. Die Gläubigen grüßten das Mädchen nie zurück, obschon es sie immer wohlerzogen grüßte, behandelten Odora gänzlich wie Luft. Warum das so war, verstand das freundliche Kind nicht, es waren schließlich Christen mit Nächstenliebe und netten, freundlichen Geboten und so was … und Ännchen war so eine Liebe!

Eines Tages, nach einem ausgelassenen Versteckspiel auf dem Schulgelände, entschied das Ännchen, alle mit nach Hause zu schleppen und ein Eis für jeden zu ergattern. Ännchens Mutter, die heiligste Frau aus der Umgebung, öffnete die Tür. Als Odora den andern nach drinnen folgen wollte, streckte die Türsteherin mit kalten Augen den Arm vor ihrer Brust aus.

»DU kommst hier nicht rein!«, raunte sie und schlug die Tür vor Odoras Nase zu.

Zu Hause ging es nach diesem verletzenden Erlebnis wie üblich zu.

Des geächteten Mädchens Sprachbedarf ob der Unverschämtheit von Ännchens Mutter wurde nicht beachtet, keiner schien an ihrem Erlebnis interessiert.

Und nun wollen sie nicht wissen, wie diese blöde Wanze ins Haus kam! Na gut, was soll’s.

Die Tochter des Hauses räumte nach dem Essen brav den Tisch mitsamt ihren Erinnerungen und Sorgen ab, verzog sich anschließend enttäuscht in ihr Grübelzimmer.

Seufzend lag Odora ausgestreckt in ihren Kissen. Sie beherrschte die Kunst des Aufstöhnens meisterhaft.

Ich kann mir nie Gehör verschaffen!

Auch in der Partei der Eltern fühlte sie sich wie ein Sonderling. Bei etlichen politischen Treffen wurde sie einzig als die Tochter ihres Vaters wahrgenommen. Das sollte später ihr Ausflug zur Jugendbewegung der Partei schmerzlich belegen.

Dort fielen Sätze wie: »Du brauchst nicht zu glauben, weil du die Tochter des Parteipräsidenten bist …«, oder »Du bist nur wegen deines Vaters dabei …«

Es war nicht von Belang, dass sie viele Überzeugungen dieses Clans teilte und sich sozialpolitisch engagieren wollte.

Jahre später, bei einem Treffen der Jugendbewegung mit der FDJ in Ostberlin, wurde jeder der Teilnehmer gefragt, wie er heiße und was seine Pläne für die Zukunft seien. Odora antworte ehrlich und spontan:

»Ich heiße Odora, ich bin 17 Jahre alt und habe noch viel vor!«Flugs wurde sie abends zur Leiterin der luxemburgischen Delegation ins Schlafzimmer berufen, wo diese nackig mit ihrem Geliebten unter einem Laken auf dem Sofa thronte. Was Odora sich einbilde, noch so viel vorzuhaben und so zu tun, als sei die Welt in Ordnung. Schließlich wären unter ihnen Arbeitslose und Menschen mit wahren Problemen.

Odora war so geschockt von diesen Aussagen und deren Ungerechtigkeit, dass sie sich zurückzog und in einen anhaltenden, heftigen Weinkrampf verfiel. Sie hatte sich der Illusion hingegeben, dazuzugehören. Odora war als Tochter ihres Vaters unerwünscht, ihr Anliegen, ebenfalls für eine gerechtere Gesellschaft kämpfen zu wollen, nahm man ihr nicht ab. Für diese Leute war sie ein verwöhntes Kind, das keine Ahnung hatte. Punkt.

Es dauerte nicht lange und sie wurde von herbeigerufenen Genossen in ein Krankenhaus gebracht, mit dem Argument, sie sei psychisch labil. Man verfrachtete die Geschockte auf eine Krebsstation. Neben Odora lag eine kranke junge Mutter ohne Haare, blass wie der Tod. Man sah deutlich, dass der Sensenmann hier schon Einzug hielt. Die arme Frau klärte das verstörte Mädchen auf. Sie war keineswegs in einem Krankenhaus gelandet, sondern in einem Sterbehaus. Nach zwei Tagen entließ man eine leicht traumatisierte Odora in die Freiheit. Geläutert kehrte sie zur Truppe zurück. Die hatten erreicht, was sie wollten. Odora war gar nicht mehr respektlos lebensfroh und vorlaut glücklich.

»Jetzt reicht’s aber mit den negativen Gedanken!«, ermahnte sie sich, ergriff ihr Lieblingsbuch und ging auf Reisen. Mit Boris Vian undL’Écume des Jours. In ihrem kleinen Reich der Buchstaben konnte ihr keiner den Mund verbieten. Herr Unverstand hatte dort Eintrittsverbot. DieTochter ihres Vatersauch.

*Als Odora jung war, sprach man noch nicht von Hochsensibilität. Man waranders, wurde als komisch oder verrückt bezeichnet.

Der amerikanischen Psychologin Elaine Aron nach, ist Hochsensibilität keine Krankheit. Hochsensible Menschen sind besonders feinfühlig, sie haben eine erhöhte Empfänglichkeit sowohl für äußere als auch für innere Reize. So nehmen hochsensible Menschen mehr Informationen auf als ihre Mitmenschen. Sie reagieren emotionaler und sind schneller überstimuliert.

Dennoch werden Hochsensible oft stigmatisiert.

Odora will die Welt retten

Da Sonja und Odora den gleichen Schulweg hatten, schlenderten sie eine Woche später geknickt und ohne Hast in Richtung Elternhäuser. Beide hatten keine Lust, ihren Peinigern zu begegnen. Sonja hatte eine schlechte Note in Deutsch vorzuweisen. Odora wusste nicht, ob der verhängte Hausarrest nach dieser Woche aufgehoben wäre.

»Ich wollte heute Nachmittag endlich wieder in die Stadt!«, empörte sie sich bei ihrer Freundin. »Das hat man davon, wenn man Völkerfreundschaft dem Klavierunterricht vorzieht!«

Sonja sah Odora genervt an. In letzter Zeit machte sie das öfters, wenn sie von sich erzählte.

Komisch, irgendwie ist diese Freundschaft nicht mehr wie zuvor …

Das roch Odora schon etwas länger. Sie spürte einen Pikser in der Brust. In letzter Zeit hing Sonja ständig mit Véronique zusammen. Ihre Eltern waren befreundet und hatten gemeinsame Ferien mit den Kindern geplant. Seitdem fühlte sich Odora noch etwas einsamer. Sie verabschiedete sich von Sonja und lief nach Hause.

Nach dem Mittagessen traute Odora sich endlich zu fragen, ob man sie wieder in die Freiheit entlasse.

»Ja, der Hausarrest ist aufgehoben! Glaube aber ja nicht, dass ich jemals wieder Klavierunterricht bezahle!«

Stürmisch umarmte eine überglückliche Tochter die Mama, sprang in ihre Turnschuhe und floh schnurstracks in den schönen Nachmittag hinaus. Eine Woche Zimmerhocken nach der Schule war sogar für Odora zu viel. Tatendrang kribbelte in jeder Pore ihres Körpers.

Wie soll ich schreiben ohne Inspiration? Um etwas zu erleben, muss man raus aus den vier Wänden!

Sie klopfte zuversichtlich auf das Schreibheft in ihrer Jackentasche und eilte zur Bushaltestelle.

Heute wird am Weltfrieden gearbeitet!

Eine Gruppe engagierter Mädchen traf sich einmal die Woche im Jugendhaus. Sie nannten sich »Frauen für den Frieden«, steckten in einem Kämmerlein unter dem Dach ihre Köpfe zusammen und schmiedeten Pläne, die Welt zu retten.

Die Friedensbewegung der 1980er Jahre war in vollem Aufschwung und hatte die Mädchen dazu angestiftet. Sie malten große Plakate mit Friedenstauben und Peace-Zeichen, die man während der Friedensmärsche in der Stadt hochhielt und somit seinen Willen zum Weltfrieden bekundete. Dabei durfte man lauthals friedliebende Sprüche bis in den Himmel schreien und gegen die Ungerechtigkeit auf Erden ein Signal setzen.

Odora schrieb nicht nur, sie malte auch gerne. Hauptsache Fantasie einsetzen und dazu beitragen, dass die Welt lebenswerter wurde. Dann war sie in ihrem Element.

Sie war gerade dabei, die schwungvollen Flügel einer Friedenstaube auszumalen, als sie ein Schluchzen vernahm.

»Habt ihr das gehört?«

»Ach, das ist nur Charel, ein alter Toxikomane«, bemerkte die mit Farbe beschmierte Michèle.

»Er kommt ab und zu ins Jugendhaus, wärmt sich in unserer Teestube auf. Entweder er heult oder er nervt jeden mit seinem philosophischen Geschwafel!

Zudem stinkt er furchtbar!«

Michèle stöhnte missbilligend und widmete sich wieder ihrem Friedenszeichen. Odora musste nicht lange überlegen.

Was ist das denn für eine Einstellung? Leid ist Leid, ob durch Krieg oder Sorgen.

Sie entschwand in das alte, knarrende Treppenhaus, dem Greinen entgegen.

Auf der letzten Stufe hockte eine kleine armselige Kreatur in einem ausgeleierten, beschmutzten Pullover. Hätte sie es nicht besser gewusst, Odora hätte auf Rumpelstilzchen getippt.

Sie zögerte nicht lange, hockte sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. Odora spürte das Aufbeben seines Körpers bei jedem Schluchzer. Das Männchen legte seinen Kopf auf ihre Schulter, heulte Rotz und Wasser.

Das gerührte Mädchen putzte ihm die Nase mit ihrem Schal ab, sagte kein Sterbenswörtchen. So verharrten sie eine Weile aneinandergeschmiegt, bis das Jammern an ihrer Schulter verebbte.

»Wer bist du?«

Das Häufchen Elend namens Charel hob seinen Kopf und blickte Odora mit rotgeränderten, verblassten blauen Augen an.

»Warum machst du das?«

Er ist es nicht gewohnt, dass man sich für ihn interessiert. Das kenne ich allzu gut.

Odora bemerkte die tiefen Furchen, die sich in sein Gesicht gegraben hatten. Den gelb-grauen Bart. Haare, die wirr wie ein Nest sein Haupt bedeckten. Er roch nach Elend und nach Hilferuf. Odora stellte sich vor.

Als würden sie sich schon ewig kennen, philosophierten sie alsbald zusammen wie alte Kampfkameraden. Sie entdeckten ihre gemeinsame Liebe zur Poesie. Odora wurde sich der Intelligenz dieses Mannes schnell bewusst. Charel erzählte, dass er auf einem Camping-Platz wohne, dass er einsam sei, ein Drogen- und Alkoholproblem habe und nicht mehr leben wolle.

Ein Ausgestoßener! Ich muss dem Mann helfen!

Sie sprang von der Treppe auf, legte den berotzten Schal um Charels Hals und reichte ihm die Hand.

»Komm mit!«

Verwundert, doch wie beseelt folgte der kleine Mann diesem eigenartigen Mädchen. Es schleppte ihn zur nächsten Haltestelle, bugsierte ihn in einen Bus.

»Bei mir zu Hause kannst du schön warm duschen. Es wäre ja gelacht, wenn wir keine passenden Kleider für dich auftrieben. Dann koche ich dir Spaghetti.«

Spaghetti waren Odoras absolutes Leibgericht.

»Und deine Eltern?«, stammelte Charel verängstigt.

Odora stutzte. An ihre Eltern hatte sie im Sog ihrer begeisterten Hilfsbereitschaft nicht gedacht. Ihr wurde mulmig.

»Ach, die sind zur Arbeit. Kommen erst später nach Hause«, beruhigte sie ihn und sich gleich mit.

Trotzdem war sie erleichtert, etwas später keine Elterntiere zu Hause vorzufinden.

Sie verdonnerte Charel zum Duschen. Derweil stöberte sie im Kleiderschrank ihres Vaters, ergatterte stolz frische Unterwäsche, einen Pullover und eine Jogginghose, die sie ihm durch den Türschlitz reichte. Seine alten, stinkenden Klamotten steckte sie in eine Mülltüte.

Eine halbe Stunde später stand ein lächelnder, gut duftender kleiner Mann vor ihr. Seine Haare waren adrett nach hinten gekämmt. In der Küche, wo die emsige Helferin sich ans Kochen machte, unterhielten sie sich wie alte Freunde.

»Odora, hast du Besuch?«

Die Küchenbesetzer sahen sich erschrocken an, gaben keinen Mucks von sich. Schon stand Odoras Muttertier in der Küchentür. Mamas Blicke sprachen Bände.

Sie bewahrte jedoch Contenance.

»Hallo, ich bin Charel.«

Odoras Besucher streckte der Mutter verlegen die Hand entgegen, die diese willentlich übersah.

»Ob Sie Charel oder Ödipus heißen, erklären Sie mir bitte, was ein Mann Ihres Alters in den Kleidern meines Mannes mit meiner jungen Tochter in meinem Haus macht.«

Charel blickte verlegen zu Boden und begann zu zittern. Odora setzte zur Erklärung an, kam aber nicht weit.

»Sie bleiben hier stehen Charel! Odora ins Büro!«

In diesem Zimmer der ewigen Rechtfertigungen musste Odora den ganzen Hergang erklären. Ihre Mutter sagte nichts, hörte nur zu und nickte verständnisvoll mit dem Kopf.

»Ach du rote Nonne! Du willst helfen und das verstehe ich. Ich will mir nicht ausmalen, was alles passieren könnte, wenn du Fremde im Alleingang ins Haus schleppst. Jetzt gehst du raus und bittest deinen Freund zu gehen. Die Kleider kann er behalten.«

Erleichtert huschte Odora in die Küche. Charel war verschwunden. Auf Mamas kleinem Notizblock stand in krakeliger SchriftDanke.

Wochen später fand Odora einen an sie adressierten großen Umschlag im Briefkasten. Es waren von Charel verfasste gesammelte Gedichte. Beim Lesen wurde klar, dass dieser Mann in seiner verworrenen Psyche, schlimmer als Baudelaire, durch alle Tore der Hölle gewandert war. Odora hörte nie wieder etwas von ihm. Auch im Jugendhaus tauchte Charel nicht mehr auf. Vergessen hat sie ihn nie. Jahre später schenkte man Odora einen schwarzen Kater. Sie nannte ihn Charel, es war ihr Tribut an das schwarze Schaf in Menschengestalt.

Liebe und Sprengstoff

2 Jahre später

Mittlerweile verließ Odora ihre traute Bücherhöhle öfters, um dem Ruf der Hormone zu folgen. Ihre Freundinnen und sie trafen sich nicht mehr zum Ballspiel. Auch das Versteckspiel war out. Jungs waren in.

Ihr Treffpunkt bei der alten Molkerei mutierte zu einem Balzplatz, wo Herzen hin und her flogen wie bunt gefiederte Vögel. Den Balztanz führten die Jungs mit ihren knatternden Motorrädern auf. Vor den verliebten Augen der Mädchen fuhren sie hin und her, um ihnen zu imponieren.

Odora schwärmte für Claudio, den feschen Italiener. Er roch nach Liebe. Als er sich für sie entschied, war sie überglücklich. Mit ihm fand sie endlich Nähe. Das Gefühl, irgendwohin zu gehören.

»Odora! Stell diese italienischen Schnulzen leiser!«

Mutter stand plötzlich mit verschränkten Armen im Zimmer.

»Dein Vater und ich müssen ins Büro. Ich verlasse mich darauf, dass du keinen Jungen hier reinschmuggelst. Dafür bist du noch viel zu jung.«

»Na gut …«, erwiderte Odora und dachteDas werden wir noch sehen.

Sie stellte die Musik leiser und büffelte italienische Vokabeln. Als zukünftige Frau eines Italieners musste man schließlich seine Sprache beherrschen.

Es klingelte an der Tür. Odora trat hinaus: Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Fast wäre sie über eine kleine Kiste gestolpert, die vor ihren Füßen stand. Ohne Absender oder Adressaten. Sie verhieß nichts Gutes. Ein Geruch nach Verbranntem stieg dem Mädchen in die Nase.

Odora nahm die Kiste, hielt sie ans Ohr, schüttelte sie. Kein Geräusch war zu hören.

In der Küche rückte sie dem Klebeband, das mehrfach um die Kiste gewickelt war, mit einem Messer zu Leibe. Das Mädchen hielt einen auf der Schreibmaschine verfassten Brief in Händen. Bei den ersten Zeilen erstarrte sie:

Dies ist eine Warnung an Sie und Ihre Familie …

Das Blatt zitterte in ihrer Hand, sie las weiter:

Falls Sie nicht sofort aufhören, sich in Angelegenheiten einzumischen, die Sie nichts angehen, wird das beiliegende Teil das nächste Mal den nötigen Sprengstoff enthalten.

Erschrocken ließ Odora den Brief fallen, rannte zum Telefon, tippte hastig die Nummer ihres Vaters ein. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er am anderen Ende abhob.

»Papa, ihr müsst sofort kommen! Wir haben so etwas wie eine Bombe erhalten!«

Sie setzte sich mit schlottrigen Knien hin und wartete auf ihre Eltern.

Da Odora von dem Tag an nicht mehr ohne Begleitung das Haus verlassen durfte, überzeugte sie diese, Claudio als Personenschützer einzusetzen. So gelang es ihr, den Freund ins traute Heim zu schleusen.

Seltsamerweise war sie plötzlich nicht mehr zu jung dazu.

Als Parlamentarier und Journalist, ermittelte Odoras Vater in den 1970er- und 1980er Jahren gegen Gruppierungen wie Stay-Behind und Gladio. Es handelte sich um antikommunistische, militärische Geheimorganisationen der Nato, die während des Kalten Krieges Geheimdienst-Aktionen gegen den Warschauer Pakt und dessen Sympathisanten ausführten. Als Mitglied der Untersuchungskommissionen in der berühmten Jahrhundertaffäre Anfang der 1980er Jahre (Waffenhandel und Prostitution) und der ominösen Bombenlegeraffäre ein paar Jahre später, war der engagierte, kommunistische Parlementarier ein unbequemer Fragesteller. Bei der Bombenlegeraffäre vermutete er einen Zusammenhang mit diesen geheimen Gruppierungen, als Sprengungen von Elektromasten und Anschläge gegen öffentliche Gebäude, wie militärisch vorbereitet, stattfanden. Seiner Meinung nach sollte dieses terroristische Vorgehen Angst verbreiten und eine Aufrüstung der luxemburgischen Armee und der Polizei rechtfertigen. An seine Adresse ergingen seit Anfang der 1980er Jahre des Öfteren Morddrohungen gegen ihn und seine Familie.

Der Vater machte den Waffenschein. Personenschutz bekam die Familie nicht.

Odoras Spleen

Mit ihrem Kopf auf gekreuzten Armen ruhte Odora in der vordersten Schulbank und verwünschte die störende Geräuschkulisse ihrer Klassenkameraden. Diese verbrachten eine unerwartete Freistunde mit lautstarken Gesprächen, schrien herum.

Ein Hühnerstall vor der Fütterung!

Jeder wollte jeden von seiner Größe überzeugen, die dicksten Körner für sich erhaschen.

Die reinste Hühneroper!

Sie verabscheute jedes Tohuwabohu dieser Art und sehnte sich nach ihrem friedlichen Zimmer sowie nach Claudios Armen. Dort fremdelte sie nicht wie hier, in dieser Masse von oberflächlichen Kindsköpfen. Ihr Französischlehrer, Herr Thillo, hatte den Nagel auf den Kopf getroffen:

»Odora, du liebst Baudelaire UND du hast seinen Spleen.«

Leise rezitierte sie eine Zeile ihres LieblingsgedichtsSpleenausLes Fleurs du Malvor sich hin: »Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle …«

Ja, Herr Thillo hatte sie erkannt. Ihre aufblitzende Begeisterung, die daraufhin auflodernde Schwermut. Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt, auch als Schülerin.

So war Odora. Mit Stimmungsschwankungen, die ihr selbst ein Rätsel waren, schreckte sie ihre Mitmenschen ab. In einem Augenblick strahlte sie wie ein Leuchtfeuer, stürzte sich freudig in die Klassengemeinschaft und mischte lautstark mit. Im nächsten Moment schottete sie sich ab, lag teilnahmslos. mit dem Kopf auf der Bank vor ihren Mitschülern. Wer sollte das schon verstehen?

Wenn man sich immerzu anders fühlt als die anderen, ist man auch anders.

Manchmal startete sie den Versuch, Anschluss zu finden, bemüht, eine einfühlsame Mitschülerin zu sein. Es fühlte sich falsch an für die meisten, es war ihnen nicht zu verdenken. Gerade noch hatte sie abseits ein paar Tränen verdrückt, zwei Minuten später stand sie wieder normal lächelnd in der Gruppe.

Sie spürte dann deren Erstaunen und Unverständnis ob dieses Wechselbads der Gefühle. Odora empfand sich jedoch selbst als tapfer, denn es kostete sie viel Überwindung. Für ihre Mitschüler war sie skurril.

Sie aber wollte nur dazugehören.