Of Thunder and Rain - Emmy Buckley - E-Book

Of Thunder and Rain E-Book

Emmy Buckley

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Beschreibung

Der junge Schriftsteller Louay hat alles – seinen Traumjob, Erfolg und den Bestseller-Stempel auf sämtlichen seiner Werke. Doch die Sache hat einen Haken: Er versteckt sich hinter einem Pseudonym und weiß langsam nicht mehr, wer er eigentlich ist. Nach einem heftigen Streit mit seinen Eltern reist er auf die Färöer-Inseln, um sich inspirieren zu lassen.   Lina würde die Abgeschiedenheit der »Islands of Maybe« am liebsten hinter sich lassen. Nach dem tragischen Tod ihrer Mutter ist ihr Leben völlig aus den Fugen geraten. Statt wie geplant an die Universität zu gehen und die Welt zu bereisen, muss sie ihre Tage im winzigen Örtchen Saksun fristen, da sie ihren Vater unmöglich mit dem Bed & Breakfast zurücklassen kann. Der mysteriöse Gast ist der erste Lichtblick seit langem für sie. Doch die zarten Gefühle werden auf eine harte Probe gestellt, als Louay von der Realität eingeholt wird … 

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Seitenzahl: 345

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Of Thunder and Rain

Die Autorin

EMMY BUCKLEY liebt die Berge, Pumpkin Spice und den Geruch von Regen auf warmem Asphalt. Nach einem Studium im technischen Bereich hat sie schnell gemerkt, dass ihre wahre Leidenschaft dem Schreiben gilt, und ist kurzerhand vom Süden Deutschlands nach Irland ausgewandert. Zu Hause ist sie allerdings überall auf der Welt, solange ihr Freund und ihre Katzen mit auf die Reise kommen.

Das Buch

Der junge Schriftsteller Louay hat alles – seinen Traumjob, Erfolg und den Bestsellersticker auf sämtlichen seiner Werke. Doch die Sache hat einen Haken: Er versteckt sich hinter einem Pseudonym und weiß langsam nicht mehr, wer er eigentlich ist. Nach einem heftigen Streit mit seinen Eltern reist er auf die Färöer Inseln, um sich inspirieren zu lassen. Er trifft auf Lina, die genauso überfordert zu sein scheint wie er. Erst die unberührte Natur und die gegenseitige Nähe versprechen Heilung für die zwei verlorenen Herzen. Doch schaffen sie es, ihr Glück festzuhalten?

Emmy Buckley

Of Thunder and Rain

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Content Notes: Tod, Verlust, Trauer, Flucht, Rassismus(erfahrungen), Depressionen

 Der Verlag bedankt sich sehr herzlich bei Sherin Nagib für ihr Sensitivity Reading.

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH Berlin1. Auflage Juli 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: emilybaehr.deUmschlagabbildungen: © vanfree/Freepik und Bokeh Blur Background, Swen Stroop, Giovanna Proverbio/ShutterstockFoto der Autorin: © Emmy BuckleyE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN: 978-3-95818-732-0

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

Louay

Lina

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Cover

Titelseite

Inhalt

Lina

Lina

Die Flut kommt und kitzelt meine nackten Zehen mit dem eisigen Wasser des Nordatlantiks. Aus Impuls will ich sie wegziehen, doch ich wehre mich entschieden dagegen, lasse zu, dass das Prickeln der Kälte sich erst in Schmerz und dann in Taubheit verwandelt. Wie eine Schlange kriecht sie mein Bein empor, legt sich um mich und hüllt mich ein, während ich meine Füße tiefer im schwarzen Sand vergrabe.

Links und rechts von mir strecken sich zwei Berge wie die Arme eines Riesen dem Meer entgegen. Dahinter liegt nichts als der endlose Horizont. So ist es meistens um diese Jahreszeit: Die Welt scheint nur aus vier Farben zu bestehen. Dem Grau der Wolken und des Ozeans, dem schwarzen Sand, der weißen Gischt und dem Goldbraun der grasbewachsenen Hügel um mich herum. In ein, zwei Monaten wird dieser Ort, der Strand Út á Lónna, von saftigem Grün umgeben sein, nur jetzt, Ende März, wirkt alles seltsam trostlos. Wahrscheinlich einer der Gründe, wieso sich kein Tourist auf unsere Inseln wagt. Na ja, fast keiner.

Aber so karg die Landschaft auch ist, spüre ich doch, wie der Anblick mich langsam zur Ruhe kommen lässt. Mit jeder Sekunde werden meine Gedanken klarer, meine Sinne schärfer, und die Wut, die eben noch meinen Verstand benebelt hat, beginnt zu verpuffen.

Ich kann nicht glauben, dass es schon wieder passiert ist. Dass sich nichts geändert hat, selbst nachdem wir ein halbes Jahr lang keine Gäste hatten.

Ruhig bleiben, Lina, ermahne ich mich in Gedanken, weil ich spüren kann, wie allein die Erinnerung an das Gespräch mit meinem Vater meinen Blutdruck in die Höhe schießen lässt. Ich weiß, es bringt nichts, an meiner Wut festzuhalten, und doch kommt sie zurück. Jedes Mal, wenn er mit diesem glasigen, leeren Blick durch mich hindurchstarrt und die eine Frage stellt, mit der er mich selbst in meinen Träumen heimsucht: »Bist du dir sicher, dass das, was du tust, okay für deine Mutter wäre?«

In seinem Ton liegen weder Vorwurf noch Ärger oder Belehrung, aber genau das ist es, was mich so fertigmacht. Die Tatsache, dass er mich eben nicht anschreit, sondern stattdessen nur müde eine Frage stellt. Als wäre ihm die Antwort egal. So, wie ihm inzwischen auch alles andere egal geworden ist.

Nein, Pápi, ich bin mir nicht sicher. Aber weißt du was? Irgendwie muss ich mich ja bei Laune halten, während ich hier am Arsch der Welt versauere und mein Leben an mir vorbeizieht.

Die Worte verhallen unausgesprochen in meinem Kopf. Ein leeres Echo meiner tiefsten Wünsche, die ich ihm gegenüber nie aussprechen würde. Auch wenn mich sein emotionaler Zustand mehr frustriert, als ich nach außen hin zugebe, kann und will ich ihm eigentlich keinen Vorwurf machen. Es ist nicht seine Schuld, dass die Dinge so sind, wie sie nun einmal sind.

Seufzend schüttele ich den Kopf, weil ich merke, wie meine Gedanken Karussell fahren. Wieder und wieder im Kreis, ohne jemals anzuhalten. Ein Teufelskreis.

Ich muss damit aufhören.

Gegen meinen Willen spannt sich mein Kiefer an. Meine Augen brennen. Ich schmecke Salz, ob von der Gischt oder den Tränen, kann ich nicht sagen. Eine Welle der Wut erfüllt mich, bis der Druck auf meiner Brust beinahe unerträglich wird. Dann endlich erlange ich die Kontrolle zurück.

Weil es nichts bringt, mich darüber aufzuregen.

Weil manche Dinge sich nicht einfach so ändern lassen.

Ich blinzele die Tränen weg, bevor ich mir meine Schuhe schnappe und mich endlich aufrichte. Die Brandung reicht mir inzwischen bis an die Knöchel, hat den Saum meiner Hose längst durchnässt. Dazu lässt mich eine plötzlich aufkommende Böe frösteln. Über mir hat sich die dichte graue Wolkendecke verdunkelt, weshalb es mir so vorkommt, als würde die Nacht hereinbrechen. Dabei ist es nicht einmal ein Uhr mittags. Der Regen lässt die Tage dunkler werden – oder vielleicht liegt es auch an meiner Stimmung. Was immer es ist, es erinnert mich daran, dass ich aufhören muss, in Selbstmitleid zu versinken. Die Arbeit steht an. In ein paar Stunden landet der neue Gast am Flughafen, und bis dahin muss ich das B&B noch auf Vordermann bringen. Etwas, was ich schon vor einer gefühlten Ewigkeit hätte tun sollen. Scheiße.

Barfuß schlüpfe ich in meine Stiefel und verziehe die Lippen bei dem schmatzenden Geräusch, das meine Füße darin hinterlassen. Daran bin ich selbst schuld. Ich sitze schon viel zu lange hier und sollte es besser wissen, als mich so von der Flut überraschen zu lassen.

Die Strecke bis zum Dorf ist kaum weiter als anderthalb Kilometer, doch der nasse, schlammartige Sand bremst mich aus. Bei Ebbe brauche ich keine zehn Minuten, aber unter diesen Verhältnissen dauert es fast doppelt so lang, bis ich die schwarze Bucht durchquert habe. Als ich endlich auf den schmalen, wilden Pfad trete, der vom Ufer hinauf zur Kirche führt, bricht der Regen über mich herein. Binnen Sekunden legt sich ein gespenstischer Nebel über unser Tal, während feine Tropfen wie Nadelstiche auf mein erhitztes Gesicht treffen.

Obwohl die Sichtweite schwindet, finde ich den Weg nach Hause problemlos. Vorbei an der Kirche, über die Straße, die uns mit dem Rest der Insel verbindet, direkt hinauf in die Hügel. Ich passiere das Museum und folge dem asphaltierten Pfad bis zum Gartenzaun. Das Rauschen des Wasserfalls hinter dem Haus begrüßt mich bei der Ankunft, zusammen mit einem wärmenden Sonnenstrahl, der unerwartet mein Gesicht trifft und mich daran erinnert, wie unberechenbar das Wetter in meiner Heimat ist. Gerade will ich durch das Tor schlüpfen, als eine wohlbekannte Stimme mich innehalten lässt.

»Lina!«

Unter dem Klang meines Namens zucke ich zusammen, ringe mir jedoch ein Lächeln ab, während ich mich unserem Nachbarn zuwende. Ottar ist ein hagerer Mann, der trotz seiner Mitte sechzig noch jeden Tag im Morgengrauen zum Fischen aufs Meer hinausfährt. Die Hälfte seines wettergegerbten Gesichts versteckt sich unter einem Vollbart, wobei man – so wie jetzt – hin und wieder die Ahnung eines Grinsens darunter erkennen kann.

»Hey!«, begrüße ich ihn freundlich und streiche eine Strähne zur Seite, die sich beim Rennen aus meinem Zopf gelöst hat. »Fährst du noch mal raus?«

Ich deute auf den Kühlbehälter, den er mit sich herumschleppt, woraufhin er nur den Kopf schüttelt. »Nein. Hatte Glück heute Morgen, hab genug für die halbe Insel gefischt. War eben bei den Hansens.«

Natürlich. Unnötige Frage von mir. Obwohl Ottar mit der Fischerei schon lange nicht mehr seinen Unterhalt verdient, treibt es ihn immer wieder hinaus auf die See. Seinen Fang teilt er anschließend mit dem ganzen Dorf.

»Bei deinem Vater war ich vorhin schon.«

In seinen Worten liegt ein Unterton, der mich erneut zusammenfahren lässt. »Warst du bis eben draußen?«

Ich nicke.

»Du musst besser aufpassen, Kind. Ein paar Minuten später, und das hätte böse enden können.«

»Ich weiß.« Unser Dorf liegt an einer kleinen Bucht, die durch eine schmale Meerenge vom Rest des Ozeans getrennt ist. Bei Ebbe kann man durch sie hindurch bis an den Strand hinausspazieren, doch wenn man den Rückweg zu lange hinauszögert, läuft man Gefahr, eingekesselt zu werden.

»Aber keine Sorge, ich bin nicht umsonst …«

» … die schnellste Stürmerin, die die Insel je gesehen hat.« Er zwinkert mir zu. Wie ich kann er diese Konversation vermutlich schon im Schlaf durchspielen. Und wie ich weiß er, dass sie nur zur Ablenkung dient, um seine eigentliche Frage weiter hinauszuzögern.

»Was ist los, Lina?«

Leugnen zwecklos. Ich muss aussehen, als hätte man mich eine Klippe hinuntergeschubst. Durchnässt, vollgeschwitzt, mit rot geränderten Augen, die Knie zitternd. Wie nach einer Hetzjagd.

»Das Übliche«, erwidere ich knapp. »Wir bekommen heute einen neuen Gast. Mein Vater ist nicht glücklich darüber.«

Ottar seufzt. »Hat er das so gesagt?«

Beinahe hätte ich aufgelacht. Als ob mein Vater mir irgendwas darüber sagen würde, was in ihm vorgeht. Ich kann nur spekulieren, was sein leerer Blick mir mitteilen will, während ich das tue, was ich für richtig halte. Weil Ottar aber eine Antwort erwartet, zucke ich mit den Schultern und ernte dafür ein weiteres Seufzen.

»Ich kann mit ihm reden, wenn du …«

»Schon gut«, schneide ich ihm das Wort ab. »Er weiß selbst, dass wir uns nicht nur von Luft und Seetang ernähren können. Also muss er sich damit abfinden, dass ich ab und an ein paar Touristen das Geld aus der Tasche ziehe.«

»Ganz die Geschäftsfrau, was?«

Ottars Lächeln ist ansteckend und verdrängt für den Moment die düsteren Gedanken an meinen Vater. »Natürlich. Für die nächste Saison sind wir komplett ausgebucht. Und selbst heute kommt jemand, der fast drei Wochen bei uns verbringen will.«

»Um diese Jahreszeit?«, fragt Ottar stirnrunzelnd. »Hier gibt’s doch gar nichts zu tun im Moment.«

»Keine Ahnung. Irgendein Kerl aus Kopenhagen, der kurzfristig nach einer Unterkunft gesucht hat«, erkläre ich augenverdrehend. »Wahrscheinlich einer dieser Reiseblogger auf der Suche nach einem ›Geheimtipp‹ für seinen Instagram-Account. Der wird sich wundern. Aber wenigstens hat er im Voraus bezahlt – soll mir also recht sein.«

»Komische Leute.« Missbilligend schnalzt Ottar mit der Zunge. »Bist du sicher, dass du klarkommst?«

»Absolut.« Die Schwere in meiner Brust straft mich Lügen.

»Alles klar. Dann viel Erfolg mit dem neuen Gast. Schick ihn gern zu mir, wenn ihm langweilig ist. Ich kann immer eine helfende Hand gebrauchen.«

»Mache ich.«

Damit wendet er sich ab und begibt sich auf den Weg nach Hause. Sein Haus steht höher gelegen, direkt neben dem großen Wasserfall, der in die Bucht mündet. Dort, vollkommen abseits vom Dorf, lebt Ottar allein mit seinem Hund, vier Schafen und seiner Leidenschaft fürs Fischen. Ab und zu frage ich mich, ob er nicht einsam ist, doch jedes Mal, wenn ich ihn danach frage, erklärt er mir nur, dass er sich kein schöneres Leben vorstellen könne. Eine Eigenschaft, die er mit den meisten Bewohnern unserer Insel gemeinsam hat. Die Liebe zur Heimat scheint uns Färingern geradezu im Blut zu liegen, als würde ein Fluch uns an dieses Land ketten.

Alle bis auf mich.

Ich schlucke hart und lasse meinen Blick über die Bucht schweifen. Binnen Minuten hat sich der Regen verzogen. Jetzt brechen mehr Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und bringen die Meeresoberfläche zum Funkeln. Ottars Schritte verhallen, bis mich nichts umgibt außer dem Klang der Natur. Das Rauschen der Wasserfälle, das Heulen des Windes und das Tosen der Brandung auf den Felsen in der Bucht. An Tagen wie diesem macht mich die Schönheit meiner Heimat traurig, weil sie mich daran erinnert, dass ich nicht wie alle anderen bin. Dass ich nicht dankbar sein kann für das, was ich habe.

Dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als endlich von hier zu verschwinden.

Louay

Der Mann im grauen Dufflecoat hat keine Ahnung, dass er beobachtet wird. Immer wieder huschen seine Augen zur Tafel über dem Gate, während er sich an seinen Pass klammert, als ginge es um Leben und Tod. Wie die Handvoll anderer Passagiere hat er sich in der Schlange vor dem Schalter eingereiht, seit ein einsamer Flugbegleiter von British Airways dort aufgetaucht ist – und das, obwohl noch lange nicht zum Boarding aufgerufen wurde.

Von einem überteuerten Café aus beobachte ich den Fremden in dem Versuch, aus seinem Auftreten herauszulesen, was ihm wohl durch den Kopf geht. Ob er wie die anderen, die bereits nervös in der Schlange stehen, fürchtet, er könnte den Flug verpassen, obwohl sich noch nichts getan hat? Oder denkt er ernsthaft, er käme früher unten an, wenn er zuerst im Flieger sitzt?

Ein Grinsen huscht mir übers Gesicht. Der Typ dürfte keine zehn Jahre älter sein als ich. Gepflegter Dreitagebart, blondes Haar, blaue Augen, dazu Markenklamotten und eine Haltung, die mir verrät, dass er weiß, was er im Leben will. Was ihn wohl nach London verschlägt?

Während ich immer wieder zu ihm hinüberschiele, kratzt mein Füller über die aufgeschlagene Seite meines Notizbuchs. Das Schreiben gibt mir das Gefühl, produktiv zu sein, was meine angeschlagenen Nerven beruhigt. Akribisch notiere ich mir alle Details zu dem Mann, von seiner Designerbrille bis hin zu der Art, wie er mit den Fingern nervös über den blauen Umschlag seines Passes streicht. Niemand weiß, welche dieser Informationen später nützlich sein werden oder wie viele es am Ende ins Manuskript schaffen, aber ich bin gern vorbereitet.

In meinem Paperblank mit dem schlichten schwarzen Einband wimmelt es von solchen Notizen. Menschen, denen ich zufällig begegnet bin, ohne je ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben, dazu Plätze, ja, selbst Gefühle oder vage Stimmungen. Die Materialsammlung, aus der ich später im Patchwork-Style eine neue Geschichte webe.

Als plötzlich eine Durchsage ertönt, lichtet sich die Anspannung auf dem Gesicht des Mannes. Die Fluggesellschaft ruft zum Boarding auf, und es dauert kaum eine Minute, da ist er hinter der Schranke am Gate verschwunden. Die Wahrscheinlichkeit, ihn wiederzusehen, geht gegen null. Jetzt ist er nur noch ein Schatten in meinem Gedächtnis und eine Seite in einem Notizbuch. Ein Seufzen huscht über meine Lippen.

Wie immer bin ich vier Stunden vor Abflug am Flughafen angekommen, weshalb ich nun über meinem dritten Kaffee sitze und das Kommen und Gehen um mich herum beobachte, in der Hoffnung, dass irgendjemand oder etwas einen Funken in mir auslöst. Die zündende Idee für meinen großen Roman. Doch bis auf ein paar wahllose Anhaltspunkte lässt die Muse auf sich warten – so wie schon die letzten acht Monate, seit meine Mutter mich gefragt hat, ob ich denn nicht mal »etwas Eigenes« schreiben möchte.

Der Gedanke daran tut weh, dabei ist die Antwort ebenso offensichtlich wie plump: Ja, natürlich will ich etwas Eigenes schreiben. Ein Buch, auf dem in dicken Lettern der Name Louay Saeed prangt statt eines Pseudonyms, das ich wie einen Schutzschild vor mich halte.

Allein die Erinnerung an das Gespräch mit meinen Eltern frustet mich so sehr, dass ich kaum still sitzen kann, während meine Gedanken in unendlich viele Richtungen gleichzeitig davonrauschen. Mein Verleger sagt immer »Diamanten entstehen unter Druck«, nur ist genau dieser Druck Gift für meine Kreativität.

Sobald ich den Platz im Café verlasse, werde ich beinahe von einer Horde Schüler überrannt, die aufgeregt über die bevorstehende Klassenfahrt tuscheln. Erfahrungsgemäß habe ich fast immer das Glück, in derselben Maschine zu sitzen – und manchmal leistet mir auch ein schreiendes Kleinkind oder ein alter Kerl, der seine Knie nicht bei sich lassen kann, Gesellschaft. Doch heute muss ich mir um die Schulklasse vermutlich keine Sorgen machen. Dem Geplapper nach zu urteilen, geht die Reise für sie nach Rom – also so ziemlich in die entgegengesetzte Richtung.

Weil mir trotz Kaffeepause noch viel zu viel Zeit bis zum Boarding bleibt, schlendere ich vorbei an Designergeschäften und Feinkostständen, bis ich schließlich einen Buchladen entdecke. Mir ist klar, dass es Selbstfolter gleichkäme, mich genau jetzt dort hineinzubegeben, aber mein innerer Bücherwurm jubelt vor Freude und übernimmt die Kontrolle über meinen Körper, ehe der gesunde Menschenverstand ihn niederzwingen kann.

Der Geruch von Papier begrüßt mich beim Eintreten wie ein alter Freund, und sofort nimmt mein Gehirn die Arbeit auf. Es zeigt mir größenwahnsinnige Bilder von meinen Werken auf dem Empfehlungstisch mit den Bestsellern, vielleicht einen Pappaufsteller von mir mit Sprechblase und Zitat. Oder einen anderen Firlefanz, den sich die Marketingabteilung ausdenkt – ich bin nicht wählerisch.

Gedankenverloren schreite ich durch die Regale, wobei ich mich frage, wo mein Werk wohl landen wird.

Vielleicht bei den Thrillern? Bei den Krimis? Eine Mordserie, die auf einer abgeschiedenen Insel spielt? Bei den historischen Werken? Oder lieber Science-Fiction? Vielleicht auch etwas Ausgefallenes wie Fantasy? Ob ich es mal mit einem Jugendbuch probieren sollte? Die Möglichkeiten sind endlos – wie die Ideen in meinem Kopf – und dennoch ungreifbar. Vage Ahnungen eines Manuskripts, das ich verwerfe, kaum ist der erste Ansatz erdacht. Ich stecke in einer Art literarischer Existenzkrise, wenn man so will.

Als ich bei den Liebesromanen ankomme, die gefühlt ein Drittel des Ladens einnehmen, gerate ich ins Stocken. Eigentlich lese ich selbst gern Romanzen, doch was ich hier entdecke, lässt mich erschaudern. Ich strecke eine zitternde Hand nach dem verträumten Cover aus, das ein schlossartiges, altes Gebäude an einem Strand zeigt. Sofort habe ich das Gefühl, die frische Meeresluft einzuatmen, während ich mit den Fingerkuppen über die geprägte Schrift fahre.

Die Schicksalsklinik. Daneben ein Sticker mit der Aufschrift: Alle Folgen jetzt im hochwertigen Sammelband.

Mir wird schlecht. Meine Agentin meinte einmal zu mir, dass Schreibende es geschafft haben, wenn der eigene Name größer auf dem Cover ist als der Titel. Und genau das ist hier der Fall: ALMA JENSEN.

Beim Lesen kommt es mir vor, als würde eine schrille Stimme mir den Namen silbenweise ins Ohr schreien. AL-MA JEN-SEN.

»Hätte dich beim Reinkommen gar nicht so eingeschätzt.« Diese Worte stammen nicht aus meinem Kopf, sondern von einer Verkäuferin, die neben mir aufgetaucht ist. Vor Schreck zucke ich zusammen – auch, weil ich es nicht gewohnt bin, in einer Flughafenbuchhandlung beraten zu werden.

Die Blondine mit den schwarz geschminkten Augen und Lippenpiercings grinst mich an. »Das Buch, meine ich«, führt sie weiter aus. »Wird manchmal echt langweilig hier, also mach ich mir einen Spaß draus, mir zu überlegen, was die Leute, die hier reinkommen, so lesen. Dich hätte ich, ehrlich gesagt, anders eingeschätzt.«

Mit der Aussage weckt sie mein Interesse, und obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, ein Gespräch mit dieser Fremden anzufangen, bewegt sich mein Mund wie von allein. »Ach so? Wie hättest du mich denn eingeschätzt?«

Daraufhin verengt sie die Augen, um mich genauer zu mustern. Ihr eines Lippenpiercing wackelt hin und her, was mich immerhin so weit ablenkt, dass ich mich unter ihrem Röntgenblick nicht völlig nackt fühle. Dann zuckt die Frau mit den Schultern. »Keine Ahnung, um ehrlich zu sein.«

Irgendwie bin ich enttäuscht. Natürlich wäre es übertrieben, meine Karriere von der Einschätzung einer Verkäuferin abhängig zu machen, aber sie hätte mir vielleicht einen Schubs in die richtige Richtung geben können.

»Jedenfalls nicht wie jemand, der so was da liest. Weiß Gott, wieso sich der Scheiß so gut verkauft.«

Mit »so was da« und »der Scheiß« meint sie das Werk, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Fairerweise ahnt die Verkäuferin davon nichts, denn das Geheimnis um mein Pseudonym ist in etwa so gut gehütet wie die Archive des Vatikans. Wobei Geheimnis in diesem Fall auch nur ein Synonym für die Lüge ist, hinter der ich mich bereits so lange verstecke, dass ich keine Ahnung mehr habe, wer ich überhaupt bin.

Neben Verleger und Agentin weiß nur meine Familie davon, und das auch nur, weil alle mir schriftlich versichert haben, ihren Stolz über meinen Erfolg nicht in die WhatsApp-Gruppe des Schulelternbeirats zu posten. Und überraschenderweise halten sie schon seit fast vier Jahren dicht.

»Hast du es denn gelesen?«, frage ich die Verkäuferin neugierig.

Zur Antwort erhalte ich ein abwertendes Zungenschnalzen, ehe sie mir das Buch aus der Hand nimmt und beginnt, die Rückseite vorzulesen. »Die Erfolgsserie von Bestseller-Autorin Alma Jensen – jetzt auch im hochwertigen Paperback-Sammelband. Begleiten Sie die junge Krankenschwester Anneliese in die Seeklinik St. Johanna und lassen Sie sich von den charmanten Ärzten vor Ort verzaubern. … Was denkst du?«

Eigentlich gar nichts. Ich kenne den Aufhänger nur zu gut, und obwohl die Frau vor mir nicht mal den Hauch einer Ahnung hat, wer vor ihr steht, will ich vor Scham am liebsten im Erdboden versinken. In Wirklichkeit sind die Bücher im Inneren nicht ganz so seicht, wie der Klappentext es vermuten lässt. Zumindest rede ich mir das ein. Ich gebe mir immer Mühe, die Handlung weniger melodramatisch und vorhersehbar verlaufen zu lassen, als es von meiner Zielgruppe erwartet wird, aber der Redaktion, die die Kurztexte schreibt, ist das herzlich egal – und die Leserinnen stehen anscheinend drauf.

»Klingt doch spannend …«, äußere ich wenig glaubhaft und ernte prompt ein Lachen.

»Um deine Frage zu beantworten: Ich hab es gelesen. Ich bin die einzige Frau, die hier fest angestellt ist, und deshalb für den Romance-Bereich verantwortlich. Da sag noch mal einer, Sexismus am Arbeitsplatz gäbe es nicht. Aber gut. Fangen wir nicht damit an. Das Buch war nicht meins. Wenn dir langweilig ist, geh mal auf Amazon. Die Ein-Sterne-Rezension mit den 803 Däumchen? Das ist meine.«

Ich meine sogar, mich vage daran erinnern zu können. Immer mal wieder scrolle ich durch das Feedback, um einen Überblick zu bekommen, bei wem mein Buch wie ankommt. Kritiken von Leuten, die normalerweise keine romantischen Heftromane mit Klinik-Setting lesen, überfliege ich meistens nur, doch irgendwas von den Worten »würde nicht mal meine Oma anrühren« ist wohl in meinem Gedächtnis hängen geblieben.

»Wo geht’s denn hin?«

»Hm?« Sie hat so plötzlich das Thema gewechselt, dass ich ein paar Sekunden auf dem Schlauch stehe, ehe ich realisiere, wo ich mich befinde. »Oh, natürlich. Ich fliege für ein paar Wochen auf die Färöer.«

»Um diese Jahreszeit?«, fragt sie stirnrunzelnd. »Hast du Familie da?«

»Nein. Ist geschäftlich.«

»Ach so. Bist du Fotograf? Die laufen hier ständig rum.«

»So was in der Art.« Ich lächele entschuldigend, während ich mein Handy aus der Tasche ziehe, um die Uhrzeit zu checken. »Hey, hast du etwas, das du mir empfehlen würdest? Ein Buch, das dir gefallen hat?«

Sie mustert mich skeptisch. Mir ist klar, dass meine Frage dem unbeholfenen Flirtversuch eines Büchernerds gleichkommt, doch das ist mir gerade herzlich egal. All das Gerede über Alma Jensen hat den Wunsch in mir, auf dem Buchmarkt – und im Privatleben – endlich ich selbst zu sein, nur verstärkt. Und wieso sich nicht verzweifelt an jede Option klammern? Wer weiß, vielleicht liefert ihre Empfehlung ja den zündenden Funken für eine Buchidee. Oder auch, was nicht liefe. Wäre ja schon mal ein Anfang.

Als wir endlich zur Landung ansetzen, bekomme ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Gefühl dafür, was es bedeutet, dankbar zu sein, dass man noch atmet. Die Färöer begrüßen uns mit hurrikanartigen Böen, was dem »Buschflieger« ordentlich zu schaffen macht. Während wir uns im Sinkflug befinden, spüre ich sämtliche Erschütterungen bis in meine Knochen, wobei mir jede davon neue Schweißperlen auf die Stirn treibt. Das Kleinkind, das zwei Reihen hinter mir bisher friedlich geschlafen hat, beginnt zu schreien. Irgendwo höre ich ein lautes metallisches Klappern, als wir die Wolkendecke durchbrechen. Unter mir sehe ich zunächst nichts als den Ozean, dessen Oberfläche wir so nah sind, dass ich einzelne Gischtkronen entdecke. Aus dem Cockpit ertönt eine Durchsage, aber die Stimme des Piloten klingt verzerrt, weshalb ich nicht einschätzen kann, ob er uns beruhigend zuspricht oder zum Beten auffordert. Dann taucht unter mir auf einmal Land auf. Baumlose Berggipfel, die mit goldfarbenem Gras bewachsen sind. Dazu felsige Hänge, Wasserfälle. Eine Straße. Ein Dorf. Ein heftiger Windstoß, der das Flugzeug zur Seite neigt, woraufhin ich für eine Sekunde nur den Ozean sehe.

Oh, bitte, mach, dass es vorbei ist!

Wir überqueren die Ortschaft, fliegen eine leichte Rechtskurve, und ich spüre deutlich, wie wir an Höhe verlieren. Einen Augenblick bin ich schwerelos, nur um im nächsten mit dem Doppelten meines Körpergewichts in den Sitz gedrückt zu werden. Ich lege den Kopf in den Nacken, blicke nach oben, weil ich entgegen jeder Vernunft erwarte – oder hoffe –, dass mir gleich eine Sauerstoffmaske entgegenfällt. Doch stattdessen ertönt ein lautes Rauschen, gefolgt von einem Bremsschub. Erneut beginnt die Maschine zu schwanken. Dann endlich die erlösende Landung.

Scheiße.

Der Pilot bremst so stark ab, dass ich trotz Gurt das Gefühl habe, vom Sitz zu rutschen. Hinter mir lässt das Kind ein wütendes Brüllen los. Dann ist es geschafft. Mit Erleichterung bemerke ich, wie wir langsamer werden und endlich festen Boden unter dem Fahrwerk haben. Beinahe hätte ich applaudiert, hätte ich mich nicht im letzten Moment daran erinnert, dass ich nur einer von acht Passagieren auf diesem Flug bin.

Als wir das Terminal erreichen und zum Stehen kommen, zittern meine Beine noch immer. Ich kann es gar nicht erwarten, aus dieser Maschine raus zu sein, obwohl es mir insgeheim schon vor dem Rückflug graut. Bis dahin sind es fast drei Wochen. Nicht annähernd genug Zeit, um mich irgendwie von diesem Höllenflug zu erholen.

Wenn ich keinen Anschluss zu erwischen habe, bleibe ich normalerweise bis zuletzt in der Maschine sitzen, um anderen den Vortritt zu lassen. Doch heute kann ich mich gar nicht genug beeilen, mir mein Handgepäck zu schnappen, mich knapp beim Personal zu bedanken und die Gangway hinunterzustolpern, weil sich meine Knochen anfühlen, als wären sie aus Pudding.

Ob es übertrieben wäre, den Boden zu küssen?

Ich bleibe einen Augenblick lang stehen, bis sich mein wild schlagendes Herz beruhigt. Zuerst fällt mir der Geruch auf – nach Regen, frischem Gras, Wind und Kälte –, dann die Schafe.

Was zur Hölle?

Der Flughafen liegt idyllisch in grasbewachsene Hügel eingebettet und ist so klein, dass er gerade genug Platz für fünf Passagiermaschinen bietet. Die Stelle, an der wir geparkt haben, ist nur einen Steinwurf von einem mit Stacheldraht versehenen Zaun entfernt, an dem ein paar Schafe grasen, als gäbe es kein gemütlicheres Plätzchen als das hier, unmittelbar neben den Turbinen eines Flugzeugs. Hinter mir verlassen die Eltern mit dem nun nicht mehr schreienden Kind die Maschine, wobei sie sich aufgeregt in der Landessprache unterhalten. Obwohl die Färöer zu Dänemark gehören, haben die Laute keinerlei Ähnlichkeit mit dem, was ich gewohnt bin. Ein bisschen erinnert es mich an meine Reise nach Island, aber eben nicht ganz.

Während die restlichen Passagiere an mir vorbei ins Flughafengebäude marschieren, lässt das Zittern in meinen Beinen langsam nach. Normalerweise habe ich nur wenig Angst vorm Fliegen, doch ich bin mir sicher, dass dieses Erlebnis eine Art Trauma in mir ausgelöst hat. Allein der Blick in den wolkenverhangenen Himmel beschert mir ein flaues Gefühl im Magen. Dann reißt mich ein lautes Blöken aus meinen Gedanken.

Eines der Schafe hat den Kopf gehoben und scheint aus runden schwarzen Knopfaugen direkt in meine Seele zu starren. Als würde es alle meine Geheimnisse kennen, meine Schwächen – als hätte es sämtliche Bände der Schicksalsklinik gelesen und würde mich dafür verurteilen.

Bullshit. Das Adrenalin macht mich ganz durcheinander. Entschlossen schüttele ich den Kopf, ehe ich endlich den ersten offiziellen Schritt in diesem fremden Land mache. Wie Bilbo Beutlin oder Phileas Fogg bin ich bereit für ein Abenteuer.

Der Flughafen gleicht in seiner Größe einem Schuhkarton. Es gibt einen abgetrennten Bereich für die Ankünfte, wo ich innerhalb von fünf Minuten mein Gepäck zurückbekomme. Danach kann ich das gesicherte Areal auch schon verlassen. Ungewollt beschleunigt sich mein Herzschlag, sobald ich durch die Schleuse in den Eingangsbereich des Gebäudes trete, wo meine Mitpassagiere bereits von ihren Familien und Freunden in Empfang genommen werden, während ich noch nach meiner Gastgeberin Ausschau halte. Ich erwarte, wie im Film ein Schild mit meinem Namen darauf zu sehen, doch nichts dergleichen ist der Fall. Bald bezweifle ich, dass sie überhaupt schon da ist, denn nach nur wenigen Minuten bin ich allein an der Schleuse zur Gepäckannahme.

Ich schaue auf mein Handy. Unsere Landung war so pünktlich, wie sie nur hätte sein können, und ein Blick auf meine E-Mails bestätigt, dass wir uns genau hier verabredet haben.

Ich hole dich dann direkt am Tor zum Bereich für die Ankunft ab. 15.32 Uhr und keine Sekunde später!Bis dann, guten Flug!!! Lina

Bei der Überschwänglichkeit ihrer Nachrichten und der Menge an Ausrufezeichen, die sie verwendet, schätze ich sie auf eine Frau um die fünfzig. Vermutlich sind ihre Kinder inzwischen ausgezogen, weshalb sie das frei gewordene Zimmer als B&B vermietet. Oder sie ist noch älter und sehnt sich nach Gesellschaft, nachdem ihr Mann sie verlassen hat. Ungewollt entsteht ein Bild in meinem Kopf, der ihr ein konkretes Äußeres andichtet und eine Hintergrundgeschichte zu ihr webt. Wenn mein Verstand nur immer so inspiriert wäre wie durch einen Namen …

Lina Gásdal.

»Loay Saeed?« Ertappt zucke ich zusammen. Meinen vollen Namen falsch ausgesprochen zu hören, erinnert mich an meine Schulzeit, und alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.

»Ja?« Reflexartig presse ich die Hand gegen meinen Brustkorb, unter dem mein armes Herz heute gar nicht mehr zur Ruhe kommt, bis ich meinen Blick endlich auf die Frau richte, die sich mir unbemerkt genähert hat.

Meine Vorstellung von ihr wird mit sofortiger Wirkung gelöscht und überschrieben, denn Lina Gásdal ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir ausgemalt habe. Sie ist jünger als ich – wahrscheinlich kaum älter als zwanzig – und nur ein, zwei Zentimeter kleiner. Sie hat blasse, sommersprossige Haut, wobei ihre Wangen rot glühen, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Insgesamt wirkt sie außer Atem, das glatte pechschwarze Haar zerzaust, ein gehetzter Ausdruck in ihren blauen Augen. Sie ist doch nicht etwa den ganzen Weg hierher gerannt?

»Es tut mir leid«, keucht sie. »Ich hab nicht auf die Uhr … schon drei und … hätte nicht gedacht, dass du … Du bist Loay Saeed, oder?«

»Louay«, verbessere ich sie reflexartig, während ich noch immer damit beschäftigt bin, die neuen Informationen zu verarbeiten. Dass sie keine ältere Dame ist, die die Zimmer ihrer ausgezogenen Kinder vermietet, ist die eine Sache. Aber mit einer jungen Frau habe ich nicht gerechnet. Wie kommt sie dazu, hier am Ende der Welt ein B&B zu leiten?

»Oh Gott, sorry, sorry, sorry. Lu-Ai – ist das richtig?«

»Genau.«

»Kwssuhavurtutehr.«

Ich blinzele verwirrt. »Bitte?«

»Hvussu hevur tú tað«, wiederholt sie etwas klarer, ehe sie endlich einen tiefen Atemzug nimmt. »Das heißt: Wie geht’s? Hattest du einen guten Flug?«

Sie spricht Dänisch mit mir, vollkommen akzentfrei. Bei meiner Recherche über die Färöer habe ich herausgefunden, dass die meisten Inselbewohner zwei- bis dreisprachig aufwachsen und auch Englisch kein Problem für sie ist. Dennoch breche ich mir förmlich die Zunge, als ich versuche, ihre Worte zu wiederholen. »Danke, gut. Wossuha … dir?«

Da stellt sich einem doch die Frage, warum ich Single bin – ich alter Herzensbrecher. Immerhin scheint Lina meinen kläglichen Versuch, ihre Landessprache zu imitieren, mit Humor zu nehmen. Ein Grinsen macht sich auf ihrem Gesicht breit, sodass sich Grübchen auf ihren Wangen bilden. »Eg havi tað gott – ganz gut. Aber sorry, du wolltest sicher keinen Sprachkurs, kaum dass du gelandet bist.«

Na ja, eigentlich …

Zögernd zucke ich mit den Schultern und bemerke plötzlich, dass sie mich ebenso genau unter die Lupe nimmt wie ich sie. Ob sie sich wohl fragt, ob es sicher ist, mich als Gast aufzunehmen? Ich könnte ein Serienmörder sein, der es auf attraktive B&B-Besitzerinnen abgesehen hat … oder ein Perverser. Wäre das nicht Stoff für einen Thriller?

Mit einem Räuspern holt Lina mich aus den Gedanken. »Bist du so weit fertig für die Fahrt? Bis nach Hause dauert es knapp eine Stunde. Wenn du noch was essen willst oder so …«

Beinahe wäre ein »Ja!« aus mir herausgebrochen. Als wollte mein Unterbewusstsein sie unbedingt zum Essen einladen und alles über sie und ihre Heimat erfahren. Aber für den Moment behält die Vernunft die Oberhand. Das Letzte, was diese Situation braucht, ist, von mir noch peinlicher gemacht zu werden, als sie ohnehin schon ist.

»Danke, aber ich hab schon gegessen. An Bord gab es sogar Smørrebrød, das ausnahmsweise mal nicht staubtrocken war.«

Was zur Hölle rede ich da?

Mit einem Kopfnicken bedeutet sie mir, ihr zu folgen. »Fliegst du öfter?«

»Immer mal wieder. Wobei das hier das erste Mal seit Jahren ist, dass ich auch mal in Urlaub fliege.« So halbwegs zumindest. »Die meiste Zeit bin ich beruflich unterwegs.«

»Und was machst du?«

Ich bewundere, dass sie keinerlei Scheu hat, mir all diese Fragen zu stellen, doch wahrscheinlich gehört das bei ihr zum Beruf. Immerhin hat so wenigstens einer von uns die Fähigkeit, die Fahrt ins B&B mithilfe von Small Talk nicht ganz so ungemütlich werden zu lassen.

Die Frage ist nur: Bleibe ich bei der Wahrheit?

»Ich … schreibe.«

Vage genug.

»Dann bist du sicher ein Reiseblogger!«

»So in etwa.«

Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, ihr so ins Gesicht zu lügen, aber ich kann ihr kaum gleich meine geheime Identität auf die Nase binden, nachdem wir uns gerade einmal ein paar Minuten kennen. Während ich ihr zum Ausgang folge, lasse ich meinen Blick durch das Terminal schweifen. Es gibt nur eine Handvoll Schalter, und die Menge an Menschen ist so überschaubar, dass ich mich unwillkürlich frage, ob es sich überhaupt lohnt, diesen Flughafen zu betreiben.

»Da hast du aber ein seltsames Timing«, bemerkt Lina, als sie die ausladende Kabine einer Drehtür betritt. Mit überraschend viel Energie drückt sie gegen das Glas, obwohl ein Schild deutlich darauf hinweist, ebendies nicht zu tun. »Ich meine, die meisten kommen erst ab Mitte Mai hierher.«

»Ach ja? Wieso denn das?«

»Zu kühl. Zu wechselhaft … also noch mehr als sonst.«

Ein eiskalter Windstoß treibt mir die Tränen in die Augen, als ich unter das Vordach des Terminals trete. Wo mich an anderen Flughäfen ewige Autoschlangen erwarten, gibt es hier nur einen Bus und zwei geparkte Pkw. Dahinter liegt ein Grünstreifen, gefolgt von einem separaten Parkplatz, bevor auch schon wieder die Natur beginnt. Ich wusste, dass die Färöer mit ihren fünfzigtausend Einwohnern klein sind, dennoch werde ich nach dem Trubel der Hauptstadt beinahe erschlagen von all dem … Nichts.

»Vorhin, als ich losgefahren bin, hat es geschneit.« Linas Stimme reißt mich aus den Gedanken.

»Wirklich?«

»Mhm. Ich hoffe, du bist für alle Verhältnisse gerüstet, wenn du wandern gehen willst. Wir haben hier echt jede Art von Wetter.«

»Auch Sandstürme?«, frage ich im lahmen Versuch eines Witzes.

»Auch Sandstürme«, bestätigt sie augenzwinkernd, ehe sie den ziemlich überflüssigen Zebrastreifen überquert. Bereitwillig folge ich ihr zum Auto, einem mitgenommenen schwarzen Jeep, obwohl ich nach wie vor nicht realisiere, wo ich mich befinde.

Nicht ganz der Arsch der Welt – es gibt zumindest Straßen –, aber ich glaube, ich kann ihn von hier aus sehr gut sehen.

Lina

Louay. Lu-Ai.

Ein Mann. Ein Koffer. Ein Rätsel.

Wenn er sich einbildet, ich würde ihm die Reiseblogger-Nummer abkaufen, dann hat er sich getäuscht. Das B&B ist zwar erst seit letztem Jahr eröffnet, doch in der einen Saison habe ich genug von der Sorte getroffen, um zu wissen, dass Louay keiner von ihnen ist. Nichts an ihm schreit: »Hallo, ich bin hier, um Abenteuer zu erleben, um dann drei Jahre nicht aufzuhören, davon zu erzählen – egal, ob ich gefragt werde oder nicht.« Ich weiß, ich sollte ihn nicht beurteilen, bevor ich ihn kenne, aber es passt einfach nicht. Er trägt schlichte Schnürschuhe, Jeans und einen Wollmantel, der sich beim nächsten Nieselregen mit Wasser vollsaugen wird. Ihm fehlt der abgetragene Rucksack oder zumindest ein zerkratzter Hartschalenkoffer, auf dem sich Sticker aus aller Welt tummeln. Louays scheint neu und deutlich hochwertiger zu sein, als hätte er ihn eigens für diese Reise gekauft.

Nur wenn er kein Blogger oder Fotograf ist, was will er sonst um diese Jahreszeit hier?

Obwohl ich bemüht bin, eine lockere Konversation aufrechtzuerhalten, um ganz die gute Gastgeberin zu sein, kenne ich meine Grenzen. Hier auf den Inseln gibt es kaum eine Frage, die jemand mit »Das geht dich nichts an« beantworten würde, aber ich weiß, dass der Rest der Welt das anders sieht.

Allerdings hält mich das nicht davon ab, Louay während der Fahrt genauer unter die Lupe zu nehmen, vor allem, weil er viel zu beschäftigt damit ist, jeden Quadratmeter der Landschaft in sich aufzunehmen. Als hätte er noch nie Schafe gesehen. Oder Hügel. Oder Gras. Meinte er nicht, er sei aus Kopenhagen? Die werden dort ja wohl Gras haben.

Louay ist ein paar Jahre älter als ich, aber vermutlich keine dreißig. Seine braune Haut bildet einen sanften Kontrast zum Beige seines Schals. Zusammen mit den beinahe schwarzen Haaren verleiht sie ihm ein Aussehen, das fast das Gegenteil zu dem ist, was hier im Norden als »typisch« gilt.

Während der Fahrt stockt unsere Konversation, doch das Schweigen ist nicht unangenehm. Dazu ist Louay zu sehr mit der Umgebung beschäftigt – selbst als wir nur durch den Tunnel fahren, der die Inseln Vágar und Streymoy miteinander verbindet. Komischer Typ. Aber irgendetwas hat er, das mich immer wieder dazu bringt, zu ihm hinüberzuschielen. Vielleicht die Art, wie er auf seiner Unterlippe kaut, als stellte ihn die Landschaft vor ein unlösbares Rätsel. Vielleicht auch sein Geruch. Ein teuer riechendes Aftershave, das eher nach »reicher Investor« schreit statt nach Reiseblog.

Ach, was weiß ich schon. Ich sollte mir nicht so viele Gedanken darüber machen. Sobald ich ihn abgesetzt habe, sehe ich ihn nur ein paar Male, bevor er in nicht einmal drei Wochen wieder verschwindet. Was zur Hölle will er eigentlich so lange tun? Ich weiß ja schon kaum, wie ich die Zeit totschlagen soll.

Als wir die Ortschaft Hvalvík erreichen und ich endlich auf die Straße nach Saksun einbiege, verschlechtert sich meine Laune. Vor uns liegen noch fünfzehn Minuten Fahrt durch nichts als Einöde, doch das ist nicht der Grund für meinen Stimmungswechsel. Mit der letzten Etappe unserer Reise kehren die Gedanken an meinen Vater zurück. Und an die Tatsache, dass ich mich jetzt nicht mehr in die Ferienwohnung verziehen kann, um ihm aus dem Weg zu gehen.

»Alles okay?« Erst als Louay mich anspricht, fällt mir auf, dass ich ein paarmal geseufzt habe. Der Klang seiner Stimme erinnert mich an Hörbücher oder Dokumentationen im Fernsehen. Sie klingt fast ein bisschen zu alt für ihn, sanft und … kontrolliert, ohne dabei emotionslos zu wirken.

Mit einem Kopfschütteln versuche ich, meine Gedanken loszuwerden, und klappe die Sonnenblende nach unten, um so zu tun, als wäre mein einziges Problem der mittlerweile strahlend blaue Himmel.

»Da drüben spiele ich Fußball«, übergehe ich seine Frage gnadenlos und deute mit einer Kopfbewegung nach rechts. Dort, auf der anderen Seite des Flusses, befindet sich ein kleiner Sportkomplex. »Training ist zweimal die Woche dienstags und donnerstags. Samstags habe ich meistens ein Spiel.«

Louay nickt, als wäre diese Information genauso relevant wie die kleinen Details über die Insel, die ich während der Fahrt hin und wieder erwähnt habe.

»Du hast sicher auf der Webseite gelesen, dass Saksun keine Geschäfte hat.«

»Und nur zwölf Einwohner.«

Sein Einwurf lässt mich grinsen. »Fotografisches Gedächtnis?«

»Nein. Nur gut mit Wörtern und nutzlosen Infos.«

Also doch etwas mit Schreiben?

»Auf jeden Fall«, fahre ich fort, »was ich damit sagen will: Du kannst gern bei uns mitessen, wenn du keine Lust hast zu kochen. Und wenn du etwas vom Supermarkt brauchst, kannst du mir Bescheid geben, und ich bringe es dir. Oder du kommst einfach zum Einkaufen mit nach Oyrarbakki – was dir lieber ist.«

»Das Angebot mit dem Abendessen werde ich sicher hin und wieder in Anspruch nehmen, danke.«

»Klasse. Ich hab dich für heute auch eingeplant. Normalerweise sind die Gäste nach dem Flug immer müde, da will ich niemanden mit zum Einkaufen schleppen.«

Er nickt zustimmend und lehnt den Kopf gegen die Scheibe.

»Morgen kann ich dich mitnehmen.«

»Das wäre nett.« Plötzlich scheint ihm etwas einzufallen. »Gibt es hier denn überhaupt … alles?«

Ich runzele die Stirn und löse kurz meinen Blick von der einspurigen Straße, um ihn anzusehen. »Was meinst du mit ›alles‹?«

»Na ja«, entgegnet er schulterzuckend. »Lebensmittel. Zahnpasta. Bohrmaschinen. Dinge des täglichen Bedarfs – ihr seid doch relativ abgeschnitten.«

Bohrmaschinen