Ohne Befund - Lou Bihl - E-Book

Ohne Befund E-Book

Lou Bihl

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Beschreibung

Valentin, Genetiker aus Hamburg, verliebt sich beim One-Night-Stand in die Heidelberger Onkologin Hillary und tarnt seine elektronischen Liebesbriefe als wissenschaftlichen Diskurs. Oberärztin Thea wird von einem anonymen Ex-Patienten gestalkt und kann sich der Faszination seiner Briefe nicht entziehen. Gynäkologe Finn ist schockiert, dass die schwangere Patientin aus der Ukraine als Leihmutter für seine geschätzte Kollegin fungiert. Und Krankenschwester Martha kämpft nach dem Schlaganfall ihres Mannes mit Kirschenplotzer und Buletten um den Familienfrieden. Geschichten, die so bunt sind wie das Leben und einen Blick hinter die Kulissen des medizinischen Universums werfen. Sie entführen uns auf Kurztrips in seelische Abgründe, sie richten Spotlights auf menschliche Schwächen und Ängste – doch sie zeigen auch die Wirksamkeit von Liebe und Humor als rezeptfreie Schmerzmittel.

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Lou Bihl

Ohne Befund

Geschichten aus dem Gesundheits-Wesen

mit Illustrationen von Daniel Horowitz

U N K E N

Ohne Befund beschreibt ausschließlich Erfundenes. Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Begebenheiten sind zufällig.

Impressum

Erste Auflage 2024

Umschlag und Illustrationen: Daniel Horowitz, Paris

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Korrektorat: Viola Diehl

Satz: fotosatz griesheim GmbH

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

Print-ISBN ISBN 978-3-949286-11-7

E-Book-ISBN 978-3-949286-12-4

Es gibt nur eine Medizin gegen große Sorgen:kleine Freuden.

Inhalt

Mutterschaft

Keine Schönheitschirurgin

Phase III

Der Stalker und die Pest

Viagra rettet Leben und schützt das Herz

Dankbarkeit

German Angst

So ähnlich wie Trumps Frau

Krieg und Kirschenplotzer

Der Kategorienkiller

Nachwort und Dank

Mutterschaft

Dr. Finn Egemann

Manchmal packt mich die Reue, nicht Saxofonist geworden zu sein. Dann besinne ich mich auf das Privileg, als Gynäkologe meinen Beitrag zum Erhalt der Gesellschaft zu leisten. Für Ärzte anderer Disziplinen liegt ihr Daseinszweck darin, Leben zu retten, was wir Gynäkologen ebenfalls tun. Aber eben nicht nur! Wir ermöglichen Leben. Na ja, zumindest machen wir den Weg frei. Seelenbetreuer sind wir auch.

So gehört mein letzter Termin des Tages meist den Schwierigen oder Zuwendungsbedürftigen. Etwa beim Überbringen schlechter Nachrichten. Oder bei Risikoschwangerschaften. Bei ungewollt Schwangeren und bei Frauen, die nichts lieber wären als schwanger, deren Kinderwunsch jedoch unerfüllt bleibt. Wie bei Ulla Krauss-Kimmerle, genannt Kraki, einer Kollegin, die ich als Kampfgefährtin aus Klinikzeiten sehr schätze. Oft stand sie mir bei komplizierten Geburten und Kaiserschnitten zur Seite. Als Neonatologin1* hatte sie ein Händchen für Winzlinge, deren Leben, zu früh begonnen, schon auf der Kippe stand, als sie in die Welt geworfen wurden. Geduld brauchte ich mitunter für Krakis Betulichkeit, eine Schrulle, die sie mit vielen Pädiatern teilt; es färbt ab, wenn man immer nur mit Kindern oder deren neurotischen Eltern zu tun hat. Kinder waren für Kraki stets das Höchste, und so war ich wenig verwundert, als sie kurz vor meiner Praxisgründung die Klinik verließ. Nicht, weil ihr die zahlreichen Wochenenddienste und Nachtschichten zu anstrengend geworden wären, sondern da sie sich selbst mindestens drei eigene Sprösslinge wünschte. Die leider, trotz des ruhigeren Jobs als angestellte Ärztin in einer pädiatrischen Praxis, ausblieben oder, schlimmer noch, im ersten Schwangerschaftsdrittel abgingen.

Also stelle ich mich auf Trostbedürftigkeit ein, im letzten Jahr hatte ich Kraki in ein Kinderwunschzentrum überwiesen, allerdings waren mehrere reproduktionsmedizinische Therapiezyklen erfolglos. Oder sollte sie doch schwanger geworden sein?

»Frau Doktor Doppelname ist heute nicht Patientin«, raunt mir Tatjana, die ukrainische Helferin, zu, als sie Kraki samt Begleitung ins Sprechzimmer bringt. »Sie ist Vermietung von Eva Popova, eine schwangere Flüchtling aus meine Heimat. Frau Doktor hat bestanden auf mitkommen zu Herr Doktor.«

Als ich keine Einwände erhebe, zieht Tatjana die buschigen Brauen hoch. »Soll ich bleiben? Wenn Sie brauchen, kann ich übersetzen.«

Ich nicke und wende mich Kraki zu. Ihre Körpersprache wirkt revitalisiert, die vormals hängenden Schultern sind straff, der herbe Zug um den Mund, mit jeder Monatsblutung tiefer eingekerbt, hat sich geglättet, und in ihre Augen ist das frühere Strahlen zurückgekehrt. Allerdings zeigt ein Blick auf ihre Hände: Sie kaut noch immer an den Fingernägeln. Kraki begrüßt mich mit Luftküsschen und bedankt sich bei Tatjana für den schnellen Termin. Übrigens sei sie nicht Frau Popovas Vermieterin, sondern ihre Vertraute. Nach deren Flucht aus Saporischschja habe sie die junge Frau aufgenommen und sie seien Freundinnen geworden. »We are good friends, Eva, aren’t we?«

»Yes, yes«, bestätigt Eva mit strahlendem Lächeln. »She like mother.« Sie legt Kraki eine Hand auf den Arm. Die lächelt zurück, kann aber ein winziges Zucken nicht verbergen. Sie ist Anfang vierzig, die Ukrainerin Mitte zwanzig. Evas kurvige Gestalt kontrastiert mit einer wächsernen Gesichtsfarbe, die der feuerwehrfarbene Lippenstift noch betont.

Tatjana nickt befriedet und holt einen dritten Stuhl. Nach Übersetzung meiner Frage zu ihrer Schwangerschaft antwortet Eva, das Zeugungsdatum könne sie nicht nennen, sie und ihr Verlobter hätten nach Kriegsausbruch »immerzu Sex gemacht, um noch ein bisschen Leben zu fühlen«. Auch das Datum der letzten Periode weiß sie nicht genau. »Krieg macht Ordnung von Zyklus kaputt«, übersetzt Tatjana. Vor zehn Wochen dann positiver Schwangerschaftstest – ungeplantes Wunschkind. Eva stockt, ihre Züge frieren ein, der Blick driftet starr ins Leere.

Am Tag nach dem Test kam der Einberufungsbefehl, ihr Verlobter wurde kurzfristig an die Front beordert. Andrej bestand auf ihrer sofortigen Flucht. Eva empfand das als Verrat und weigerte sich zunächst, ließ sich dann aber mit dem Argument überreden, es sei ihre moralische Pflicht, das Baby vor dem Krieg zu schützen. Und überhaupt Saporischschja! Durch eine deutsche Bekannte kam der Kontakt mit Frau Doktor zustande, die sich sofort bereit erklärte, Eva aufzunehmen. Sobald der Krieg gewonnen ist, will die junge Frau mit dem Kind in ihre Heimat zurückkehren.

»Das kann dauern«, kommentiert Kraki lakonisch. »Aber schließlich habe ich mir Kinder gewünscht, und nun kommt wenigstens mal ein Baby ins Haus.«

»Dann schauen wir uns euer Wunschbaby mal an«, sage ich, auf die Ultraschallliege deutend, und beiße mir auf die Zunge: Die zweite Person Plural war wohl ein Fettnapf. Doch Kraki scheint über diesen Fehltritt nicht gekränkt, sondern nickt begeistert, besonders nachdem Eva klargestellt hat: »Doctor, Ulla stay, for looking my Baby.«

Die Vaginalsonografie zeigt das pflaumengroße Wesen in Evas Uterus, es faltet sich in der prallen Fruchtblase kurz zusammen, als begrüße es die Zuschauer mit einer kleinen Verbeugung. Dann streckt sich der Fötus, man sieht sein winziges Herz schnell und rhythmisch pumpen. Andächtig starren die beiden Frauen auf den Schirm und lauschen wie hypnotisiert den regelmäßigen, kräftigen Herztönen. Die Scheitel-Steiß-Länge beträgt 51 mm, so ist die werdende Mutter wohl in der 12. Woche.

Alles scheint, wie es sein soll. Kraki macht zahllose Screenshots, Tatjana überreicht beiden Frauen zusätzlich ein Papierfoto. Eva haucht ein Küsschen auf das Bild und wird noch blasser, als das Baby nun aussieht, als blute es aus dem Herzen in den Bauchraum. »Only Lipstick«, tröstet Kraki und wirft schnell das Blutbaby in den Papierkorb. Tatjana druckt der jungen Mutter einen neuen Sprössling aus.

Als die beiden Frauen nach der Blutentnahme Arm in Arm die Praxis verlassen, schaut meine Helferin ihnen versonnen nach. »Doktor Doppelname ist doch guter Mensch. Wird sich kümmern, auch wenn Baby halbes Waisenkind wird.«

»Keine Unkenrufe!«, mahne ich munterer, als mir zumute ist. »Was kann Menschen im Krieg mehr Hoffnung geben, als dem täglichen Morden ein neues Leben entgegenzusetzen?«

Tatjana legt den Kopf schief. »Chef weiß immer schlau, wie Welt funktioniere.«

Dr. Ulla Krauss-Kimmerle

Finn hat nichts gemerkt. Sich überwiegend als Höhlenforscher im Inneren des weiblichen Südpols zu bewegen, engt vielleicht den Horizont der Fantasie ein. Auch können sich männliche Gynäkologen wohl kaum vorstellen, wie brisant die menschliche Sehnsucht wird, sein Selbst zu reproduzieren – und was Frauen bereit sind, dafür zu investieren.

Irgendwann werde ich Finn einweihen, keinesfalls will ich ihn als Freund und Kollegen verlieren. Nach jeder Fehlgeburt hat er meine Untröstlichkeit ausgehalten, mir Mut zugesprochen. Nach der x-ten Enttäuschung versuchte er behutsam, mir die Perspektive näherzubringen, auch ein Leben ohne »selbst gemachten« Nachwuchs könne erfüllend sein, zum Beispiel mit adoptierten Kindern. Damals, als ich ihn auf Leihmutterschaft ansprach, hat er sofort geblockt und mir apodiktisch davon abgeraten, illegale Wege zu beschreiten. Ich hoffe, ich kann ihn dennoch überzeugen, dass ein bisschen kriminelle Energie die Unschuld werdenden Lebens nicht weniger schützenswert macht.

Aber noch will ich nichts riskieren, Eva vertraut Finn. Es würde nur Unruhe in die Schwangerschaft bringen, falls er die weitere Betreuung ablehnte, denn psychisch ist Eva alles andere als stabil; wenn ihr Smartphone sich meldet, zuckt sie zusammen. Kein Wunder, der Klingelton ist Ed Sheerans I See Fire. Doch bleibt ihr Handy stumm, wird sie rastlos und zappelig.

Als Eva mich anrief, konnte ich mein Glück kaum fassen.

Vor dem Krieg hatte ich bei einem angeblichen Urlaub am Schwarzen Meer eine letzte Stimulationstherapie bei der Agentur in Odessa absolviert, vier reife Eizellen konnten problemlos befruchtet werden. Leider wurde Eva nach dem ersten Implantationsversuch nicht schwanger. Drei verbleibende Embryonen wurden eingefroren.

Dann kam der Krieg und schweren Herzens nahm ich innerlich Abschied von meinen Tiefkühlkindern. Bei jeder Meldung über Stromausfälle in der Ukraine quälte mich das Bild ihres grausamen Schmelztodes, wenngleich die Agentur zu Beginn des Krieges noch schrieb, ihre Tiefkühlanlagen seien geschützt und mehrfach gesichert, sie hofften, ihren Service bald wieder aufnehmen zu können. Vermutlich nahmen sie an, Putin werde binnen Kürze die Ukraine erobern, und da in Russland Leihmutterschaft erlaubt ist, könne man anschließend mit einem erweiterten Geschäftsmodell fortfahren.

Dann kam der Anruf. Kaum verstand ich Evas gebrochenes Englisch. Die Agentur werde wegen des Krieges nun endgültig aufgelöst, biete jedoch an, vorher die noch vorhandenen Embryonen, die sich bei ununterbrochener Kühlkette in gutem Zustand befänden, gegen eine minimale Gebühr zu implantieren. Ob wir bereit wären, Eva für die Dauer der Schwangerschaft bei uns unterzubringen. Ich zögerte nicht und fegte alle Bedenken meines chronisch misstrauischen Mannes beiseite.

Eva wurde prompt schwanger. Viktor schlug vor, die genetische Abstammung mit einer Fruchtwasseruntersuchung zu überprüfen. Ich erklärte ihm, das sei prinzipiell möglich, stelle aber ein erhebliches Risiko für die Schwangerschaft dar, dem kein Arzt eine Vierundzwanzigjährige aussetzen werde. Um weitere Diskussionen zu vermeiden, verschwieg ich, dass kürzlich ein Bluttest zugelassen wurde, in Deutschland jedoch nur bei Verdacht auf Vergewaltigung. Die Idee einer ukrainischen Leihmutterschaft hatte er zunächst kategorisch abgelehnt. Als Jurist hat Viktor einen phobischen Respekt vor Illegalem. Überzeugen ließ er sich erst, nachdem er im Embryonenschutzgesetz recherchiert hatte, dass strafrechtlich nur die Ärzte verfolgt werden, die eine entsprechende Behandlung vornehmen, während Wunscheltern und Leihmutter straffrei bleiben.

Nun bin ich eine Kriegsgewinnlerin und schäme mich kein bisschen. Täglich kommen Tausende von ungewollten Babys zur Welt. Kein Kind kann willkommener sein als meines, wir werden es in Liebe baden. Auch Eva hat es gut bei uns: keine Bomben, medizinische und menschliche Betreuung und bei ihrer Rückkehr eine finanzielle Existenzgrundlage. Unsere Anwältin, eine Studienkollegin von Viktor, prüft die Optionen für eine Adoption, die bei Anerkennung der Vaterschaft angeblich problemlos ist. Schon vor dem Krieg hatte es in Frankfurt ein entsprechendes Urteil gegeben, nachdem in einem solchen Fall im Sinne des Kindeswohls auch der Wunschmutter das Adoptionsrecht zugesprochen wurde.

Nach der Geburt kann Eva bei uns bleiben, solange sie will, hoffentlich ist der Krieg bald vorbei. Ich habe sie von Herzen gern, fürchte jedoch, emotional könnte es schwierig werden, wenn sie zu lange mit dem Kind lebt, das sie neun Monate im Bauch trug und das dann meins ist. Ich wünsche ihr von Herzen, der Verlobte möge überleben und viele kleine Ukrainer mit ihr zeugen.

Dr. Finn Egemann

Ob Frau Doktor Doppelname mich vor Frau Popovas zweiter Untersuchung kurz allein sprechen könne, fragt Tatjana. Leicht verblüfft stimme ich zu.

Bei Krakis Umarmung rieche ich neben pudrigem Parfum einen Hauch von Schweiß. Ihre Beteuerung, wie sehr sie sich freue, mich zu sehen, klingt wie Partybegrüßungszwitschern. Kraki setzt sich, zupft am Rock, schlägt die Beine übereinander, stellt sie wieder parallel und beugt sich über den Schreibtisch. »Ich wollte dich um eine klitzekleine kollegiale Konspiration bitten.«

Ich lehne mich zurück. »Nur zu.«

Weitschweifig erklärt Kraki ihr Anliegen. Ich möge, zusätzlich zur routinemäßigen Schwangerschaftsvorsorge, alle Untersuchungen einsetzen, die bei einer Risikoschwangerschaft sinnvoll seien, sie werde für sämtliche Kosten aufkommen, die die gesetzliche Krankenversicherung nicht übernehme. Sie meint, der psychische Stress durch die Flucht und die ständige Sorge um den Verlobten an der Front seien Risikofaktoren für die Schwangerschaft und rechtfertigten ein erweitertes Monitoring, einschließlich erweitertem Ultraschall mit systematischer Untersuchung der Organe, für die ich ja über die entsprechende Qualifikation und spezielle apparative Ausstattung verfüge.

Eigentlich sehe ich bei der jungen Kerngesunden dafür keine Indikation, andererseits hat die Kollegin manche Neugeborenen mit unerkannten Beeinträchtigungen betreut. Also stimme ich zu, vorausgesetzt, die Schwangere sieht das ebenso.

Ich will aufstehen, aber Kraki ist noch nicht fertig. Da sei noch etwas. Ob ich außerdem einen pränatalen Bluttest auf Trisomie* machen könne.

Das finde ich unangemessen und helikoptermäßig. Ob die Untersuchung wirklich der Wunsch der Patientin sei?

Krakis Blick flackert, sie nestelt an ihrer Halskette. Eva würde alles für ihr Baby tun, weicht sie aus. Mein Zweifeln wahrnehmend, legt sie nach, auch für sehr junge Frauen bestehe schließlich ein – wenn auch geringes – Trisomie-Risiko. Und in Anbetracht der besonderen Lebenssituation der werdenden Mutter sei es besonders wichtig, dass sie sich auf ein potenziell behindertes Kind einstellen und notfalls einen Abbruch in Erwägung ziehen könne.

»Eben hast du noch gesagt, Eva würde alles für ihr Kind tun«, antworte ich unwirsch. »Nachdem sie die Flucht gut überstanden hat, gibt es doch kein gesteigertes Risiko mehr. Bist nicht eher du diejenige, die sich fürchtet?«

Kraki knabbert an ihrem rechten Daumennagel und stammelt: »Seit der russischen Besetzung des Kernkraftwerkes in Saporischschja weiß kein Mensch, wie hoch dort die Strahlenbelastung ist.«

Tiefes Einatmen hilft gegen Ungeduld.

»Ein Zusammenhang zwischen Strahlenexposition und Trisomien wurde nie nachgewiesen«, antworte ich. »Bei Frauen ihres Alters liegt das Risiko für ein Downsyndrom gerade mal bei acht von zehntausend. In deinem Alter wäre das etwas anderes, da ist die Häufigkeit zwanzigmal höher.«

Da war ich wohl taktlos. Noch nie sah ich Kraki erröten und will mich entschuldigen. Doch dann stellen die Nackenhaare sich auf, bevor der Verdacht mein Großhirn erreicht: Unfruchtbare Frau in den Vierzigern! Junge Schwangere aus der Ukraine!

»Bitte sag mir sofort, was Sache ist, Ulla!« Unter dem Inquisitionsblick, der meinen Kindern zuverlässig Geständnisse geheim gehaltener Sünden entlockt, zerbröselt die Contenance der Kollegin und sie beichtet umfassend.

Gekaufte Leihmutter! Ausgerechnet Kraki und ihr pingeliger Paragrafenschnösel! Als Anwalt für Steuerrecht kann er sich locker das Leasing eines mittellosen Mädchens als Gebärmaschine leisten. Kommerzielle Leihmutterschaft finde ich zum Kotzen, obwohl ich die altruistische nicht prinzipiell ablehne, – wenn es denn eine solche ist. Eine Frau, die aus Liebe oder Freundschaft freiwillig und in voller Kenntnis der Risiken ihre Gebärmutter einer Kinderlosen zur Verfügung stellt, hat jeden Respekt verdient. Doch wie oft stellen jenseits finanzieller Deals eine emotionale Erpressung oder vermeintliche Verpflichtungen die Freiwilligkeit infrage?

»Und wenn euer Kind behindert wäre, würdet ihr das arme Mädchen zur Abtreibung schicken?«

»Quatsch«, protestiert Kraki lahm, »ich habe in der Klinik viele entzückende Downies betreut, ich will nur Gewissheit. Und schließlich schadet eine Blutabnahme keinem. Man muss Eva ja nicht auf die Nase binden, worum es geht bei dem Test …«

Das ist mir zu viel der Konspiration, kompromisslos lehne ich ab.

Eva und Tatjana schwatzen kichernd an der Theke. Als die Schwangere Krakis noch immer rotfleckiges Gesicht sieht, wirft sie ihr einen ängstlich fragenden Blick zu. »Alles gut«, winkt Kraki ab.

Immerhin ist beim Baby alles gut. Als wollte es uns foppen, entzückt uns das kleine Wesen zunächst mit einer Kickbox-Performance. Nach einem kraftvollen Abstoß von der Gebärmutterwand winkelt es beide Beine an und tritt abwechselnd rechts und links ein imaginäres Objekt, um dann mit den Fäustchen ins Fruchtwasser zu boxen. Als die Lage sich beruhigt, beginne ich mit der Biometrie*. Kopfform und Hirnkammern sind regelrecht, das Kleinhirn gut darstellbar, Hals und Rücken ohne Befund. Das kräftige Herz pumpt unverdrossen, alle vier Herzkammern sind einsehbar. Auch im Bauchraum liegen alle Organe, wo sie hingehören.

Und es ist ein Mädchen! Was seiner genetischen Mutter Tränen in die Augen treibt.

Dr. Ulla Krauss-Kimmerle

Eigentlich läuft alles gut. Meine Tochter entwickelt sich prächtig, schon jetzt wäre sie lebensfähig, doch bis zur Geburt bleiben ihr noch zehn Wochen für die finale Reifung. Zeit, die leider langsamer vergeht, als ich dachte. So sehr hatte ich mich gefreut, hautnah die Schwangerschaft mitzuerleben, die mir selbst verwehrt blieb. So gerne wäre ich Eva eine große Schwester oder mindestens mütterliche Freundin geworden, doch ich spüre eine Distanz bei ihr, die zu überwinden sie mir nicht erlaubt. Wenn ich sie berühre, habe ich das Gefühl, sie verbirgt das Zurückschrecken mit Mühe. Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, sie zu fragen, ob es ihr schwerfällt, sich nach der Geburt von ihrer Mutterrolle zu trennen. Dem Baby selbst wird sie noch nahe bleiben, denn der Krieg in ihrer Heimat wird so bald nicht enden. Eva hat jeden Gesprächsversuch abgeblockt, mich freundlich angelächelt und so etwas gemurmelt wie: »Don’t worry, be happy.« Vielleicht bereut sie, ein fremdes Kind auszutragen und sich fragen zu müssen, ob sie mit ihrem geliebten Andrej noch je eine Familie wird gründen können. Wann immer er sich nicht meldet, ist sie aufgelöst, zumal er ihr nicht sagen darf, wo er sich aufhält. Ich habe großes Mitgefühl für sie und ihre Sorge, frage mich aber mitunter, ob meiner Kleinen die Stresshormone schaden, die vom leihmütterlichen Blut in die Nabelschnur diffundieren.

Mein Gatte ist mürrisch, was mich meinerseits nervt. Immer hat er glaubhaft beteuert, wie sehr er sich Kinder wünscht. Vielleicht entstand unsere Ehe durch die unbewusste Suche nach dem geeigneten Konterpart für die Nachwuchsproduktion? Neulich habe ich bei Houellebecq gelesen, die Fortpflanzung sei eine »Art urtümliches Gebrüll des Gens, das bereit sei, alles zu tun, um das eigene Überleben zu sichern«. Und ich habe nicht geliefert. Doch dann immerhin für Ersatzlieferung gesorgt. So sollte ihm die junge Frau, durch die wir zur Familie werden, ein hochwillkommener Gast sein – kein Eindringling, der seinen Alltagstrott stört. Der smarte Anwalt, zwölf Stunden im Job ein flexibler Typ, der sich wechselnden Gegebenheiten geschmeidig anpassen kann. Nach Feierabend muss er dann chillen, am besten mit Bier vor der Glotze. Und nun gibt es eine Zeugin, durch deren Anwesenheit mir manches bewusst wird, das ich längst hätte sehen können. Doch Karriere und Kinderwunsch ließen mich im Nahsichtmodus vom einen zum nächsten Etappenziel stolpern – Nahsicht verhindert Draufsicht. Wenn Viktors Schnarchen mich manchmal nachts schlaflos macht, beschleicht mich die bange Frage, was aus unserem Leben wird, wenn unser Kind es durcheinanderwirbelt. Aber was, wenn nicht ein neues Leben, kann Menschen bewegen, ein neues Leben zu beginnen?

Eva Popova

Я не знаю, скільки ще зможу це витримати.2

Dr. Finn Egemann

Drei Tage vor Eva Popovas letztem vorgeburtlichen Termin erreicht mich Krakis Mail.

Lieber Finn,

sorry, ich muss den nächsten Termin in Deiner Praxis leider absagen.

Eva hat uns verlassen und ist nach eigenen Angaben aus Deutschland ausgereist. Sie hinterließ einen Brief, in dem sie sich entschuldigt und bedankt.

Letzteres gebe ich weiter, danke für Deine wie gewohnt exzellente Betreuung, vor allem aber für das freundschaftliche Verständnis, das Du mir auch in dieser Situation entgegenbrachtest. Gerne bleibe ich auch künftig Deine Patientin, wenngleich nur noch für Krebsabstriche oder Menopausenblues.

Herzliche Grüße

Ulla

Ich bin fassungslos. Arme Ulla. Jahrelang malträtierte sie erfolglos den eigenen Körper mit den Segnungen der Reproduktionsmedizin. Endlich das Wunschkind im Bauch einer Gekauften, der die Wunschmutter nicht nur Geld, sondern auch Zuflucht, Sicherheit und Liebe gegeben hat. Und zum Dank macht die sich dann aus dem Staub, überlässt die leiblichen Eltern der Horrorvision, ihr Kind müsse in Krieg und Chaos aufwachsen. Denen die Hände gebunden sind, da juristisch die Gebärende als Mutter gilt.

Spontan maile ich zurück:

Liebe Kraki,

es tut mir wahnsinnig leid! Ich kann nur ansatzweise ahnen, was Du durchmachst. Gerne würde ich Dir beistehen; schließlich verbindet uns nicht nur eine Arzt-Patienten-Beziehung, sondern auch ein kollegial-freundschaftliches Verhältnis. Ich schlage deshalb vor, dass Du den Termin dennoch wahrnimmst. Wenn Du magst, können wir bei einem Kaffee persönlich und in Ruhe über alles sprechen.

Sei herzlich gedrückt von deinem Finn

Kraki antwortet umgehend und bedankt sich für das Gesprächsangebot; sie komme sehr gern.

Dr. Finn Egemann

Kraki wirkt erstaunlich gefasst, sie trägt eine elegante blassblaue Bluse, Ton in Ton mit Rock und Schuhen. Ich bin erleichtert, dass sie sich in ihrem Kummer nicht gehen lässt. Sie umarmt mich und schmiegt kurz den Kopf an meine Brust. Keine Tränen. Wir setzen uns und rühren einen Moment gedankenverloren in unserem Kaffee.

»Danke, dass du dir Zeit für mich nimmst«, sagt sie. »Gerade kann ich einen Freund gut gebrauchen.«

Dann erzählt sie. Eva war angeblich von einer geflüchteten Landsfrau angerufen worden, deren Familie teilweise im Krieg umgekommen sei und die nun dringend emotionalen Beistand brauche. In Anbetracht der fortgeschrittenen Schwangerschaft hatte Kraki versucht, der werdenden Mutter die Reise nach Norddeutschland auszureden, und ihr auch angeboten, sich wenigstens von ihr fahren zu lassen; aber Eva hatte strikt abgelehnt. In den nächsten beiden Tagen schrieb sie noch vereinzelte Textnachrichten, bevor der Kontakt abriss. Kraki hatte sich zu Tode geängstigt und bereits geahnt, dass sie die junge Frau nicht wiedersehen würde. Dann kam die Abschiedsmail.

»Kann man die Mail und das Mädchen nicht verfolgen?«, frage ich. »Was sagt denn dein sachkundiger Anwaltsgatte dazu?«

Kraki macht eine wegwerfende Handbewegung. »Der hat gleich gesagt: keine Chance! Juristisch sei nichts zu machen. Er meinte sinngemäß, wer gegen geltendes Recht verstoße, müsse sich nicht wundern, wenn ihm Unrecht widerfahre. Und dass er es schließlich schon immer gesagt hat …«

Ich verschlucke das A-Wort, doch es diffundiert nonverbal über den Tisch. »Sag lieber nix«, bittet Kraki, »es ist alles anders, als es scheint, und du sollst die ganze Story erfahren.« Mit dieser kryptischen Ankündigung kramt sie in ihrer Handtasche, zieht ein Blatt Papier heraus und reicht es mir über den Tisch. »Evas Abschiedsbrief.«

Liebe Ulla,

bitte mach Dir keine Sorgen, bitte suche mich nicht. Wenn Du dies liest, bin ich schon im Ausland. Ich möchte mich bei Dir entschuldigen, obwohl ich weiß, dass unverzeihlich ist, was ich tat.

Die Geschichte, die wir Deinem Freund, dem Frauenarzt, beim ersten Termin erzählt haben, war die Wahrheit und nicht die Lüge, an die Du glaubtest.

Als ich mich aus Versehen schwanger fand und Andrej in den Krieg kommandiert wurde, waren wir gleichzeitig glücklich und verzweifelt. Als Mechatroniker musste er zu einer Panzerdivision, und auf Panzer wird immer zuerst geschossen. Wir haben über Abtreibung gesprochen, schon das Wort ist auf Deutsch besonders schrecklich, aber das war mir undenkbar. Wenn Andrej nicht wiederkehrt, will ich wenigstens etwas von ihm übrig haben, das immer bei mir bleibt. Dann hatten wir die Idee mit Dir. Das mit der Agentur war frei erfunden, sie hatte schon lange geschlossen, jetzt gehen die Kinderwunschpaare nach Georgien. Ich wusste, wie sehr Ihr Euch ein Baby wünscht, und hoffte, dass Du mich nicht abweisen würdest.

Ursprünglich war mein Plan, das Baby bei Euch zu entbinden und dann zu beichten, bevor alles rauskommt. Aber das wurde mit jedem Tag schwieriger, weil Du Dich so lieb um mich gekümmert und mir ein Zuhause gegeben hast. Viktor war auch immer höflich. Ich weiß, dass Deine Liebe und seine Duldung in erster Linie dem Kind in meinem Leib galten, von dem Ihr glaubtet, es wäre Euer Fleisch und Blut. Es wurde mein Albtraum, mir den Moment vorzustellen, wenn Du zum ersten Mal das Baby in den Armen hast und fast vor Glück platzen möchtest. Und dass es Dir dann Dein Herz zerfetzt, wenn Du lernst, dass es nicht Dein Kind ist und dass ich es mitnehmen werde.

Ich hatte auch Angst vor Eurer Enttäuschung und Eurer berechtigten Wut.

Ich verspreche, die erste Rate, die Ihr mir in der 25. Woche überwiesen habt und die ich an die Familie schickte, zurückzubezahlen. Meine Mutter konnte sich damit Insulin für ihre Zuckerkrankheit und andere Medizin kaufen, die man bei uns kaum mehr bekommen kann.

Ulla, Du wirst immer in meinem Herzen sein. Ich hätte gerne Deine Liebe angenommen und zurückgegeben, aber ich konnte das nicht so gut zeigen, weil mein schlechtes Gewissen immer eine Mauer zwischen uns war.

Danke! Und vielleicht kannst Du mir irgendwann verzeihen?

Deine Eva

PS: Ich schrieb diesen Brief mit einem Übersetzungsprogramm, weil ich fürchtete, auf Englisch nicht die richtigen Worte finden zu können.

Die Mail macht mich so perplex, dass ich nicht weiß, ob ich Kraki beglückwünschen oder bemitleiden soll. Also mache ich es so, wie ich es im Kommunikationskurs gelernt habe, und frage: »Wie hast du dich nach der Lektüre dieser Zeilen gefühlt?«

Kraki zuckt die Achseln.