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Die zehnjährige Mascha und der junge Hund Tinkapur müssen sich zusehends Regeln beugen, die ihren eigenen Lebensimpulsen widersprechen. Wie sie in ihrem Umfeld um ihre Identität ringen und sich gegenseitig unterstützen, davon erzählt dieses Buch. Mit großer poetischer Kraft und tiefem Mitgefühl für alle Figuren beschreibt die Autorin ein knappes Jahr im Leben der beiden Protagonisten, das sich immer mehr zum Thriller einer Kindheit entwickelt. Die Autorin beleuchtet den Kreislauf, der generationenübergreifend immer wieder stattfindet, wenn innere Verletzungen in einer Familie nicht integriert und nur überlebt werden. "Es braucht einen, der abspringt, um das Familienkarussell von außen zu sehen. Als ich begriff, wo all die Gespenster herkommen und was sie sind, konnte ich mich ihnen und mir selbst endlich angstfrei nähern und mich von ihnen befreien", sagt Maike Maja Nowak. Ihre fesselnde und sehr persönliche Geschichte nimmt den Leser mutig an die Hand und ist ein wahrhaftiges Plädoyer für die Sinnhaftigkeit in jedem Leben. MAIKE MAJA NOWAK, geboren in Leipzig, ist mehrfache SPIEGEL-Bestsellerautorin und arbeitet als Therapeutin für Traumaintegration und emotionale Kompetenz. Einem breiten Publikum ist sie durch die ZDF-Serie "Die Hundeflüsterin" bekannt. Sie ist Gründerin des Verbundes der Unabhängigen Wegbereiter und als Autorin, Seminarleiterin und Referentin international tätig.
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Seitenzahl: 330
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Maike Maja Nowak
DIE GANZE GESCHICHTE
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Herausgeber & Lektor
Michael Nagula
Einbandgestaltung
Guter Punkt
Layout & Satz
Birgit Letsch
Coverfoto
Astrid de Boer
Druck
CPI books GmbH
ISBN Printausgabe 978-3-95447-483-7
ISBN eBook 978-3-95447-484-4
Copyright © 2021 by Maike Maja Nowak & AMRA Verlag
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Vorbemerkung
1Der Unfall
2Unschuld
3Trauer
4Fragen über Fragen
5Bitte sei lieb
6Lügen
7Laut schweigen
8Begegnungen
9Anerkennung
10Trost
11Sicherheit
12Hände
13Schätze
14Bewegungsfreiheit
15Brüche
16Spiele
17Kein Halt
18Vorfreude schönste Freude
19Verlassen
20Kälte
21Die Umarmung
Über die Autorin
Ich widme dieses Buchden Kindern in kleinen undgroßen Menschen.
Am Anfang wollte ich das Kind in mir an die Hand nehmen. Doch es vertraute mir nicht. Ganz langsam schrieb ich mich an sein Vertrauen heran. Es brauchte viel Mut, um wieder sprechen zu lernen und seine eigene Geschichte zu erzählen. Sie ist anders als die, die ihm erzählt wurde. Es verlangte eine freie Form. Keine Autobiografie, keinen Roman, keinen Bericht – eine Form, die aus seiner eigenen inneren Welt entstand. Diese Freiheit ermöglichte es ihm, von seiner Gefangenschaft zu erzählen.
Weil ich ihm die Führung überließ, nahm mich das Kind irgendwann an die Hand, und ich stolperte hinter ihm her – nie wissend, was mich hinter der nächsten Kurve beim Aufschreiben erwartet. Für das Kind gibt es keine Schuldigen. Nur Menschen, die alle gaben, was sie jeweils konnten und vermochten.
Es ist pulsierend, fantasievoll, magisch und schön – wie jedes Kind in allen kleinen und großen Menschen. Ich danke ihm für die Reise meines Lebens und dafür, dass es nie aufgehört hat, mich an sich zu erinnern.
Die zehnjährige Mascha blickt erwartungsvoll hinunter in den Treppenschacht. Jedes Mal, wenn sich die schwere Haustür des fünfgeschossigen Hauses öffnet, huscht ein Ausdruck von Hoffnung über ihr Gesicht. Stufe für Stufe nimmt sie aufmerksam die Eigenart der sich nähernden Schritte wahr. Immer mutloser lässt sie den Kopf hängen, weil es wieder nicht der Vater ist, auf den sie doch wartet mit dem Kostbarsten, was sie sich je gewünscht hat – einem kleinen Hund. Sie setzt sich ganz oben auf die Treppe und beobachtet ein paar tanzende Lichtstrahlen, die die helle Sommersonne durch das Fenster wirft.
Zur selben Zeit reckt ein Welpe seiner Mutter den gut gefüllten Bauch entgegen. Sie massiert ihn kräftig mit ihrer Zunge, und der junge Hund schmatzt zufrieden. Während seine Geschwister rotbraunes Fell haben, sind bei ihm nur die Ohren und eine Maske um die Augen von dieser Farbe. Sonst ist er schneeweiß.
Plötzlich hebt die Mutterhündin den Kopf und stellt alarmiert die Ohren auf. Fremde Schritte nähern sich. Sie erhebt sich und lauscht beunruhigt. Die Welpen drängen sich näher an sie heran und schauen nach oben zur Öffnung der Wurfkiste. Unwillkürlich stellen sich der Mutterhündin die Nackenhaare auf, als sich an der Seite der Frau, die sie kennt, ein fremder Mann nähert. Sie gibt einen leisen knurrenden Ton von sich, und ihr Körper vibriert.
»Molly, es ist alles gut. Einer deiner Racker findet jetzt vielleicht ein neues Zuhause.«
Die Hündin wedelt beim vertrauten Klang der Frauenstimme leicht mit der Rute und knurrt weiter den Mann an, der ihre Jungen betrachtet. Die Welpen beginnen unruhig zu fiepen und sich noch enger aneinander zu drängen.
»Hier ist unser Unfall«, sagt die Frau salopp.
Der Mann reagiert nicht und starrt eine Weile auf die Welpen. »Ich nehme die weiße Hündin, wenn sie lieb ist!« Seine Stimme klingt seltsam gereizt.
»Sie sind alle lieb und brauchen nur etwas Erziehung.« Die Frau betrachtet den Mann mit einem verwunderten Blick. »Sind Sie sicher, dass Sie einen Hund möchten?«
Seine Augen verengen sich, als würde er noch etwas abwägen, dann sagt er: »Ja, auf jeden Fall. Ich nehme sie!«
Im Auto legt der Mann die kleine Hündin auf den Beifahrersitz. Sie schrickt zusammen, als er den Motor startet, und drückt sich eng in die Sitzpolster. Der Welpe hat die Beine, soweit es ihm möglich ist, unter den Körper gezogen und seine Rute eingeklemmt. Er gleicht nun einer winzigen Kugel.
»Hast du Schiss?!« Der Mann sieht mit einem Seitenblick auf den Hund, der daraufhin seinen Kopf noch etwas tiefer duckt. »Tja, so ist das Leben! Schiss haben alle.« Er atmet geräuschvoll aus. »Aber wenn du hörst, wirst du auch keinen Ärger bekommen. Klar?«
Der Hund sieht ihn an und leckt sich beschwichtigend über das Maul.
Während der Mann seinen Blick wieder auf die Fahrbahn richtet, robbt der Hund ganz langsam näher an ihn heran.
Vorsichtig leckt er jetzt die Hand des Mannes, die gerade nach dem Schaltknüppel greift.
»Baaah!!! Lass das! Das ist eklig.« Der Mann fuchtelt mit dem Arm in der Luft, als wolle er die Berührung schnell wieder loswerden. »Du lässt mich in Ruhe! Ist das klar!« Er bekräftigt seine Aussage mit einem Wegwischen des Welpen vom Beifahrersitz in den Fußraum. »Du kümmerst dich um die Göre zu Hause. Das ist alles!«
Der Hund verkriecht sich in die dunkelste Ecke des Fußraums und fiept.
»Halt dein Maul! Ruhe! Das nervt!« Das Fiepen des Hundes wird lauter.
Der Mann bückt sich neben das Lenkrad, und seine Hand sucht nach dem Hund. »Willst du mich verarschen? Komm her!« Er schlägt wahllos in jede Richtung, weil er ihn nicht zu fassen bekommt. »Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das fängt ja gut an.«
Er bremst, steigt aus dem Auto aus und läuft auf die andere Seite. Wut hat sein Gesicht rot gefärbt, als er die Tür aufreißt. Der Hund schlüpft an seiner Hand vorbei ins Freie und läuft mit weit aufgerissenen Augen vor ein Auto, das ihm gerade entgegenkommt.
Die Bremsen des Wagens quietschen, und es ist nicht auszumachen, ob der Hund stürzt, weil das Fahrzeug ihn getroffen hat oder weil er sich totstellt vor Angst.
Ein älterer Mann öffnet mit betroffenem Gesichtsausdruck die Wagentür und zieht sich daran nach oben. »Ich habe ihn nicht kommen sehen! Ist ihm etwas passiert?«
Seine Augen sind weit aufgerissen, und seine Stimme klingt besorgt. Er geht um das Auto herum und sieht mit hängenden Schultern auf den Hund hinunter.
Eine junge Frau kommt atemlos angerannt und lässt sich vor dem Hund auf die Knie fallen. »Hallo, mein Kleiner, was hast du?« Sie streicht dem Welpen vorsichtig über die Seite von der Schulter bis zur Flanke. Der Hund beginnt zu hecheln.
»Er lebt!« Sie atmet erleichtert aus. »Vielleicht sollten Sie so schnell wie möglich mit ihm zum Tierarzt fahren, er kann ja innere Verletzungen haben«, ruft sie dem Mann zu, aus dessen Auto sie den Hund hat springen sehen. Der Mann reagiert mit einem Achselzucken, und seine Miene wirkt abwesend.
In dem Moment springt der Welpe auf und schüttelt sich.
»Oooh …« Der ältere Fahrer, der so hart bremsen musste, weist freudig auf den Hund. »Es geht ihm gut!«
Die Augen der jungen Frau strahlen. »Ist alles in Ordnung, mein Schatz?« Sie bringt ihr Gesicht auf Augenhöhe des Hundes, und ihre Wange berührt dabei fast die Straße. Der Hund leckt ihr das Gesicht und wedelt mit der Rute. »Bist du süß, du kleine Maus. Dich würde ich am liebsten mitnehmen.« Der Hund drückt sich an ihre Beine.
Sie hebt ihn vom Boden hoch, und der ältere Fahrer tritt hinzu. Er klopft dem Welpen mit den Fingerspitzen anerkennend mehrfach auf den Rücken. Die junge Frau lächelt, denn es wirkt rührend unbeholfen, so als hätte er noch nicht oft in seinem Leben ein Tier berührt.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Ich habe ja gesehen, dass Sie nichts dafür konnten. Er ist genau vor Ihr Auto gesprungen.«
Der ältere Herr blickt sie mit einem dankbaren Lächeln an und wendet sich dann an den Mann, dem der Hund gehört. »Brauchen Sie vielleicht einen Arzt? Vielleicht haben Sie einen Schock?« Mit besorgtem Blick betrachtet er den teilnahmslos wirkenden Mann, der ihn ohne jeden Ausdruck ansieht.
Abwehrend hebt dieser plötzlich die Hände und schüttelt den Kopf. Dann gibt er sich einen Ruck und geht entschlossen auf den Hund zu. Seine muskulöse, mächtige Statur bildet einen auffälligen Gegensatz zu dem winzigen Hund, den er der Frau aus dem Arm nimmt. Mit verschlossenem Gesichtsausdruck nickt er zum Abschied und murmelt knapp: »Danke.«
Dann steigt er in sein Auto und fährt davon.
Ungläubig betrachtet Mascha den Hund. Sie möchte den Vater umarmen, doch sie weiß, dass er Berührungen nicht mag. Deshalb ruft sie mit strahlenden Augen: »Danke, Papa, ich freue mich so sehr!« Der Vater nickt und wendet sich ab.
»Du warst lange weg«, sagt die Mutter und sieht ihn fragend an.
»Ja, ja. Es ist etwas dazwischengekommen.« Der Vater entfernt sich mit abweisender Miene.
»Darf ich in mein Zimmer gehen?« Mascha drückt den Hund fest an ihre Brust. Sie schaut die Mutter erwartungsfroh an, die lächelnd ihre Tochter anblickt. »Freust du dich?«
Mascha hat einen Kloß im Hals und räuspert sich. »Mama, das werde ich euch nie vergessen.« Sie stürmt in ihr Zimmer.
Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat, schießt eine Flut an Tränen aus ihren Augen, als hätte sich eine Schleuse geöffnet. Das Gefühl, jetzt einen Gefährten zu haben, überwältigt sie. Instinktiv wiegt sie den kleinen Hund in ihren Armen.
»Du bist jetzt mein Freund«, bringt sie zwischen zwei Schluchzern hervor.
Der Hund liegt regungslos wie ein Steiftier auf dem Rücken und sieht sie benommen an.
Sie verstärkt das Schaukeln. »Und ich werde dich niemals anschreien oder hauen. Das verspreche ich dir«, bekräftigt sie in einem fast feierlichen Tonfall, der den Hund zu erreichen scheint, denn er hebt seinen Blick und sieht sie aufmerksam an.
Als ihre Blicke sich begegnen, spürt Mascha ein freudiges Ziehen in ihrem Herzen. Es ist schmerzhaft und zugleich schön. »Tinkapur, so nenne ich dich.« Der Einfall überrascht sie, wie viele ihrer Ideen. »TIN-KA-PUR …«, sie lauscht dem Klang des Wortes hinterher und nickt. »Das ist ein schöner Name, nicht wahr?«
Sie schaut auf den Hund, und er beginnt mit den Beinen zu strampeln.
Mascha setzt ihn auf den Boden und beobachtet ihn gespannt, den Oberkörper nach vorn gebeugt. Auf noch wackeligen Pfoten tapst der Welpe umher und schnüffelt an Möbelbeinen, am Teppich und an Maschas Spielsachen, die auf dem Boden liegen. Sein Blick fällt auf einen hinuntergefallenen Bleistift. Vorsichtig stupst er ihn mit der Nase an und macht einen erschrockenen Hopser zur Seite, als dieser sich bewegt.
Dann entdeckt er ein blaues Band, das über dem Rand des Papierkorbes hängt. Er muss sich auf die Hinterbeine stellen und mit den Vorderpfoten am Korb abstützen, um heranzukommen. Als er das Band zu fassen bekommt, schüttelt er es so kräftig, dass seine Schlappohren fliegen.
Mascha hält sich den Bauch vor Lachen. Die rotbraune Zeichnung um die Augen des Hundes erinnert sie an eine Räubermaske, die sie einmal zum Fasching trug, auch wenn die schwarz gewesen war. Die Schlappohren des Hundes sind von der gleichen kastanienbraunen Farbe, und auf seinem Kopf steht ein wenig Flaum nach oben wie zartes Gefieder. Es ist weiß, wie auch der Rest des Hundes. Am schönsten findet Mascha jedoch seine Nase. Sie sieht aus wie ein Herz. Obwohl Mascha bei genauerer Betrachtung feststellt, dass der Haut an der Nasenwurzel nur ein wenig schwarze Farbe fehlt, bleibt sie bei ihrem Eindruck.
Sie kann nicht aufhören zu lächeln, während sie den Hund betrachtet, und ihre Augen glänzen in stiller Freude.
Jetzt streift der Blick des Welpen Maschas grüne Hauslatschen, und übergangslos lässt er das Band fallen. Mit einem unerwartet großen Satz springt er nach vorn und taucht mit seinem Kopf in die Öffnung eines Schuhs. Der Schuh gibt seinen Kopf nicht wieder frei, und Mascha hört das aufgeregte Fiepen des Hundes dumpf hinter der Dämmung des Filzes.
Sie eilt ihm zu Hilfe und befreit ihn, und darauf schüttelt sich der Welpe und wedelt freudig mit der Rute, die dabei einem weißen zarten Flügel gleicht, denn das Fell hängt von ihr herunter wie ein Federschweif.
»Tinkapur, du bist so schön!« Mascha klatscht in die Hände, und ihre Augen strahlen.
»Mama! Ich habe den besten Namen der Welt für meinen Hund!« Das Mädchen kommt in die Küche gerannt. Die dunkelhaarige, schlanke Frau sieht vom Abwasch auf und lächelt gelöst. So hat sie Mascha schon lange nicht mehr erlebt. Bevor sie nach dem Namen fragen kann, schmettert ihr das Kind triumphierend seinen Einfall entgegen: »Sie heißt Tinkapur!!!«
Die Augen der Mutter vergrößern sich zu einem ungläubigen Staunen. »Tinkapur? Was soll denn das für ein Name sein, Mascha? So nennt man doch keinen Hund. Niemand tut das!« Sie runzelt die Stirn und spürt Unmut wie einen vagen Schatten in sich aufsteigen.
Mascha weicht instinktiv einen Schritt zurück, um sich in Sicherheit zu bringen. »Nenn die Hündin doch Tinka, das ist ein hübscher Name«, schlägt die Mutter vor, und Mascha bemerkt, wie sich ihre Stirnfalten wieder glätten bei dieser Idee.
»Niemals, mein Hund heißt TINKAPUR!« Mascha stampft mit dem Fuß auf und betont: »In Großbuch-staben!« Dann verschränkt sie die Arme.
Die Mutter sieht sie mit zusammengekniffenen Augen und gerümpfter Nase an. »Du hast immer Ideen …« Sie lässt offen, was sie damit meint, doch man spürt den Tadel darin. »Also, da diskutiere ich gar nicht. Der Hund heißt entweder Tinka, oder du gibst ihm einen anderen vernünftigen Namen.«
Mascha spürt, wie etwas in ihrem Hals sich bedrohlich eng zusammenzieht. »Das ist mein Hund! Ihr habt ihn mir geschenkt. Dann darf ich auch den Namen aussuchen!«, presst sie fast schreiend heraus. Um einem erneuten Widerspruch zuvorzukommen, dreht sich Mascha um und läuft schnell in ihr Zimmer.
In der Küche zieht die Mutter die Hände aus dem Spülbecken und lässt die Arme sinken. Sie merkt nicht, wie das Wasser langsam von ihren Händen auf das graue Linoleum tropft. Sie versucht den Zorn zurückzuhalten, der in ihr aufsteigt.
Kann das Kind nicht EINMAL auf mich hören, wenn ich ihm sage, dass etwas unsinnig ist, denkt sie verärgert. Warum muss es immer weiter auf seinen Vorstellungen beharren?
Das ist so zermürbend und kräftezehrend.
Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, noch einmal ein Kind durchzusetzen gegen einen Mann, der keine Kinder will und sie damit allein lässt. Sie hatte fest daran geglaubt, Werner würde seine Meinung ändern, wenn es erst einmal da ist. Aber wie schon bei ihrem verstorbenen Jungen war es nicht so gewesen.
Sie weiß nicht, was er gegen das Kind hat. Sie braucht es jedenfalls unbedingt. Mit Mascha fühlt sie sich nicht mehr so verloren und leer. Das Kind hat ihr Leben mit seinem Leben erfüllt. Und wenn sie ihm nicht ständig die Flausen austreiben müsste, damit es sich nicht so unangenehm anfühlte … So schön war es gewesen im ersten Jahr mit Mascha. Das hatte sie genossen, auch wenn sie das Baby tagsüber in eine Pflegestelle geben musste, um zu arbeiten. Am Abend hatte es mit seinen kleinen Händen in ihr Gesicht gepatscht und gelacht, wenn sie es in die Speckfalte im Nacken küsste.
Erst als Mascha zu krabbeln und zu laufen begann, hatten die Schwierigkeiten angefangen. Ständig hatte sie ihr etwas verbieten müssen, und selten hatte das Mädchen dann einfach getan, was man ihm sagte. Immer hatte es wissen wollen warum und weshalb und über jede Kleinigkeit diskutiert.
Nach einem Arbeitstag war sie oft müde, denn auch der Haushalt wartete noch auf sie. Das Kind verlangte ihr viel ab. Sie war froh gewesen, als es sich dann immer mehr mit sich selbst zu beschäftigen begann und stundenlang in seinem Zimmer verschwunden blieb. Dennoch empfindet sie seine immer wieder auftauchenden seltsamen Einfälle oft als beängstigend.
Da war zum Beispiel die Sache mit den Indianerfiguren, die sie auch nach Jahren noch beschäftigte. Am liebsten spielte das Kind mit diesen Gummifiguren, und als es drei Jahre alt war, wurde sie einmal von lauten, wehklagenden Schreien aufgeschreckt, die aus seinem Zimmer kamen. Sie hatte erschrocken die Tür aufgerissen und Mascha mit gespreizten Beinen auf dem Boden liegend vorgefunden. Das Mädchen hielt eine Indianerfigur über sich, die sie ihr kurz zuvor geschenkt hatte, und brüllte laut.
Auf ihre entsetzte Frage, was sie da tue, war Mascha verstummt, hatte sie erstaunt angeblickt und geantwortet: »Ich bringe den Indianer zur Welt, sonst kann er doch nicht leben.«
Solcher Art Einfälle erschreckten sie. Warum konnte ihr Kind nicht so sein wie Carola, die Tochter ihrer Freundin. Sie war einfach ein nettes Kind und tat, was man ihm sagte. »Tinkapur, in Großbuchstaben.« Sie stößt empört die Luft aus, während sie die Worte ihres Kindes wiederholt. »O Mann, das ist doch vollkommen verrückt!«
»Tinkapuuuuuur!«, hört sie Mascha in ihrer Vorstellung auf der Straße rufen.
Und Mascha hat nicht nur eine laute Stimme, sie stellt auch mit ihrem Körper stets ausdrucksvoll dar, was sie erzählt. Oft genug hatte sie sie ermahnt: »Sprich doch leiser. Fuchtel nicht so mit den Armen herum! Alle schauen bereits her!« Doch das Mädchen änderte sich einfach nicht. Und jetzt noch dieser dumme Name.
Die Mutter hasst es, aufzufallen. Jegliche Blicke verunsichern sie. Oft ist ihr bereits übel, wenn sie das Haus verlässt und zur Straßenbahn geht. Wird sie von jemandem länger angesehen, macht ihr das ein flaues Gefühl im Magen, und alles in ihr verkrampft sich. Schon die Vorstellung, durch den Namen des Hundes Aufsehen zu erregen, lässt Panik in ihr aufsteigen.
Sie stürmt in das Zimmer ihres Kindes.
»Du kannst hier nicht machen, was du willst! Der Hund bekommt einen normalen Namen, das sag ich dir!«
Mascha reißt erschrocken die Augen auf und lässt überrascht das Band fallen, das sie gerade spielerisch vor der Schnauze des Hundes über den Boden gezogen hat. »Ich möchte aber über meinen Hund bestimmen«, sagt sie trotzig.
»Das werden wir ja sehen, Fräulein!« Die Stimme der Mutter kippt über. Ihre erhobene Hand bleibt in der Luft hängen.
Es ist nicht der angstvoll flackernde Blick des Mädchens, der sie vom Zuschlagen abhält. Es ist der Blick des Hundes, der sie mit großen Augen direkt ansieht.
In ihnen liegt ein Ausdruck von Unschuld, der etwas in ihr berührt, das ebenfalls unschuldig ist.
»Abendessen!« Mascha freut sich wie jeden Tag über diesen Ruf der Mutter. Alle kommen dann zusammen. Auch der Vater. Wenn die Mutter eine Kerze oder ein paar Blümchen auf den Tisch stellt, fühlt sich Mascha so kostbar wie ihr großer Bruder. Mutter bringt ihm oft Blumen und eine Kerze auf den Friedhof. Doch darüber darf man nicht sprechen. Die Worte »Sterben«, »Tod« und »Grab« sind Eisworte, wie Mascha sie nennt, denn das Gesicht der Mutter friert ein, wenn sie eines davon verwendet.
Gerne würde sie noch einmal mit der Mutter zusammen auf den Friedhof gehen. Als Richard vor sieben Jahren in einer Kiste in die Erde hinabgelassen wurde, konnte Mascha ihn dort gar nicht spüren. Im Gegenteil. In der Kapelle aufgebahrt hatte er ausgesehen wie eine Porzellanpuppe und nicht mehr wie ihr Bruder, mit dem sie so gerne gespielt hatte und an den gekuschelt sie jede Nacht eingeschlafen war. Dafür spürt sie ihn jetzt unter ihrem Lieblingsbaum, der Trauerweide, am Fluss.
Unter dem wogenden langen Blättermantel ist es oft so, als fülle sich die Luft mit etwas, das sich anfühlt wie ihr Bruder, nur eben ohne Körper.
Mascha beobachtet, wie die Mutter eine kleine weiße Kerze auf dem Abendbrottisch anzündet. »Setz den Hund auf den Boden, wenn wir essen, er ist keine Puppe«, hört sie die Stimme des Vaters hinter sich sagen. Sie klingt eigentlich nicht tadelnd, eher wie eine sachliche Zurechtweisung.
Mascha dreht sich zu ihm um, und die Dankbarkeit über ihren neuen Gefährten zaubert ein warmes Leuchten in ihre Augen. »Papa, sie heißt Tinkapur!«, ruft sie enthusiastisch, während sie den Hund auf dem Küchenboden absetzt. Doch die verschlossene Miene des Vaters öffnet sich nicht.
Der Welpe beginnt neugierig die Umgebung zu untersuchen. Alle Blicke folgen ihm, und das Klackern seiner Krallen auf dem Linolium ist für kurze Zeit das einzige Geräusch im Raum.
Plötzlich senkt er das Hinterteil und setzt ein Pfützchen auf den Boden. Dann schüttelt er sich.
»Schnell, einen Lappen!«, ruft die Mutter Mascha hastig zu. Sie wirft einen besorgten Seitenblick auf den Vater.
Noch bevor Mascha den Lappen ergreifen kann, hat der Vater den Hund im Nackenfell gegriffen und seine Schnauze in die Pfütze gestoßen. »Das passiert, wenn du in die Wohnung machst! Merke es dir!« Er sagt es mit strenger Stimme, und Mascha spürt seine Empörung und dahinter eine Verärgerung, die sich jeden Moment noch mehr Luft machen könnte.
»Werner, sie ist doch noch ein Hundebaby und muss das erst lernen!«, ruft die Mutter beschwichtigend und sieht ihn dabei flehentlich an.
Das Gesicht des Vaters beginnt sich zu verschließen, und Mascha springt schnell auf ihn zu. Sie greift wieder mit beiden Händen nach der Hand des Vaters. »Papa, nicht böse sein. Tinkapur wird alles ganz brav machen, wenn sie es gelernt hat.« Sie drückt ihre Wange an den Handrücken des Vaters, doch er zieht die Hand zurück, als hätte er sich am Gesicht des Kindes verbrannt. Wie eine Fremde starrt er sie an und sagt fast tonlos: »Du bringst jetzt den Hund in dein Zimmer. Dort bleibt er, und du auch!«
Die Stimme des Vaters duldet keinen Widerspruch mehr. Mitunter empfindet ihn Mascha wie eine verwunschene Festung. Selbst wenn sich seine Zugbrücke einmal senkt, reicht es, dass sie diese betreten will, und schon schnappt sie wieder hoch.
Was mache ich denn falsch, denkt sie, während sie Tinkapur zurück in ihr Zimmer bringt. Wenn ich doch nur herausfinden könnte, wie ich mich verhalten müsste. Wie ich richtig für ihn wäre.
Eng drückt sie den kleinen Hund an ihre Brust und wirft sich rücklings auf ihr Bett. Es tut gut, das pochende Hundeherz zu spüren. Es erinnert sie daran, wie sie damals eng aneinander liegend ihre Traurigkeit mit ihrem Bruder teilen konnte.
Seit er fort ist, hat sie auch ihr eigenes Herz nicht mehr so stark schlagen gespürt. Jetzt ist dieses Gefühl wieder da.
»Tinkapur, du magst mich doch, nicht wahr?«
Der Hund sieht sie an, und Mascha hat das Gefühl, sein Blick könne ungehindert tief in sie hineinsehen.
»Du verstehst mich, stimmt’s?«
Tinkapur leckt ihr übers Kinn und legt seine Schnauze auf ihre Brust.
Ich werde zu spät kommen! Maschas Schritte werden schneller. Sie hat verschlafen. Die Brücke vor ihrem Haus liegt zwar schon hinter ihr, aber die Hauptstraße zur Schule ist noch lang. Wäre sie doch nur mit der Straßenbahn gefahren. Nun ist es zu spät.
Sie beginnt zu rennen.
Der Ranzen hopst im Takt ihrer Schritte an ihrem Rücken hoch und runter. Die Dinge darin machen: »Plom, Plürr, Krrr, Happ«, wenn sie auf dem Boden des Ranzens aufschlagen.
Ob sie in der Klasse von ihrem Hund erzählen soll? Sie ist sich unschlüssig, wie so oft, wenn sie etwas erzählen möchte. Nie weiß sie, ob es ihr Ärger einbringt oder nicht.
Gerade vor zwei Tagen hatten ihre Klassenkameraden sich über die Berufe ihrer Väter unterhalten.
Mascha hatte auf dem Schulhof am Rand der Gruppe gestanden und immer mehr Herzklopfen verspürt, weil ihr klar wurde, dass sie mit den Erzählungen der anderen nicht hätte mithalten können. Die Berufe waren immer bedeutsamer geworden und die Einzelheiten immer erstaunlicher. Als dann Sascha von den Rockkonzerten seines Vaters berichtet hatte, waren alle ganz still geworden, und einige hatten mit offenem Mund zugehört.
Die Gruppe wollte sich gerade auflösen, als Matthias auf einmal behauptet hatte, sein Vater wäre Pilot und hätte ihm einen Fallschirm geschenkt. »Du lügst, dann zeig uns den Fallschirm doch!« Sascha war drohend auf den Jungen zugegangen.
Matthias hatte die Arme ausgebreitet und mit einem Blick in die Ferne eine ausladende Kreisbewegung gemacht: »Der Fallschirm ist soooo groß und aus goldenem Stoff.«
Seine Übertreibung war so offensichtlich, dass Sascha ihm eine Ohrfeige gegeben und ausgerufen hatte: »Du Lügner!«
Matthias hatte sich verteidigt: »Ihr seid selber Lügner, ihr habt doch auch alle geschwindelt.«
Plötzlich waren sämtliche Kinder auf ihn losgegangen, und Matthias hatte es gerade noch geschafft fortzulaufen, bevor er Prügel bezog. Seitdem sprach niemand mehr mit ihm.
Unschlüssig wägt Mascha ab, ob die anderen es nun gleichfalls für eine Lüge halten würden, wenn sie erzählte, dass sie einen Hund geschenkt bekommen hatte. Schließlich war sie damit die Erste in der Klasse. Doch sie kommt zu keinem Ergebnis und atmet resigniert aus beim Laufen.
»Wuh! Wwwwwuh! Wuh!« Mascha stoppt am Garten des Dobermannes. Wie jeden Tag schnauzt er sie an, obwohl sie ihm seit einem Jahr ihr Pausenbrot gibt. Schnell zieht sie den Ranzen vom Rücken und holt ihre Brotbüchse heraus.
Der Hund starrt sie mit gelben Augen drohend an, und seine Ohren sind steil aufgerichtet wie zwei Ausrufezeichen. »Nun gib schon her!«, scheint er sagen zu wollen.
Manchmal vermutet sie, er könnte wissen, dass sie das Brot nur loswerden möchte, und ist ihr deshalb nicht dankbar.
Sie öffnet die silberne Brotbüchse, und die Stulle bricht sofort in drei Teile auseinander, als sie auf den Boden des Gartens fällt. Zwei dicke Scheiben Vollkornbrot und eine Scheibe Blutwurst. Ohne Butter.
Um das Schulbrot kümmert sich immer der Vater, damit die Mutter ihr keinen »Schmackes« mitgibt, wie er es nennt. »Man wird dick, wenn man so ein Zeug wie Misch- und Weißbrot isst«, sagt er. »Auch von Butter wird man fett, und von Salami und von Leberwurst. Sülzwurst, Blutwurst und Schabefleisch vom Rind sind mager. Davon bekommst du Muskeln und keinen Speck auf die Rippen!«, erklärt er gern.
Anfangs hatte Mascha angeführt: »Aber in meiner Klasse sind nur zwei Kinder dick, alle anderen sind dünn und essen solche Sachen jeden Tag. Sie essen sogar Kuchen, Schokolade und Kekse!« Doch der Vater hatte nur die Nase gerümpft und zurückgegeben: »Die Kinder in deiner Klasse werden schon noch dick. Du wirst es sehen. Und dicke Leute sind Weicheier und haben keine Disziplin. Willst du so jemand sein?«
Für Papa war damit das Thema erledigt gewesen, und seine Pausenbrote blieben weiterhin ohne Butter. Jedes Mal, wenn sie in der Schule ankam, wölbte es sich bereits an den Rändern nach außen, und Mascha bekam es nicht hinunter, selbst wenn sie Hunger hatte. Es war zu trocken, und Blutwurst wie Sülzwurst ekelten sie, denn das Gedärm darin sah aus wie lebendige Würmer.
Der Dobermann schlingt das Pausenbrot unbeeindruckt in sich hinein und schnauzt sie weiter an: » Wwwwwwwuh, Wuh! Wuh! – Los, da geht doch noch was!«
Seine kalten Augen glitzern sie ohne Dankbarkeit an.
Mascha streckt den Kopf nach vorn und sagt in auftrumpfendem Ton: »Ich habe jetzt auch einen Hund!« Heiße Freude durchfährt sie bei dem Gedanken an Tinkapur.
Der Dobermann legt sich auf die Wiese und gähnt.
Sie klemmt ihre Daumen unter die Riemen des Ranzens, damit er nicht mehr so auf- und abschlägt, und läuft hastig weiter.
Maschas Deutschlehrerin, Frau Weishaupt, schimpft nicht. Sie sieht nur verwundert auf, als Mascha mit verlegenem Gesichtsausdruck hereinhuscht.
Es ist still in der Klasse, und die Kinder sind konzentriert über ihre Schulhefte gebeugt. Flüsternd erklärt die Lehrerin Mascha die Aufgabe. »Schreibe ein Gedicht mit nur einer Strophe über einen Ort, an dem du dich wohlfühlst.« Aufmunternd lächelt sie dem Mädchen zu, denn sie weiß, wie gerne es schreibt.
Mascha blickt ihr erleichtert nach, als sie weitergeht. Die blonden Haare der Lehrerin sind heute wie ein kleines Nest auf dem Hinterkopf zusammengesteckt. Was für ein Glück ich doch habe, denkt sie. Ausgerechnet heute habe ich die erste Stunde bei meiner Lieblingslehrerin. Frau Weishaupt ermutigte sie oft, auch außerhalb der Schule Gedichte und Geschichten zu schreiben. »Du bist wirklich begabt«, sagte sie dann, und Mascha spürt an ihrem anerkennenden Tonfall, dass eine Begabung offenbar etwas Schönes und Besonderes ist. Deshalb zeigt sie Frau Weishaupt auch manchmal Texte, die sie zu Hause geschrieben hat, und sie kann gar nicht sagen, was sie mehr freut, das Lob der Lehrerin oder die Zeit, die sie sich für sie nimmt.
Mama hatte ihr bereits vor der Schule Lesen und Schreiben beigebracht, denn wenn Mascha früher vor dem Einschlafen nicht nur eine, sondern noch eine und noch eine Geschichte hören wollte, hatte Mama oft gestöhnt: »Mascha, ich bin Kindergärtnerin und habe heute schon so viele Geschichten erzählt. Nimm bitte etwas Rücksicht, ja?«
Mit vier Jahren hatte Mascha dann vorgeschlagen: »Erklär mir doch die Buchstaben, dann kann ich selbst lesen.« So war es gekommen, dass sie mit nicht einmal fünf Jahren bereits lesen konnte. Das Schreiben war dann wie von allein dazugekommen. Ihr erstes eigenes Gedicht hatte sie vor drei Jahren mit Sieben im Ferienlager geschrieben. Es hatte von Heimweh gehandelt und von einem langen Regentag.
Mascha besinnt sich auf ihre Aufgabe. Ein Gedicht über ihren Lieblingsort also … Sie konzentriert sich, sieht mit offenen Augen in die Luft und wartet. Ein Bild taucht auf. Es ist ihr Lieblingsbaum, die Trauerweide. Und ein weiteres Bild, Tinkapur. OK. Aber ist ein Hund ein Ort, wenn man sich mit ihm wohlfühlt? Hm, sie darf sich nicht verzetteln. Ob sie einfach zwei Gedichte schreibt? Das ist eine super Idee, freut sie sich.
Gespannt stellt sie ihr inneres Radar auf Empfang. Sie nennt das so, seit sie einen Film über die Flugüberwachung am Flughafen gesehen hat. Das Radar sendet ein Signal aus und empfängt dann die Echosignale von allen Objekten, die in seinem Umkreis sind. Mascha fühlt sich auch so, wenn sie an ein Thema denkt. Sie konzentriert sich dann darauf und übt sich in Geduld. Irgendwann tauchen die Einfälle auf, und ihr kommt es oft so vor, als würden sie nur darauf warten, dass man sie einfängt.
Jetzt denkt sie fest an ihren Lieblingsbaum und schreibt den Titel ihres Verses: »Mein Lieblingsort, der Baum.« Dann wartet sie. Es ist nicht so ein Warten wie auf den Bus, denn sie weiß gar nicht, auf welche Worte sie wartet. Sie vertraut einfach darauf, dass etwas Passendes zu ihr kommt. Manchmal erscheint ein Wort, das richtig scheint, doch sein Klang liegt ihr beim Lesen wie ein Stein im Weg. Stolpert sie darüber, wartet sie auf ein anderes. Umgekehrt gibt es auch Worte mit einem schönen Klang, die leider nicht passen. Maschas Lieblingswort ist zum Beispiel »nimmermehr«, und sie würde es am liebsten in jedem zweiten Satz verwenden, weil sie es so gern sagt. Aber wie komisch würde es klingen zu fragen: »Hast du schon nimmermehr gefrühstückt?«
»Mein Lieblingsort, der Baum«, flüstert sie die Überschrift noch einmal leise vor sich hin und spürt, wie sich ein Einfall nähert. Sie erkennt es daran, dass sich in ihrer Umgebung die Luft zu verändern scheint, auch wenn sie das niemandem so erzählen würde. »Du hast ein Funkeln in der Krone … weil deine Blätter … sich regen …«, nein, besser »bewegen«. Noch bevor die nächsten Worte kommen, wird Mascha heiß, und sie weiß aus Erfahrung, dass dann ein Treffer bevorsteht, also etwas, was sie richtig mag: »Ich möchte so ein Funkeln sein!« Sie ist begeistert, auch wenn sie noch gar nicht weiß, wie es damit weitergeht. Hm, was macht man am besten mit einem Funkeln? Sehr hell sein – langweilig. Tanzen? – Quatsch mit Soße.
Mascha spürt, wie sie den Faden verliert, weil sie nachdenkt. Deshalb fühlt sie hin, wie es ist zu funkeln. »Jaaaaa, das ist es. Ich kann es verschenken«, flüstert sie begeistert, und Hilde, ihre Banknachbarin, sieht verwundert herüber.
Mit Feuereifer schreibt Mascha auf:
Mein Lieblingsort, der Baum
Du hast ein Funkeln in der Krone,
weil deine Blätter sich bewegen.
Ich möchte so ein Funkeln sein
und es an alles weitergeben.
Das fühlt sich gut an, beschließt Mascha. Sie sieht auf und prüft, ob noch Zeit ist für einen zweiten Vers über Tinkapur, auch wenn sie kein Ort ist. Alle Kinder sind über ihre Hefte gebeugt, und Hilde nagt mit rotem Kopf angespannt an ihrem Stift. Ihr Blatt ist leer, bis auf einen Satz: »Mein Lieblingsort ist mein Bett.«
Als sie Maschas Blick bemerkt, schaut sie sie hilfesuchend an. Mascha zögert. Tinkapur oder Hilde?
In den Augen des Mädchens leuchtet Angst. Mascha schluckt und schließt für einen Moment die Augen. Sie weiß genau, wie es sich anfühlt, etwas nicht zu können wie die anderen. Hilde kann zum Beispiel gut sehen und braucht keine Brille wie Mascha. Deshalb wird sie auch nicht so oft gehänselt.
Mascha nimmt ein neues Blatt Papier, legt es etwas näher an Hilde heran und schreibt: »Mein Lieblingsort ist mein Bett. Simsalabim, in dir kommen Träume.« Sie wirft einen Seitenblick zu Hilde, um zu erfahren, wie diese den Anfang findet. Ihre blauen Augen werden groß, und sie lächelt. Gut, denkt Mascha und wartet erneut. Sie stellt sich fest vor, wie es sich anfühlt, Kleider zu tragen und so still und zaghaft wie Hilde zu sein.
Zack, schon kommen die restlichen Worte …
Simsalabim, in dir kommen Träume.
Mit ihnen fliege ich dann zum Mond.
Im Traum kann ich alles, weil in mir
nachts eine Zauberfee
Hier sieht Mascha zu ihrer Banknachbarin hinüber und lässt das letzte Wort weg, um es dem Mädchen zu schenken. Es ist ja sein Gedicht. Sie zeigt auf die leere Stelle und blickt Hilde fragend an; »wohnt« formen die Lippen des Mädchens, und seine Augen glänzen.
Das Pausenklingeln zerreißt diesen Moment. Alle Kinder geben am Lehrerpult ihre Arbeiten ab, und Maschas Gedicht verschwindet zwischen vierundzwanzig anderen Blättern.
Eigentlich weiß sie, was im Pausenhof passiert, wenn der beliebteste Junge aus ihrer Klasse auf sie zukommt. »Na Brillenschlange, Hässling!«, ruft Torsten und sieht sie herausfordernd, mit zusammengekniffenen Augen, an. Betont lässig streicht er sich durch das dichte, blonde Haar und wartet auf ihre Reaktion.
Sie entschließt sich wegzugehen und so zu tun, als hätte sie es nicht gehört. Etwas anderes fällt ihr nicht ein, um zu verbergen, wie die Scham ihren Kopf rot färbt.
»He, bist du auch noch eingebildet, oder was?!« Torsten stampft empört mit dem Fuß auf, weil das Mädchen ihn stehenlässt.
Mascha drückt ihr Kreuz durch und geht mit festem Schritt auf die andere Seite des Schulhofes.
Er sollte nicht denken, sie hätte Angst.
An die Schulhofmauer gelehnt, wartet sie. Doch Torsten ist ihr heute nicht gefolgt. Erleichtert atmet sie aus und tastet in Gedanken ihren Körper ab. Gab es denn außer der Brille noch etwas, was den Jungen an ihr so aufbrachte?
Sie ist schlankgewachsen und hat welliges, rotbraunes Haar, das ihrem Gesicht etwas Verwegenes gibt, wie Mama sagt. Die Sommersprossen und die kleinen, enganliegenden Ohren hat sie von ihrem Vater. Ihre Augen hinter den Brillengläsern schimmern grün und haben bernsteinfarbene Sprenkel wie die ihrer Mutter. Auch die kräftigen schlanken Hände und Füße der Mutter hat sie.
Was war nicht in Ordnung an ihr?
Wenn sie die Eltern fragte, schaute die Mutter sie kopfschüttelnd an und sagte fast immer: »Wieso, du bist doch ein ganz niedliches Mädchen.« Der Vater dagegen schaute verständnislos. Für ihn war es ganz einfach. Wenn man schlank war und muskulös, war man auch schön. Oder ist sie vielleicht nicht dünn genug?
Neulich hatte sie mit den Eltern ein Ballett im Fernsehen angesehen, und der Vater hatte gesagt: »Die Tänzerin links hat aber ganz schön dicke Stamper!« Seine Stimme hatte dabei denselben verächtlichen Tonfall gehabt wie der von Torsten, wenn er »Brillenschlange« sagte. Vielleicht ist sie ja auch noch nicht dünn genug? Mascha reibt sich den Kopf und atmet tief aus in Anbetracht von so vielen unbeantworteten Fragen.
»Wollen wir zusammen in die Klasse gehen?« Mascha dreht sich überrascht um und sieht Hilde, die seitlich hinter ihr steht und sie schüchtern ansieht.
Heiße Freude durchfährt Mascha, aber kurz darauf stellen sich Bedenken ein und sie senkt den Kopf. Vielleicht tue ich ihr ja nur leid? Papa sagt, nur Schwächlinge bedauert man. Und ich bin kein Schwächling. »Danke, ich komme klar!«, hört sie sich sagen und wendet sich hastig ab, um allein zurück in die Schule zu gehen.
Doch der betroffene Blick von Hilde bleibt an ihr kleben. Sie dreht sich nach dem Mädchen um und sieht Tränen in ihren Augen. Der Anblick ihrer Verletzung trifft Mascha so tief, dass sie zurückläuft und Hilde unbeholfen umarmt.
Sonnenstrahlen fluten den Wald. Sie blinzeln überraschend hinter den Bäumen hervor und tanzen in den lichten Stellen des Unterholzes. Die Luft sieht aus wie mit goldenem Staub gefüllt.
Im Schatten ist es angenehm kühl in der Julihitze.
Immer wieder kommt Tinkapur auf sie zugelaufen und stupst sie mit ihrer kleinen herzförmigen Nase an die Hand. Es ist, als wolle sie Mascha zeigen, was sie gerade erlebt. Eine Eichel, ein Blatt, einen Ast, ein Stück Papier, einen Stein. Begeistert stöbert sie im Geruch einer Fährte und im Rest einer weggeworfenen Semmel. Eine Pfütze erkundet sie mit demselben begeisterten Ausdruck wie ein Grasbüschel oder die Höhle in einer Baumwurzel.
Mascha sieht in ihren glänzenden Augen alle Wunder, die sie gerade erlebt, und an ihren ausgelassenen Sprüngen die Freude.
Jetzt nimmt Tinkapur Anlauf und landet mit einem ungelenken Satz in einem Laubhaufen. Sie beißt in die aufgewirbelten, trockenen Blätter, die knistern wie ein kleines Feuer, und sieht Mascha auffordernd an: »Spring! Das macht Spaß!«
Mascha springt tief in den Haufen hinein und versinkt darin bis zu den Hüften. Lachend wirft sie ein paar Blätter in die Luft, die der Hund zu fangen versucht.
»Das ist ein Spaß!«, offenbaren seine strahlenden Augen.
»Jaaaaa!«, stimmt das Mädchen zu und reißt die Arme nach oben.
Beide genießen dieses einfache Vergnügen, bis Mascha sich rücklings auf die Blätter fallenlässt und zu den Baumkronen aufschaut. Wie schön es sich anfühlt, so ausgelassen zu sein, denkt sie.
»Wuwuwu, wuwuwu!« Das schrille Bellen des Hundes zerreißt die Stille. »Was ist denn?« Überrascht sieht sie auf.
Tinkapur fixiert einen Schäferhund, der sich mit einer Frau nähert, und reagiert nicht auf sie. Ihr Fell ist gesträubt, und Mascha klickt schnell die Leine an ihr Geschirr und zieht sie zu sich heran. »Tinkapur, hör auf!«
Der Hund springt in die Leine, und sein Bellen verstärkt sich. Die Frau und der Schäferhund bleiben stehen. »Was hat er denn? Warum ist er denn so aggressiv?« Die Frau fragt es nicht unfreundlich, doch in Mascha regt sich Protest.
»Mein Hund ist nicht aggressiv. Er ist nur jung. Vielleicht hat er ja Angst vor dem großen Hund?«
»Was hast du gesagt?« Die Frau ruft jetzt lauter, denn unter dem Bellen versteht sie nicht, was das Mädchen sagt.
Mascha kämpft mit den Tränen und schreit: »Vielleicht hat sie Angst vor dem großen Hund?!«
Die Frau zieht die Augenbrauen nach oben und deutet auf ihren Hund. »Meiner ist lieb, wie du siehst.« Sie betont das Wort »meiner«, und ihre Stimme klingt jetzt verstimmt.
Tinkapur wühlt mit den Pfoten Laub auf bei ihrem Versuch, näher an den Hund heranzukommen. Ihr Nackenfell ist gesträubt. »Sie kann doch trotzdem Angst haben?«, entgegnet das Mädchen mit betont fester Stimme, um ihre Unsicherheit zu verbergen.
»Wenn sie Angst hätte, wäre ihre Rute eingeklemmt und sie würde weglaufen wollen! Sie will meinen Hund aber angreifen! Ich hoffe, deine Eltern gehen mit ihm in eine Hundeschule! So jung, wie er ist, sollte das nicht noch schlimmer werden …«
Die Frau schüttelt mit dem Kopf, während sie sich entfernt.
Mascha ist bleich. Tinkapur bellt, bis der fremde Hund außer Sichtweite ist und schüttelt sich dann.