Ohne Skrupel - Scott Bergstrom - E-Book

Ohne Skrupel E-Book

Scott Bergstrom

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Beschreibung

Nimm dir dein Leben zurück. Gwen hat ihren Vater aus den Händen des CIA-Handlangers Bohdan Kladivo befreit. Jetzt lebt sie in Uruguay. Unter falschem Namen, mit einem gebrochenen Vater. Und mit einem prominenten Platz auf der Liquidierungsliste der CIA. Gwen macht sich auf die Suche nach dem Einzigen, das ihr die Freiheit wiedergeben kann: das riesige Vermögen des toten Gangsterbosses Viktor Zoric. Die Fährte des Geldes führt sie über Ibiza und Barcelona bis nach Zürich und Budapest. Doch unterwegs stellt sie fest, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Freund und Feind verschwimmen – genau wie ihre eigenen Grenzen. Wie weit wird sie gehen, um ihr Ziel zu erreichen?

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Scott Bergstrom

Ohne Skrupel

Thriller

Aus dem Englischen von Christiane Steen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nimm dir dein Leben zurück.

 

Gwen hat ihren Vater aus den Händen des CIA-Handlangers Bohdan Kladivo befreit. Jetzt lebt sie in Uruguay. Unter falschem Namen, mit einem gebrochenen Vater. Und mit einem prominenten Platz auf der Liquidierungsliste der CIA. Gwen macht sich auf die Suche nach dem Einzigen, das ihr die Freiheit wiedergeben kann: das riesige Vermögen des toten Gangsterbosses Viktor Zoric. Die Fährte des Geldes führt sie über Ibiza und Barcelona bis nach Zürich und Budapest. Doch unterwegs stellt sie fest, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Freund und Feind verschwimmen – genau wie ihre eigenen Grenzen. Wie weit wird sie gehen, um ihr Ziel zu erreichen?

Über Scott Bergstrom

Scott Bergstrom arbeitete jahrelang als Texter und Creative Director in einer der größten und renommiertesten Werbeagenturen in Manhattan und entwickelte Print-, Fernseh- und Onlinekampagnen für namhafte Firmen wie Ford, Boeing, Chase sowie für das Auswärtige Amt der USA. Er verfasste Essays und Artikel über Architektur und urbanes Leben. Sein Interesse gilt besonders den vernachlässigten Gegenden beliebter Touristenmetropolen – die er in seinen Romanen düster und anschaulich beschreibt. Das Debüt «Ohne Gnade» wurde in 20 Sprachen übersetzt.

Für Sonja und Renata, so weise und mutig

«Es ist nicht die Kugel, die dich tötet – es ist das Loch.»

Laurie Anderson

Teil 1 Judita

1. Kapitel

Judita betrachtet ihr Spiegelbild im Fenster nicht – im Moment vermeidet sie überhaupt alle Spiegelbilder. Stattdessen konzentriert sie sich auf die Menschen vier Stockwerke unter ihr. Ein paar Leute, die in ihrer Mittagspause barfuß über die Playa de los Pocitos schlendern, die Schuhe in der Hand. Sie gehen an einem alten Mann vorbei, der am Ufer steht und seine Angelschnur auswirft. Das Licht fängt sich in der Schnur, und sie bildet einen silbernen Bogen wie ein Schwert aus Draht, bevor sie wieder im kakaobraunen Wasser versinkt.

Juditas Arme sind braungebrannt von zu viel Sonne, doch eine Gänsehaut überzieht sie, weil sie die Klimaanlage zu kalt eingestellt hat. Die Kühle fühlt sich luxuriös an. Judita betrachtet das weiße Ledersofa mit den Seidenkissen und fragt sich, wie es wohl wäre, ein bisschen darauf zu schlafen. In letzter Zeit schläft sie nicht viel, und wenn, dann ist es kein erholsamer Schlaf. Doch sie hat keine Zeit für ein Nickerchen, sie hat noch viel zu viel zu tun.

Gleich beginnt die Party. Der Esstisch hinter ihr – eine schwere dunkle Holzplatte mit Beinen so dick wie die von Elefanten – ist mit einem Dutzend Porzellantellern gedeckt, um die jeweils achtteilige Silberbestecke liegen. Eine ganze Reihe von Speisewärmern steht auf einer Anrichte, und das Zimmer duftet köstlich nach fremdartigen Gerichten.

«Ach, da bist du!», ruft eine Frau auf Englisch. Ihrem Blick nach ist sie wütend auf Judita, weil sie den Eingangsbereich verlassen hat, wo sie hätte warten sollen. Die Frau lächelt trotzdem, denn sie ist Amerikanerin, und Amerikaner lächeln nun einmal, selbst wenn sie wütend sind. Der Ausweis eines Limonadenproduzenten baumelt an einem Band um ihren Hals. Sie kramt in ihrer Tasche und holt ein paar 500-Peso-Scheine heraus, mit denen sie noch nicht einmal die Rechnung begleichen kann, von Trinkgeld ganz zu schweigen. «Ihr habt nicht genug Salat geliefert. Verstehst du, Schätzchen?»

Judita blinzelt sie an. «Sorry», sagt sie mit Mühe. «Mein Englisch, nur wenig.»

«Te olvidó ensalada.» Die Frau verzieht das Gesicht, als würden die spanischen Worte ihr Zahnschmerzen verursachen. «In zwei Stunden kommen die Gäste. Also, wem soll ich jetzt Salat geben und wem nicht? Das würde ich gern mal wissen.»

Judita versucht ihr zu folgen, dann zuckt sie die Achseln.

Die Frau seufzt und reicht Judita das Geld. «Ich bezahle nicht für etwas, das ich nicht bekommen habe. Aber das hier reicht für alles andere.» Sie kneift sich in den Nasenrücken und presst die Augen zusammen, weil ihr die ganze Welt heute so zusetzt.

Judita schaut auf das Geld, dann zu der Frau.

«Beim nächsten Mal überprüft ihr vielleicht mal die Bestellung.» Die Amerikanerin deutet zur Tür. «Ehrlich, das ist so typisch für euch.»

 

Judita radelt den Boulevard an der Rio de la Plata zurück zur Altstadt. Sie ist viel schneller ohne die Bestellung der Frau, die vorher an ihrer Lenkstange baumelte und mit jeder Umdrehung der Pedale gegen ihre Knie gestoßen hat. Wenn sie sich beeilt, kann sie in dreißig Minuten zurück im Restaurant sein. Aber es ist ein heißer Februarnachmittag, das Ende des Sommers, und die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass sie sie förmlich sehen kann. Darum fährt sie lieber langsam.

Es herrscht viel Verkehr, doch Judita schlängelt sich wendig zwischen den zerbeulten Fiat hindurch und zwischen den neuen Geely in hellem Orange und Grün, die aussehen wie Spielzeugautos. Ein Laster stöhnt auf und schießt vorwärts, er hüllt Judita in eine schwarze Dieselwolke ein. Sie packt den Griff an der Rückseite und lässt sich eine Weile vom Laster mitziehen, dann löst sie die Hand und biegt nach Norden in Richtung der Plaza Independencia ab.

Es ist Touristensaison, und die Altstadt ist voller rosa Haut, Sandalen und teurer Kameras, die an Hälsen baumeln. Nach den Gesprächsfetzen zu urteilen, die sie im Vorbeifahren aufschnappt, sind es heute hauptsächlich Briten, und zwar ältere. Sie knipsen Bilder von einheimischen Kindern, die für die Kameras posieren und danach die Hand aufhalten. Die Touristen wollen typische Bilder der Armut, und welch ein Glück, dass sie sie direkt zwischen den hübschen Gebäuden der Altstadt finden, gerade mal zehn Minuten vom Bootsanleger entfernt. Wenn ein gutes Schiff am Hafen liegt, verdienen die mutigsten Kinder hundert Peso am Tag.

Um die Menschenmenge zu umgehen, biegt Judita links ab in eine Gasse, die so schmal ist, dass sie die Gebäude zu beiden Seiten mit ausgestreckten Armen berühren könnte. In der Hitze stinkt die Gasse nach Urin und gebratenem Fleisch.

Vor ihr wird eine Frau mit aufgetürmten blonden Locken von zwei elf- oder zwölfjährigen Jungen bedrängt. Sie streiten mit ihr auf Spanisch, sie antwortet auf Englisch. Sie blockieren die schmale Straße, und Judita schwingt ein Bein über das Fahrrad und rollt mit einem Fuß auf dem Pedal weiter.

Die Frau presst ihre Brieftasche fest an ihre Brust, doch die Jungs lassen sich nicht abwimmeln. Einer von ihnen greift nach ihrem Ohrring, und als sie seine Hand wegschlägt, reißt der andere ihr die Brieftasche aus der Hand. Die beiden rennen in Juditas Richtung, das Geschrei der Frau hallt von den Mauern wider.

Judita steigt vom Fahrrad, und als der Junge mit der Brieftasche vorbeilaufen will, streckt sie ihr Bein aus. Der Junge landet auf dem Kopfsteinpflaster, und die Brieftasche fliegt ihm aus der Hand. Der andere will sie fangen, doch Juditas Reflexe sind schneller, und sie schnappt sie ihm vor der Nase weg. Der Junge starrt sie an, und der andere Junge auf dem Boden sagt irgendwas über ein aufgeschlagenes Knie und dass sie lieber aufpassen soll. Dann rennen sie die Gasse hinab und verschwinden um die Ecke.

Die Touristin ist noch wie gelähmt vor Schreck, als Judita ihr die Brieftasche hinhält, und sie braucht volle zehn Sekunden, um zu begreifen, dass sie doch nicht gestohlen wurde. Als sie die Brieftasche an sich nimmt, tut sie es so vorsichtig, als sei sie vergiftet.

«Danke», sagt sie. Dann: «Gracias.» In ihren Augen kann Judita ihr Spiegelbild sehen: fleckiges T-Shirt, verschwitzte, schmutzige Haut. Die Frau öffnet die Brieftasche, nimmt einen 20-Peso-Schein und reicht ihn Judita, wobei sie darauf achtet, dass ihre Hände sich nicht berühren.

 

Judita schiebt ihr Fahrrad durch die Hintertür und in die Küche des Restaurants. Sie lehnt es an die Wand neben dem großen Kühlschrank, in dem die Steaks, Lammfleisch und Gemüse aufbewahrt werden – das beste Essen in ganz Uruguay, wie Judita den Schiffstouristen erzählt, die nur ein paar Blocks weiter anlegen. Emmanuel steht am Grill und wirft Judita einen Blick zu. Er weiß, dass er ihr zu wenig Salat mitgegeben hat, denn in diesem Jahr sind Tomaten und Gurken teuer, und er hofft, dass sie deswegen nicht rumzickt. Aber Judita zickt nicht rum, denn sie ist dankbar für den Job. Emmanuel schläft mit Mariela, der Besitzerin, und seine Meinung über das Personal zählt.

Judita bindet sich eine Schürze um und will durch die Küchentür hinausgehen, aber Mariela hält sie auf. Mariela ist groß und dick und trägt zu viel Make-up, und die Kunden finden sie unglaublich sexy. Sie schiebt sich ihre roten Haare hinter die Ohren und lächelt auf ihre besondere Weise. «Du bist dreckig», sagt sie. «Wasch dich erst mal.»

Judita nickt und überreicht Mariela das Geld von der Lieferung. Obwohl es zu wenig ist, gibt ihr Mariela eine Handvoll Peso als Trinkgeld. «Amerikaner», sagt sie. «Die wollen der Welt immer eine Lektion erteilen.»

In dem kleinen Bad, wo die Köche manchmal Gras rauchen, schrubbt sich Judita die Hände und Arme und das Gesicht mit der groben Scheuerseife. Sie vermeidet den Blick in den Spiegel so lange wie möglich. Ihr Gesicht ist schmal und hart – «abweisend» hat man es schon genannt. Der Blick aus ihren braunen Augen ist so durchdringend, dass jeder wegschaut. Sie solle mehr an ihrem Lächeln arbeiten, sagen die anderen Kellner, dann würde sie auch mehr Trinkgeld bekommen. Da sie keine Bürste hat, kämmt sie ihr tintenschwarzes Haar mit den Fingern und bindet es mit einem Gummiband zu einem kurzen Pferdeschwanz. Die Frisur hält ihr die Haare aus den Augen, sodass sie besser sehen kann. Und Judita muss alles sehen. Sie muss stets wachsam sein.

 

Das Restaurant ist laut und voller hungriger, grobschlächtiger britischer Touristen, die sich fast rohe Rinder- und Lammsteaks in den Mund schieben und brüllen: «He, Mädel! Mehr Wein, por favor.»

Judita hat diesen Job bekommen wegen den paar Brocken Alltagsenglisch, die sie beherrscht. Sie behält diesen Job, weil sie schnell ist und die Tabletts mit Essen auf einer Hand balancieren kann. Und weil sie niemals Nein zu Mariela oder den anderen sagt. Sie ist immer bereit, ihre Schichten mit jemandem zu tauschen, Erbrochenes vom Badezimmerfußboden aufzuwischen oder Bestellungen am anderen Ende der Stadt auszuliefern.

Von vier Uhr nachmittags bis ein Uhr morgens ist sie auf den Beinen – sie schwitzt, aber sie bewegt sich schnell zwischen der heißen Küche und den vielen Tischen, an denen sie bedient. Da erträgt sie eindeutige Angebote, Po-Tätscheleien und Weinspritzer auf ihren abgelaufenen Schuhen, arbeitet an ihrem Lächeln und sagt «no problem», bis Mariela die letzten betrunkenen Kunden aus der Tür schiebt und hinter ihnen abschließt.

Dann werden alle Tische abgewischt, die Toiletten geputzt, die Stühle auf die Tische gestellt, bevor man sich in der Bar trifft. Ein paar zünden sich Zigaretten an, während Gustavo, der Barkeeper, den übriggebliebenen Wein an alle verteilt. Judita trinkt ihr Glas schnell aus, und Gustavo gießt ihr noch eins ein, das sie ebenfalls schnell leert. In der erschöpften Stille zählen sie ihr Geld, und sie hofft, dass nach der Abrechnung noch ein bisschen übrigbleibt. Das restliche Geld legen sie in die Mitte, und Gustavo teilt es zu gleichen Teilen unter den Bedienungen, den Abräumern und den Köchen auf. Meistens ist es nicht viel. Vielleicht zweihundert Peso für jeden. Nur die Amerikaner geben immer viel Trinkgeld. Dafür sind sie bekannt, und die Bedienungen streiten sich darum, wer ihre Tische bekommt. Alle Bedienungen außer Judita, die immer bereit ist, die Amerikaner jemand anderem zu überlassen.

Nachdem das Geld gezählt ist, kommt Mariela mit Essenspaketen aus der Küche. Alle bekommen etwas Nahrhaftes mit nach Hause, und für die meisten, auch für Judita, macht dieses Paket den Hauptteil ihrer Mahlzeiten aus. Die Bestellungen, die Gäste haben zurückgehen lassen, sind die besten, weil sie noch unberührt sind. Aber keiner von ihnen ist pingelig. Der halbaufgegessene Reis von Tisch 10 und das fast unberührte Lammkotelett von Tisch 14 werden in Zeitungspapier gewickelt und nach Hause zu den hungrigen Mäulern getragen. Eine Frau mit fünf Kindern und einem kranken Mann bekommt alle Knochen, aus denen sie Suppe kocht, die sie am Samstagmorgen auf dem Markt verkauft. Was den Wein angeht, interessiert sich niemand für seine Herkunft. Alle Flaschenreste werden in die Eimer hinter Gustavos Bar geleert, Rotwein gemischt mit Weißwein, Malveck mit Pinot. Während die anderen putzen, füllt Gustavo das Gemisch mit einem Trichter in leere Flaschen um. Auf diese Weise betrinken sich ganze Familien, ganze Nachbarschaften.

Judita steckt ein Paket mit Essen und ein paar Flaschen Wein in ihren Rucksack. Ihr Bus fährt erst um 2.17 Uhr, darum schlendert sie langsam durch das Nachtleben Montevideos. Der Großteil der Stadt kommt schon früh zur Ruhe, doch in dieser Gegend in der Nähe des Busbahnhofs kriecht man überhaupt erst um Mitternacht aus dem Bett. Die Bars, Nachtclubs und Bordelle sind voll und laut. Der Geruch nach Marihuana hängt wie ein stinkender Geist über der Straße. Judita stört sich nicht daran, solange die Stadt sie in Frieden lässt.

Sie geht runter nach Piedras und hält den Blick dabei gesenkt, läuft ein wenig gebückt, nur ein Mädchen, das von der Arbeit nach Hause geht. Genau das ist Judita, sie will gar nichts anderes sein. Das Schiff der Briten bleibt offenbar bis zum nächsten Morgen im Hafen – ein Problem mit dem Funk, hatte jemand im Restaurant gesagt. Der Aufenthalt gibt den etwas abenteuerlustigeren Passagieren die Gelegenheit, eine Nacht im sexuell freizügigen Uruguay zu verbringen. Ein lauter Streit bricht zwischen verschiedenen Männergruppen aus, und Judita weiß, dass sich daraus bald eine Schlägerei entwickeln wird. Jemand stolpert über die Wurzel eines Baums, die sich durch den Bürgersteig geschoben hat, und lacht, obwohl ihm das Blut das Kinn herunterläuft. Judita achtet nicht darauf und rückt nur ihren Rucksack zurecht, der schwer ist vom Wein und dem Essen.

«Wie alt bist du?», ruft jemand auf Englisch. Der Stimme nach ist er nicht betrunken, noch nicht. Bloß laut.

Judita antwortet nicht. Vielleicht ist sie gar nicht gemeint, aber in jedem Fall ist es besser, die Frage zu ignorieren. Dann hört sie die Stimme noch mal. «Wie alt bist du?» Der Mann – in einem kurzärmeligen Golfhemd, das er über seinen dicken Bauch in eine Khaki-Shorts gesteckt hat – ist zu nah, als dass er jemand anderen gemeint haben könnte. Jetzt geht er neben Judita her.

Er ist um die fünfzig, übergewichtig, aber seltsam schmal im Gesicht. Judita sieht, dass er eine Kamera um den Hals hängen hat, eine gute. «Noch einmal sagen?», fragt sie in ihrem unsicheren Englisch.

«Ich habe dich nach deinem Alter gefragt», sagt er. «Sechzehn?»

Für einen Moment fliegt ein Schatten über Juditas Gesicht, als hätte sie sich an etwas besonders Unangenehmes erinnert. Sie lächelt und hastet weiter. Doch der Mann bleibt bis zur Straßenecke an ihrer Seite, wo sie warten muss, weil ein Bus vorüberfährt.

Er tritt näher an sie heran. «Ich habe richtig geraten, stimmt’s?», sagt er. «Sechzehn.»

«Ja», lügt sie. «Was wollen Sie?»

«Wir könnten uns vielleicht ein Hotel suchen, aber ich bin da kein Snob. Mir ist egal, wo. Zweihundert Peso?»

Sie schließt die Augen und atmet tief ein, presst etwas in ihrem Inneren hinunter. «Zweihundert Peso für was?», fragt sie.

«Na, du weißt schon. Dass wir uns eine Weile Gesellschaft leisten.»

Leicht verdientes Geld. Geld, das Judita braucht. Sie fragt sich: Wie schlimm kann es schon sein? «Fünfhundert Peso», sagt sie.

«Zweihundert.»

Sie sieht ihm in die Augen. «Zeig mir.»

Er stößt ein nervöses Lachen aus, blickt sich um, dann legt er die Hände an seinen Hosenschlitz.

«Nein. Das Geld», sagt sie. «Hälfte jetzt.»

Er holt die Brieftasche aus seiner Hosentasche und reicht ihr einen zerknitterten, schmutzigen Hundert-Peso-Schein. Doch sie hat gesehen, dass er auch noch ein dickes Bündel leuchtender britischer Pfundnoten in der Brieftasche hat. Druckfrisches, neues Geld. Geld aus der Ersten Welt. Pink und grün und cremefarben.

Judita deutet mit dem Kopf in eine Seitenstraße. «Komm», sagt sie.

Er folgt ihr, während sie nach einer sichtgeschützten Stelle sucht.

«Du bist hübsch», sagt er.

«Ja?», sagt Judita schüchtern. Zwischen zwei Gebäuden liegt ein leeres Grundstück. Was auch immer hier vorher gestanden hat, ist zu einem Haufen Geröll zusammengefallen, der nach und nach abgetragen wird. Sie tritt vom Bürgersteig auf die mit Lastwagenspuren durchzogene Erde und ertastet mit der Spitze ihres Turnschuhs, ob der Boden Matsch ist. Ist er nicht. «Hier lang.»

«Ich war letztes Jahr in Thailand», sagt der Mann. «Aber die Mädchen hier sind hübscher, finde ich. Du jedenfalls.»

Sie dreht sich um und lächelt ihn an. Wie ein schlafendes Monster steht ein Bagger am Ende des Grundstücks, und sie führt ihn dahinter, wo es dunkler ist und von der Straße nicht einsehbar.

«Meinst du wirklich – meinst du, dass es hier sicher ist?», fragt er. Hier sind überall Schatten, hinter jedem Steinbrocken könnten Gefahren lauern.

«Oh ja», sagt sie und nähert sich ihm, ist so nah, dass sie seine Nervosität riechen kann. Im schwachen Licht glitzern Schweißperlen auf seinen weichen Wangen. Sie nimmt ihm die Kamera ab und stellt sie auf die Raupenkette des Baggers, direkt neben ihren Rucksack.

Er grinst kurz, dann öffnet er seinen Gürtel.

Judita rammt ihm das Knie fest in seine Weichteile. Der Mann krümmt sich nach vorn, und sie schlägt ihm mit der Handkante gegen das Kinn, sodass sein Kopf zurückfliegt. Röchelnder Atem explodiert aus seinem Mund, als Judita ihm ihre freie Faust direkt in die Niere rammt, und er geht zu Boden.

Sie gibt ihm eine Sekunde, wartet, ob er aufspringt und sie angreift, doch der Mann hier ist kein Kämpfer. Wie eine hektische Krabbe kriecht er auf allen vieren von ihr weg. Selbst in dieser Dunkelheit kann Judita seine aufgerissenen, erschrockenen Augen sehen. Sie tritt näher, und er möchte irgendetwas sagen, vielleicht um sein Leben betteln, aber er findet keine Worte.

«Steh auf», befiehlt Judita.

«Nimm … nimm meine Kamera», bringt er heraus.

«Gleich», sagt Judita. «Steh auf.»

Langsam und mit großer Anstrengung tut er, was sie sagt.

«Kämpf gegen mich», sagt Judita.

Wieder überzieht Angst sein Gesicht, doch er nimmt eine schlaffe Boxerhaltung an und hebt seine Arme in Verteidigungshaltung. Wahrscheinlich erinnert er sich daran, was er mal im Fernsehen gesehen hat. Er hat das noch nie gemacht, vermutet Judita.

Ihre Faust landet direkt auf seiner Nase, und die weichen Knorpel biegen sich und knacken gegen ihren mittleren Fingerknöchel. Er stolpert zurück und hält sich die Hände vors Gesicht, doch da knallt ihm die Spitze von Juditas rechtem Turnschuh schon gegen sein linkes Ohr und bringt ihn zu Boden.

«Ich habe Pesos!», ruft er. «Pfund! Britische Pfund!» Er rollt sich auf den Rücken und zieht seine Brieftasche hervor. Judita reißt sie ihm aus der Hand. Das Banknotenbündel ist erfreulich dick, und sie schiebt es sich in ihre Jeanstasche. Aber er hat noch mehr. Sie weiß, dass Touristen nie all ihr Geld in ihrer Brieftasche bei sich tragen. Da ist immer noch ein Geldgürtel oder ein Notfall-Hunderter in einer verschwitzten Hemdfalte.

«Den Rest», sagt Judita.

«Ich habe nichts …»

Sie stößt ihren Schuh in seine Seite, dann bückt sie sich und reißt das Hemd aus seiner Shorts. Bloß ein haarloser milchweißer Bauch ohne Geldgürtel. «Den Rest», wiederholt sie.

Er bückt sich umständlich zu seinem linken Fuß und zieht eine gefaltete Fünfzig-Pfund-Note heraus. «Das ist alles, was ich habe», sagt er. «Wirklich. Alles, was ich habe.»

Die Banknote ist feucht, aber Judita schiebt sie trotzdem zu den anderen in die Jeanstasche. Sie presst den Mann zu Boden, drückt ihm das Knie in seinen nackten Bauch, dann nimmt sie seine Kamera von der Baggerraupe. Der Blitz geht los, als sie ein Bild von ihm schießt, und eine halbe Sekunde später sieht sie das Gesicht des Mannes im Display, ein glänzender weißer Mond der Angst, dem das Blut langsam aus der Nase über den Mund bis zum Kinn läuft. Ihre Finger tasten über die Kamera, bis sie die Klappe für die Speicherkarte findet. «Für dich», sagt sie und wirft ihm die Karte auf die Brust. «Damit du deinen Besuch hier nicht vergisst.»

Einen Moment später ist Judita verschwunden, sie hat das Grundstück schon verlassen und schiebt die Kamera in ihren Rucksack zu dem Essen und dem Wein. Eine Canon kann sie leicht versetzen. Zweitausend Peso bringt die Kamera locker ein. Kreditkarten und vor allem ein Pass hätten noch mehr eingebracht, aber dann hätte der Mann morgen früh sein Schiff nicht nehmen können, und Judita will ihm einen schnellen Abgang ohne Polizei ermöglichen. Nicht, dass sie sich wegen denen große Sorgen macht – in der Version, die er den Polizisten erzählt, wird sie sich in eine ganze Horde messerschwingender Männer verwandelt haben. Doch Montevideo ist eine kleine Stadt, und sie will nicht riskieren, dass sie ihn noch einmal trifft. Dass sie zufällig auf bekannte Menschen treffen könnte, ist das Einzige, weshalb Judita sich wirklich Sorgen macht.

2. Kapitel

Ich bin gut darin geworden, von Judita in der dritten Person zu denken, so als wäre sie jemand anderes. Ihr Name ist nicht mein Name, sage ich mir. Ihre Gedanken – die sich hauptsächlich um Essen und Geld drehen – sind nicht meine Gedanken. Sie überhört die Beleidigungen der Gäste im Restaurant, in dem sie arbeitet. Sie überhört die geflüsterten Unverschämtheiten der Amerikaner und Briten, wenn sie sich darüber beschweren, dass diese südamerikanische Kellnerin oder Lieferantin nicht so gut Englisch spricht, wie sie es ihrer Meinung nach sollte. Sie überhört alles, und nur manchmal vergisst sie, wer sie sein soll, und fällt wieder in ihr altes Verhalten zurück. Aber nur, wenn sie allein ist. Nur, wenn sie niemand sieht.

Das Leben als Judita ist so, als würde man in einer quälend langweiligen Fortsetzungsserie jeden Morgen in der nächsten quälend langweiligen Folge aufwachen. Nie ändert sich irgendetwas. Die Erschöpfung von heute ist die Erschöpfung von gestern. Die endlose Busfahrt von heute ist dieselbe wie die von gestern. Ich rede mir ein, wie dankbar ich bin, am Leben zu sein. Ich rede mir ein, dass ich von Glück reden kann, dass ich hier in Uruguay bin, anstatt tot oder in einem CIA-Gefängnis in Turkmenistan. Judita – Juditas Leben – ist ein Geschenk.

Auf dem uruguayischen Pass von Judita Leandra Perels steht als Geburtsort eine Kleinstadt, 200 Kilometer von Caracas, Venezuela, entfernt. Ihr Vorname ist hier in Uruguay nicht ungewöhnlich. Aber in Uruguay tauchen sowieso alle möglichen Leute aus allen möglichen Gründen auf, deshalb fragt auch keiner wirklich nach. Im Fall von Judita Leandra Perels und ihrem Vater, Dario Javier Perels, erhielten die beiden die Staatsbürgerschaft, weil ihre Namen bei Verhandlungen über Visabestimmungen und Handelsabkommen zwischen Uruguay und Israel zur Sprache kamen. Welches Interesse Israel an zwei Venezolanern haben sollte, lässt sich nur vermuten. Doch ihr Antrag wurde vom Lateinamerikanischen Jüdischen Kongress mit persönlicher Empfehlung des Präsidenten vom Büro in Montevideo, Dr. Enrique Goldman, unterstützt, der wiederum mit dem Generalstaatsanwalt von Uruguay Tennis spielt.

Das ist die offizielle Version von Juditas Leben. Und das ist die Version, auf die ich schwöre. Ich habe genügend Material, um ein Verhör von zwei, vielleicht sogar drei Tagen durchzustehen.

 

Als ich aus dem Bus steige, habe ich noch einen Heimweg von etwa zwanzig Minuten vor mir. Um drei Uhr morgens sind die Straßen fast leer, und alle Fenster sind dunkel. Hier stehen hauptsächlich Einzelhäuser und ein paar dreistöckige Apartmenthäuser mit Stuck. Ein streunender Hund läuft neben mir her. Er bettelt nicht, sondern freut sich nur über meine Gesellschaft. Er war mal hübsch, vielleicht ein Golden Retriever, doch bei all dem Filz und Dreck lässt sich das schwer sagen.

Die Müllsammler treten schon jetzt aus ihren Wohnungen und spannen die Pferde vor ihre leeren Karren. Die Tiere sind uralt und heruntergekommen und stehen mit gesenkten Köpfen da, während ihre Besitzer alles festzurren. In ein paar Stunden sind die Karren voll mit Sachen aus Metall und Holz, aufgesammeltes Gerümpel, das für irgendwen irgendwo einen Wert haben könnte. Ich habe immer Mitleid mit den Pferden, auch wenn die Typen, die die Karren fahren, nicht viel glücklicher aussehen.

In der Altstadt und den Barrios in der Nähe des Zentrums sieht alles hübsch aus. Montevideo ist eine Stadt, die einen Ruf als saubere, sichere Hauptstadt eines sauberen, sicheren Landes genießt. Aber die Müllsammler und ich wissen es besser. Wir wohnen hier, wo die Touristen, die Politiker und die Mittelklasse-Angestellten nicht hinkommen, am Rand der Stadt und fast im 19. Jahrhundert. Mein Dad und ich können froh sein, dass wir fließendes Wasser haben, den meisten Menschen geht es sehr viel schlechter. Ich komme jeden Tag auf meinem Weg zur Arbeit an Kindern vorbei, die barfuß Eimer mit Wasser schleppen. Die Hütten, in denen sie wohnen, sind aus den Teilen zusammengeschustert, die ihre Väter nicht verkaufen konnten. Wer in diesen Vierteln lebt, hat andere Sorgen, als sich um ein altes Pferd zu kümmern.

Ich gehe die Stufen hoch zu dem Haus, in dem ich wohne. Die Vermieterin im Erdgeschoss schaut fern, vielleicht ist sie aber auch vor dem Gerät eingeschlafen. Die Stufen knarren, als ich in den ersten Stock steige, dann in den zweiten. Ich bleibe vor meiner Tür stehen und lege die Hand auf den Türknauf, dessen Messing vom Alter schon ganz braun geworden ist. In meiner Wohnung ist es still, so wie immer. Ich schließe die Tür auf und trete ein.

«Soy yo, Papá», sage ich. Nur ich, Dad.

 

Er betrachtet mich. Das Licht von der Tischlampe fängt sich in seinen Augen, und an den Seiten hebt sich sein Bart zu einer Art Lächeln.

«Wie war’s?», fragt er leise.

«Gut.»

Ich verschwinde in mein Zimmer und nehme die Kamera und zwei Weinflaschen aus dem Rucksack. Dann zähle ich das Geld. Zweihundertzehn britische Pfund und dreihundert uruguayische Peso. Wenn ich noch die Kamera dazunehme, war es ein erfolgreicher Abend. Ein Grund zum Feiern.

Das Geld, die Kamera und der Wein verschwinden in der Lücke zwischen meinem Bett und der Wand. Dort habe ich mittlerweile ein kleines Vermögen angehäuft: vier Kameras, sechs Handys und mit dem Geld von heute Abend insgesamt 1700 US-Dollar in bar. Ich weiß nicht, wofür ich das spare. Aber ich weiß, wir werden das Geld brauchen, und zwar vermutlich eher früher als später.

Ich ziehe mir ein frisches T-Shirt und Shorts an und wasche mich. Dann trete ich mit dem Essenspaket und der dritten Flasche Wein in das andere Zimmer der Wohnung, als hätte ich gerade einen Schatz gefunden. «Rind und Lamm, glaube ich», flüstere ich in Englisch. «Und auch etwas Spargel.»

Wir besitzen zwei Teller, zwei Gläser und zwei Sätze Besteck. Ich verteile das Essen auf den Tellern und bringe ihm seinen.

«Irgendwelche Abenteuer erlebt?», fragt er leise und inspiziert ein Stück Lamm auf seiner Gabel. Wenn wir Englisch sprechen, müssen wir immer leise reden. Fremdsprachen sind verdächtig.

«Ich hab einer Amerikanerin eine große Bestellung gebracht. Sie hat mir kein Trinkgeld gegeben.»

«Tut mir leid, Mäuschen. Das ist ärgerlich», sagt er. «Aber du hast uns auch ohne Trinkgeld was zu essen mitgebracht. Ich bin stolz auf dich.»

Wir essen schweigend, mein Dad auf dem Sofa, ich auf einem Esszimmerstuhl vom Flohmarkt. Nach ein paar Bissen legt mein Dad das Besteck vorsichtig auf den Rand seines Tellers und lehnt sich zurück.

«Heiß heute?», fragt er.

«Ja», sage ich.

«Es tut mir leid, dass du – du weißt schon – da draußen sein musst. Unangenehm.»

«Ja», sage ich.

«Vielleicht noch einen Monat.»

«Noch einen Monat was?», sage ich.

«Bevor es kühler wird», sagt er.

Es bringt mich um. Es bringt mich um, dass er so ist. Dass er so geworden ist. In ihm hat mal ein Held gesteckt. Doch es ist zwei Wochen her, dass er zum letzten Mal die Wohnung verlassen hat, und er ist auch nur raus, weil ich ihn darum gebeten habe. Geh mal auf die Straße, habe ich gesagt. Geh mal an die frische Luft. Er war nach zehn Minuten zurück, und ich konnte sehen, dass sein Gesicht unter dem grauen Bart und seinen struppigen Haaren weiß wie ein Bettlaken war vor Angst.

«Du musst mehr essen», sage ich.

«Zu schwer», sagt er. «Ich esse später noch ein bisschen.»

Ich nicke bloß und esse meinen Teller leer. Seinen Teller stelle ich in den Kühlschrank. «Du hast auch gar keinen Wein getrunken.»

Er fährt mit den Händen über seine Knie. «Ich habe keinen Durst.»

«Also – worüber wir gestern gesprochen haben», sage ich. «Der Plan.»

«Der Plan», wiederholt er, als hätte er das Wort noch nie zuvor gehört.

Ich trinke einen großen Schluck Wein, und als mein Glas leer ist, greife ich nach seinem. Es gefällt ihm nicht, dass ich so viel trinke. Er hat es mir früher öfter gesagt, aber in den letzten Monaten nicht mehr.

«Du musst wieder rausgehen», sage ich. «Hinaus in die Welt. Ich habe einen Flyer für einen Schachclub im Jüdischen Zentrum in der Innenstadt gesehen.»

«Zu gefährlich», antwortet er und schlägt nach einer Stechmücke. «Vielleicht in einem Jahr oder so.»

«Wir sind schon ein Jahr hier!», zische ich laut.

«Sprich leiser», sagt er.

Die Wut kocht in mir hoch, aber ich schaue weg, damit er es mir nicht ansieht. «Buenos Aires», flüstere ich. «Das ist ganz nah. Nur drei Stunden mit der Fähre. Und viel größer. Da müssten wir uns nicht die ganze Zeit verstecken. Wir könnten einfach in der Menge untertauchen. Und ich könnte, was weiß ich, zur Uni gehen.»

«Mäuschen …»

Ich weiß schon, was er sagen will, darum schneide ich ihm das Wort ab. «Es gibt einen Studiengang am Instituto Tecnolólogico, so als Teilzeitprogramm. Ich könnte Mathe belegen, die Einführungskurse. Ich habe mir das im Computer in der Bibliothek angesehen. Es kostet eine Menge, aber wenn ich Englischunterricht gebe …»

Er streckt seinen Arm über den Tisch und legt mir die Hand aufs Bein. «Die Uni kann warten.»

«Worauf? Bis ich dreißig bin?»

Er drückt mein Knie. «Deine Stimme», flüstert er mit dem Blick zur Wand und den Nachbarn, die auf der anderen Seite schlafen.

Ich ziehe mein Bein weg.

«Wir können das schaffen, Dad. Dann hätten wir» – ich deute auf die Risse in den Wänden, die Vorhänge aus Bettlaken – «mehr als das.»

Ich stehe auf und bringe das Geschirr in die kleine Küche. Eine Spinne hockt an der Wand, eine hässliche, haarige Spinne, aber sie stört mich nicht, also werde ich sie auch nicht stören. Ich stelle die Teller in die Spüle, und als ich mich umdrehe, steht mein Dad da. Er hat die Hände über seinem vergilbten Unterhemd gefaltet. Sein Blick ist auf die gesprungenen Fliesen auf dem Boden gerichtet. Nicht, befehle ich ihm stumm. Fang nicht jetzt damit an.

Aber er entschuldigt sich nicht. Es ist noch eine Spur von meinem alten Dad da irgendwo in ihm, eine Spur des CIA-Spions, eine Spur Kraft. «Gwendolyn», sagt er und nennt mich zum ersten Mal seit Monaten bei meinem richtigen Namen. «Hinter uns sind keine Leute her, sondern ein Ding. Ein Ding mit zehntausend Köpfen und einer Million Augen und einem sehr, sehr guten Gedächtnis. Das hier – was wir hier tun, so unauffällig wie möglich zu leben – ist eine strategische Notwendigkeit. Verstehst du?»

Ich nicke. Strategische Notwendigkeit. Die Sprache von Soldaten, von Kameraden. Kein Vater redet so mit seiner Tochter. «Ja», sage ich, auch wenn ich daran zweifle, ob ich es wirklich verstehe. «Wie lange noch?»

«Bis sie von etwas anderem abgelenkt werden. Aber selbst dann …» Der Gedanke hängt in der Luft, und er schüttelt den Kopf und will ihn nicht zu Ende denken. «Man sieht es nie kommen, Gwen. Niemals. Da klopft niemand an der Tür, da gibt es keine knarrenden Dielenbretter. Man bemerkt sie erst, wenn einen die Kugel schon getroffen hat.»

Ich wende mich ab. «Hör auf, so zu reden.»

«Es ist aber wahr, Gwen. Ich habe mir dieses Leben auch anders vorgestellt. Aber das ist es, was wir haben können.»

«Dann ändere es.»

«Wie?», fragt er.

«Du weißt, wie», sage ich.

Ich höre ihn durch die Nase atmen. Er ist enttäuscht und auch ein bisschen sauer. Wir reden über das verbotene Thema, die Sache, die man niemals ansprechen darf.

«Mäuschen», sagt er. «Geld kann hier gar nichts ausrichten.»

Ich drehe mich zu ihm um und blicke ihm direkt in die Augen, damit es endlich bei ihm ankommt. «Lass es uns wenigstens versuchen», sage ich.

 

Vielleicht schläft er. Schwer zu sagen. Es ist still im anderen Zimmer, aber es ist eigentlich immer still bei meinem Dad – der Maus, die jeden Schatten für eine Katze hält. Ich sitze auf meinem Bett, mit dem Rücken gegen die Wand, den Blick ziellos aus dem Fenster gerichtet. Manchmal am Morgen, wenn der Smog nicht zu dicht ist, kann ich hinter den Schuppen ein kleines Stück vom Fluss sehen. Und manchmal, wenn der Fluss nicht allzu schlammig ist, sieht er tatsächlich blau aus und schimmert verheißungsvoll. Jetzt allerdings bekomme ich nur die gelblichen Lichter von Montevideo zu sehen, und davon auch nur ein paar, als gäbe es hier kaum eine Stadt.

Ich greife in den Spalt zwischen meinem Bett und der Wand und ziehe eine der Flaschen von heute Nacht heraus, diese Mischung aus den Weinresten, die die Kunden im Restaurant übriggelassen haben. Ich habe keine großen Vergleichsmöglichkeiten, aber für meine geringen Ansprüche ist die Qualität nicht schlecht, und manchmal gibt es sogar ein überraschendes Geschmackserlebnis. Heute zum Beispiel schmeckt der Wein nach sauren Brombeeren, aber im bestmöglichen Sinne. Kompliziert und seltsam. Ich gieße ihn in einen gesprungenen Kaffeebecher und nippe vorsichtig daran wie eine verarmte, im Exil lebende Prinzessin.

Ich trinke nicht deshalb Wein, weil er mir so gut schmeckt oder weil ich betrunken werden will. Beides sind Nebeneffekte, und sie lenken vom eigentlichen Grund ab, nämlich, dass Wein mich schläfrig macht. Er ist eine Droge, eine Medizin. Als ich damit anfing, nach der Arbeit Wein mit nach Hause zu bringen, reichte schon ein einziges Glas aus. Dann wurden aus einem Glas zwei, dann eine Flasche. In letzter Zeit brauche ich eine ganze Flasche plus ein Glas von der nächsten, um müde zu werden. Es ist der direkte Weg zum Leben als Alkoholiker, aber ein Mädchen braucht nun mal seinen Schlaf. Ich kann es nicht ändern, wenn meine Gedanken sonst nicht zur Ruhe kommen wollen und mein Körper sich weigert, mich in meine persönliche Traumhölle gleiten zu lassen.

Ich nehme mein Kartenspiel und fange an zu mischen. Es ist ein altes Spiel, noch aus meiner Zeit in New York, vielleicht noch davor, und ich habe es mit nach Paris, Berlin und Prag genommen. Die Karten sind abgenutzt, verbogen und eingerissen, und ja, ich sollte wirklich mal ein paar Peso für einen neuen Satz Spielkarten ausgeben. Aber sie sind praktisch das Einzige, das mir aus meinen früheren Leben und von meinen anderen Namen noch geblieben ist, der einzige Faden, der sich von Judita über Sofia bis zu Gwendolyn zieht.

Während ich trinke, werden meine Hände sicherer, das Mischen genauer – noch ein schlechtes Zeichen, denn ohne Wein schaffe ich das nicht mehr. Ich lege die Karten umgedreht in einem perfekten Fächer auf meinem Bett aus, dann drehe ich sie von der einen Seite an um, und sie heben sich wie eine Welle und bleiben aufgedeckt liegen. Dies hier ist seit Jahren meine Therapie, diese ruhige, ordentliche Plastikwelt von Glück und statistischer Wahrscheinlichkeit. Nach jedem Mischen entsteht ein neues Universum aus Gewinnern und Verlierern.

Das Geld. Der Gedanke schießt mir wieder durch den Kopf. Ich nehme noch einen Schluck von der Weinpansche und sage dem Gedanken, er soll sich verziehen. Aber das tut er nicht. In diesem Cartoon mit dem Mann, der durch die Wüste kriecht, ist das Geld ein Wasserglas am Horizont, eine Fata Morgana, die ihn immer weitertreibt. Aber dies hier ist keine Fata Morgana, egal was manche Leute sagen. Das Geld gehört dem toten Verbrecherkönig Viktor Zoric, dem Mann, den mein Vater mit ins Grab gebracht hat, und jetzt liegt es ohnmächtig in der Schweiz und in Liechtenstein, schläft und wartet darauf, durch einen Kuss der wahren Liebe wieder zum Leben erweckt zu werden.

So hat Zoric die Leute bezahlt, sagt mein Dad. Einfach eine neue Firma aufmachen, ein neues Konto eröffnen und den Empfänger am Geschäft beteiligen. Einen Beamten zu bestechen ist einfach. Ich hatte die Kontonummern. Und mein Dad wusste, wo man die Passwörter und Namen finden konnte. Diese Informationen haben uns beide beinahe das Leben gekostet.

Ich schiebe die Karten zusammen und lege das Spiel auf meinen Nachttisch. Dann nehme ich den letzten Schluck, den ich mir gestatte – eine Flasche und ein Glas. Ich sinke zurück ins Bett und schließe die Augen. In Gedanken sehe ich die ungefähr zwanzig Leichen, die ich auf meinem Weg von Paris über Berlin nach Prag hinterlassen habe. Jedes einzelne Gesicht hat sich in meine Erinnerung eingebrannt. Der Typ, den ich im Zug erstochen habe, und der Typ, dessen Hirn ich in einer Gefängniszelle weggeblasen habe, sind die gnädigsten. Sie erscheinen mir nur im Moment ihres Todes – mit vor Entsetzen aufgerissenem Mund. Aber die anderen erinnere ich deutlicher. Emil im blauen Schein der Armaturenbeleuchtung seines Lasters, wie er zu amerikanischem Hip-Hop rappt. Roman, als er mir ein Kleid kauft und durch seinen Morphiumnebel hindurch versucht, das Geld zu zählen. Bohdan Kladivo, wie er mich anlächelt und seine Zigarre anzündet und mir sagt, dass ich grausamer sein muss als ein Mann, wenn ich es in der Welt zu etwas bringen will.

Diese Gesichter sehe ich, wie sie vor ihrem Tod aussahen. Lebendige Gesichter. Die Gesichter von Männern. Wenn es Tag ist, bin ich ganz rational davon überzeugt, dass jeder von ihnen seinen Tod verdient hat, ob nun durch das Messer, die Kugel oder das Rattengift, das ich in ihren Tequila gemischt habe. Aber bei Nacht ist mein Unterbewusstes da weniger sicher. Es erinnert sich an das Blut und das vergiftete Erbrochene und wie die Vorstellung von Gerechtigkeit so ganz anders aussieht als die Realität von Gerechtigkeit.

Und darum sind meine Laken jeden Morgen um meinen Körper gewickelt und nass vor Schweiß, egal wie viel ich trinke. Aber es war doch alles für einen guten Zweck, oder? Ich konnte meinen Vater retten. Es hat sich am Ende doch alles ausgezahlt, oder? Damit wir jeden neuen Morgen in Montevideo aufwachen und am Leben sind.

3. Kapitel

Wir sehen uns auf der anderen Seite.

Das hat Yael gesagt, kurz bevor ich den deutschen Bauernhof verließ, ein paar Kilometer vor der tschechischen Grenze. Sie hat es so dahingesagt, als sie mich lieblos umarmte und mir dann zwei kurze Klapse auf den Rücken gab. Auf der anderen Seite von was? Des Atlantiks? Des Todes? Von Gut und Böse? Doch anstatt zu fragen, kletterte ich in den Kofferraum der Mercedes-Limousine. Jemand reichte mir eine Flasche Wasser und eine Kotztüte, falls ich sie brauchen sollte, dazu zwei kleine Pillen – ein Beruhigungsmittel und etwas gegen die Übelkeit –, die ich unter der Zunge auflösen sollte.

Ich fuhr eine sehr lange Zeit im Dunkeln dahin – zwei Stunden oder acht, ich wusste es nicht. Mein Geist wurde in der Enge des Kofferraums leer, war sich einzig seiner selbst bewusst und der unbequemen Lage des Körpers, mit dem er verbunden war. Ich fuhr über unebene und glatte Straßen, durch Städte und über Autobahnen. Ich übergab mich einmal in die Tüte und dann beinahe noch einmal, als der Gestank des Erbrochenen zu schlimm wurde. Am Ende musste ich so dringend pinkeln, dass ich fast ohnmächtig geworden wäre.

Als sich der Kofferraum endlich öffnete, befanden wir uns im schäbigen Hangar eines kleinen Flughafens. Die Luft stank nach Benzin, und an den Wänden stapelten sich Kisten und Ersatzteile. Ich kletterte auf den hinteren Sitz einer einmotorigen Propellermaschine, deren Kabine nicht größer war als die eines Kombis. Ein blasser Typ mit ängstlichem Blick, der sich eine Aktentasche an die Brust presste, stieg neben mir ein. «Sie hat mein Gesicht gesehen!», zischte er auf Französisch dem Mann zu, der sich als unser Pilot herausstellte.

Wir flogen in Richtung Osten zu einem anderen Flughafen mit polnischen Schildern, jedenfalls vermutete ich, dass die Sprache Polnisch war. Wir nahmen ein weiteres Flugzeug nach Süden, diesmal einen kleinen Jet mit praktischen blauen Vinylsitzen, zwischen denen sich Metallringe befanden. Ich starrte sie eine Weile an und versuchte herauszufinden, wozu sie gedacht waren. Als wir gestartet waren, wurde mir klar, dass man an ihnen perfekt Handschellen befestigen konnte. Eine hübsche Frau mit kurzen schwarzen Haaren lächelte uns an wie eine Flugbegleiterin, doch als ich versuchte, die Fensterblende hochzuschieben, packte sie meine Hand mit einem erstaunlich festen Griff.

«Die Fenster bleiben verdeckt», sagte sie.

«Bis wann?», fragte ich.

«Bis wir landen», sagte sie.

Als sie sich abwandte, sah ich eine Pistole in ihrem Rockbund.

Der Franzose schlief kurze Zeit später ein, und sein Kopf sank auf meine Schulter. Er schnarchte und murmelte im Schlaf etwas Unverständliches. Hin und wieder drückte er mit einem Schaudern die Aktentasche enger an seine Brust, als hätte er selbst im Schlaf Angst, sie zu verlieren.

Ohne einen äußeren Anhaltspunkt verlor ich erneut mein Zeitgefühl, genau wie im Kofferraum des Mercedes. Wir flogen vielleicht sechs Stunden lang, nahm ich an, jedenfalls lang genug, dass sich meine Angst in Langeweile und wieder in Angst verwandeln konnte. Gerade als mein Körper mir sagte, dass es nun Zeit sei, schlafen zu gehen, landeten wir. Der Franzose schrak beim Aufsetzen der Räder auf der Rollbahn hektisch auf, er keuchte und saugte den Speichel ein, der ihm beim Schlafen aus dem Mund gelaufen war. Doch er hatte sein Ziel noch nicht erreicht. Nur ich.

Als sich die Kabinentür öffnete, trat ich in die seltsame Kälte einer Wüste bei Nacht hinaus. Ich stieg die Gangway hinab und sah nur eine kleine Ansammlung von Hangars und unmarkierte Militärlastwagen, die sämtlich hellbraun lackiert waren. Eine Frau wartete neben einem Jeep auf mich. Ihre olivfarbene Haut spannte sich über ihre zarten Gesichtszüge, ihre schwarzen Haare waren kurzgeschoren. Sie trug eine grüne Armeeuniform mit keinerlei Abzeichen, noch nicht einmal einer Flagge.

«Hallo», sagte sie in akzentfreiem Englisch. «Wir freuen uns, Sie hier zu haben, Schülerin 312.»

 

Der Ort hatte keinen offiziellen Namen, weshalb ihn früher mal jemand auf den informellen Namen «Waisenlager» getauft hatte. Wir nannten ihn so, denn in gewisser Hinsicht waren wir jetzt Waisen. Es gab keine Mauern oder Wachtürme, nur einen Zaun von gerade mal zwei Meter Höhe. Dies hier war kein Gefängnis, wie die Ausbilder uns bald klarmachten; es war der sicherste Ort der Welt für uns. Und wer braucht schon eine Mauer und Wachtürme, wenn man meilenweit nur von Wüste umgeben ist?

Ein paar Minuten nach meiner Ankunft führte mich eine andere Frau in der gleichen unmarkierten Uniform vor etwa ein Dutzend ernst dreinblickender Schüler und Schülerinnen und stellte mich vor.

«Willkommen, 312», erwiderten sie alle in beängstigendem Gleichklang.

In ihren Gesichtern lag eine Härte, etwas, das von einem Trauma oder Traurigkeit herrührte. Es hatte ihre Mienen zu einer steinernen, beinahe engelsgleichen Schönheit erstarren lassen. Nichts konnte sie mehr überraschen oder verletzen. Die Hautfarben der Schüler rangierten von fast Schwarz bis Papierweiß, doch ihre Erfahrungen waren sich so ähnlich, dass sie mehr wie Geschwister schienen. Wir waren alle, aus Gründen, die nur Tel Aviv bekannt waren, irgendwie in Israels Orbit geraten. Darum unsere Anwesenheit hier.

Schüler 309, ein zierlicher arabischer Junge, der Englisch sprach wie ein britischer Graf, wurde abgestellt, um mich im Lager herumzuführen. Es gab nicht viel zu zeigen außer ein paar Metallgebäuden, herumstehende landwirtschaftliche Geräte und Felder hinter dem Zaun, wo künstliche Pflanzen sich an hölzernen Gitterspalieren emporrankten. Keine Ahnung, was für Pflanzen es sein sollten – vielleicht Weinranken, aber mitten in der Wüste? Danach half 309 mir dabei, Bettzeug, Hygieneartikel und meine Uniform zu holen: ein Anzug, der genauso aussah wie der von den Ausbildern, nur blau und nicht grün.

Zum Schluss landeten wir in den Baracken, wo er auf eine dünne Matratze auf dem oberen Bett eines Hochbetts klopfte. «Der Tag fängt um sechs Uhr an», sagte er. «Außer, wenn er noch früher anfängt.»

Ich sah ihn mit müdem Grinsen an. Er kapierte sofort, dass ich zu erschöpft war, um Rätselraten zu spielen.

«Manchmal gibt es um vier Uhr morgens einen Wüstenlauf», sagte er. «Manchmal fliegt auch eine Tränengasgranate durch die Tür.»

«Eine Tränengasgranate?»

«Damit uns der Adrenalinspiegel in die Höhe schießt», sagte er. «Das Koffein im Waisenlager.»

Am ersten Tag durfte ich mich noch ausruhen. Daran sollte ich mich allerdings lieber nicht gewöhnen, riet mir 309, «denn in den nächsten sechs Monaten wird sich das für dich aller Voraussicht nach nicht wiederholen». Aller Voraussicht nach. Zum ersten Mal hörte ich, wie jemand diesen Ausdruck tatsächlich verwendete.

Die Hitze in den Baracken war drückend. Wenn die anderen zurückkamen, würde es noch schlimmer werden, weil sich dann zu viele Körper auf zu engem Raum drängten. Ich war zu müde, um mich vor dem zu fürchten oder auch gespannt darauf zu sein, was mich hier noch erwartete. Als ich einschlief, hörte ich durch die Metallwände Ausbilder brüllen und hin und wieder die Sirene einer Fabrik.

Es gelang mir zu schlafen, bis die Schüler zurückkehrten, am späten Nachmittag, schätzte ich. Sie waren erschöpft und schmutzig und ihre Uniformen völlig verschwitzt. Keiner hatte noch die Energie zu reden, sie zogen sich einfach nur nackt aus und krochen in ihre Betten oder saßen erschöpft da. Diese Nacktheit, das begriff ich ziemlich schnell, war nur eine biologische Tatsache, die nichts anderem geschuldet war als der Wüstenhitze. Die Temperaturen waren einfach zu hoch und unsere Körper zu leer für so etwas wie Lust oder sexuelle Erregung.

Ich kletterte vom Hochbett herunter. Im unteren Bett lag eine Frau mit pergamentartiger Haut und roten Haaren, die nicht älter als zwanzig sein konnte. Sie hieß Nummer 303 und sprach ‹Drei› mit einem hartem, rollendem R aus. Dieses Aussehen und diese Aussprache kannte ich.

«Wy russkij?», fragte ich. Bist du Russin?

Sie sah mich mit kühlem Blick an. «Wie gesagt, ich bin 303.»

Hier gab es keine Namen und offenbar auch keine Nationalitäten.

 

Jeden Morgen hatten wir als Erstes Schusswaffentraining, und zwar bei einem blonden, blauäugigen Riesen, der uns in die Geheimnisse der gebräuchlichsten Pistolen und Sturmgewehre einführte. Tausende von Papierzielen später hatte ich Blasen an meinem Abzugsfinger und an der dünnen Haut zwischen Daumen und Hand. Wir übten das Zerlegen, Reinigen und Zusammenbauen der Waffen so oft, dass wir es am Ende mit verbundenen Augen und im Dunkeln beherrschten.

Nach den Schusswaffen wurden wir im Nahkampf trainiert, bei einer fröhlichen, mittelalten Frau, die so aussah, als würde sie in ihrer Freizeit Sammelbildchen einkleben und Porzellankatzen sammeln. Es war jedoch nicht ratsam, ihren Unmut auf sich zu ziehen. Als ein Junge, der seinem Akzent nach aus Westafrika stammen konnte, beim Training nicht fest genug zuschlug, verdrehte sie ihm den Arm auf dem Rücken, bis er schrie.

Diese Stunde endete immer mit der geheimnisvollen Fabriksirene. Sobald sie erklang, zogen sich alle Schüler und Ausbilder in den nächsten Unterschlupf zurück. Ein Traktor, der ein riesiges Stück Sperrholz an Ketten hinter sich herzog, fuhr über das Gelände und verwischte unsere Spuren. Am ersten Tag erfuhr ich, warum: Als wir in einem Schuppen warteten, deutete Schülerin 300, ein asiatisches Mädchen von etwa 18 Jahren, zum Himmel und sagte: «Satelliten.»

Das Sirenenpfeifen wiederholte sich regelmäßig, aber es gab auch Variationen: Einmal ertönte es insgesamt dreizehnmal an einem Tag. Ich fragte mich, woher die Ausbilder wissen konnten, dass Satelliten am Himmel waren. Die Bilder, die die Satelliten zurück nach Washington, Moskau oder Peking schickten, zeigten eine kleine Farm, die aus ein paar Gebäuden, etwas Getreideanbau und ein paar landwirtschaftlichen Geräten bestand. Nichts von Interesse. Und ganz sicher kein Sommercamp, bei dem statt Gitarrenklampfen ums Lagerfeuer Schießtraining an der AK-47 angesagt war.

Schießen und Nahkampf waren nur zwei der Fähigkeiten, die wir in unserer geheimen Ausbildung lernen mussten. Andere Ausbilder in anonymen grünen Uniformen lehrten uns klassische Spionagepraktiken, geheime Übergaben, tote Briefkästen, Überwachungserkennung – analoge Vorläufer der heutigen Hightech-Methoden, aber gerade deshalb, so erklärte man uns, noch viel nützlicher als früher. Sie brachten uns bei, wie man jedes Fahrzeug von Motorrollern bis zu riesenhaften Panzern kurzschließt und fährt. Wir lernten, wie man eine Straßensperre durchbricht und wie man ein Auto nur mit einem Ruck des Handgelenks und einem geschickten Tanz auf Brems- und Gaspedalen um 180 Grad herumreißt.

Das Training machte mir auf eine gewisse Art Spaß. Ich sah alles, was ich lernte, als Werkzeuge für meine Rache. Besonders, als wir zu den Messern kamen. An die kam man leicht heran, sagte die Ausbilderin, und selbst in den Händen von Anfängern waren Messer tödlich. Wir begannen mit den raffinierten, die speziell für den Nahkampf entwickelt worden waren. Dann kamen die billigen Gemüsemesser, die man überall auf der Welt kaufen kann. Wie sich herausstellte, war ich gut mit Messern, und der Ausbilderin gefiel meine Technik. Mein Stil hätte eine gewisse, in ihren Worten, «elegante Aggression».

Das passiert mit der Wut, wenn man länger mit ihr zusammenlebt – sie verwandelt sich in elegante Aggression. Die Hände zittern nicht mehr, die Haut prickelt nicht mehr. Die Wut lebt in deinen Adern, wie eine Droge, und macht dich stärker und schneller. Sie ist der Grund, warum du viel zielgerichteter in die Halsschlagader oder Oberschenkelvene, in die Leber oder Nieren stichst. Die Schusswaffen waren gut, und das Autofahren machte Spaß, aber das hier – diese zehn Zentimeter spitzer Stahl, wie eine Verlängerung meines Arms –, das war meine wahre Berufung.

Abends in den Baracken wurde kaum gesprochen, und es entwickelte sich fast keine Kameradschaft. Es ist schwer, Freundschaften zu knüpfen, wenn man nur eine Nummer ist und nicht sagen darf, woher man kommt. Nur 303 wurde zu so etwas wie einer Freundin für mich. Wir hatten beide Schlafprobleme, weil uns beide dunkle Erinnerungen bis hierher verfolgten. Oft schlichen wir uns nach Einbruch der Nacht in den Hof, um der Hitze zu entkommen. Unsere Freundschaft bestand aus leisen Unterhaltungen, und wir sprachen nur über die Gegenwart oder die Zukunft, niemals über die Vergangenheit.

«Wir sind in Israel, oder was meinst du?», sagte sie eines Abends.

Ich zuckte die Schultern. «Zu offensichtlich.»

«Irgendwo in Nordafrika?»

«Vielleicht.»

Sie lehnte sich zurück an die Barackenwand. «Angeblich hat sich mal jemand ein Radio besorgt. Er ist auf das Dach geklettert, um ein Signal zu kriegen und vielleicht rauszufinden, wo dieser Ort hier liegt.»

«Hat er was gehört?»

«Ja», sagte sie und schaute mich durch die Dunkelheit hinweg an. «Eine Stimme hat ihm gesagt, er soll das Radio ausschalten und vom Dach runterkommen.»

Wir lachten beide in unsere Armbeugen, bis uns die Tränen kamen. Es war einfach zu absurd, um nicht wahr zu sein.

 

Leute kamen und gingen. Schüler 309 verschwand eines Tages, und eine Woche später auch Schülerin 202. Keiner von uns wusste, wo sie hingingen. Neuankömmlinge tauchten zu den seltsamsten Zeiten auf. Schülerin 313 hielt ich für eine Japanerin, bis sie ihren Mund aufmachte und reinstes Chicago-Englisch herauskam; 314 war ein Latino-Junge, der innerhalb eines Tages zum Vorzeigeschüler der Ausbilderin für Nahkampf aufstieg.

Meine Zeit kam eines Nachmittags, als ich schon sechs Monate dort war. Während sich die anderen in die Baracken zurückzogen, wurde ich ins Büro der Lagerdirektorin gerufen, derselben Frau mit der olivfarbenen Haut und den feinen Gesichtszügen, die mich vom Flugplatz abgeholt hatte.

«Deinem Vater geht es gut, erfreulicherweise», sagte sie ohne auch nur den Anflug eines Gefühls. Sie saß hinter einem abgenutzten hölzernen Schreibtisch. «Und? Wie geht es dir?»

Es war eine seltsame Frage in dieser Umgebung, wo man uns beibrachte, wie man andere Menschen überlistet und täuscht, und wie man tötet. «Ich … Mir geht es auch gut», sagte ich. «Danke.»

«Unser Ziel hier war es, dir ein paar Survival Skills beizubringen», sagte sie. «Für ein neues Leben in einer neuen Welt mit einem neuen Namen. Hast du das Gefühl, dass wir dieses Ziel erreicht haben?»

Ich nickte. So hatten sie es vom ersten Tag an genannt, aber keiner von uns hatte es geglaubt. Survival Skills sind Dinge wie Feuermachen oder ein Konto eröffnen. Was man uns beigebracht hatte, war deutlich aggressiver: Wir lernten nicht, wie man sich verteidigte, sondern wie man angriff. Und es war mir nicht entgangen, dass ich dem Staat Israel nun etwas schuldig war und dass sie diese Schuld nicht vergessen würden.

«Ja», sagte ich, «Sie haben dieses Ziel erreicht.»

Sie reagierte gar nicht auf meine Antwort, sondern zog ein paar Papiere aus einer Aktenmappe. «Dein Spanisch», sagte sie. «Sprichst du immer noch fließend?»

«Tal vez», sagte ich.

Sie blinzelte mich über den Schreibtisch an.

Ich versuchte zu lächeln. «Vielleicht.»

Sie schob die Papiere zu mir herüber. «Montevideo, Uruguay», sagte sie. «Du heißt ab jetzt Judita Leandra Perels.»

4. Kapitel

Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr,

die beigefügten Dokumente enthalten die Einzelheiten von siebenundvierzig (47) Operationen, die von der Central Intelligence Agency der Vereinigten Staaten durchgeführt wurden. Sämtliche Operationen geschahen mit dem Wissen, der Unterstützung und/oder der Teilnahme der Mitglieder des Verteidigungsministeriums, der Exekutive und wichtigen Kongressabgeordneten. Ich beschreibe diese Ereignisse nach meiner persönlichen Erinnerung, da ich an allen Operationen mitgewirkt oder teilgenommen habe. Jeden Schrei eines Gefolterten, jede Leiche, die in einem anonymen Grab, im Meer oder irgendwo sonst entsorgt wurde, habe ich nach meiner Erinnerung wiedergegeben.

Nichts in diesen Dokumenten ist Spekulation oder Mutmaßung.

Was Sie hier lesen, ist ein Verbrechenskatalog. Diese Liste beinhaltet Folter an nachweislich unschuldigen Individuen sowie die Ermordung derselben. Diese Liste belegt Absprachen der CIA mit Diktatoren und Feinden der Vereinigten Staaten sowie Absprachen mit organisierten Verbrechersyndikaten, darunter die Zoric-Familie in Belgrad und Sarajevo, die Kladivo-Familie in Prag, das Solkov-Syndikat in Moskau, die Al-Alwadi-Schmugglerorganisation in Damaskus und mehrere andere. Diese Liste belegt die Teilnahme von CIA-Agenten an Waffen- und Drogenschmuggel sowie Menschenhandel, meist Frauen, oft auch Kinder, zum Zweck sexueller Ausbeutung. Dieser Liste belegt, wie sich Mitglieder der Spionage- und Verteidigungsabteilungen, Mitglieder der Exekutive und des Kongresses sowie anderer Interessen an diesen Aktionen bereicherten – sie werden alle namentlich genannt.

Vermutlich wird meine Tochter Gwendolyn Bloom Ihnen diese Dokumente überbringen. Es ist meine einzige Hoffnung, dass Sie sie mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln beschützen. Sie ist an diesen Geschehnissen unschuldig, jedoch davon berührt. Während ich diese Zeilen schreibe, gilt Gwendolyns Sicherheit meine größte Sorge. Wenn ich mich immer schon so um sie gesorgt hätte, wie ich es eigentlich hätte tun müssen, dann bräuchte ich heute diesen Brief nicht schreiben.

 

Vertrauensvoll, Ihr

William Bloom

Montevideo, Uruguay

So beginnen die ersten Seiten seines Geständnisses, geschrieben in seiner spinnenhaften, formellen Schreibschrift. Er nennt sie die «Schrift für das Jüngste Gericht». Sie füllt sieben Schulhefte – zwei blaue, drei rosa und zwei mit Hello-Kitty-Aufdruck. Jede Seite ist vorn und hinten mit Tinte beschrieben, in sorgfältig gewählten Worten, praktisch an keiner Stelle verbessert, als hätte er etwas abgeschrieben, das bereits voll ausformuliert in seinem Kopf existierte.

Die CIA ermordete eine französische Spionin als einen Gefallen für einen korrupten Oberst beim pakistanischen Geheimdienst. Ein Treffen in einer saudischen Hotelsuite zwischen amerikanischen Geschäftsleuten, einem US-Senator und einem saudischen Prinzen, bei dem hochentwickelte Waffentechnologie gegen Bargeld getauscht wurde. CIA-Agenten, die von Viktor Zoric in München zu einem sogenannten «Buffet» von Kinderprostituierten eingeladen wurden …

Und so geht es Seite um Seite weiter, ein buntes Schulheft nach dem anderen, bis er mit jedem abgerechnet hat, den er je kannte, auch mit sich selbst. Ich habe die Seiten nur aus Versehen gelesen, in den verschiedenen Internet-Cafés, in denen ich sie einscanne und seine Videos hochlade, auf denen er das gesamte Geständnis laut vorliest. Stundenlang sitzt mein Dad da im schwachen Licht und spricht leise, damit die Nachbarn ihn nicht hören. Hin und wieder richtet er die Kamera neu aus oder das Smartphone, das ich auf seinen Wunsch hin in einem Pfandhaus gekauft habe. Sonst gibt es keine Unterbrechungen

Ich sehe mir die Videos nicht an, weil ich sonst unmöglich länger so tun könnte, als wäre das «Ich» in den Heften nicht mein Vater. Er, William Bloom, der Verfasser dieses Geständnisses, kommt natürlich besser weg als die anderen, er spielt nie eine aktive Rolle bei irgendeiner Folterung und ist nur für drei oder vier oder vielleicht fünf Morde verantwortlich, je nachdem, wo man die Linie zwischen aktiver Teilnahme und reiner Beobachtung zieht. Zu keinem Zeitpunkt hat er ein Geschenk oder Bestechungsgelder angenommen.

Ich liebe ihn. Immer noch. Trotzdem. Vielleicht, weil er mein Vater ist und sich das niemals ändern wird. Oder vielleicht, weil er das Einzige ist, das ich noch lieben kann. Aber es ist anders geworden. Seit wir hergekommen sind, seit ich seine Schrift für den Jüngsten Tag gelesen habe, hat sich die Liebe verändert.

 

Carga completa, sagt der Bildschirm. Upload fertiggestellt.

Zusammen mit diesem, hoffentlich letzten Teil von Dads Geständnis sind es vierzehn Videos insgesamt – zwei für jedes der sieben Hefte, aus denen er vorliest.

Mein Dad hat eine Liste von Redakteuren bei Zeitungen, Zeitschriften, Blogs und Nachrichtensendern zusammengestellt, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit für diese Story interessieren werden. Ein paar sind gute Journalisten vom alten Schlag, für die Integrität und die Aufdeckung der Wahrheit über die Mächtigen über allem steht. Andere sind einfach Skandalreporter, die sich um jede Sensation reißen, die Schlagzeilen bringt. Die Videos liegen in mehreren unbenutzten Cloud-Speichern auf der ganzen Welt verteilt. Mit diesen Ordnern verlinkte E-Mails an die Redakteure sind bereits geschrieben und warten in den Entwurfsordnern von unterschiedlichen Mail-Accounts darauf, abgesendet zu werden. In dem Fall, dass mein Dad gekidnappt oder getötet wird, muss ich mich nur in einen einzigen Account einloggen und auf Senden drücken.

Ich lade das Video und die eingescannten Heftseiten noch einmal in den nächstbesten Cloud-Speicher hoch. Die Welt anzuprangern, ist ein mühsames Geschäft. Ich muss immer den TOR-Browser verwenden, wenn ich im Netz unterwegs bin. Er schickt die Daten durch Server auf der ganzen Welt, bevor sie schließlich ihr Ziel erreichen. Schon normalerweise ist das ein langsamer Vorgang, aber hier in Uruguay dauert es ewig.

Als es mir zu nervig wird, dem Fortschrittsbalken beim Kriechen zuzusehen, nehme ich wieder mein Buch zur Hand. Es ist nicht einfach, sich hier zu konzentrieren – das Piu-Piu-Piu der Computerspiele und das Stöhnen aus den Pornos ist unerbittlich. Und das Buch, das ich mir aus der Bücherei ausgeliehen habe, hilft auch nicht gerade: Die Rolle der CIA in Zentral- und Südamerika. Eine kritische Analyse. Ich habe den Schutzumschlag abgenommen, damit neugierige Blicke nur das nackte Buch sehen.

Das Thema ist interessant, aber das Lesen fühlt sich an, als müsste man sich einen Weg durch einen Dschungel schlagen. Ein dichter, Moskito-verseuchter Text von einem Autor, der kein Interesse daran hat, schnell auf den Punkt zu kommen.

Aber zumindest ist es geistige Arbeit, keine körperliche, kein Geschleppe von mit Steaks beladenen Tellern für Touristen, die nach meinem Arsch grabschen. Ich habe Freude daran, Verbindungen zwischen den verschiedenen Theoretikern zu ziehen, und ich denke gerne darüber nach, ob die Französische Revolution von 1789, die Russische Revolution von 1917 und die heutige politische Lage etwas miteinander zu tun haben, um dann festzustellen, ja, das tun sie.

Für mich sind diese Bücher mehr als abstrakte Ideen. Sie zeigen mir meinen Platz in der Welt. Es gibt Gründe dafür, dass die Welt so aussieht und sich so benimmt, wie sie es tut. Meine Geschichte – die einer Neunzehnjährigen, die feststeckt zwischen Grenzen und Ideologien – ist noch nicht mal originell. Das ist alles früher auch schon passiert, und es wird immer wieder geschehen.

Carga completa.

Ich lege das Buch hin, logge mich bei einem anderen Cloud-Service ein und starte den Upload erneut. Es ist der letzte, glücklicherweise, und für uruguayische TOR-Verhältnisse geht es sogar ziemlich schnell. Ich gönne mir eine Belohnung und öffne einen zweiten Tab.

In diesem Monat ist es Argentinien – bloß eine einzige Grenze von mir entfernt. Irgendwo auf dem Land, Fotos von argentinischen Cowboys und kleinen Dörfern. Im letzten Monat war es China, wundervolle Aufnahmen von Shanghai und Peking. Pärchen auf der Straße, Kinder mit Ballons in der Hand, Skateboarder im Sprung.

Ich bin keine Künstlerin und keine Fotografin, aber ich kann erkennen, wenn etwas gut ist, und Terrances Arbeiten sind gut. Vergesst eine Sekunde die Farben und das Licht und seht euch den Aufbau der Fotos an, ihre Komposition. Seht ihr das kleine Mädchen dort und ihre Großmutter da drüben? Seht ihr, wie die Harke in den Händen der Großmutter in einer perfekten Diagonale steht, die die Form des Fahrrads im Hintergrund wiederholt? Terrance schaut genau hin, deshalb sind die Fotos so gut. Es liegt an der Art, wie er die Welt sieht.

TerraFirma nennt er sich auf Tumblr. Das ist alles, was von Terrance Mutai IV übriggeblieben ist. Von dem wundervollen, brillanten, zum Umfallen gutaussehenden Highschool-Jungen, der immer so wirkte, als käme er gerade aus einem Ralph-Lauren-Fotoshooting. Kein Facebook-Profil mehr. Keine Twitter-Meldungen. Nur noch ein Tumblr-Account mit Fotos für seine gerade mal 143 Follower.