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Zusammen mit Ocke und Christa lebt Oma Imke in einer Senioren-WG. Dabei ist Ocke viel jünger und Christa gar keine richtige Seniorin, sondern knackige 57. Sie hat einen Liebhaber, was Ocke heimlich das Herz bricht. Imke dagegen hat die Erinnerung an ihren verstorbenen Geliebten Johannes und außerdem leider ein bisschen Alzheimer. Einmal will sie sogar Johannes auf Amrum besuchen, während die Flut schon aufläuft. Das beschert den Verwandten Sorgen, ihr selbst aber neue Freunde und der ganzen WG auf Umwegen so viel Spaß, dass es schon wieder zum Problem wird … «Es ist diese Leichtigkeit, die Mommsens Romane so beliebt und lesenswert macht; er erzählt wie der Freund von nebenan.» (Nordwest-Zeitung)
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Seitenzahl: 242
Veröffentlichungsjahr: 2012
Janne Mommsen
Oma dreht auf
Roman
Rowohlt Digitalbuch
Als Imke jünger war, hatte sie immer befürchtet, Altsein fühle sich an wie eine permanente Magenverstimmung oder ein fürchterlicher Kater. Stattdessen lag sie nun mit ihren siebenundsiebzig Jahren unter der Bettdecke und kam sich vor wie ein Mädchen im Hochsommer. Vorhin hatte sie ein heißes Bad genommen, sich danach von Kopf bis Fuß mit Bodylotion eingecremt und dann den verwegenen roten Seidenpyjama angezogen. Durch das gekippte Fenster kam ein kühler Hauch vom nahen Meer herein, der eine zarte Liaison mit dem Himbeerduft der frischen Bettwäsche einging. Gardinen besaß sie nicht, der volle Mond streichelte ihr sanft übers Gesicht und warf sein Licht auf den weißen Elefantenschädel auf dem Bild ihres Lieblingsmalers Brée, das über ihrem Bett hing. Sie streckte sich einmal genüsslich aus und streichelte mit den Zehen über den weichen Bettbezug.
Dieses wohlige Gefühl ließ sich noch steigern, was ihr kleines Geheimnis war. Imke grinste glücklich ins Mondlicht. Auf dem kleinen Nachttisch wartete der obligatorische duplo-Riegel auf sie; die Verpackung hatte sie schon vorm Zubettgehen abgestreift. Kaum eine Verhaltensregel aus der Kindheit wurde im Erwachsenenalter noch konsequent befolgt, außer dieser: Keine Schokolade nach dem Zähneputzen!
Das galt jedoch nicht für sie.
Was mit dem Inhalt des Wasserglases neben dem duplo zusammenhing, in dem es übermütig spritzte und sprudelte. Ganz unten auf dem Grund lagerte ihr Gebiss. Natürlich war es für Imke ein Schock gewesen, als ihr erklärt wurde, dass sie ihre Zähne überlebt hatte. Ein Gebiss hatte sie zunächst strikt abgelehnt, aber was hätte sie tun sollen? Nur noch Brei essen? Monatelang Torturen erleiden, bei denen ihr Implantate in den Kiefer getrieben wurden? Zum Glück, musste sie im Nachhinein sagen, hatte sie so heftige Zahnschmerzen bekommen, dass die Entscheidung beschleunigt wurde: Alles war besser als das, also Augen zu und durch!
Imkes Körper hatte unter der Decke die optimale Wohlfühltemperatur erreicht. Nun schnellte ihr linker Arm hervor, die Finger griffen routiniert nach dem Schokoriegel, dann wanderten die ersten Zentimeter Schokolade in ihren Mund. Ihre Lippen freuten sich einen wunderbaren Moment lang über die zarte Riffelung auf der Oberfläche, bevor die Schokolade langsam schmolz. 49,5 Prozent Anteile Vollmilchschokolade explodierten an ihrem Gaumen, und damit war das Fest noch lange nicht zu Ende. Darüber legte sich nämlich eine zweite Welle aus Vanille, besten Haselnüssen und Kakao. Beim Lutschen summte sie Lieder aus ihrer Kindheit – Üb immer Treu und Redlichkeit, Die Gedanken sind frei, Wenn die bunten Fahnen wehen –, ihre Bauchdecke vibrierte von innen, und ihr wurde richtig heiß.
Plötzlich schreckte sie zusammen: Ein Mann stand in ihrem Zimmer. Sein mächtiger Schatten war im Mondlicht deutlich zu erkennen. Vermutlich ein Einbrecher. Hatte er sie bemerkt? Es war viel zu dunkel, um zu sehen, wohin er schaute. Sie wollte schreien, aber die Stimme blieb ihr im Hals stecken.
«Imke?», flüsterte eine raue Bassstimme.
Entwarnung. Das war Ocke, ihr Mitbewohner. Hätte er nicht anklopfen können? Was wollte er um diese Zeit von ihr? Schnell ließ sie das duplo unter der Decke verschwinden, das sollte ihr Geheimnis bleiben. Noch wichtiger war es jedoch, das Glas zu verstecken; außer ihrem Zahnarzt hatte bisher niemand das Gebiss zu sehen bekommen. Sie hörte das Wasser neben sich sprudeln, tastete nach dem Glas, doch leider stieß sie es dabei zu Boden. Anscheinend war es nicht kaputtgegangen, aber wo lag bloß das Gebiss?
«Hast du das gehört?», flüsterte Ocke.
Ihre Verzweiflung verwandelte sich in Ärger.
«Das Glas!», beschwerte sie sich laut, als wäre Ocke dafür verantwortlich. Sie bekam den S-Laut einigermaßen authentisch hin, was ohne Zähne eine Spitzenleistung war.
«Komm mal her», raunte Ocke ihr heiser zu.
So nervös kannte sie den ehemaligen Seemann gar nicht, der in vier Jahrzehnten alle sieben Weltmeere befahren hatte. Was war bloß mit ihm los?
Widerwillig schälte sich Imke aus der warmen Decke und berührte aus Versehen mit dem linken Fuß ihre kalten, nassen Zähne auf dem Teppich. Sie hätte schreien können vor Ekel, riss sich aber zusammen. Dann eilte sie zur Zimmertür, die Ocke einen Spalt geöffnet hielt. Er schwitzte stark und roch nach hochprozentigem Alkohol.
«Hörst du das?», fragte er noch einmal.
Imke lauschte auf den Flur, ihr Gehör war immer noch gut. Tatsächlich, aus dem Zimmer ihrer gemeinsamen Mitbewohnerin Christa vernahm sie ein Stöhnen, genauer gesagt stöhnte dort ein Mann, und zwar ziemlich lustvoll. Dann war es wieder still.
«Christa hat Herrenbesuch», stellte sie ungerührt fest.
Deswegen holte sie Ocke aus dem Bett?
«Der Typ hört sich einiges jünger an», raunte er. Vor Aufregung war aus seinem Flüstern normale Zimmerlautstärke geworden.
Imke verstand das Problem nicht: «Es scheint ihr doch gut zu gehen.»
Christa war die Jüngste in ihrer Dreier-WG, sie wurde meist auf Anfang fünfzig geschätzt. Ihr wirkliches Alter hielt sie seit Jahren streng geheim. Imke kannte es, hätte es aber nicht einmal unter Todesandrohung verraten.
«Ich will verdammt noch mal wissen, wer unter unserem Dach pennt», zischte Ocke. «Das kann sonst wer sein!»
Imke war empört. Sie waren hier nicht in einem Heim, sondern in einer Wohngemeinschaft, und jeder konnte tun und lassen, was er wollte. Andererseits musste sie zugeben, dass ihr ein Fremder in der eigenen Wohnung auch ein bisschen unheimlich war.
«Lass uns nachschauen», schlug Ocke vor.
«Bist du verrückt?»
«Nur mal ’n büschen luschern.»
Ocke schloss die Tür zum Flur und huschte durch Imkes Zimmer zur Terrasse. Während sie betete, dass er im Dunkeln nicht auf ihre Zähne trat, folgte sie ihm hinaus.
Draußen herrschten nicht gerade Pyjamatemperaturen. In der Nacht war die Luft noch erheblich kühler als am Tag.
Vor einigen Jahrhunderten hatte Föhr noch zum Festland gehört, bis eine riesige Sturmflut weite Teile des Landes auseinandergerissen hatte. Föhr war als Inselvorposten weit draußen zurückgeblieben. Hier traf der Wind, der direkt aus Island kam, nach dem langen Weg übers Meer das erste Mal auf festen Boden. Die See gab niemals Ruhe, sie versuchte unablässig, den Fremdkörper in seinem Terrain zu vereinnahmen. Allein durch den mächtigen Deich hinter ihrem Haus fühlte sich Imke gut beschützt, ohne ihn wäre der Boden unter ihr längst eine Sandbank, das war ihr, wie allen Insulanern, immer bewusst.
Die feuchte Kälte kroch ihr unangenehm an den Beinen hoch. Vorsichtig schaute sie um die Hausecke. Christas Zimmer lag zur Straße hin. Ihr Fenster war weit geöffnet, die Deckenlampe warf ein helles Lichttrapez auf die Büsche des winzigen Vorgartens. Plötzlich kletterte ein Mann aus dem Fenster, den man im Dunkeln nicht erkennen konnte, ein großer schwarzer Hund sprang hinterher.
Wieso nahm der nicht die Haustür?
Mann und Hund verschwanden in einem schwarzen Geländewagen, der direkt hinter Ockes altem Mercedes-Taxi parkte.
«NF-SP23», nuschelte Ocke, als sei er Polizeifahnder und spreche in ein Funkgerät. Als der Unbekannte Motor und Scheinwerfer anschaltete, wurden Ocke und Imke so hell angeleuchtet wie Schauspieler auf einer Theaterbühne. Leider war es ein grottenschlechtes Stück, das hier gespielt wurde, instinktiv hielten sie sich die Hände vor die Augen. Zum Glück drehte das Licht schnell ab und verschwand auf der Dorfstraße.
«Mist», fluchte Ocke, «der hat uns gesehen.»
«Mir ist kalt», Imke huschte, barfuß, wie sie war, über das feuchte Gras zurück. Ihre Zähne hätten jetzt wohl laut geklappert, wenn sie noch welche gehabt hätte. Dann trat sie auch noch auf einen spitzen Stein und quiekte vor Schmerz laut auf.
Bloß zurück ins Bett!
Imke rüttelte an der Terrassentür. Doch die war vom Wind zugeschlagen worden und klemmte blöderweise seit einigen Tagen, sodass sie sich nicht von außen öffnen ließ.
«Auch das noch», stöhnte Ocke hinter ihr.
Wie um sie zu ärgern, frischte der Wind einmal kurz und bedrohlich auf, woraufhin Imkes Blase und Nieren heftig zu protestieren begannen.
«Ich klingele vorne», entschied sie.
«Wie sieht das denn aus?»
«Bevor ich mir was weghole …»
Also gingen sie wieder ums Haus, und Imke klingelte an der Tür. Sie kam sich vor wie ein unangemeldeter Vertreter, der einem Fremden etwas verkaufen wollte, dabei stand ihr eigener Name doch auf dem Klingelschild.
Es dauerte eine Weile, bis Christa öffnete. Sie sah verschwitzt aus, und da ihr weißer Bademantel einen winzigen Spalt geöffnet war, ahnte man, dass sie darunter nackt war. Christa starrte mit ihren klaren blauen Augen auf ihre beiden Mitbewohner.
«Wo kommt ihr denn her?»
Ocke sah Imke an, die wusste aber auch nichts zu sagen.
«Wir waren am Meer», murmelte Ocke schließlich und legte den Arm um Imkes Schultern.
«Im Pyjama, wie romantisch», lächelte Christa entzückt. «Ich hab euch gar nicht weggehen gehört.»
«Wir waren ganz leise, weil wir dich nicht wecken wollten», log Ocke, was Imke albern fand. Christa musste klar sein, dass sie ihren Gast wegfahren gesehen hatten, was sollte diese Geheimnistuerei? Christa überging die Bemerkung und wandte sich neugierig an Imke.
«Was hast du da für einen braunen Fleck auf dem Pyjama?», fragte sie.
Imke fiel ein, dass sie ihr duplo hastig unter der Decke versteckt hatte, als Ocke plötzlich im Raum gestanden hatte. Dort war es anscheinend ziemlich schnell geschmolzen.
Als sie wieder in ihrem Zimmer war, fand sie die Überreste des Schokoriegels auf dem frisch bezogenen Laken. Sie legte ihn auf das Nachtschränkchen und huschte unter die Decke, die in der Zwischenzeit ziemlich kühl geworden war. Bibbernd wartete sie, bis ihr Körper warm wurde. Sie war hellwach und blieb es den Großteil der Nacht.
Nachdem Imkes Wohnung am Sandwall vor einem Jahr beinahe abgebrannt wäre, weil sie den Herd angelassen hatte, hatte Ocke ihr selbst vorgeschlagen, bei ihm einzuziehen. Er fand das selbstverständlich, denn es war klar, dass seine gute alte Freundin nicht mehr allein wohnen konnte, und außerdem hatte er genug Platz. Christa kam mehr oder weniger spontan mit. Sie war Imkes beste Freundin und nach dem Vorfall ganz offiziell zu ihrer Pflegerin ernannt worden. Sie bekam es hin, Imke bei Dingen zu helfen, die ihr schwerfielen, und ihr ansonsten alle Freiheiten zu lassen. Ocke unterstützte sie gerne dabei. Zugegeben, er hatte dabei auch ein bisschen aufs Geld geschielt – allein vier Zimmer zu bewohnen, war auf Dauer einfach zu teuer geworden.
Doch seit gestern Abend war für Ocke in der WG nichts mehr so wie vorher. Die halbe Nacht tigerte er in seinem Zimmer, das so eingerichtet war wie die Kapitänskajüte auf einem Handelsschiff, auf und ab. In seiner Zeit als Seemann hatte er es vom Maschinenraum aus nicht bis zum Schiffsführer gebracht und deshalb an Bord in schmucklosen Kajüten wohnen müssen. Aber das war alles ein paar Jahre her, er war nun Taxifahrer und wollte auf nichts mehr verzichten. Also hingen an der mit Teak ausgeschlagenen Wand ein Poster des Segelschulschiffs Gorch Fock und eine Wetterstation aus Messing. Ein Sekretär und zwei riesige Ledersessel standen im Raum, darüber hinaus gab es einen riesigen Flachbildschirm mit Soundsystem. Am liebsten sah er sich DVDs an, die er auf seinen Fahrten aufgenommen hatte: das Meer in allen Farben, vom Atlantik bis zur Südsee. Dazu hörte er seine Lieblingsmusik, das Meeresrauschen. Jahrzehntelang hatte er in engen Kojen geschlafen, deswegen hatte er sich in seinem Zimmer einen Bettschrank mit Seitenwänden und tiefer Decke gebaut, nur ohne Türen. Auf die Enge an Bord konnte er nicht ganz verzichten, so gelang ihm das Einschlafen immer noch am besten. Am liebsten wäre ihm gewesen, das Haus hätte auch geschaukelt, aber man konnte nicht alles haben.
Ocke war außer sich. Nach einem Jahr in der WG hatte sich so einiges bei ihm angestaut, was dringend raus musste. Seine Mitbewohnerinnen konnten einfach keine Ordnung halten, außerdem hatte er es satt, ständig übergangen zu werden. Dass Christa nachts Herrenbesuch empfing, ohne ihn zu informieren, setzte dem Ganzen die Krone auf. An Bord eines Schiffes wurde gemacht, was der Kapitän befahl, basta.
Kurz entschlossen riss er das große Poster mit der Gorch Fock von der Wand. Der Viermaster hatte Föhr im Sommer 1985 für ein paar Tage besucht, was Tausende von Schaulustigen angezogen hatte. Das Poster hatte ihm der damalige Kapitän des Segelschulschiffes höchstpersönlich geschenkt, er war gebürtiger Föhrer und ein guter Kumpel von Ocke. Aber das war längst Geschichte.
Ocke legte das Poster mit der Rückseite nach oben auf den Laminatboden. Wenn er seine Thesen schwarz auf weiß hier drauf malte, hatte das etwas Unausweichliches. Also schrieb er mit Edding in großen Blockbuchstaben seine Beschwerden zur aktuellen Lage auf. Anschließend las er sich den Text noch einmal durch und grunzte zufrieden: Ja, so war es richtig.
So leise wie möglich schlich er in den Flur, schleifte Christas Staffelei – sie war eine leidenschaftliche Malerin – vom Gemeinschaftszimmer in die Küche und befestigte das Plakat daran. So würden Christa und Imke es morgen noch vor dem Frühstück sehen.
Die handgemalten Thesen erlebten den Übergang von der Nacht zum Morgengrauen, lagen zwischenzeitlich im neutralen Licht grauer Wolken, um ab acht Uhr direkt von der Sonne beschienen zu werden.
Was gar nicht geht:
Nach jedem Duschen bleiben Schamhaare im Abfluss!
Versucht ihr, Pilze in gebrauchten Kaffeebechern zu züchten, die ihr auf dem Dachboden lagert?
Holzbrettchen bekommen Risse, wenn sie nass werden. Sie haben nichts in der Spülmaschine zu suchen!
Meine Zeichenstifte verleihe ich gerne – wenn man mich fragt!
Obwohl er so spät ins Bett gegangen war, wachte Ocke am nächsten Morgen viel früher als sonst in seiner Koje auf. Missmutig sah er in den sonnig blauen Himmel, am weißen Fahnenmast im Garten kräuselte sich der Wimpel mit den friesischen Farben Gelb-Rot-Blau im auffrischenden Wind. Schlechtwetter hätte ihm besser gepasst. Das alte Backsteinhaus aus dem 19. Jahrhundert wurde beidseitig von riesigen Büschen geschützt, vorne wuchs eine hohe Hecke, und auf der Rückseite schaute man auf eine Weide, hinter der sich in sattem Grün die flache Marsch erstreckte. Im Haus befanden sich vier Zimmer, Küche und Abstellräume. Das Reetdach war leider schon in den zwanziger Jahren durch feste Ziegel ersetzt worden, die weißen Sprossenfenster waren aber immer noch aus altem Holz.
Ocke wusste, dass das gemeinsame Frühstück heute anders verlaufen würde als sonst. Draußen auf dem Flur vernahm er bereits Christas Schritte. Nicht nur, dass er sie von Imkes unterscheiden konnte, er hörte auch, ob sie Strümpfe trug oder barfuß lief, und an der Art, wie sie auftrat, spürte er, ob es ihr gut ging oder nur mäßig. Heute war ihre Laune offensichtlich prächtig, was mit Sicherheit dem Herrenbesuch der letzten Nacht zuzuschreiben war. Aber wenn sie erst das Plakat erblickte, würde ihre Laune schnell auf Grund laufen.
Sein Mund wurde trocken.
Gleich würde Christa an seiner Tür klopfen und ihn zur Rede stellen. Bevor das geschah, sollte er sich lieber sturmsicher machen. Also raus aus der Koje und ab zur Tür. Behutsam drückte er die Klinke runter und linste auf den schattigen Flur.
Alles frei.
In Rekordgeschwindigkeit huschte er ins gegenüberliegende Bad und schloss ab. Das hatte ihn fast so außer Atem gebracht wie ein Viertelmarathon. Er holte den Trockenrasierer aus dem Wandschrank und begann behutsam, seinen graumelierten Bart zu stutzen. Anschließend ließ er sich unter der Dusche abwechselnd heißes und kaltes Wasser über Kopf und Nacken laufen und trocknete sich sorgfältig ab. Im Ganzkörperspiegel, den Christa in die WG mitgebracht hatte, sah sein Körper gut aus. Seine Haut war gebräunt, er war noch schlank, wenn auch nicht gertenschlank, sein Haar voll und grau. Für siebenundsechzig war er noch gut beieinander, fand er, einer, der sich in Form hielt und dennoch nicht auf Genuss verzichtete.
Zurück in seinem Zimmer, entschied er sich bewusst gegen seine Berufskleidung, Jeans und blaues Fischerhemd mit rotem Tuch um den Hals. Als Taxifahrer entsprach er sonst gerne dem Bild, das Touristen von einem Einheimischen hatten. Aber heute kramte er aus dem Schrank das graue Designerhemd und die helle Hose hervor. Beides hatte er vor einem halben Jahr in Flensburg gekauft, aber noch nie getragen.
Der Ganzkörperspiegel signalisierte ihm, dass alles so saß, wie es sollte.
Plötzlich fiel ihm siedend heiß ein, dass er einen kapitalen Fehler begangen hatte. Schon beim Einzug hatte er seine Mitbewohnerinnen darum gebeten, nach jedem Duschen die Kacheln mit einem Lederlappen trocken zu wischen und die Haare aus dem Abfluss zu entfernen. Ordnung an Bord war überlebenswichtig! Die beiden hatten sich sofort einverstanden erklärt, hielten sich aber nur jedes dritte Mal daran.
Nun hatte er es selbst vergessen. Schnell schlüpfte er ins Bad zurück und begann mit dem Lederlappen die Kacheln zu wienern. Blöderweise landete dabei von der Dusche ein Tropfen auf seinem grauen Designerhemd und vergrößerte sich sofort auf das Dreifache. Ocke war das egal, denn was er gerade entdeckte, ließ seine Halsschlagader heftig anschwellen: Im Abfluss befanden sich schwarze Haare!
Christa war blond, Imke blond gefärbt, er selbst grau.
Mit anderen Worten: Diese Haare mussten von Christas Lover stammen, oder, schlimmer noch, von dessen Köter. Ekliger ging es nicht.
Ocke sah sich um.
Auf einem Badezimmerschränkchen lag eine durchsichtige Plastiktasche mit ein paar Cremetuben. Er schüttete die Tuben ins Waschbecken, stülpte die kleine Tasche nach außen, fasste hinein und nahm damit die Haare aus dem Abfluss wie Hundebesitzer den Haufen ihrer Tiere. Triumphierend schloss er die Tasche mit dem Zippverschluss. Das war wichtiges Beweismaterial, das er nicht zurückhalten würde, wenn er gleich die Terrasse enterte.
An der Tür nach draußen hielt Ocke kurz inne. Christa und Imke hatten sich offenbar gerade an den Frühstückstisch gesetzt.
«Moin, Christa, gut geschlafen?», erkundigte sich Imke mit brüchiger Stimme.
«So gut wie lange nicht mehr», gurrte Christa durch ihre Müdigkeit hindurch. «Und selbst?»
«Ging so.»
«Kein Wunder, wenn du so spät noch unterwegs bist.»
«Du siehst auch nicht gerade ausgeschlafen aus.»
Bevor die beiden auf Details der letzten Nacht zu sprechen kamen, gab Ocke sich einen Ruck und schoss durch die Tür.
«Moin!»
Im hellen Sonnenlicht musste er sich erst einmal orientieren. Der Tisch war mit allem gedeckt, was er gerne mochte: Brötchen, Marmelade, Käse, Wurst, Ei und Kaffee. Imke lackierte sich gerade die Zehennägel neongrün, was für ihn am Frühstückstisch eigentlich gar nicht ging. Anstatt einzuschreiten, saß Christa im Bademantel daneben und biss ungerührt in ein Krabbenbrötchen. Er musste sich eingestehen, dass sie mit ihren strahlend blauen Augen und den hohen Wangenknochen auch ungeschminkt wunderbar aussah. Ihre schulterlangen Haare wurden vom warmen Wind in alle Richtungen gewirbelt.
«Ocke!», riefen Christa und Imke wie aus einem Munde und rissen ihn aus seinen Gedanken.
«Hast du noch was vor?», erkundigte sich Christa begeistert.
«Wieso?», grummelte er, ohne seine Mitbewohnerinnen anzuschauen.
«Na, du hast dich so aufgebrezelt.»
«Nicht gut?», fragte er mürrisch.
«Doch, klasse!», bestätigte Imke.
Auch Christa strahlte: «Steht dir hervorragend!»
Ocke nickte geschmeichelt, doch dann fiel ihm auf, dass die beiden gar keinen Kommentar zu seinem Plakat abgegeben hatten. Imke und Christa konnten die Staffelei in der Küche wohl kaum übersehen haben. Wie auch immer, er war bestens vorbereitet, in seiner Gesäßtasche steckte die Tüte mit den Haaren, die er im Duschabfluss gesichert hatte.
«Was ist denn nun mit morgen, Imke?», erkundigte sich Christa. «Wir müssen uns dringend noch ein paar Gedanken machen.» Für Imkes achtundsiebzigsten Geburtstag am nächsten Tag waren über hundert Gäste eingeladen worden.
«Am liebsten wäre mir eine altmodische Siebziger-Jahre-Party», seufzte Imke, während sie ihren rechten großen Zeh ausmalte. «Das war so eine schöne Zeit!»
Ocke wusste, worauf Imke anspielte: Damals hatte sie, verheiratet und Mutter von vier Kindern, Johannes von der Nachbarinsel Amrum kennengelernt, der für Jahrzehnte ihr heimlicher Geliebter wurde und vor zwei Jahren verstorben war. Ocke war einer der wenigen, die sie eingeweiht hatte.
«Wir haben Attika geraucht», schwelgte Imke. «Die gab es in einer grünen Packung.»
Christa nickte. «Erinnert ihr euch noch an Ata-Scheuerpulver? Heute würde man das Zeugs wahrscheinlich als chemischen Kampfstoff einstufen.»
«Gerochen hat es damals schon so», sagte Ocke.
Christa schaute Imke begeistert an. «Wir sollten Glitzeranzüge und Plateauschuhe tragen!»
«Ich komme als Einheimischer», grummelte Ocke. Da musste er sich wenigstens nicht verkleiden, er war nicht gerade ein begeisterter Anhänger des Karnevals.
Imke fuchtelte mit ihrem Brötchen in der Hand herum. «Heute feiern die Leute so, als ob sie alle schwer krank sind, mit Gemüsedips und Tofu-Frikadellen. Ich möchte, dass wir mal wieder eine rauchen, und es soll Unmengen von Cholesterin geben. Außerdem soll schwer getrunken werden – so wie früher, als noch richtig gefeiert wurde.»
«Und was hast du noch für Wünsche?», erkundigte sich Ocke. Immerhin mussten er und Christa das Ganze vorbereiten.
«Ich mache eine Weißwein-Bowle.»
Christa verschluckte sich vor Lachen fast an ihrem Brötchen: «Eine Bowle? Das Wort habe ich Jahrzehnte nicht gehört.»
Imke schob Ocke ein Glas mit eingeweckten Erdbeeren hin. «Kannst du das mal aufmachen?»
Ocke drückte die Metallbügel nach unten, dann sprang der Deckel auf. Eine schwere Duftwolke aus süßem Alkohol waberte in seine Nase.
«Probier mal», forderte Imke ihn auf.
Er nahm einen kleinen Löffel und kostete eine Spitze. Imke und Christa warteten gespannt auf sein Urteil.
Das Zeug schmeckte genau so, wie es roch.
«Ich bin ja viel rumgekommen in meinem Leben», sagte er, «aber so einen heftigen Rumtopf habe ich noch nie getrunken. Mannomann, ist der stark!»
«Der wird ja noch mit Weißwein verdünnt», beruhigte ihn Imke.
«Na, dann …», lachte Christa.
«Ich habe noch einige Gläser davon im Keller, die müssen dringend weg.»
«Wir sollten das Gemeinschaftszimmer ausräumen», sagte Christa. «Irgendwo müssen wir ja tanzen, oder was meinst du, Imke?»
«Absolut! Das soll auf keinen Fall eine Alte-Leute-Party werden, immerhin werde ich erst achtundsiebzig. Ocke, was ist mit Musik? Baust du deine Anlage auf?» Sie war offenbar fertig mit Frühstücken und hatte sich bereits erhoben.
«Ayaye, Sir», sagte er. «Aber für den Garten muss Arne seine Boxen mitbringen.»
Das hatte Ocke mit Imkes ältestem Sohn schon besprochen, Arne würde singen, und er würde ihn an der Gitarre begleiten.
«Ich komme gleich wieder.» Imke erhob sich und verschwand im Haus.
Sobald Imke weg war, rückte Christa ganz nahe an Ocke heran und nahm seine Hand. Und obwohl Ocke eigentlich sauer auf sie sein sollte, merkte er, dass er schwach wurde.
«Ich muss dir etwas beichten», flüsterte sie geknickt. «Du hast es wahrscheinlich schon mitbekommen, oder?»
Ocke schluckte, jetzt kam es also. Er wurde ganz nervös. Aber nein, er würde sich nicht bestechen lassen. Vorsorglich fasste er sich an die Hosentasche, um die Tüte mit den Haaren blitzschnell herausziehen zu können.
«Ja?»
«Ich bin ja nun mal Imkes Pflegerin, ich hätte einfach besser aufpassen müssen.»
Christa war ganz offiziell zuständig für alles, was Imke nicht mehr konnte. An manchen Tagen war es das Anziehen, aber das kam selten vor, es ging eher um Dinge wie Herdplatte ausschalten und Zimmer aufräumen.
«Was ist denn passiert?»
Christa rückte noch näher.
«Imke hat in deinem Zimmer das Foto mit der Gorch Fock abgerissen und hinten etwas draufgekritzelt. Sie hat das Bild auf die Staffelei gestellt und in der Haushaltskammer versteckt.»
Ocke machte der Hautkontakt mit Christas Hand ganz unruhig, er winkte lässig ab: «Wenn’s nur das ist …»
«Ab jetzt werde ich sie besser im Blick behalten, da kannst du dich drauf verlassen.»
Einen Moment überlegte er noch, ob er das Poster holen und ihr die Rückseite präsentieren sollte. Aber irgendwie hatte er den richtigen Zeitpunkt verpasst. Christa hatte ihn wieder mal völlig aus dem Konzept gebracht. Imkes Geburtstagsfeier, so viel stand fest, würde eine Tortur für ihn werden – und zwar nicht wegen des Cholesterins …
«Also, meine Lieben», sagte Christa, als Imke wieder da war, «wir kriegen morgen eine Menge Besuch, und es sieht überall aus wie Sau. Wir brauchen eine Putzaktion, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat!»
Imke schaute sie missmutig an, Hausarbeit war noch nie ihre Sache gewesen. Als Mutter von vier Kindern hatte sie sich diesbezüglich immer irgendwie durchgemogelt, aber nie Ehrgeiz entwickelt. Die einzige Ausnahme war das Kochen, was schon als Jugendliche ihr Hobby gewesen war. Christa und Ocke erwarteten jetzt sicherlich keine Höchstleistung von ihr, sie sollte lediglich die Pflanzen im Gemeinschaftszimmer abstauben, aber selbst das war ihr zu viel. Morgen würden um die hundert Gäste kommen und ohnehin alles wieder einsauen, dafür wollte sie nicht ihre Kräfte verschwenden. Also erklärte sie Christa und Ocke, dass sie noch ganz dringend etwas frische Luft auf dem Deich schnuppern müsse, um fit zu werden. Die beiden ahnten wohl, dass sie sich drücken wollte, sagten aber nichts.
Der Wind hatte etwas nachgelassen, die Sicht war klar. Langsam schlenderte Imke in Richtung Deich, den viele Menschen zum natürlichen Landschaftsbild der Insel Föhr zählten, obwohl er ja ein künstlich aufgeschüttetes Bollwerk war. Schon nach den ersten Schritten war sie, trotz ihres bedächtigen Tempos, aus der Puste. Der Deich baute sich vor ihr auf wie ein alpines Bergmassiv – lächerlich! Das war mal ganz anders gewesen, erinnerte sie sich. 1972, als es in Deutschland die sogenannte Trimm-Dich-Aktion gegeben hatte, die die Leute dazu bringen sollte, mehr Sport zu treiben, war auch im Kurpark ein Trimm-Dich-Pfad installiert worden. Imke hatte als Erste den Parcours mit Klimmzügen und Bauchmuskelübungen in einem dunkelblauen Polyacryl-Trainingsanzug absolviert. Der Wyker Bote hatte sogar ein Foto von ihr auf Seite eins gebracht. Seitdem betete sie zu Gott, dass er das Zeitungsarchiv durch Feuer oder Sturmflut vernichten möge, denn ihre Frisur und die weißen Schweißbänder an Stirn und Handgelenken machten sie im Nachhinein zu einer Karikatur. Leider hatte der Herrgott sie bisher nicht erhört.
Imke schaute auf einen Ohrenkneifer vor ihren Füßen, der blitzschnell zwischen den Grashalmen davonhuschte; sie beneidete ihn für seine Mühelosigkeit. Auf keinen Fall würde sie aufgeben. «En betj gongt immer», murmelte sie ihr friesisches Mantra vor sich hin, «ein bisschen was geht immer». Das gab ihr das letzte Quäntchen Kraft, das ihr gefehlt hatte.
Als sie endlich die Deichkrone erreichte, kam sie sich vor wie auf dem Siegertreppchen bei der Olympiade. Ihr Herz hüpfte, als stünde sie hier das erste Mal. Sie schaute in den riesigen Himmel über dem Watt, von gegenüber leuchtete ihr die sonnenverwöhnte, sandige Südspitze von Sylt entgegen. Imke schloss die Augen und ließ ihr Gesicht vom Wind massieren. Er hatte heute genau die Stärke, die ihn zärtlicher sein ließ als jede menschliche Hand. Sanft strich er ihr über die Stirn, füllte mit leichter Kühle ihre Augenhöhlen und berührte fast unmerklich ihre Wangen. Dann drehte er und nahm sich vorsichtig ihren Nacken vor.
Sie ging den vertrauten Weg zum Watt hinunter. Der Meeresboden unter ihr war weich, aber nicht so nachgiebig wie sonst. Erst nach einigen Metern bemerkte sie, woran das lag: Sie trug noch ihre Ledersandalen. Auch wenn sie vorhatte, nur ein paar Schritte zu gehen, wollte Imke den warmen Schlick unter ihren Füßen spüren. Also zog sie die Schuhe aus und legte sie auf eine kleine Muschelbank, auf dem Rückweg würde sie sie wieder einsammeln. Ihre grün lackierten Fußnägel leuchteten auf dem Wattboden wie Steuerbordbojen.
Jetzt hielt sie direkt auf Sylt zu. Die Nachbarinsel sah verlockend nahe aus, aber sie wusste, man konnte sie zu Fuß nicht erreichen. Der direkte Weg wurde durch einen tiefen Priel unterbrochen, der auch bei Ebbe nicht trocken lief. Es war einer der Gründe dafür, warum die Beziehung der Föhrer zu Sylt traditionell nicht so eng war wie die zu Amrum, was sich auch in der Sprache zeigte: Das Amrumer und das Föhrer Friesisch waren ähnlich, während das Sylter Friesisch für Föhrer nahezu unverständlich war. Plötzlich wusste Imke nicht mehr, ob sie die Geschichte mit dem Priel wirklich glauben sollte. Die Berliner Mauer war ja auch gefallen, obwohl es keiner für möglich gehalten hatte. Das Wattenmeer veränderte sich jeden Tag, vielleicht gab es den Priel überhaupt nicht mehr.
Also auf nach Sylt!
Im Gegensatz zu dem warmen Schlick war der Wind recht kühl. In ihrem weißen T-Shirt mit den bunten Pailletten war die Temperatur gerade so auszuhalten. Ein Gutes hatte die Brise auf jeden Fall: Sie kam von hinten und hielt sie frisch, sodass Imke sich viel stärker fühlte als vorhin auf dem Deich. Ihr fiel ein, dass sie gar kein Geld dabei hatte, falls sie sich auf Sylt ein Fischbrötchen kaufen wollte. Aber das würde sich finden.
Unbeirrt hielt sie auf den Leuchtturm von Hörnum zu, den sie seit frühster Kindheit bei allen Wetterlagen und Jahreszeiten kannte. Die Wolken am Himmel spiegelten sich in den unzähligen Pfützen, wodurch Oben und Unten zu einem großen Ganzen verschwammen.
Nachdem sie etwa eine halbe Stunde durchs Watt gewandert war, ging ihr plötzlich die Luft aus. Ein Schwächeanfall, noch schlimmer als vorhin auf dem Deich. Sie wusste, was das bedeutete: Ein paar Seemeilen weiter lauerten Millionen Tonnen grimmigen Meerwassers, die in ungefähr zwei Stunden alles ersticken würden, was nicht Meerestier war. Das war ihr sicherer Tod!