Oma ihr klein Häuschen - Janne Mommsen - E-Book

Oma ihr klein Häuschen E-Book

Janne Mommsen

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Beschreibung

Das Glück wohnt hinterm Deich. Seit einem Jahr ist Sönke Single, und jetzt hat er auch noch seinen Job verloren. Da kommt ihm das Verwandtentreffen bei seiner geliebten Oma auf Föhr gerade recht. Doch Oma ist verschwunden, und der Veganer-Onkel wütet gegen seinen Bruder, der schon mal Hund gegessen hat. Wie soll man sich da über das gemeinsame Erbe, Omas schönes reetgedecktes Haus direkt hinterm Deich, einigen? Die Lösung aller Streitigkeiten findet Sönke mitten im Wattenmeer – zusammen mit seiner Cousine Maria, die er schon immer toll fand. Denn wo ein Wille ist, ist auch ein Strandweg. «Einfach richtig nette Sommerlektüre!» (NDR) «Es ist diese Leichtigkeit, die Mommsens Romane so beliebt und lesenswert macht; er erzählt wie der Freund von nebenan. Leichtigkeit bedeutet bei ihm nicht Leichtgewichtigkeit, sondern leichtes Skizzieren durchaus ungewöhnlicher Verhältnisse.» (Nordwest-Zeitung) «Es ist Mommsen gelungen, eine unterhaltsame Familiengeschichte zu schreiben, ohne die Ungeraden des Lebens auszulassen. Es wimmelt nur so von Konflikten, Erbstreitigkeiten mit perfidem Täuschungsmanöver, verkapptem Alkoholismus, Ehebruch und einer 40-jährigen heimliche Liebe. Und dennoch ist das Buch amüsant.» (Kieler Nachrichten) «Mit sehr viel Liebe zum Detail skizziert Mommsen einen äußerst chaotischen und liebenswerten Inselclan.» (Wir Insulaner)

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Seitenzahl: 274

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Janne Mommsen

Oma ihr klein Häuschen

Roman

Über dieses Buch

Das Glück wohnt hinterm Deich.

 

Seit einem Jahr ist Sönke Single, und jetzt hat er auch noch seinen Job verloren. Da kommt ihm das Verwandtentreffen bei seiner geliebten Oma auf Föhr gerade recht. Doch Oma ist verschwunden, und der Veganer-Onkel wütet gegen seinen Bruder, der schon mal Hund gegessen hat. Wie soll man sich da über das gemeinsame Erbe, Omas schönes reetgedecktes Haus direkt hinterm Deich, einigen? Die Lösung aller Streitigkeiten findet Sönke mitten im Wattenmeer – zusammen mit seiner Cousine Maria, die er schon immer toll fand. Denn wo ein Wille ist, ist auch ein Strandweg.

 

«Einfach richtig nette Sommerlektüre!» (NDR)

 

«Es ist diese Leichtigkeit, die Mommsens Romane so beliebt und lesenswert macht; er erzählt wie der Freund von nebenan. Leichtigkeit bedeutet bei ihm nicht Leichtgewichtigkeit, sondern leichtes Skizzieren durchaus ungewöhnlicher Verhältnisse.» (Nordwest-Zeitung)

 

«Es ist Mommsen gelungen, eine unterhaltsame Familiengeschichte zu schreiben, ohne die Ungeraden des Lebens auszulassen. Es wimmelt nur so von Konflikten, Erbstreitigkeiten mit perfidem Täuschungsmanöver, verkapptem Alkoholismus, Ehebruch und einer 4 heimliche Liebe. Und dennoch ist das Buch amüsant.» (Kieler Nachrichten)

 

«Mit sehr viel Liebe zum Detail skizziert Mommsen einen äußerst chaotischen und liebenswerten Inselclan.» (Wir Insulaner)

Vita

Janne Mommsen hat in seinem früheren Leben als Krankenpfleger, Werftarbeiter und Traumschiffpianist gearbeitet. Inzwischen schreibt er überwiegend Drehbücher und Theaterstücke. Mommsen hat in Nordfriesland gewohnt und kehrt immer wieder dorthin zurück, um sich der Urkraft der Gezeiten auszusetzen.

In Erinnerung an Thea Schipper

1.Kellermaden auf Samt

Es ist ein ganz normaler Mittwochmorgen. Ich stehe an einen kalten grauen Stahlcontainer gelehnt und schaue auf das riesige Lehmfeld vor mir. Feiner Nieselregen füllt beständig die kleinen Pfützen, die mir vorkommen wie Karibikstrände. Das liegt wohl an der fröhlichen kubanischen Band, die gerade hinter mir im Container einen Salsa spielt. Ich sollte hinzufügen: original kubanisch, also nicht nachgemacht aus Rumänien oder dem Baltikum, wie so oft. Ich arbeite bei der Agentur Beucker Surprise als Eventmanager, bin also so etwas wie Bühnenbildner, Bauleiter und Oberkellner in einer Person. Meine Leute und ich haben die ganze Nacht durchgeschuftet, um den grauen Bürocontainer am Rand der Stadt in einen Palast aus 1001 Nacht zu verwandeln. Es ist etwa neun Uhr, und ich habe meine erste ruhige Minute.

Es war das übliche Standardarrangement zum Pauschalpreis: Wir haben die Wände herausgenommen, Schreibtische und Computer verschwinden lassen, den ganzen Raum mit schweren Samtdecken in Purpur ausgelegt, Scheinwerfer und dezente Leuchten installiert, eine kleine Bühne und eine Bar aufgebaut. Als die ersten Angestellten heute Morgen zur Arbeit kamen, legte sich ein herrlich verwirrter Ausdruck auf ihre Gesichter: Wo gestern ihre Büros waren, stehen nun Himmelbetten und Baldachine voller Kissen und Decken, die zum Herumlungern einladen. Es gibt Hummer, Kaviar und Champagner, in einer Ecke spielt die kubanische Live-Band.

Einige fürchteten im ersten Moment, sie seien ihren Job los und der Container bereits anderweitig vermietet. Aber nein, liebe Leute, alles ist prächtig! Die Chefetage der Baufirma findet, dass es einen großen Sieg zu feiern gibt, und will euch mit einer Überraschungsparty belohnen: Ihr Makler habt vor kurzem das letzte der hundertzwei Reihenhäuser auf dem Feld hinter dem Bürocontainer verkauft, jetzt werden Provisionen ausgeschüttet, dass es nur so knallt. Neues Auto gefällig? Großbildfernseher? Anzahlung für die Eigentumswohnung? Herzlichen Glückwunsch, alles ist möglich!

Langsam wird mein Smokingjackett nass, also spanne ich meinen kleinen Regenschirm auf. Meine schwarzen Lackschuhe versinken leicht im Matsch, jetzt merke ich doch die durchgearbeitete Nacht. Die Party ist bereits ein Selbstgänger, da muss ich nichts mehr tun. Der Abteilungsleiter tanzt im Hawaiihemd mit der spröden Dame aus der Buchhaltung, während andere sich zum Frühstück einen Cocktail mixen lassen. Wie aus dem Nichts steht eine Frau neben mir, die in ihrer ausgewaschenen schwarzen Jeans und der weißen, ungebügelten Bluse so gar nicht zu den schnieken Menschen im teuren Anzug und makellosen Kostüm passen mag. Vielleicht kommt sie auch aus der Nachbarschaft, wer weiß? Sie wirkt etwas jünger als ich, höchstens dreißig, hat einen Seitenscheitel und hält ihr glattes rötliches Haar mit einer silbernen Spange vom Gesicht fern. Ihre linke Augenbraue wird von einer kleinen Narbe unterbrochen, die aussieht wie ein Komma. Was sie da wohl gestreift hat?

«Darf ich mit unter den Schirm?»

Eine samtweiche sonore Stimme.

«Klar.»

Als sie sich dicht neben mich stellt, spüre ich eine angenehme Körperwärme, dezentes Amber-Parfüm erreicht meine Nase. Für diesen Duft gebe ich ihr jeden Kredit.

«Entschuldige, du hast da etwas Konfetti im Haar …»

Sie zeigt es bei sich am Kopf, ich suche es, wie üblich, auf der falschen Seite.

«Darf ich?», fragt sie.

Ich beuge ihr meinen Kopf entgegen, sie zieht sanft und behutsam Reste einer Papierschlange aus meinem braunen Haar. Ihre Fingerkuppen berühren kurz meine Kopfhaut.

«Ganz schön dichte Wolle.»

«Ein Erbstück meiner Mutter.»

Es ist kaum zu glauben: Da rennt man dreimal die Woche ins Fitnessstudio, um eine Frau kennenzulernen, und das Einzige, was dabei herauskommt, ist eine gute Kondition. Und ausgerechnet hier, fernab von jeder angesagten Szenebar, am Rand eines Vororts von Hamburg, passiert es von selbst, morgens um neun. Erst denke ich, sie will nur kurz eine rauchen, aber auch nach der Zigarette bleibt sie einfach so neben mir stehen, schaut mit mir auf das lehmbraune Feld und summt leise die Melodie des kubanischen Jazztrios mit. Ich stimme mit ein. Drinnen grölen ein paar Männerstimmen der leichten, fröhlichen Musik entgegen: «Einer geht noch, einer hat noch Platz …» Prompt erfassen mich ihre neugierigen, hellgrünen Katzenaugen. Als seien wir gerade nebeneinander aufgewacht, so nah fühlt sie sich an.

«Was für Idioten», murmelt sie.

Irgendjemand hat mir vorhin erzählt, dass die Käufer der Reihenhäuser überwiegend Leute sind, die sich eine eigene Immobilie gar nicht leisten können. Die Verkäufer haben ihnen die Finanzierung so lange schöngerechnet, bis sie alles geglaubt und unterschrieben haben. Klar, dass die Provisionen als Erstes gezahlt werden, damit die Makler als Einzige sicher aus dem Deal herauskommen. Dieselben Halsabschneider werden in einem Jahr die ersten Zwangsversteigerungen einleiten und erneut kassieren.

«Ich frage mich gerade, was für Tiere die geworden wären, wenn sie keine zwei Beine hätten», überlege ich.

Sie schenkt mir ein offenes Lächeln, inklusive Grübchen im Mundwinkel.

«Schwer zu sagen, was meinst du?»

«Kellermaden.»

Beim Lachen zeigt sie ihre wunderbar gleichmäßigen Zähne. «Diese ekligen Dinger, die Gott als Vogelfutter erschaffen hat?»

Ich bestätige das mit einem seriösen Expertenblick: «Kein Rückgrat, dünner Panzer.»

Eine einzelne, unglaublich widerliche Männerlache dringt zu uns durch.

«Dafür sind sie aber sehr laut.»

«Die Kellermaden mit den ekligen Stimmen haben die Biologen lange Zeit übersehen. Übrigens hält sich diese Unterart selbst für die Krone der Schöpfung.»

«Na ja, sie sind eben sehr erfolgreich.»

«Aber nur im Komposthaufen. Außerhalb gehen sie sofort ein.»

Meine Sätze suchen sich selbst ihren Weg, ich brauche an keiner Stelle zu überlegen. Ihr scheint es genauso zu gehen. Sie sendet kleine Zeichen, wirft mir vorsichtig-abtastende Blicke zu – allein dass sie so nahe neben mir steht, ist außergewöhnlich bei Erstkontakt. Aber man kann sich nie hundertprozentig sicher sein, langsam wird mir etwas flau im Magen.

«Du magst keine Makler, was?», grinst sie.

«Als zahlende Kellermaden? Immer!»

Sie lächelt mich an. «Ich muss wieder rein. Hast du eine Karte?»

Im Bruchteil einer Sekunde ziehe ich meine Visitenkarte aus der Brusttasche meines Smokings: «Bitte.»

Sie lächelt erneut und schaut mir tief in die Augen. «Danke.»

Und geht hinein. Ihr Blick war unmissverständlich, sie wird mich anrufen. Ich muss mich jetzt richtig zusammenreißen, um ihr nicht hüpfend zu folgen. Morgen wäre mein Einjähriges als Single gewesen. Und einen Tag vorher begegne ich einer Frau, die mir so vertraut ist, als würde ich sie schon ewig kennen.

Ein Wunder.

Und was für eine Frau! Dieses strahlende Lächeln, diese … Mein Handy klingelt. Roland Beucker ist dran, mein Chef. Schnell unterdrücke ich meine Euphorie und senke künstlich die Stimme: «Moin, Roland, was gibt’s?»

«Sag du’s mir, Sönke.»

Er klingt gar nicht gut, neun Uhr morgens ist einfach nicht seine Zeit. Ich lasse meinen Gefühlen jetzt freien Lauf und singe fast: «Hier läuft alles bestens.»

Plötzlich brüllt es durch den Hörer: «Hast du sie noch alle? Wir haben gerade eine unserer wichtigsten Kundinnen verloren, weil du so ein Idiot bist!»

«Häh?»

«Eben rief mich Katharina Gehling an, das ist die Chefin der Baufirma. Du hättest ihre Makler als Maden bezeichnet.»

Das kann nicht wahr sein.

«Die war die Chefin?»

«Ja!», schreit mein Chef und fügt etwas leiser hinzu: «Du bist gefeuert – fristlos!»

«Nun warte mal …», stottere ich.

Aber Roland will nicht warten: «Sie hat gesagt, dass sie sich so eine Beleidigung als gut zahlende Kundin nicht bieten lassen muss. Recht hat sie.»

«Aber warum …?»

«Warum sie immer in diesen blöden Jeans herumläuft? Das ist ihr Markenzeichen, wie doof bist du eigentlich?»

Klar, einer sympathischen, offenen Frau im Sozialarbeiter-Look vertrauen unbedarfte Kunden mehr als einer schicken Tussi mit Perlenkette.

«Du bist verbrannt», erklärt mein Chef, «Gehling kennt all unsere wichtigen Partner in Hamburg, und dich will sie nicht wiedersehen. Tut mir leid, aber du hast es selbst vermasselt.»

Die Bodennässe ist inzwischen durch meine Ledersohlen gekrochen und hat die Strümpfe erreicht. Bis eben habe ich mich für einen geschmeidigen, buffettauglichen Vollprofi gehalten. Jetzt habe ich nur noch nasse Füße und rote Ohren.

2.Mutterschiff

Zu Hause räume ich erst einmal wie ein Irrer meine Wohnung auf. Die Bücher haben auf dem Kühlschrank wirklich nichts verloren, sondern gehören zurück ins Bücherregal im Wohnzimmer. An der Garderobe hängen viel zu viele Jacken, die Hälfte davon wandert in den Schrank im Schlafzimmer. Ich werfe die Waschmaschine an, Weißwäsche bei 90 Grad, danach wienere ich den Ganzkörperspiegel im Bad, bis er glänzt wie neu. Ich betrachte mich, suche mein Gesicht nach Spuren ab, als könnte meine Verzweiflung als große Narbe an der Stirn erscheinen. Aber es ist alles so wie immer: ein Meter fünfundachtzig, langes braunes Deckhaar, an den Schläfen abgestuft, dunkelgrüne Augen, eine markante, lange Nase, gepflegte Zähne. Den Smoking trage ich immer noch, nur die Fliege habe ich bereits abgelegt.

Und jetzt?

Besaufen? Fernsehgucken? Hoffen, dass ich mit meiner Geschichte in irgendeiner Vormittags-Talkshow lande? Zu allem Überfluss kommt jetzt auch noch die Sonne raus. Bald werden im Straßencafé unten im Haus lauter fröhliche Menschen hocken, ihre Stimmen bis in meine Wohnung dringen. Besser, ich mache die Fenster zu.

Dabei ist doch in meinem bisherigen Leben immer alles gut gelaufen: Schon mit Mitte zwanzig hatte ich das wunderbare Gefühl, am Ort meiner Bestimmung angelangt zu sein. Nach Schule und Zivildienst habe ich lustlos ein paar Semester BWL studiert und nebenbei viel gejobbt, vor allem in der Gastronomie. Mit dem Geld bin ich nach Südafrika gereist, dann nach Bolivien, Peru, Chile, Indien und Vietnam. Als sich alle anderen noch in der Ausbildung befanden, schmiss ich mein Studium und begann bei Beucker Surprise. Es war der perfekte Job für mich, weil ich einfach gern mit Menschen zu tun habe. Ich unterhalte mich genauso gerne mit dem Hausmeister wie mit dem Parteivorsitzenden.

Der Wagen mit dem Essen steckt im Stau?

Der berühmte Künstler hat von heute auf morgen abgesagt?

Je schlimmer es kommt, desto mehr laufe ich zu Höchstform auf. Erst Chaos bringt mich auf optimale Betriebstemperatur.

Ich war am richtigen Ort, zehn Jahre lang – bis heute. Roland Beucker muss mich noch nicht einmal offiziell feuern, weil ich freiberuflich für ihn gearbeitet habe. Aus diesem Grund werde ich auch keine Arbeitslosenunterstützung bekommen. Das Geld auf meinem Konto wird höchstens vier oder fünf Monate reichen, ab da wird es rapide bergab gehen. Die Sozialbehörden werden verlangen, dass ich mir irgendein Loch in einem miesen Stadtteil nehme, am besten im schattigen, dunklen Souterrain. Was habe ich dem schon entgegenzusetzen? Ein abgebrochenes Studium, zehnjährige Berufserfahrung als «Eventmanager» – eine Phantasiebezeichnung, die großspurig klingen soll, aber eigentlich nichts aussagt.

Ich muss mir nichts vormachen, meine Lebensbilanz ist erbärmlich: Seit einem Jahr bin ich Single, und beruflich stehe ich mit fünfunddreißig schlechter da als die meisten Schulabgänger. Wenn ich wenigstens eine Krankheit oder ein traumatisches Erlebnis als Rechtfertigung anführen könnte, eine schlimme Kindheit vielleicht – aber das fällt leider alles aus.

Es ist schlicht und einfach eigene Dusseligkeit.

Die ist zwar menschlich, macht mich aber extrem unattraktiv und lässt, nebenbei gesagt, meine Chancen bei Frauen weit unter null sinken.

Das Telefon klingelt.

Roland Beucker?

Hat er es sich anders überlegt?

Wenn ja, würde ich sofort runter ins Café gehen und mir einen antrinken. Wahrscheinlich fand er es doch zu hart, mich nach all den Jahren fristlos rauszuwerfen. Mann, wenn das wahr wäre, hätte er mir einen mörderischen Schreck eingejagt, aber das würde ich ihm sofort verzeihen.

Das Display zeigt, es ist nicht Beucker.

Es ist meine Mutter.

Geeske Naumann, nicht jetzt, bitte!

Nichts gegen meine Mutter, wir haben ein gutes Verhältnis – wenngleich ich mit meinem Vater schon immer etwas besser konnte –, aber sie hat leider die Tendenz, sich ungeniert in mein Leben einzumischen, wogegen ich im Laufe der Jahre hohe Deiche gebaut habe. An einigen Stellen zusätzlich mit Stacheldraht, zur eigenen Sicherheit.

«Moin, Mama.»

«Wie geht’s?»

«Ist noch früh, der Tag kann noch einiges bringen», säusele ich mit fröhlicher Stimme. Wenn ich eines kann, ist es, mich zusammenreißen.

«Ich wollte dich nur an Omas Sechsundsiebzigsten erinnern.»

«Habe ich nicht vergessen, das Geschenk bringe ich nachher zur Post.»

«Das ist doch nie bis morgen da, Sönke!» Wenn sie meinen Namen so vorwurfsvoll betont, ist höchste Gefahr im Verzug.

«Egal, an ihrem Geburtstag hat sie sowieso genug um die Ohren.»

«Bring es mir vorbei, ich kann es im Wagen mitnehmen, wenn ich nachher zu ihr fahre.»

Ich soll vierzehn U-Bahn-Stationen plus Bus bis nach Norderstedt fahren, nur um das Paket bei Mama abzugeben, und dann den ganzen Weg wieder zurückfahren? An einem Tag wie heute? – Niemals!

«Lass mal, für Oma passt das auch einen Tag später», wehre ich ab.

«Was ist los, Sönke?»

«Wieso? Was soll sein?»

Neben den üblichen sieben Sinnen besitzt meine Mutter auch noch ein eingebautes Röntgengerät, einen Kernspin und einen Stimmenanalysator, und all das funktioniert auch per Telefon. Mit anderen Worten: Man kann ihr nichts vormachen.

«Ich habe gefragt, was los ist, Junge.»

Und sie lässt nie locker.

«Ich habe heute meinen Job geschmissen.»

Das ist zwar leicht geschönt, aber im Ergebnis dasselbe. Wahrscheinlich kündigt sie gleich an, dass sie vorbeikommt, um mit mir über eine Umschulung zu sprechen, die mich für die Kommunalverwaltung in Norderstedt qualifiziert. Dort arbeitet nämlich mein Vater. Oder sie wird mir vorschlagen, Optiker zu werden, wie sie. Für beide Berufe bin ich komplett ungeeignet, was sie beständig ignoriert.

Doch sie überrascht mich: «Dann brauchst du erst einmal Abstand.»

Meine Mutter hat plötzlich so etwas wie Stressmanagement drauf? Sonst höre ich in solchen Situationen doch immer: «Stell dich nicht so an, wir hatten es viel schwieriger damals.»

«Ja, dringend», bestätige ich leicht verwirrt.

«Ich habe eine Idee. Du fährst zu Oma, und ich bleibe hier.»

Ah, daher weht der Wind.

Sie will sich drücken.

Mama hat nicht gerade das beste Verhältnis zu ihrer Mutter, aus welchen Gründen auch immer. Aber wenn ich’s mir genau überlege, ist ihr Vorschlag gar nicht so schlecht, denn meine Oma wohnt auf einer Insel mitten im Meer.

«Okay.»

Jetzt wirkt sie etwas überrascht, das höre ich durchs Telefon. Vermutlich hatte sie sich auf eine längere Diskussion eingestellt. Pragmatisch, wie sie ist, geht sie sofort zu den organisatorischen Dingen über. «Die Feier findet morgen früh um acht Uhr am Südstrand statt, da wo wir immer feiern, am Leuchtturm.»

«So früh?»

«Du kennst doch meine Mutter. Wohnen kannst du ja in Oma ihr klein Häuschen. Darüber soll morgen sowieso gesprochen werden.»

«Wieso?» Gibt es ein Problem mit Omas Haus?

«Genau genommen hat mein Vater es uns allen vermacht, und jetzt muss endlich entschieden werden, was damit geschieht.» Omas Mann, mein Großvater, ist vor fünf Jahren gestorben. Warum kommt das Haus erst jetzt zur Sprache?

«Wem ‹uns›?», forsche ich nach.

«Cord, Arne, Regina, Oma und mir.» Cord, Arne und Regina sind ihre Geschwister. «Du vertrittst mich ganz offiziell und stimmst einfach mit Oma, dann wird es keine Probleme geben. Den Schlüssel schicke ich dir mit dem Taxi in deine Wohnung, ich muss gleich zur Arbeit.»

Fünfzehn Kilometer mit dem Taxi? So großzügig zeigt sich meine sparsame Mutter selten. Ein Zeichen dafür, wie erleichtert sie ist, nicht auf Omas Geburtstag zu müssen. Meine Mutter hat in einer öffentlichen Podiumsdiskussion mal gefordert, den Küstenschutz aus Steuermitteln einzustellen und die Nordfriesischen Inseln den Naturgewalten zu überlassen, so sehr nervt sie ihre Sippe.

«In Ordnung.»

«Hast du noch Geld für Zug und Fähre?»

«Mama! Was denkst du denn?»

«Und wenn du wieder da bist, reden wir über deine berufliche Zukunft. Da finden wir was.»

Genau dieses Wir fürchte ich am meisten. Ich sehe schon ihr beleidigtes Gesicht, wenn ich ihre gutgemeinten Vorschläge sanft, aber bestimmt ablehnen muss.

Bloß weg!

3.Oma ihr klein Häuschen

Die Sonne ist gerade untergegangen, als ich in Dagebüll mit meinem schwarzen Hartschalenkoffer auf die letzte Fähre sprinte. Die Fahnen der Wyker Dampfschiff-Reederei knattern im Wind wie startende Hubschrauber, die Luft ist salzig und riecht nach schwerer, aufgewühlter See, auf den Wellenspitzen hüpfen weiße Schaumkronen. Den Smoking und das weiße Hemd trage ich immer noch, ich mochte mich noch nicht umziehen. Meine Abendkleidung wirkt natürlich reichlich dicke auf einer Urlauberfähre, aber das ist mir egal. Als die weiße MS Nordfriesland ablegt, leuchten die Lichter der Föhrer Hauptstadt auf der gegenüberliegenden Seite wie eine Verheißung. Dort ist ein anderer Kontinent.

Ich gehe aufs Achterdeck, obwohl es empfindlich kühl wird, und lasse das Festland hinter mir wie eine ferne Insel. Das erste Mal an diesem verkorksten Tag atme ich auf. In mir breitet sich plötzlich eine Mischung aus gespannter Erwartung und Optimismus aus. Wo auch immer dieses Gefühl herkommt, es tut gut.

Wir passieren eine Sandbank, auf der sich eine Gruppe dunkel gekleideter Gestalten räkelt. Was ist das? Ich schaue genauer hin und erkenne ein paar Seehunde mit großen dunklen Augen, die das letzte Licht des Tages genießen. Dass es die außerhalb von Zoos noch gibt, hatte ich komplett vergessen. Mir sind diese Tiere ein Rätsel, unter 17 Grad zu baden ist für mich einfach unvorstellbar.

Jetzt wird erst einmal Omas Geburtstag gefeiert und dann am Strand abgehangen. Danach regelt sich alles wie von selbst.

Die Autofähre wird immer wieder angehoben und fallen gelassen, wie ein defekter Lift, der hilflos zwischen zwei Etagen hin- und herfährt. Ich war noch nie seekrank, aber so langsam wird mir leicht mulmig zumute. Komischerweise genieße ich selbst dieses Gefühl, vielleicht weil es so komplett anders ist als alles andere an diesem Tag. Nach einer Dreiviertelstunde legen wir in Wyk an. Die Wogen schlagen heftig gegen die Mauer. Man hört Metall quietschen, es riecht ein bisschen nach Dieselruß. In einem verlorenen, kleinen Haufen Fußgänger eile ich von der Fähre. Die ersten Schritte auf dem Festland fühlen sich immer etwas seltsam an, als müsste man das Gehen neu lernen. Ja, ich bin eindeutig in einer anderen Welt angekommen.

Die Insel wirkt um diese Zeit fast ausgestorben, der Asphalt glänzt feucht im Licht der wenigen Straßenlampen. Ich steige in einen alten Mercedes, das einzige Taxi, das hinter dem kleinen Deich am Kai wartet. Der Fahrer hat sich als friesischer Fischer verkleidet. Er trägt ein blaues, grobes Hemd mit feinen hellen Streifen, eine Prinz-Heinrich-Mütze und hat einen weißen Vollbart. Allein die Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Mütze passt nicht ins Klischee. Ich bin so erschöpft, dass ich im Wagen sofort einnicke, werde aber nach wenigen Minuten schon wieder geweckt.

Das Taxi steht mit laufendem Motor vor Omas kleinem Hexenhaus in Nieblum. Offensichtlich wird es gerade renoviert, ein Teil des Reetdaches ist mit einer giftgrünen Kunststoffplane abgedeckt. Hinter der auswuchernden Hecke steht das Gras hüfthoch, der Vorgarten würde wohl jeden Vorsitzenden eines Kleingartenvereins in den Herztod treiben, das gefällt mir. Ich drücke dem Taxifahrer sein Geld in die Hand und steige mit meinem Gepäck aus.

Als ich klein war, waren meine Eltern und ich häufig auf der Insel zu Besuch, und immer haben wir hier übernachtet. Unten gibt es zwei kleine Zimmer und eine enge Küche, oben befindet sich das Bad. Ich kenne die besten Nischen und Abseiten fürs Versteckspielen und erinnere mich genau, welche Bodendielen nach verschüttetem Bootslack riechen. Herrlich: Die nächsten Tage werde ich hier wohnen wie in einem Palast, ganz alleine. Ich werde im Garten in der Sonne liegen und mich einfach tot stellen – falls ich nicht gerade ein Bad in der Nordsee nehme.

In freudiger Erwartung hole ich den Haustürschlüssel hervor, den mir meine Mutter mitgegeben hat: Er geht keinen Millimeter hinein.

Bin ich zu blöd? Das gibt es doch nicht!

Ich probiere es noch einmal, wie ein Volltrottel stochere ich im Dunkeln herum, vergeblich. Jemand scheint das Schloss ausgetauscht zu haben.

Frechheit!

Jetzt fängt es auch noch an zu regnen.

Aber ich habe Glück, das Fenster neben dem Eingang ist nur angelehnt. Vorsichtig ziehe ich mich an der Mauer hoch, schiebe es auf und springe vom Fensterbrett ins Dunkel. In dem leeren Zimmer riecht es nach Schimmel, unterlegt mit einem Herrenduft, der vor einiger Zeit mal sehr angesagt war, Cool Water von Davidoff. Mit ausgestreckten Armen taste ich mich zum Lichtschalter vor. Eine Diele neben mir knarrt laut, was in einem alten Gemäuer nicht ungewöhnlich ist. Plötzlich krallen sich wie aus dem Nichts zwei knochige Finger von hinten in meinen Hals.

«Das hast dir so gedacht, was?», keucht eine tiefe Männerstimme in mein Ohr. Der volltönende Bass klingt tief vertraut. Wie der meines Onkels, dessen wunderbare Geschichten aus meiner Kindheit ganz tief in meinem Gedächtnis gespeichert sind.

«Cord?»

Die Finger lockern sich: «Sönke?»

Ein paar Schritte, dann geht das Licht in Form einer nackten Glühbirne an, die von der Decke baumelt. Ich drehe mich um, und fast wäre mir eine unangemessene Frage herausgerutscht: Wo sind deine Haare, Cord? Mein Onkel hat plötzlich eine Glatze! Wie kann das sein? Gut, er müsste inzwischen über vierzig sein, und obwohl wir nur sieben oder acht Jahre auseinander sind, kam er mir immer schon viel älter vor. Zur Beerdigung von Opa ist er nicht gekommen. Wir haben uns vor zehn Jahren das letzte Mal in Frankfurt gesehen, da war er noch blond mit dichter Riewerts’scher Wolle. Sein Gesicht war schon immer spitz und eingefallen, aber jetzt ist er noch dünner und ausgemergelter. Ungerechterweise ist das jüngere Bild in meinem Kopf als Original gespeichert, und das neue, gealterte, wertet mein Hirn als Abweichung. Cord kommt mir vor wie eine seltene Hühnerart im Amazonas, deren Namen ich leider vergessen habe. Er mustert mich mit seinen kleinen blauen Vogelaugen, in seinen Mundwinkeln hängt getrockneter Speichel.

«Mann!», fluche ich und reibe mir den Hals, er hat ordentlich zugepackt. Wir stehen in der Küche, genauer müsste ich wohl sagen, in der ehemaligen Küche: An den Wänden klebt eine verblichene, ehemals weiße Raufasertapete, die an einigen Stellen abgerissen ist. Sämtliche Elektrogeräte sind ausgebaut, die Anschlusskabel liegen schlaff auf dem staubigen Boden, immerhin sind die Kabelenden abgeklebt. In der Mitte des Raumes stehen ein weißer Plastiktisch aus dem Baumarkt und zwei wacklige Billigstühle. Der einzige Lichtblick in diesem trostlosen Raum ist die nagelneue Designer-Kaffeemaschine auf dem fleckigen Fußboden, daneben stehen eine Dose Dallmeyer Prodomo und ein weißer Steingutbecher mit einer lachenden Mickymaus drauf. Was geht hier eigentlich vor?

«Ich habe das Schloss austauschen lassen», kichert Cord und keckert dabei wie eine Krähe.

«Ohne jemandem was zu sagen?»

Cord ist offenbar in Hochstimmung: «Heute habe ich mir eine Zwei-Liter-Flasche Wasser gekauft und auf Ex gekippt. Dann bin ich zum Grab meines Alten gegangen und habe auf seinen Stein gepinkelt, bis ich nicht mehr konnte.»

Das ist zwar genau genommen keine Antwort auf meine Frage, aber irgendwie kann ich ihn verstehen. Einen Vater wie seinen hätte niemand gerne gehabt: geizig und humorlos, gepaart mit unerbittlicher Strenge. Opa war Lateinlehrer am einzigen Gymnasium auf Föhr. Er badete jeden Tag in der Nordsee, auch im Winter, und wenn er sich dafür ein Loch ins Eis hacken musste. «Mens sana in corpore sano» war sein Lieblingsspruch, schon früh musste ich die Übersetzung lernen: «Gesunder Geist in gesundem Körper.» Gerüchteweise ist er mit diesem Satz auf den Lippen sogar gestorben. Das Schlimmste war eigentlich, dass er weder sich noch seiner Familie Spaß am Leben gegönnt hat, am allerwenigsten seinem Sohn Cord, den er für einen Versager hielt. Der Arme musste sich im Abitur von seinem eigenen Vater in Latein prüfen lassen und machte eine Fünf. Es gab eben nur das eine Gymnasium auf der Insel. Von da an beschränkte sich der Kontakt zwischen Vater und Sohn auf Korrespondenzen über Cords gerichtlich erstrittenen Unterhalt für die Ausbildung als Zahntechniker. Seine Mutter besuchte ihn hingegen regelmäßig und steckte ihm heimlich Geld zu. Mittlerweile ist Cord geschieden, hat ein Kind und wohnt in der Nähe von Frankfurt, soweit ich weiß. Er wird an die zwanzig Jahre nicht mehr auf Föhr gewesen sein, wie gesagt, nicht einmal zur Beisetzung seines Vaters wollte er kommen.

«Wieso hast du das Schloss austauschen lassen?», frage ich noch einmal.

Cord geht auch jetzt nicht darauf ein, sondern fängt stattdessen an, schaurig laut zu singen: «There iiiis a house in Neeeew Orrrrrrleans, They call the Riiiising Sun, And it’s been the ruin of many a poor boy, And God I knew I’m one …» Dazu schlägt er mit der linken Hand unrhythmisch auf die Plastiktischplatte.

Ist das noch normal, oder bin ich einfach zu spießig?

Kann man statt einer Antwort auch mal singen?

Aber selbst wenn, was soll mir das Lied sagen?

«Cord …? Sag was, rede mit mir, stell mir doofe Onkelfragen nach Beruf und Familienplanung, bitte!»

Doch er singt unbeirrt weiter.

Was für ein Tag.

Und er ist noch nicht zu Ende.

Von draußen wummert es gegen die Tür, eine energische Frauenstimme bellt mit schneidendem Ton: «Polizei! Öffnen Sie die Tür!»

Wenn es erst einmal schiefläuft …

Cord bricht seinen Gesang ab und lächelt das erste Mal: «Maria!»

Was? Mit meiner Cousine hätte ich als Letztes gerechnet. «Ich denke, die ist bei der Autobahnpolizei in Neumünster?»

«Strafversetzt, behauptet meine Mutter.»

«Öffnen Sie die Tür und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus», tönt es von draußen. Die gleiche Aussage wie in jedem Serienkrimi – gesprochen mit Marias rauer Altstimme. Zusammen mit Cords Bass und meinem Tenor wären damit bis auf den Sopran alle Stimmen eines klassischen Chores besetzt. Auch Maria habe ich bestimmt zehn Jahre nicht gesehen, bei Opas Beerdigung hatte sie Dienst in Neumünster.

«Verpiss dich! Das ist unser Haus!», schreit Cord zurück und grinst mich an.

«Wenigstens guten Tag sagen sollten wir», schlage ich vor. Cord wirft mir wortlos seinen Schlüssel zu, ich schalte das Licht im Flur an, gehe zur Haustür und schließe auf.

«Ganz langsam», kommt es von draußen, «ich will beide Hände sehen!»

Ich drücke behutsam die Klinke nach unten und zwinkere Cord zu. Dann reiße ich die Tür mit einem Ruck auf und rufe: «Überraschung!»

Das kostet mich fast das Leben.

Denn meine Cousine Maria meint es ernst.

Sie steht breitbeinig mit durchgedrückten Armen vor mir und hält mit beiden Händen die Pistole auf mich gerichtet, die Finger befinden sich am Abzug. Dass sie fast so groß ist wie ich, hatte ich beinahe vergessen. Ihre haselnussbraunen Augen weiten sich beträchtlich, als sie mich erkennt: «Sönke?»

So stehen wir ein paar Sekunden und blicken uns an. Was für eine Erscheinung! Es ist das erste Mal, dass ich sie in ihrer dunkelblauen Polizistinnenuniform sehe. Von ihrem strengen Gesichtsausdruck mal abgesehen, sieht sie klasse aus. Unter der Uniformmütze gucken ihre vollen, braunen Haare hervor, fast meine Farbe. Die Haut über den hoch liegenden Wangenknochen spannt nicht mehr so wie früher, sondern ist weicher geworden, was ihr gut steht. Die lange, schmale Nase ist jetzt ein reizvoller Kontrast dazu, und ihre vollen Lippen sehe ich das erste Mal leicht geschminkt. Ihr Gesicht ist allerdings überraschend blass für diesen heißen Sommer, sie war wohl nicht viel draußen. Erst jetzt bemerke ich den angespannten Polizisten jenseits der sechzig mit klassischem Schnauzer, der neben ihr steht und nervös auf seiner Unterlippe kaut. Er hat ebenfalls eine Pistole gezückt.

Maria hält ihre Waffe immer noch auf mich gerichtet.

«Hallo, Maria.»

«Uns, äh, wurde ein Einbruch gemeldet …», stammelt sie.

«Kennst du den?», fragt ihr Kollege ungläubig.

«Mmh.»

Sie schaut mich prüfend an, als müsste sie mein Gesicht noch einmal mit der Verbrecherdatei abgleichen, dann sichert sie ihre Pistole.

«Darf ich dich vielleicht mal umarmen?», lächle ich.

Maria hebt nur andeutungsweise die Hände, als ich sie kurz an mich drücke. Dabei meine ich den Anflug eines Lächelns in ihren Mundwinkeln zu erkennen.

«Na, dann ist die Familie ja glücklich vereint», gluckst Cord hämisch von hinten.

«Moin Cord», sagt Maria, aber da ist der schon wieder weg.

«Na, wir sehen uns dann ja morgen bei Oma», verabschiedet sich Maria trocken, dreht sich um und geht mit ihrem Kollegen zurück zum Dienst-Passat. Ihr leichter Gang passt so gar nicht zu ihrem düsteren Gesichtsausdruck. Obwohl sie langsam geht, berühren ihre Füße den Boden nicht länger als unbedingt notwendig. Sie wirkt wie eine Langstreckenläuferin, immer zum Sprint bereit.

Eins ist klar: Dieser Frau verdanke ich mein gutes Ansehen bei den Jungs in meiner Schulklasse. Als Fußballer war ich eine Niete, Maria hingegen brillant. Sie hat mir damals beigebracht, wie man eine Flanke genau platziert, einen Angreifer austrickst und einen Ball aus der Luft stoppt. Später stellte sich mir allerdings das Riesenproblem, wie man an ein wunderschönes Mädchen rankommt, das eigentlich lieber ein Junge geworden wäre.

Seit Beginn meiner Geschlechtsreife war Maria meine unerreichbare Traumfrau. Unerreichbar nicht, weil sie meine Cousine war – mein Onkel Arne hatte sie im Alter von drei Jahren adoptiert –, sondern weil sie so verdammt schwer einzuschätzen war. Sie lächelte fast nie und trug immer schlechte Laune zur Schau, selbst in Glücksmomenten. Selten konnte sie sagen, dass etwas gut war, für sie war es höchstens «nicht schlecht». Daher sah ich es als die größte Herausforderung an, sie zum Lachen zu bringen, und wenn es mir gelang, war das für mich wie ein praller Sommertag. Früher sind wir tagelang gemeinsam über die Föhrer Marschwiesen gelaufen, wo sie mir zeigte, wie man mit dem über zwei Meter langen Klopperstook Gräben überspringt und wann man bei Ebbe ins Watt darf. Das waren jene seltenen Ausnahmen, in denen sie ausgelassen juchzte und sang, während der Westwind uns durchs Haar pfiff, und ich fühlte mich wie im Himmel. Blöderweise glaubte ich ernsthaft, dass sie diese Seite nur mir zeigte. Im Grunde war ich jedes Mal, wenn ich mit meinen Eltern zurück nach Hamburg fuhr, schwer verliebt und habe mich danach wochenlang in mein Zimmer verkrochen und melancholische Balladen gehört.

Und heute lebt diese Frau also davon, dass sie Besoffene in Ausnüchterungszellen schleppt, flüchtige Verbrecher im Streifenwagen jagt und sich mit Demonstranten prügelt.

 

«Maria hätte dich am liebsten verhaftet», geifert Cord, als er mit mir zurück in die Küche geht.

«Meinst du?»

Ich bin immer noch ganz durcheinander.

«Hast du nicht ihren Gesichtsausdruck gesehen?»

«Sie war einfach überrascht», verteidige ich meine Cousine.

«Das ist nett ausgedrückt.»

Plötzlich bin ich sehr müde und beschließe, alle weiteren Fragen auf morgen zu verschieben.

«Gibt es hier ein Bett?», frage ich.

«Nebenan», brummt Cord.

Etwas verdutzt betrachte ich den Raum neben der Küche. Hier steht ein amtliches Großeltern-Doppelbett mit dunklem Schleiflack und zwei nackten Matratzen, auf denen zwei Wolldecken liegen. Das macht es für mich zum Sterne-Hotel, auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich es finden soll, mit meinem Onkel in einem Bett die Nacht zu verbringen. Offensichtlich ist es nämlich die einzige Schlafgelegenheit hier im Haus. Ich verschwinde kurz oben im Dachgeschoss, um mir in dem blitzblanken Badezimmer mit den orangen Kacheln brav die Zähne zu putzen. Als ich wieder runterkomme, liegt Cord bereits auf der rechten Betthälfte und schläft tief und fest. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit einem silbernen Glitzer-Panther auf der Brust, der fauchend das Maul aufreißt. Neben dem Bett liegt eine geöffnete Packung Schlaftabletten auf dem Boden. Lass ihn eine Nacht zur Ruhe kommen, dann fängt er sich wieder.

Keine Maklermade der Welt kann jetzt noch verhindern, dass ich schnell in einen tiefen Schlaf falle.

4.Fünfzig Arten, «Moin» zu sagen

Am Morgen wache ich ziemlich früh auf und kann blöderweise nicht mehr einschlafen. Die letzte Nacht schreit nicht gerade nach Wiederholung, es sei denn, man steht drauf, im Doppelbett neben einem erkälteten Asthmatiker zu liegen, dessen Röcheln einem permanent Todesnähe signalisiert. Cord schläft noch tief und fest. Zum Glück steht in der Küche die Kaffeemaschine, und so gehe ich nach dem Duschen mit Cords Mickymaus-Pott voller Kaffee hinaus. Die frühe Morgensonne beleuchtet den Garten wie einen Märchenpark, zwischen den beiden Apfelbäumen flattern Schmetterlinge hin und her, während sich unzählige andere Insekten in allen möglichen Formen und Tönen im hüfthohen Gras tummeln.

Nieblum ist ein altes Kapitänsdorf, in das reich gewordene Walfänger einst ihr Geld gesteckt haben, um sich ihren friesischen Traum zu erfüllen. Die reetgedeckten Dachschürzen der mächtigen Häuser ziehen sich weit hinunter wie Sturmhauben, die jede Witterung abzuhalten imstande sind. Das Mauerwerk wurde in elegantem Weiß gestrichen, jedes dieser Gebäude würde auf die erste Seite eines prachtvollen Kalenders passen.

Oma ihr klein Häuschen kommt da vielleicht nicht ganz ran.