Omas Erdbeerparadies - Janne Mommsen - E-Book
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Omas Erdbeerparadies E-Book

Janne Mommsen

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Beschreibung

Das Paradies. So fern. So nah. Seit 1898 ist es eine Institution auf Föhr: das Gasthaus mit dem seltsamen Namen «Erdbeerparadies». Es gibt hier Feuerwehrbälle und Punkkonzerte, bei der Fußball-WM 1954 saßen alle vor dem einzigen Fernseher auf der ganzen Insel und auch Oma Imke hat schon als junges Mädchen im «Erdbeerparadies» geschwooft. Tanzen kann Imke inzwischen nicht mehr, aber ihre gute Laune, die hat sie sich erhalten. Und sie freut sich, dass seit neuestem ihr Sohn Arne der neue Wirt ist. Leider kein sehr geschickter. Was, wenn Insulaner wie Urlaubsgäste jetzt alle in die doofe neue Großdisco «Island Palace» abwandern? Familie Riewerts, sonst stets im Streit vereint, ist entschlossen, für ihr Inselparadies zu kämpfen! Turbulenter und liebenswerter als bei Oma Imke und ihrer Familie ging's auf deutschen Inseln selten zu.

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Seitenzahl: 290

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Janne Mommsen

Omas Erdbeerparadies

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Motto1. Weiße Frotteebademäntel2. Sudoku3. Ganz oben4. Im Erdbeerparadies5. Snaakest dü Fering?6. Geliebte Höhlenmenschen7. Warme Milch mit Honig8. Schülervertretung am Südstrand9. Heidnische Rituale10. Oma blinzelt11. Ebbe12. Schaumparty13. Das Wunder von Boldixum14. Friesische Thai-Klopse15. Buddha16. Wiedersehen in der Marsch17. Elternglück ist Tochters Leid18. Das alte Band19. Lebenslange Luxusrente20. Feindeshöhle21. Ladys Night22. Dessousladen23. Auszeit auf Amrum24. Wir sind das Volk25. Altjung26. Wattenmeer in Farbe27. Oma tanzt im Erdbeerparadies28. AbschiedEpilogDanksagungLeseprobe: Friesensommer1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel
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Let me take you down,

’cause I’m going to Strawberry Fields.

Nothing is real

and nothing to get hung about.

Strawberry Fields forever.

 

Aus: The Beatles, Strawberry Fields Forever

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1. Weiße Frotteebademäntel

Als Jade gegen halb acht aufwachte, staute sich an den Rändern ihres dunkelblauen Rollos bereits das Sonnenlicht. Draußen fiepten und trällerten die Vögel, als sei schon ein riesiges Fest in Gange. Sie lächelte verschlafen und streckte sich unter der weichen Decke aus.

Ihr großer Tag konnte nicht besser beginnen.

Schon als Kind hatte sie sich immer gefragt, wann man endgültig erwachsen war. Das Gesetz sagte, mit achtzehn, und tatsächlich hatte ihr achtzehnter Geburtstag im letzten Jahr mehr positive Veränderungen hervorgebracht als sämtliche Geburtstage zuvor. Sie durfte Auto fahren, wählen gehen und Unsinn kaufen, ohne dass ihre Eltern es ihr verbieten konnten. Das war ein großer Fortschritt, aber richtig ernst genommen fühlte sie sich dadurch noch nicht.

«Erwachsen wird man nicht an einem Tag», hatte ihr Vater behauptet. «Das ist eine längere Entwicklung.»

Sie hatte trotzdem fest daran geglaubt, dass es einen ganz bestimmten Moment geben würde, an dem sie den Beweis erbrachte, dass sie kein Kind mehr war. Der Tag war nun gekommen, denn heute Vormittag würde sie in eine ganz neue Umlaufbahn schießen! Die letzten drei Monate hatte sie rund um die Uhr vorm Computerbildschirm gesessen, auch die Wochenenden hatte sie opfern müssen. Heute würde sie endlich den Lohn für all diese Entbehrungen empfangen.

Das weiß lackierte Hochbett, auf dem sie lag, hatte sie nach Abschluss ihrer Grufti-Phase mit fünfzehn von ihren Eltern geschenkt bekommen. Vorher war der Raum, von der Tapete bis zu den Möbeln, pechschwarz gewesen – bis auf einen blutroten Bettüberzug. Jetzt gab es kaum etwas, das nicht weiß war.

Sie kletterte aus dem Bett und öffnete das Fenster. Der verwilderte Garten hinterm Haus sah aus wie eine Dschungellandschaft, auf den grünen Blättern und Gräsern verdampfte gerade die letzte Feuchtigkeit der Nacht. Schon um diese Uhrzeit war es erstaunlich warm. Die Akkus der Natur waren bis zum Anschlag geladen, Frankfurt stand ein wunderbarer Hochsommertag bevor.

Sie ging ins Bad, duschte und überprüfte im Ganzkörperspiegel ihr Aussehen. Sie war nicht besonders groß, aber sehr sportlich, ihre Körperspannung würde jeden verbalen Angriff locker abfedern.

«Etwas blass siehst du aus», kritisierte sie sich laut.

Kein Wunder, die Sonne hatte sie in den letzten Wochen nur von drinnen gesehen. Zum Glück besaß sie von Natur aus einen dunklen Teint, der sich mit etwas Make-up untermalen ließ. Das Grinsen, das ihr anschließend im Spiegel entgegenkam, war zuversichtlich: «Du kannst es!»

Natürlich hatte sie Lampenfieber, aber wenn sie sich an ihren Text hielt, konnte eigentlich nichts passieren. Sie rieb ihre schmalen, schlanken Füße mit einer Creme ein, die die Durchblutung förderte. Sobald ihre Füße den Boden spürten, fühlte sie sich geerdet und viel ruhiger, das hatte bei Prüfungen immer funktioniert. Dann schnappte sie sich die hellblaue Bluse, die ihre Cousine Maria aus Föhr für sie genäht hatte, und zog anschließend ihren grauen Hosenanzug an. Die hellen Farben waren ein perfekter Kontrast zu ihren dunklen asiatischen Augen, die ein genetisches Erbe ihrer thailändischen Mutter waren. Manchmal machte sie sich einen Witz daraus und behauptete, dass sie einen schwarzen Gürtel besaß, was ihr komischerweise alle glaubten. Dabei hatte sie nie Kampfsport betrieben, sondern war eine begeisterte Geräteturnerin.

In der Investmentbank, in der sie nach ihrer Banklehre ein Praktikum begonnen hatte, versprach ihr asiatisches Aussehen Internationalität. Aber heute würden die Herren der Chefetage erfahren, dass ihr Kopf nicht nur dekorativ, sondern mit Ideen gefüllt war! Sie schlüpfte in ihre flachen dunkelblauen Ballerinas. Den Laptop und die beiden Präsentationsmappen hatte sie bereits vorm Zubettgehen in ihre Umhängetasche aus hellblauer LKW-Plane gesteckt. Die passte zwar nicht zum Business-Outfit, war aber ihr Talisman und somit unverzichtbar.

Ein letzter Blick in den Spiegel, einmal kurz gelächelt, und sie verließ das Zimmer.

Wenn heute alles so klappen würde, wie sie es sich vorstellte, stand einer Festanstellung in der Investmentbank nichts mehr im Wege. Dann würde sie sich umgehend eine eigene Wohnung suchen. Noch wohnte sie im Haus ihres Vaters. Er lebte im Souterrain und sie im ersten Stock, so liefen sie einander selten über den Weg.

Sie ging das weiß gestrichene Treppenhaus hinunter. Ihr Vater hatte hier großformatige Fotos von der Insel Föhr aufgehängt, auf der er aufgewachsen war: das Wattenmeer mit dem Leuchtturm von Olhörn, der Sandwall mit der Kurmuschel und der Fähranleger bei Sturmflut. Auf einigen Bildern waren ihre Verwandten von der Insel zu sehen: Oma Imke, die im Rollstuhl den Hals reckte wie eine stolze Königin auf ihrem Thron, und Jades ewig braungebrannter Onkel Arne. Dazu kamen noch Aufnahmen von den Grabsteinen ihrer friesischen Vorfahren auf dem Friedhof von St. Laurentii in Süderende, die sich bis zu den Walfängern zurückverfolgen ließen. Einen Moment lang blieb sie vor den Grabbildern stehen – als könnten die Ahnen eine geheimnisvolle Kraft auf sie übertragen.

Schon am Vorabend hatte sie alles für ein Power-Frühstück vorbereitet: Kiwis, Schrotmüsli und Bio-Joghurt. Für das, was sie vorhatte, brauchte sie eine optimale energetische Grundlage. Ihr Vater würde um diese Zeit längst im Büro sein, er war extremer Frühaufsteher. Wie immer würde sie also allein frühstücken, wogegen sie nichts einzuwenden hatte. So konnte sie in Ruhe noch einmal ihren Plan im Kopf durchgehen.

Doch als sie die Küche betrat, erlitt sie einen mittelschweren Schock: Ihr Vater saß barfuß im weißen Frotteebademantel am Tisch und grinste sie breit an. Seine Stirn kam ihr höher vor als sonst und die Schläfen grauer. Er sah übernächtigt aus, die Schatten um seine Augen erinnerten an einen Pandabären – obwohl seine lange Nase und das spitze Kinn eher zu einem Vogel passten.

Doch das war nicht das Schlimmste. Ihr Vater war nicht allein. Neben ihm saß eine kichernde thailändische Frau, die etwas jünger war als er und der die Situation etwas peinlich zu sein schien: ihre Mutter Narasinee, ebenfalls in weißem Frotteebademantel. Offensichtlich hatten die beiden die Nacht zusammen verbracht!

«Moin, Jade», sagte ihr Vater.

«Hallo, Jade, meine Tochter», flötete ihre Mutter, deren schwarze Locken vollkommen durcheinander waren, einzelne Strähnen standen ihr senkrecht vom Kopf ab. Ihre dunklen Augen strahlten wie sonst nur im Kerzenlicht des Weihnachtsbaums.

Eigentlich gehörte sie nicht hierher. Terrasse und Garten des väterlichen Hauses grenzten an eine hohe Betonwand, die an die Berliner Mauer erinnerte. Im anderen Deutschland lebte ihre Mutter Narasinee und dies seit bestimmt zwölf Jahren. Warum sich ihre Eltern nach ihrer Trennung nicht weiter voneinander entfernt hatten, war ihr immer unklar geblieben. Irgendwann hatte sie aufgehört, danach zu fragen. In ihrer Kindheit hatte sich ein ausgeklügeltes Netz von Ritualen gebildet, wann sie in welcher Haushälfte übernachtete oder aß. Das hatte sich so gut eingespielt, dass sie sich kaum als Scheidungskind fühlte.

Und jetzt das.

Wie betäubt setzte Jade sich an den gedeckten Tisch. Hätten ihre Eltern nicht wenigstens einen Tag warten können mit diesem Unsinn? Musste es gerade heute sein? Das war kein gutes Omen. Denn natürlich würde es keine zwei Wochen dauern, bis sie sich wieder trennen würden. Und bei wem würden sie dann ihr Leid abladen? – Bei ihrem einzigen Kind. Dieses Spiel hatten sie mehr als ein paar Dutzend Male gespielt, und es gab dabei nur eine Verliererin: sie!

«Cord, wat skal det?», fragte sie ihren Vater genervt auf Friesisch. Papa, was soll das? Ihr Vater hatte ihr Fering, das Föhrer Friesisch, schon als kleines Kind beigebracht, es war ihre Geheimsprache. Ihre Mutter hatte mehrere ernsthafte Versuche unternommen, es zu lernen, aber neben Thai, Englisch, Spanisch und Deutsch war es eine Sprache zu viel für sie gewesen. Sie fühlte sich immer ausgeschlossen, wenn Jade und Cord Fering miteinander redeten.

«Wir werden wieder alle zusammen wohnen», erklärte Cord und nahm die Hand seiner Exfrau. «Ich werde die Wand zwischen den Häusern noch heute einreißen lassen.»

Sie war entsetzt.

«Das ist nicht euer Ernst!»

Ihr Vater lächelte verliebt.

«Ich habe keine Lust, jeden Abend zu fensterln», erklärte er.

«Wo Liebe ist, gibt es immer einen Weg», sagte ihre Mutter fröhlich. Sie war in Thailand aufgewachsen, hatte in London Zahnmedizin studiert, war dann für ein Praktikum nach Deutschland gekommen und hatte hier Cord kennengelernt. Sprichwörter waren ihr Anker in der deutschen Sprache und Kultur geworden, sie kannte mehr davon als jeder Einheimische. Ganze Nachmittage konnte sie sich von Sprichwort zu Sprichwort hangeln, was sie stets mit einem freundlichen Lächeln unterstrich: «Üb immer Treu und Redlichkeit», «Gleich und Gleich gesellt sich gern», «Gegensätze ziehen sich an». Wenn sie mehr als ein halbes Glas Wein getrunken hatte, gluckste sie hinter vorgehaltener Hand auch schon mal: «Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.» Aus ihrem Mund klang das irgendwie charmant.

«Komm, wir legen uns noch mal hin», schlug Cord vor. Seine Augen blitzten lüstern, er war wie auf Droge.

«Musst du nicht arbeiten?», fragte Jade.

«Ja», kicherte Cord, sonst durch und durch Workaholic. «Das ist ja das Schöne!»

«Morgenstund hat Gold im Mund», bestätigte ihre Mutter. Dann verschwanden die beiden Richtung Schlafzimmer.

Für Jade brach wieder einmal eine Welt zusammen, aber darüber durfte sie jetzt nicht nachdenken, sonst vergaß sie die Kursentwicklung der Moskauer und Tokioter Börse in den letzten drei Monaten, und das durfte nicht geschehen!

Auf animalische Geräusche aus dem Schlafzimmer konnte sie gut verzichten, deshalb beschloss sie, das Frühstück ausfallen zu lassen. Sie ging in die Abstellkammer im ersten Stock, nahm zwei große Koffer heraus und schleppte sie in ihr Zimmer. Der Zeitpunkt war gekommen – sie musste ausziehen, und zwar heute noch! Das Geld, das sie als Praktikantin verdiente, würde gerade so für eine kleine Wohnung oder ein WG-Zimmer am Stadtrand reichen.

Die Wintersachen ließ sie im Haus, sie packte nur T-Shirts, Blusen, zwei Hosenanzüge und drei Kleider für die Arbeit ein, dazu einige Schuhe, Jacken, Unterwäsche und ihren Kulturbeutel. Das passte alles in den einen Koffer. In den anderen kamen persönliche Dinge wie das Tagebuch, das sie mit fünfzehn geschrieben hatte, der MP3-Player, ein paar Bücher. Und natürlich musste Fridolin mit, ihr kniehohes Stoffnilpferd.

Den Rest würde sie später holen.

Als sie die Sachen aus dem Haus schleppte, legte sich ein dünner Schweißfilm über ihre Haut. Es war jetzt schon über 20 Grad warm und sehr schwül. Zum Glück hatte sie ihr Auto direkt vor der Tür geparkt. Es war ein knalloranger VW Käfer 1200, der 1972, zwei Jahrzehnte vor ihrer Geburt, frisch vom Band gekommen war. Sie hatte ihn zufällig auf einem Schrottplatz entdeckt und sich sofort in ihn verliebt. Das Auto hatte auch einen Namen bekommen: Paul. Zusammen mit einem Freund, der davon ein bisschen Ahnung hatte, hatte sie Paul restauriert.

Der größere Koffer passte knapp so in den kleinen Kofferraum, der sich bei diesem Wagen vorne befand, den anderen wuchtete sie auf die Rücksitzbank. Fridolin kam auf den Beifahrersitz.

Zum Abschied blickte sie noch einmal wehmütig auf das weiße Haus mit den zwei Eingängen: Immerhin hatte sie hier ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht, und an ihre Kindheit hatte sie überwiegend gute Erinnerungen. Den Abschied hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt, aber es gab kein Zurück.

«Wo werde ich heute Abend wohl schlafen?», fragte sie sich, als sie den Motor anließ. Das würde sich finden, bei Freunden vielleicht, oder sie würde kurzfristig etwas über die Mitwohnzentrale bekommen. Alles war besser, als erneut auf ihre turtelnden Eltern zu treffen.

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2. Sudoku

Mit geschlossenen Augen atmete Arne tief ein. Als er die Luft ausstieß, blinzelte er in die Vormittagssonne, die warm und groß am wolkenlosen blauen Himmel stand. Ungläubig schaute er auf die Wipfel der Kastanienbäume vor seinem Haus, an denen sich kein Blatt regte, was auf der Insel Föhr, wo eigentlich immer ein Wind wehte, eine Ausnahme war. Seit fünf Monaten wohnte er jetzt hier direkt über der Disco, die er übernommen hatte. Nach Jahrzehnten als Surflehrer und Strandkorbvermieter arbeitete er zum ersten Mal an einem festen Ort. Mit achtundfünfzig konnte er ruhig mal daran denken, seriös zu werden – wenn man denn eine Disco als seriös ansah.

Er zupfte am Stoff seiner knielangen Hose und überprüfte die Schleifen seiner ultraleichten Laufschuhe.

«Mama, können wir?», fragte er.

Seine bald achtzigjährige Mutter saß vor ihm in einem Sportrollstuhl und zeigte mit dem Daumen nach oben. Sie war braungebrannt wie immer, ihre kurzen Haare hatte sie gerade beim Friseur neu färben lassen. Seit ihrem Schlaganfall letztes Jahr konnte sie nicht mehr sprechen, daher schrieb sie alles, was sie der Außenwelt mitteilen wollte, mit großen Buchstaben auf einen Block. In diesem Moment war das allerdings nicht nötig, denn von ihren großen blauen Augen war überdeutlich abzulesen, was sie sagen wollte: «Hör auf, an deinen Sachen herumzufummeln, das bringt sowieso nichts. Lauf endlich los!»

Er schob den Rollstuhl über die Ocke-Nerong-Straße und joggte mit ihr an der alten Schmiede mit dem Eisenschild «Min Eilun» vorbei. Obwohl seine Mutter kaum fünfzig Kilo wog, kam er ganz schön ins Keuchen.

Eigentlich wohnte Imke in einer WG hinterm Dunsumer Deich, aber ihre Mitbewohner Christa und Ocke waren für vier Monate auf Hochzeitsreise nach Grönland gefahren. Arne hatte nicht eine Sekunde gezögert, sie bei sich aufzunehmen. Das Einzige, wovor er etwas Scheu gehabt hatte, war, sie zu duschen. Netterweise hatte sie ihm vorher einen kleinen Brief geschrieben: «Du hast in deinem Leben viel zu viele Mädchen nackicht gesehen, mein lieber Sohn, das weiß ich. Eine mehr macht da auch nichts, oder?» Das hatte jede Peinlichkeit genommen.

Als sie auf die schnurgerade Teerstraße Richtung Seedeich einbogen, riss seine Mutter übermütig die Arme hoch. Er musste laut lachen. Sein Blick wanderte über die weite, flache Marsch, deren sattes Grün bis zum Horizont ragte. Die Gräser auf den Weiden standen reglos in der Sonne. Allein das elegante Schilf in den Wassergräben ließ an einem windstillen Tag wie diesem hin und wieder ein Rascheln vernehmen. Das Meer lag unsichtbar hinter dem Deich, aber er konnte es förmlich riechen. Er spürte immer, ob Ebbe oder Flut, ob die See aufgewühlt oder ruhig war, auch wenn er das Wasser gar nicht sah.

Nach ein paar Minuten erreichten sie den Deich. Er öffnete ein angerostetes Metallgatter und schob seine Mutter über das unebene Gras den Hang hinauf, was ihn die letzte Kraft kostete. Auf der Deichkrone nahm Imke die Hand ihres Sohnes, der hinter ihr stand und vor Anstrengung keuchte. Vor ihnen lagen mehrere farbige Querstreifen, die sattgrüne Marsch, das sandfarbene Watt und das tiefblaue Wasser. Die Nordsee breitete sich vor ihnen aus wie ein großer, silbrig-blauer Teich, der bis ins nahegelegene Dänemark reichte. Unter der Sonne flimmerten Millionen Lichtpunkte auf der Wasseroberfläche. Imkes Augen sahen so wach und konzentriert aus, als würde sie gerade im Kino einen hochspannenden Film sehen. Sie hatte ihr gesamtes Leben hier auf Föhr verbracht und unzählige Tage am Meer erlebt, trotzdem war sie bei einem solchen Anblick immer noch ergriffen, das wusste Arne. Jetzt hielt sie ihren Schreibblock hoch und zeigte einen breit lächelnden Smiley. Er nickte und setzte mit ihrem Stift ein Ausrufezeichen dahinter. Von diesem Anblick bekam auch er nie genug.

Er fischte die Sonnencreme aus dem Netz hinter dem Rollstuhlsitz hervor, und seine Mutter streckte ihm mit geschlossenen Augen ihr braun gebranntes Gesicht entgehen. Eigentlich lehnte sie Sonnencreme strikt ab, weil diese ja verhinderte, dass sie noch brauner wurde. Sie war in ihrem Leben häufiger ins Sonnenstudio als zum Arzt gegangen und besaß eine tiefe Grundbräune. Trotzdem bestand er darauf, sie einzucremen.

Vorsichtig verteilte er die Creme auf ihrer Nase und Stirn. Ihre Falten, die wie scharfe Kerben aussahen, gaben unter seinen Fingerkuppen nach. Er massierte leicht ihren Nacken, was sie sichtlich genoss. Als Dankeschön bekam er einen spitzen Kuss auf die Wange, dann winkte Imke ihm zum Abschied lächelnd zu. Er legte ihr eine Trinkflasche in den Schoß und lief immer auf der Deichkrone entlang, direkt auf den riesigen, blauen Himmel zu, der weder Anfang noch Ende besaß. Obwohl er nicht schneller als sonst trabte, bekam er Seitenstiche. Das war ihm noch nie passiert, es tat richtig weh, jeder Schritt war eine Strafe. Er drosselte das Tempo und musste schließlich langsam gehen, aber die rechte Seite hörte nicht auf zu schmerzen.

Als er schon ein ganzes Stück von seiner Mutter entfernt war, entdeckte er vor sich auf der Deichkrone einen glatzköpfigen pummeligen Mann mit einer Flasche Bier in der Hand. Morgens um halb acht verursachte Arne allein der Anblick von Alkohol Übelkeit. Mit seiner schlabbrigen grauen Hose und der hellblauen Strickjacke über dem nackten Oberkörper sah der Mann kränklich aus, seine Haut war kalkweiß. Immerhin war er glattrasiert, die fettigen Haare waren streng zur Seite gescheitelt.

«Moin», murmelte Arne im Vorbeigehen und versuchte trotz der Seitenstiche sportlich zu wirken.

Hinter sich hörte er anstatt eines Grußes eine überraschende Bemerkung: «Wenn das nicht der stinkige Arne ist!»

Er blieb stehen und drehte sich um. Die müden, von Schatten umrandeten Augen des Mannes musterten ihn spöttisch. Wer war der?

«Jetzt sag bloß noch, du erkennst mich nicht mehr», nölte der Kerl und nahm einen Schluck aus seiner Flasche.

«Ich stehe gerade auf der Leitung», bekannte Arne und stützte sich mit den Armen auf den Knien ab.

«Komm!»

Arne betrachtete den Mann, zog fünfundzwanzig Kilo seines Körpergewichts ab, gab ihm seine Haare zurück, färbte sie erst blond, dann dunkel, verlängerte sie um dreißig Zentimeter, und plötzlich saß sein alter Schulkumpel vor ihm.

«Fokko?»

«Das wurde aber auch Zeit, ich war schon echt beleidigt.»

Mit dreizehn war Fokko Rethlefsen Arnes Idol gewesen. Er war Klein Arne damals mindestens genauso cool wie Mick Jagger oder Clint Eastwood erschienen. Fokko hatte ihn in seine Clique aufgenommen, obwohl er drei Jahre jünger war, das war eine unglaubliche Ehre gewesen!

«Hast dich kaum verändert», log Arne hastig.

«Willst du damit sagen, ich war schon damals fett und hatte kaum Haare?»

Was sollte er darauf sagen? Er schnappte sich die erste Erinnerung, die ihm in den Kopf kam, um einer ehrlichen Antwort auszuweichen.

«Weißt du noch? Das Astronautentraining für die NASA?»

Fokko war wild entschlossen gewesen, der erste deutsche Astronaut zu werden, und hatte Arne überredet, mit ihm dafür im Watt zu trainieren. Sie hatten Dauerläufe mit Gummistiefeln im Schlick veranstaltet. Fokko war der Kommandant gewesen und hatte ihn unerbittlich angetrieben.

«Das Watt ist das ideale Trainingsgebiet für den Weltraum», wiederholte Fokko seinen Lieblingsspruch von damals und lächelte.

«Weil der zähe Schlick das pure Gegenteil von Schwerelosigkeit bedeutet», setzte Arne den Vortrag fort. «Die Schwerelosigkeit wird nach dem Wattlaufen keine Belastung mehr sein.»

Fokko hatte einen Brief auf Englisch an die NASA geschrieben und sogar eine Antwort bekommen. Arne hatte den Brief selbst gesehen, Absender NASA mit Fokkos Adresse auf Föhr!

«Und? Hat es dir beruflich was gebracht?», erkundigte sich Arne nun.

Fokko lachte dreckig. «Für meinen Beruf war nichts sinnloser.»

Kurze Zeit nach der Astronautenphase nämlich hatte Fokko angefangen, in Ferienhäuser einzubrechen, um dort wertvolle Fernseher und Musikanlagen auszuräumen. Auf Föhr konnte er das Diebesgut nicht verkaufen, das wäre zu auffällig gewesen. Also klaute er Boote und brachte die Sachen aufs Festland zu einem Hehler, den er in der Nähe von Niebüll aufgetan hatte. Doch am Kai in Dagebüll wartete eines Tages die Polizei auf ihn, und er bekam eine Jugendstrafe. Da war er gerade mal siebzehn. Nach diesem Vorfall verließen seine Eltern mit ihm die Insel. Arne hatte gehört, dass er nach seiner Jugendstrafe nach Koblenz gegangen war, um dort eine Ausbildung im Bundesarchiv zu beginnen.

«Was machst du auf Föhr?», erkundigte sich Arne, ohne dass es ihn wirklich interessierte.

«Dasselbe wie zu Hause», sagte Fokko. «Saufen, Sudoku und Fernsehen gucken. Schließlich bin ich Rentner.»

Derselbe zynische Ton wie in der Schulzeit.

«Du und Rentner? Ist das wahr?»

«Tja, wir sind beide alt und fett geworden», grinste Fokko.

Das wollte Arne nicht so stehen lassen, denn er empfand sich weder als alt noch als fett. Und seine langsam ausdünnenden Haare waren zwar getönt, aber immerhin noch vorhanden. Dass jemand aus seiner Schulzeit sein Berufsleben bereits abgeschlossen hatte, irritierte ihn.

«Seit einer Woche bin ich auch noch glücklich geschieden», ergänzte Fokko. «Jetzt stört mich niemand mehr.»

«Und was hast du nun vor?», fragte Arne.

«Sudokus und saufen, ansonsten können mich alle mal. Ich habe eine kleine Wohnung am Rhein, was will man mehr?»

«Den Job vermisst du nicht?»

Fokko nahm einen weiteren Schluck.

«Wohl kaum! – Und selber?»

Arne lächelte. «Ich habe vor zwei Monaten das ‹Erdbeerparadies› gepachtet.»

Fokko lachte laut auf.

«Du verarschst mich!»

«Ich will daraus das machen, was es einmal war: die angesagteste Disco auf Föhr.»

«Mach dich nicht lächerlich. Du siehst aus wie ein alter Mann, du bewegst dich wie ein alter Mann – du bist ein alter Mann!»

Arne starrte ihn mit offenem Mund an, am liebsten hätte er ihm eine gescheuert.

«Ich muss dann mal wieder», grummelte er. «Man sieht sich.»

Er trabte langsam los.

«Eine Disco», hörte er Fokko hämisch hinterherrufen.

«Ja, eine Disco, du Blödmann», dachte Arne. Wie gerne hätte er Fokko jetzt seinen Porsche und seine reetgedeckte Villa gezeigt, um ihm das Maul zu stopfen. Doch leider besaß er weder das eine noch das andere.

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3. Ganz oben

Jade hatte das gläserne Hochhaus in der Frankfurter City von Anfang an geliebt. Ihr damaliger Ausbildungsleiter hatte sie nach ihrer Banklehre direkt hierher vermittelt. Sechsundzwanzig Stockwerke bauten sich wie ein gigantisches Bergmassiv auf, an dem niemand vorbeikam. Die Investmentbank bewegte jeden Tag Milliarden, was mehr war als das Volumen eines gesamten Landeshaushaltes. Sobald sie das Gebäude betrat, wurde sie Teil dieser Macht und durfte mit an den entscheidenden Schrauben der Weltwirtschaft drehen, wenn auch vorerst nur als Praktikantin.

Natürlich kamen ihr bei Diskussionen mit Freunden manchmal Zweifel, wie moralisch integer ihr Job war, immerhin verursachten Finanzspekulationen Krisen und Hungersnöte. Aber sobald sie sich im gläsernen Schutz der Bank befand, wurde jeder Zweifel ausgelöscht: Hier wurde die Musik gespielt, nach der die ganze Welt tanzte, und das war einfach aufregend! Mit moralischen Skrupeln hielt sie es wie mit dem Schnellfahren auf der Autobahn: Es erhöhte die Unfallwahrscheinlichkeit, schadete der Umwelt, brachte aber unglaublichen Spaß!

Die Fahrt in die City hatte mit dem Wagen doppelt so lange gedauert wie mit der U-Bahn, ein Stau war dem nächsten gefolgt. Immerhin hatte sie es noch gerade pünktlich geschafft. Ihr leerer Magen drohte Amok zu laufen, aber für ein Frühstück war jetzt keine Zeit mehr. Als sie die kühl klimatisierte Vorhalle erreichte, steckte sie ihre Magnetkarte in die Sicherheitsschranke, wobei der arabische Wachmann sie wie jeden Morgen freundlich grüßte.

«Gude Morsche, Frau Riewerts.»

Es war phänomenal, der Mann kannte wirklich alle Namen, sogar die der Praktikantinnen. Sie antwortete in breitem Norddeutsch, das sie von ihrem Vater und ihren Föhrer Verwandten gelernt hatte: «Moin, Moin, Herr Hussein.»

Dabei war sie in Frankfurt geboren und aufgewachsen.

«Ihr Fischköpp müsst erst ema rischdisch Hessisch lerne», kommentierte er – wie jeden Morgen.

Sie lachte und ging auf einen der vier Aufzüge zu. Ein gleichaltriger Kollege, der sie flüchtig kannte, kam ihr entgegen und zwinkerte ihr fröhlich zu, aber nach Flirten war ihr jetzt nicht zumute. Sie erinnerte sich an ihren Talisman und drückte ihre Tasche fest an sich. Es gab wirklich keinen Grund zur Nervosität, ihre Zahlen waren dreimal recherchiert und abgesichert – hatte sie womöglich trotzdem etwas übersehen? Im Aufzug checkte sie auf dem Smartphone noch einmal die aktuellen Daten in Asien, wo die Börsen bereits geöffnet hatten. Der Nikkei-Index lag knapp im Plus, ihre China-Aktien stiegen gerade um dreieinhalb Punkte, genau darauf hatte sie gewettet. Die ganze Welt schrie nach den seltenen Erden, die sie vor drei Monaten günstig in ihr Depot genommen hatte.

Als sie im zweiundzwanzigsten Stock ankam, atmete sie auf. Die Klimaanlage verwandelte die Schwüle in angenehm kühle Luft. Vom Großraumbüro blickte sie durch die riesigen Scheiben auf das hochsommerliche Frankfurt und die grünen Taunushöhen, die nach einem heftigen Regenschauer im Nebeldunst lagen. Hinter dem Waldgebiet zog eine dunkle Schlechtwetterfront nach Osten, die Frankfurt zum Glück nicht erreichen würde.

Bevor sie ein paar weitere Börsendaten checkte, schaute sie im Internet nach den Gezeiten im nordfriesischen Wattenmeer. Hatten sie dort gerade Ebbe oder Flut? Es war ihr tägliches Morgenritual, obwohl die Tidezeiten für Frankfurt natürlich uninteressant waren. Aber so war sie in Gedanken mindestens einmal am Tag bei ihrer geliebten Oma Imke auf der Insel Föhr. Imke war witzig und frech wie ein Teenie. Und wenn sie ihre rechte Augenbraue hochzog und dabei lächelte, war sie die schönste Frau der Welt!

Als Jade vor vier Jahren das erste Mal im düsteren Grufti-Outfit bei ihr aufgelaufen war, blass geschminkt, mit aufgeklebten Tränen auf der Wange und schwarz umrandeten Augen und Lippen, war ihre Oma die Einzige gewesen, die nicht eine Spur von Befremden gezeigt hatte. Stattdessen hatte sie sie sofort herzlich an sich gedrückt und sich wahnsinnig gefreut, sie zu sehen. Oma besaß zudem einen Coolness-Faktor, der unschlagbar war: Sie wohnte in einer WG, zusammen mit einem ehemaligen Seemann und seiner eleganten Partnerin Christa, Omas bester Freundin. Inzwischen ging es Imke leider nicht mehr so gut. Sie konnte nicht mehr sprechen und saß die meiste Zeit im Rollstuhl. Jade rief sie einmal in der Woche an und erzählte ihr, was sie so erlebt hatte, auch wenn ihre Oma nicht antworten konnte.

Nun riss sie Peter Schmidt, der schwergewichtige Abteilungsleiter, aus ihren Gedanken. Er war um die vierzig, seine Stirn zog sich fast hoch bis zur Mitte seines massigen Schädels, und seine Anzüge saßen immer etwas schludrig. Was ihn in der sterilen, uniformen Bankenwelt schon zu einem Unikat machte.

«Morje, Frau Riewerts – bereit für die Weltökonomie?»

Jade grinste.

«Moin, Herr Schmidt! Und wie!»

«Schmidti», wie er hinter seinem Rücken genannt wurde, hatte sie von Anfang an gemocht. Als sie zum ersten Mal ein kleines Börsengeschäft selbständig am PC durchführen durfte, bat er sie danach in sein Büro, stellte sich auf seinen Schreibtisch und sang für sie «Oh, happy day». Damit wollte er natürlich auch demonstrieren, wie jung er sich noch fühlte, aber es hatte sie trotzdem beeindruckt.

«Na, dann mal los, Frau Riewerts», rief er schwungvoll. Sie durfte heute das erste Mal mit nach ganz oben in die Chefetage. Beim Investment-Meeting sämtlicher Fonds würde der Vorstandsvorsitzende Dr. Herold höchstpersönlich anwesend sein – das bedeutete den Eintritt in die Weltliga der Finanzwelt!

Und das wollte sie auf jeden Fall ausnutzen.

Ihr Plan war es, das Wort geschickt an sich zu reißen und das Projekt vorzustellen, an dem sie die letzten drei Monate gearbeitet hatte. So eine Chance bekam sie nie wieder. Schmidti ahnte nichts von ihrem Coup, es würde auch für ihn eine Überraschung werden. Als sie neben ihm zum Aufzug ging, bebte sie innerlich vor Aufregung. Jetzt wurde es ernst.

Das Meeting fand auf der sechsundzwanzigsten Etage in einem großen Konferenzraum statt, der sich im inneren Teil des Stockwerks befand, ohne Blick nach draußen. Wer hier tagte, sollte durch nichts abgelenkt werden, alles war reduziert auf seine bloße Funktion. Kein Gegenstand, kein Möbelstück, das nicht unmittelbar benötigt wurde, stand herum. Ein langer Tisch und Stühle, ein großer Bildschirm für die Präsentation, das war alles.

Big Boss Dr. Herold war ein älterer Herr mit vollem grauen Haar und einem milden Lächeln. Er nahm an der Stirnseite des langen Tisches Platz und warf einen kurzen Blick in die Runde. Man durfte sein freundliches Äußeres nicht unterschätzen, das erzählten alle in der Bank. Herold konnte in Bruchteilen von Sekunden von freundlich auf knallhart umschalten.

«Guten Morgen, meine Herren – meine Dame!», sagte er.

Sie errötete leicht. Immerhin war sie die einzige Frau an diesem Tisch, und er hatte sie wahrgenommen, das war schon mal ein guter Anfang. Ein Dutzend Männer in dunkelblauen und grauen Anzügen hatten links und rechts vom Tisch Platz genommen. Sie saß mit Schmidti ganz am Ende. Neben Dr. Herold platzierte sich der Chefanalyst der Bank, ein schmallippiger Volkswirt mit einer strengen Brille, der oft und gerne im Fernsehen auftrat.

«Wir wollen nicht viel Zeit verlieren», sagte Dr. Herold. «Beginnen wir mit dem Wachstum-Plus. Herr Kallweit?»

Ihr war nun richtig schlecht vor Aufregung, die großkalibrige Runde wirkte auf sie noch mächtiger, als sie sich es vorgestellt hatte. Zum Glück berichteten erst einmal ein paar Fondsmanager über ihre Ergebnisse und Prognosen, das verschaffte ihr etwas Zeit. Unauffällig rutschte sie aus ihren Ballerinas und stellte ihre nackten Füße auf die Auslegware. Die Bodenhaftung wirkte wie eine Steckdose, aus der frische Energie durch ihren gesamten Körper floss.

Als Schmidti an der Reihe war, war sie einigermaßen entspannt. Sein Fonds lag mit 2 Prozent im Plus, während die Konkurrenz 2 Punkte im Minus lag, das war wirklich hervorragend und versprach am Ende des Jahres eine satte Provision. Schmidti war gut ausgebildet und machte alles richtig. Aber man merkte ihm die vielen Rhetorikkurse an, die er hinter sich hatte, seine Gesten wirkten einstudiert. Im Grunde war das alles hier eine Nummer zu groß für ihn, ihm fehlte etwas, das man nicht erlernen konnte: Charisma.

Ob sie so etwas besaß? – Sie wusste es nicht, notfalls musste es auch ohne gehen. Sie konnte darauf setzen, dass sie jung war und man ihr im schlimmsten Fall alles verzeihen würde.

«Ich möchte noch etwas hinzufügen», meldete sie sich zu Wort, als Schmidti zu Ende gesprochen hatte. Alle Köpfe drehten sich zu ihr. In den Blicken lag bestenfalls Skepsis, eher Verachtung. Was sollte eine Praktikantin zu dieser Runde beitragen? Das konnte ganz niedlich werden, kostete aber wertvolle Zeit.

«Später», zischte Schmidti ihr leise zu und legte gebieterisch seine Hand auf ihren Arm.

«Nein, lassen Sie nur», sagte Dr. Herold und lächelte sie gütig an: «Was gibt es denn?»

Sie drückte ihre nackten Füße fest in den Boden. Von einem Wochenendseminar für Frauen in der Geschäftswelt wusste sie: Ab jetzt durfte sie nur den großen Boss ansehen, alle anderen waren unwichtig. Es war der Kardinalfehler vieler ihrer Geschlechtsgenossinnen, das Wort an alle zu richten, um die Herde zusammenzuhalten. Das war zwar höflich, aber nutzlos. Männer wandten sich instinktiv immer nur ans Alphatier, und zwar zu Recht: Nur was der Chef dachte, war wichtig.

«Mein Name ist Jade Riewerts, ich bin Praktikantin. Parallel zu den offiziellen Anlagen unseres Hauses habe ich eine eigene Strategie verfolgt und bin für unseren Fonds zu abweichenden Ergebnissen gekommen.»

Dr. Herolds Augen blitzten amüsiert auf.

«Will sagen?»

«Dazu sollte ich vorausschicken, dass ich die Hälfte meines Praktikumsgehaltes in seltene Erden und asiatische Immobilienfonds investiert habe, weil ich darin hohes Potenzial sehe. Mit meiner Anlage habe ich statt 2 Prozent ganz genau 4,25 Prozent Zuwachs gemacht.»

Dr. Herold nickte anerkennend.

«Verraten Sie uns, wie?», fragte er.

«Die Basisdaten für den arabischen Raum und Russland wurden meines Erachtens unterbewertet.»

Das war natürlich ein harter Schlag gegen Schmidti, aber sie hatte recht! Schmidti war nett, doch seine Strategien auf dem Finanzmarkt hielt sie für überholt. Das hatte für sie nichts Persönliches, es war allein eine Frage der Zahlen.

Sie stand auf, ging zu Dr. Herold und reichte ihm ihre Mappe.

«Das sehe ich mir gerne an», sagte der mit einem Lächeln, das schon wieder ganz woanders zu sein schien. «Wie war noch Ihr Name?»

«Jade Riewerts.»

«Vielen Dank, Frau Riewerts.» Dann schaute er in die Runde: «Sonst noch etwas?»

Die Versammlung löste sich auf, alle hasteten zurück in ihre Büros. Schmidti verschwand mit ein paar Kollegen in der Kantine.

Mit roten Ohren kehrte sie zu ihrem Arbeitsplatz in den zweiundzwanzigsten Stock zurück. Sie fühlte sich wie eine Rocksängerin nach einem umjubelten Zweistundenkonzert im Frankfurter Waldstadion. Die Sonne stand viel höher am Himmel als zuvor, und ein fetter, zweistöckiger Airbus A 380 flog von Norden auf den Rhein-Main-Flughafen zu. Erst jetzt spürte sie, wie warm ihr trotz der Klimaanlage geworden war. Sie hatte es gewagt und ihre Chance genutzt, das war ihr Tag!

Ihre schwarz gelockte Lieblingskollegin Josefina aus Puerto Rico saß neben ihrem Arbeitsplatz vor vier Bildschirmen und drehte sich schwungvoll auf ihrem Stuhl herum.

«Und?», fragte sie neugierig.

«Yes!», schrie Jade und klatschte laut die Hände zusammen. Dann berichtete sie in allen Einzelheiten, wie positiv Dr. Herold reagiert hatte. Je begeisterter sie erzählte, desto mehr gefror Josefinas Lächeln.

«Meinst du nicht, dass Schmidti jetzt stinksauer ist?», fragte sie besorgt.

«Wieso?»

«Mensch, Jade, du hast ihn vor versammelter Mannschaft bloßgestellt!»

Jade winkte ab.

«Ach was, so was nimmt er sportlich. Nach dem Meeting hat er mir noch mal freundlich zugezwinkert.»

In dem Moment kam Schmidtis Assistentin mit einem künstlichen Lächeln auf sie zu. Jade wurde kurz unsicher. Ob er doch sauer war? Frau Häberle war eine schmallippige ältere Frau mit schwarz gefärbten Haaren. Sie wirkte unfreundlich wie immer. Vielleicht hätte sie sich in ihrer Jugend auch gerne mal das getraut, was Jade gerade durchgezogen hatte.

«Schönen Gruß von Herrn Schmidt», säuselte sie. «Er ist schwer beeindruckt. Sie haben schnell verstanden, worum es in unserem Geschäft geht …»

Jade warf Josefina einen triumphierenden Blick zu: Siehste!

«… Als zukünftige Fondsmanagerin sollten Sie sich mit der gesamten Bank vernetzen, sagt er.»

Hatte sie da richtig gehört? Zukünftige Fondsmanagerin?

Sie konnte kaum noch stillsitzen.

«Klar.»

«Ich soll Sie deswegen in eine Abteilung begleiten, die Sie noch nicht kennen.»

Hatte der große Boss etwa schon angerufen und sie in die Chefetage geordert? Sie erhob sich genüsslich von ihrem Platz und ging mit Frau Häberle zum Aufzug, wo diese den Knopf zum Erdgeschoss drückte.

«Wohin fahren wir?», fragte sie aufgeregt.

«Warten Sie’s ab!»

Es war ihr unangenehm, im Aufzug schweigend neben Frau Häberle zu stehen. Dazu war sie viel zu aufgeregt. Sie überlegte, ob sie etwas sagen sollte.

«Haben Sie schon etwas für den Urlaub geplant?», erkundigte sie sich beiläufig. Das war nicht besonders originell, aber besser als diese Stille. Frau Häberles Augen wurden schmaler, sie blickte an ihr vorbei auf die Knöpfe mit den Etagennummern.

«Ich besuche meine kranke Mutter in Mannheim.»

Okay, man konnte nicht immer gewinnen, nicht mal an einem Tag wie diesem.

«Das tut mir leid.»

Frau Häberle nickte und schwieg, bis sie im Erdgeschoss angelangt waren. Dort gingen sie nach rechts in einen fensterlosen Raum neben den Aufzügen, in dem die Briefpost sortiert wurde. Ein paar Mitarbeiter starrten sie missmutig an, als sie hereinkamen. Die Klimaanlage war ausgefallen, dicke Schweißperlen standen ihnen auf der Stirn, und das Neonlicht ließ sie nicht gerade attraktiver aussehen.