Out in Church -  - E-Book

Out in Church E-Book

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Beschreibung

Im Januar 2022 outeten sich über hundert hauptamtliche, ehemalige und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der katholischen Kirche in Deutschland als LGBTIQ+. Dieses Buch bündelt einige ihrer Erfahrungen, Geschichten und gibt Antworten auf existenzielle Fragen: Was heißt es als nicht binäre Person für ein katholisches Bistum zu arbeiten? Was macht es mit einem Priester, wenn er sein Schwulsein verheimlichen muss? Wie offen darf eine lesbische Religionslehrkraft ihre Identität zeigen? Nimmt mich Kirche so an, wie ich bin? Das sind Fragen, die weit über Deutschland hinausgehen und weltkirchliche Bedeutung haben und die in diesem Buch authentisch und mitreißend geschildert werden, direkt aus dem Leben. Dazu erklären Experten, welche psychischen Auswirkungen es haben kann, wenn sie in der katholischen Kirche ihre sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität verheimlichen müssen oder wie sich Coming-out und sexuelle und geschlechtliche Vielfalt aus moraltheologischer Perspektive einordnen lassen. Das gemeinsame Ziel: Ein drängender Appell für eine »Kirche ohne Angst«, in der Menschen darin offen und ehrlich ihre Identität leben können.

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Michael Brinkschröder | Jens Ehebrecht-Zumsande Veronika Gräwe | Bernd Mönkebüscher | Gunda Werner

Out in Church

Für eine Kirche ohne Angst

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: #OutInChurch

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print: 978-3-451-03367-4

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82752-5

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82753-2

Inhalt

Vorwort

Teil 1: Von #ActOut zu #OutInChurch

Von #ActOut zu #OutInChurch

Alison Schumacher

Wie alles begann und worum es geht

Jens Ehebrecht-Zumsande, Diana S. Freyer und Bernd Mönkebüscher

Manifest

#OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst

#OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst

Unsere Forderungen an die römisch-katholische Kirche

Teil 2: Den ganzen Menschen sehen

1. Zeugnisse lesbischer und schwuler Ordensleute und Priester

»Hier spricht Papst Franziskus …«

James Alison

Geschenk und Berufung – Wie es ist, eine lesbische Ordensschwester zu sein

Mary Janet Rozzano, RSM

Systeme, die Angst erzeugen, gehen auf Kosten der Liebe

Bernd Mönkebüscher

Inkarnation – ein lebenslanger Prozess

Monika Schmelter

Spät habe ich mir erlaubt, gay zu sein

Pierre Stutz

2. Zeugnisse pastoraler Mitarbeitender

Zum Lieben berufen

Barbara Hannah Audebert

G*tt liebt Trans*-Menschen! Aber wie ist das mit der Kirche?

Verfasser*in anonym

Es ist, wie in einem Regal mit Nuss-Nugat-Cremes die Schokocreme zu sein

Laura Meemann

Von Gott gerufen – so, wie ich bin

Verfasserin anonym, Gemeindereferentin in einem bayrischen Bistum

3. Perspektiven aus dem Schuldienst

Die Angst vor der Enttarnung – Leben und arbeiten unter dem Radar

Verfasser anonym

Im Bermudadreieck von Authentizität, Heimlichkeit und Heuchelei

Rut Neuschäfer

»Ja, ich liebe eine Frau!«

Lisa Reckling

Die Kirche ist kein safe space

Chiara Battaglia

»Man muss ja nicht alles sagen«

Verfasserin anonym

4. Perspektiven von Mitarbeitenden aus dem Bildungsbereich

Arbeiten in gelingenden Beziehungen – ein halbwegs geglücktes Coming-out

Rainer Teuber

Von alten und neuen (alten) Plänen

Ramona Krämer

Meine Kirche krankt an all den Lieben, die verschwiegen werden müssen

Raphaela Soden

Teil 3: Für eine Kirche ohne Angst

1. Systemisch-kirchlich: Strukturen der Performativität

»Es gibt uns und wir schweigen nicht länger« – Ein Beitrag zu Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit, Hypersichtbarkeit

Ute Leimgruber

Die Bedeutung queerer Glaubenspraxis für die Kirche

Gunda Werner

Den Käfig der Stereotype auseinandernehmen: queersensible Pastoraltheologie der Weltkirche

Michael Schüßler

Coming-out und katholische Kirche – Theologisch-ethische Reflexionen zur persönlichen Integrität homosexueller Menschen

Simon Konermann

2. Pastoralpsychologische Perspektiven

Die unheilvollen Folgen der Verheimlichung der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität – Ein Beitrag aus psychodynamischer Perspektive

Udo Rauchfleisch

Seelische Zerstörung von Menschenleben – Die psychischen Folgen der kirchlichen Lehre für LGBTIQ+-Personen

Ruben Maximilian Schneider

3. Kirchenrechtliche Perspektiven

LGBTIQ+-Personen im Dienst der Kirche

Georg Bier

Transition: Lehramtliche Beurteilung und kirchenrechtliche Konsequenzen

Bernhard Sven Anuth

4. Bildungszusammenhänge

Genderforschung in der Religionspädagogik

Judith Könemann

»Man würde sie sehen! Und noch dazu würden sie sowieso von selbst gehen« – Die Krise des »placard ecclésial« und der Verleugnung innerhalb der französischen Priesterseminare

Josselin Tricou

Teil 4: Weitende Perspektiven und Solidarität

1. Kirchenpolitisches

Es ist Zeit, dass es Zukunft wird

Hille Haker

Die »Kultur der Angst« überwinden

Klaus Pfeffer

Raus aus der Sackgasse! – Coming-out im kirchlichen Kontext als Chance

Peter Beer

Von Gott geschaffen und geliebt

Birgit Mock

Kraft, Besonnenheit und Gottes Segen

Kerstin Söderblom

2. Queere Netzwerke und LSBTIQ+-Pastoral

Ein Jahrzehnt queerer kirchenpolitischer Aktivismus für eine Kirche ohne Angst – Die Arbeit des Katholischen LSBT+ Komitees

Veronika Gräwe und Michael Brinkschröder

Arbeitsgemeinschaft der Beauftragten für LSBTI*-Pastoral in den deutschen Diözesen – Eine Standortbestimmung

Aurica Jax und Andreas Heek

Römisch-katholische LGBTIQ+-Organisationen in Brasilien

Cris Serra

Die Unterschriftenaktion #mehrSegen und die Macht der Solidarisierung

Burkhard Hose und Bernd Mönkebüscher

Unconditional Love

Ursula Hahmann und Klaus Nelißen

3. Solidarität

Für eine Kirche ohne Angst

Bundesvorstand der kfd

Kirche lebt in und durch Beziehungen

Maria Flachsbarth, Präsidentin des KDFB

Theologie als Machtpolitik – Diskriminierungsstrategien in der katholischen Kirche

Maria Mesrian, engagiert bei Maria 2.0

Theologisch entschieden für eine Kirche ohne Angst – Statement AGENDA, Forum katholischer Theologinnen

Diana S. Freyer, Gunda Werner

Für eine Kirche, die die Vielfalt lebbar und erfahrbar macht – Statement des SKM Bundesverbandes

Stephan Buttgereit, Generalsekretär des SKM Bundesverband

Jugendverbände als Unterstützende und Lernende

Gregor Podschun, BDKJ-Vorsitzender

Für einen angstfreien, liebevollen und menschenfreundlichen Blick auf Sexualität

Magnus Lux und Sigrid Grabmeier, KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche

Autor*innenverzeichnis

Anonymisierte Beiträge

Vorwort

»Es ist die Freude, in das Land der Freiheit gekommen zu sein.« Mit diesem Wort des Jesuiten Ralf Klein endet die ARD-Dokumentation »Wie Gott uns schuf«, erstmalig ausgestrahlt am 24. Januar 2022. Darin erzählen 100 Menschen, die sich als LGBTIQ+ identifizieren, vom Kampf um ihre Kirche und in der Kirche. Für viele ist ihre Beteiligung an der Dokumentation mit dem Risiko verbunden, dadurch ihre Arbeit zu verlieren.

»Wie Gott uns schuf« wäre in dieser Form ohne die zeitgleich gestartete Kampagne #OutInChurch nicht denkbar. Beides hat viele Menschen berührt, und zwar unabhängig von der eigenen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität. Queere Mitarbeitende in der Kirche zeigen sich, erzählen aus ihrem Leben, von ihren Verwundungen, von dem, wie sehr die kirchliche Lehre sie krank gemacht hat, und entwachsen zugleich einer passiven Rolle, indem sie sichtbar werden und Forderungen an die Kirche stellen. 

Wunden sind immer sprechend und bedeutungsvoll. Das wissen wir spätestens seit Ostern, wo ausgerechnet die Wunden Christi von Auferstehung künden.

»Es ist die Freude, in das Land der Freiheit gekommen zu sein.« Dieses Wort erinnert an die Exodus-Erfahrung des Volkes Israel: Menschen lassen die »Fleischtöpfe Ägyptens« hinter sich und gehen einen beschwerlichen Weg. Es ist aber ein Weg, der in die Freiheit führt, weil sie zurücklassen, was sie versklavt, erdrückt und nicht sie selbst sein lässt. 

»Nun sprechen wir selbst« ist ein zentraler Satz in dem zur Kampagne gehörenden Manifest. Wir wollen nicht, dass man über uns spricht. Selbst zu Wort kommen, selbst reden dürfen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sogar Kern unseres Glaubens, wenn wir sagen: In Jesus kommt Gott selbst zu Wort und spricht sich aus. In der Kirche ist das leider immer noch schwierig bis unmöglich, weil so manches gar nicht ins Wort kommen darf, ohne dass Sanktionen zu befürchten wären.

Viele Menschen, Verbände und Institutionen solidarisieren sich, indem sie das Manifest und die Forderungen unterschreiben. Gleichzeitig wächst die Zahl kirchlicher Mitarbeitender, die sich ebenfalls outen. Möglicherweise gibt diese Kampagne sogar auch einen Anstoß, der ein Coming-out etwa im Profifußball konkreter werden lässt.

War also alle Angst umsonst? 

Mitnichten. Selbst wenn die Anfang Februar 2022 stattgefundene Dritte Synodalversammlung des Synodalen Weges in erster Lesung wichtige Texte des Forum VI, »Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft« verabschiedet hat, so gibt es weiterhin die Stimmen, die sich gegen eine »lehramtliche Präzisierung und Neubewertung der Homosexualität«, wie sie einer der beiden sogenannten Handlungstexte dem Papst empfiehlt, sperren. Der entsprechende Handlungstext stellt fest, dass ausgelebte gleichgeschlechtliche Sexualität keine Sünde und »nicht als in sich schlecht zu beurteilen« sei. »Da die homosexuelle Orientierung zur Identität des Menschen gehört, wie er von Gott geschaffen wurde, ist sie ethisch grundsätzlich nicht anders zu beurteilen als jede andere sexuelle Orientierung.«1 Im Zuge dessen seien Segensfeiern für homosexuelle Menschen (ebenso wie für geschieden wiederverheiratete Menschen) nicht nur zu ermöglichen, sondern voll zu bejahen.

Abzuwarten bleibt, ob derartige Texte – auch die, die sich mit der Transidentität und Intergeschlechtlichkeit von Menschen auseinandersetzen – bei der nächsten Vollversammlung die nötige Zweidrittelmehrheit seitens der Bischöfe bekommen. Abzuwarten bleibt weiter, wie und wann der Papst auf derartige Empfehlungen reagiert und wie wiederum die Bischöfe reagieren, sollten die Empfehlungen keine Umsetzung erfahren. Abzuwarten bleibt aber auch, wie die Menschen reagieren, wenn die Handlungstexte nicht umgesetzt, Arbeitsrecht nicht verändert, das »Land der Freiheit« also kein – auch rechtlich abgesichertes – reales Land wird.

Der vorliegende Band2 möchte einerseits einen Beitrag zu den gegenwärtigen Diskussionen leisten, indem er »Exodus-Geschichten« festhält und beschreibt, wie entscheidend diese Geschichten für die Erzählenden selbst, aber auch für die Erzählgemeinschaft Kirche sind; andererseits beleuchtet er aus verschiedensten Perspektiven der Theologie, der Psychologie und der Perspektive engagierter Verbände und Einzelpersonen diesen Weg in das »Land der Freiheit«, der nicht zu stoppen ist, es sei denn, wir würden die Osterbotschaft selbst beschneiden und aus dem gelebten Alltag verbannen.

Wir Herausgeber*innen bedanken uns bei allen Autor*innen für ihr Engagement und ihre Beiträge, bei Brigitte Domanski und Andrea Granitz für die Erstellung und Korrektur des Manuskripts. Wir freuen uns über das ständig wachsende Netzwerk von Menschen, die »die Freude, in das Land der Freiheit gekommen zu sein«, erleben und bezeugen. Heute, am 10.02.2022, können wir noch gar nicht alle Wirkungen von #OutInChurch voll erfassen, aber wir freuen uns auf die weiteren Wege.

Berlin, Bochum, Hamburg, Hamm, München

Michael Brinkschröder, Jens Ehebrecht-Zumsande, Veronika Gräwe, Bernd Mönkebüscher, Gunda Werner

1 Vorlage des Synodalforums IV, »Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft« zur Ersten Lesung auf der Dritten Synodalversammlung (03.–05.02.2022), für den Handlungstext »Lehramtliche Neubewertung von Homosexualität« https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/SV-III-Synodalforum-IV-Handlungstext.LehramtlicheNeubewertungVonHomosexualitaet-Lesung1.pdf.

2 Die im Buch verwendeten Internetlinks sind am 25.03.2022 kontrolliert worden.

Teil 1 Von #ActOut zu #OutInChurch

Von #ActOut zu #OutInChurch

Alison Schumacher

Am 5. Februar 2021 veröffentlichte das Magazin der Süddeutschen Zeitung das Manifest der Initiative #ActOut. In diesem outeten sich mehr als 185 Schauspieler*innen als lesbisch, schwul, bi, trans*, queer, inter und nichtbinär. Mit den Worten »Wir sind hier und wir sind viele!« startet das Manifest, das nun auf einer eigenen Website in 16 Sprachen abrufbar ist. Die Mitglieder von #ActOut setzen sich für mehr Sichtbarkeit und Anerkennung von queeren Identitäten in der deutschen Film-, Fernseh- und Theaterbranche ein.

Auf #ActOut folgten weitere Initiativen wie #KickOut, #PilotsOut, #TeachOut und nun auch #OutInChurch. Hinter all diesen Hashtags verbirgt sich ein gemeinsames Ziel: der Wunsch nach Akzeptanz.

Als ich von #ActOut erfahren habe, war ich sofort Feuer und Flamme. Bevor ich mich im Zuge der Initiative als nichtbinäre Person geoutet habe, habe ich viel mit meiner Geschlechtsidentität gehadert. Ich kannte niemanden, von dem ich wusste, dass er genauso fühlt wie ich. Auch in Film und Fernsehen habe ich keine Repräsentation gefunden. Ich habe Geschichten gehört von Schauspieler*innen, denen gesagt wurde, sie wären »zu schwul« für eine Rolle oder »nicht weiblich genug«. #ActOut hat mir gezeigt, dass ich nicht allein bin. Dass ich mich und meine Identität nicht für meinen Beruf verstecken muss. Dass es mir nicht zum Nachteil werden sollte, wer ich bin und wen ich liebe.

Repräsentation ist wichtig. Findet mensch keine, kann mensch sich schnell einsam und alleingelassen fühlen. Gerade Religion und Spiritualität sind oft sehr persönliche Angelegenheiten. In einer Religion, die Nächstenliebe predigt, fragt mensch sich jedoch, warum diese Liebe an Bedingungen geknüpft sein soll.

Mit #OutInChurch treten Menschen an die Öffentlichkeit. Mitarbeiter*innen der römisch-katholischen Kirche und Christ*innen outen sich als lesbisch, schwul, bi, trans*, queer, inter und nichtbinär. Damit sorgt #OutInChurch für die notwendige Repräsentation, um eine Veränderung zu schaffen. Eine Kirche ohne Angst. Eine Kirche, in der mensch sich gut aufgehoben fühlen kann, egal mit welcher Sexualität oder Geschlechtsidentität mensch sich identifiziert. Dies ist der erste wichtige Schritt hin zu mehr Akzeptanz und Anerkennung, weg von Diskriminierung und diffamierenden Aussagen in der kirchlichen Lehre, was Geschlecht und Sexualität betrifft.

Wenn sich die Kirche als Institution für LGBTIQ+-Personen ausspricht und ihre Lehren zeitgemäß anpasst, so verändert das die Auffassung eines Großteils unserer Gesellschaft zu derartigen Themen. Es verspricht denen Schutz und Sicherheit, die Teile von sich (wie Sexualität oder Geschlecht) bisher verstecken mussten. Es bietet queeren Personen ihren wohlverdienten Platz in einer Kirche, die akzeptiert und willkommen heißt.

Durch Initiativen wie #ActOut, #OutInChurch und den übrigen oben genannten verändert sich unsere Gesellschaft Schritt für Schritt. Wir finden mehr safe spaces für LGBTIQ+-Personen, schütteln Vorurteile ab und klären über Missstände auf, damit mensch authentisch leben kann.

Die Kampagne #ActOut im Magazin der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte gemeinsam mit dem Manifest auch Interviews mit einigen der Gründer*innen und Unterzeichner*innen. Diese persönlichen Berichte schaffen eine Nähe zu den Schauspieler*innen und ihren Erfahrungen. Sie zeigen auf, was jede*n von ihnen dazu bewogen hat, sich #ActOut anzuschließen.

Den biografischen Erzählungen der Kirchenmitarbeiter*innen kann man entnehmen, warum derartige Initiativen so wichtig sind und dass es jeden von uns betrifft, wie mit Themen wie Sexualität und queeren Identitäten umgegangen wird.

Als Teil von #ActOut ist es mir und vielen anderen Mitgliedern eine Freude, als Inspiration der Bewegung #OutInChurch genannt zu werden. Dass wir inspirieren und Veränderung vorantreiben, ist eines der Ziele unserer Initiative. Was unser Manifest umfasst, lässt sich auch in den Kernaussagen von #OutInChurch wiederfinden.

»Bisher konnten wir in unserem Beruf mit unserem Privatleben nicht offen umgehen, ohne dabei berufliche Konsequenzen zu fürchten. Noch zu oft haben viele von uns die Erfahrung gemacht, dass ihnen geraten wurde, […] die eigene sexuelle Orientierung, Identität sowie Gender geheim zu halten, um unsere Karrieren nicht zu gefährden. Das ist jetzt vorbei« (#ActOut Manifest, 2021).

Wie alles begann und worum es geht

Jens Ehebrecht-Zumsande, Diana S. Freyer und Bernd Mönkebüscher

Jens

Es war am 5. Februar 2021 früh morgens: Mit dem ersten Kaffee in der Hand schlage ich die Süddeutsche Zeitung auf und blicke auf das Magazin. Schlagartig bin ich hellwach. Ich schaue auf eine Bildergalerie vieler bekannter Schauspieler*innen und die Zeile »Wir sind schon da«. 185 Schauspieler*innen outen sich als lesbisch, schwul, bisexuell, queer, nichtbinär und trans*. Im Heft selbst lese ich berührende Interviews und ein Manifest unter ­#ActOut, was mich sofort anspricht.

Vor Aufregung kann ich gar nicht richtig frühstücken. Ich fotografiere das Cover, poste es in meinen Social-Media-Kanälen und schreibe dazu: »#ActOut. So genial! Vielleicht sollten wir auch ein #rkchurchout starten.« Schon wenige Augenblicke später kommen die ersten Reaktionen: Likes und Herzen, aber auch Kommentare, die Zustimmung oder Bedenken ausdrücken. Andere fragen danach, wann und wo es losgeht oder wie sie mich unterstützen können. So geht es in den folgenden Stunden munter weiter. Am Ende des Tages sind es mehrere hundert Reaktionen auf verschiedenen Kanälen.

Ein Kommentar war jedoch entscheidend! Bernd Mönkebüscher schrieb schon frühmorgens: »Bin dabei! Wer nimmt es in die Hand?« Aus meiner Antwort »Bernd. Sollen wir?« wurde schließlich ein: »Das machen wir!«

Bernd

Tags darauf gingen die ersten Mails hin und her. Jens begann Skizzen für ein Manifest zu schreiben. Super!, dachte ich. Es formt sich etwas. Es nimmt Gestalt an, worauf ich lange gewartet habe. Wir krempeln die Ärmel hoch, bündeln alle Hoffnungen und glauben, dass das möglich ist: sich in der Kirche nicht mehr verstecken zu müssen aufgrund der geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung.

Wir überlegten, wen wir mit ins Boot nehmen könnten, wohl wissend, dass das Wichtigste, was die ganze Aktion begleiten muss, Vertrauen und Vertraulichkeit sind. Wir nahmen unsere Kontakte in den Blick und luden kurzerhand zu einer ersten Zoomkonferenz am 19. Februar ein. Und wie schön: Wir konnten mit über 90 Teilnehmenden starten.

Natürlich standen am Anfang viele Fragen und wir hatten nicht im Blick, was alles zu bedenken wäre. Aber uns war klar: Uns liegt trotz vieler Enttäuschung und Verletzung an der Kirche, und wir wollen sie verändern, minderheitenfreundlich ausrichten, denn sonst kann sie nicht menschenfreundlich sein.

Jens

Im schon erwähnten SZ-Magazin schreiben Carolin Emcke und Lara Fritzsche, die die Interviews mit den Schauspieler*innen der #ActOut-Kampagne geführt haben:»›Würden Sie alle sagen, dass dieses Interview für Sie eine Lebensentscheidung ist?‹ Es wird die siebte Frage sein, und die sechs Schauspieler*innen, die hier zusammengekommen sind, werden unisono das Gleiche antworten: ›Ja!‹«

Ein solches »Ja!« gilt sicher auch für viele, vermutlich sogar für alle Mitwirkenden unserer #OutInChurch-Kampagne. Sich zu zeigen als lesbische, schwule, bisexuelle, nichtbinäre, trans* oder queere Person in der römisch-katholischen Kirche erfordert immer noch Mut, besonders für Mitarbeitende der Kirche, deren berufliche Existenz bei einem Coming-out gefährdet ist. Viele unserer Mitwirkenden haben in den langen Monaten, in denen wir unsere Kampagne entwickelt haben, vor allem immer wieder Angst gespürt. Diese Angst wahrzunehmen und ernst zu nehmen, ohne ihr zu viel Macht zu geben, ist oft eine Gratwanderung. Gut, wenn es dabei Verbündete gibt.

Was uns bei allen Ängsten und Bedenken und auch trotz aller Unterschiedlichkeit verbindet, ist ein Hoffnungstrotz und der Wunsch nach Veränderung, der groß und stark ist. Eine Sehnsucht nach einer Kirche, die ein sicherer Ort für queere Menschen ist. Der Realismus und die Erfahrung, dass solche Orte immer von denen erkämpft und geschaffen werden müssen, die sie ersehnen. So wie es der Schriftsteller James Baldwin einmal ausgedrückt hat: »Der Ort, an den ich passen werde, wird nicht existieren, bis ich ihn geschaffen habe.«

Bernd

Orte schaffen. Vielfältig, farbenfroh. Sich den Glauben nicht nehmen lassen, dass das geht, Gegenwind in Kauf nehmen, einander ermutigen, sich verbinden und gegenseitig stärken, zusammen weinen und stolz sein auf jeden Schritt, der zu mehr Echtheit und Ehrlichkeit führt.

Ich glaube, dass es diese für jeden Menschen passenden Orte längst schon gibt, von Beginn des Lebens an, nämlich in Gott. Darum wurden die Zoomkonferenzen zu Glaubenszeugnissen, darum werden die Coming-outs zu Glaubenszeugnissen: Menschen öffnen sich, kommen aus sich heraus, überwinden die Angst, nehmen sich so an, wie sie sich von Gott geschaffen glauben, nehmen das mit in die Wiege Gelegte als geschenkte Talente, die eingebracht werden wollen, vertrauen, dass Gott den Rücken stärkt, besonders da, wo menschliche Mächte einschüchtern und kleinhalten wollen. Gott bekommt dort Raum im Leben, wo Menschen sich zeigen (können), wie sie sind.

Diana

Für jede und jeden, die durch #OutInChurch die Lebensentscheidung treffen konnten, aus der Angst herauszutreten, hat es sich schon gelohnt. Denn von der ersten Zoomkonferenz an war unsere Aktion beides: stärkende Seelsorge und kirchenpolitische Kampagne. Sich überhaupt einzuwählen, war für manche eine Hürde, sich mit Bild zu zeigen zunächst undenkbar. Die eigenen Geschichten wurden erzählt, von den einen flüssig und ohne Scheu, von anderen zaghaft, tastend, vielleicht zum ersten Mal. Erfahrene Verletzungen wurden geteilt in diesem Raum, der sich da digital eröffnete. Mut konnte wachsen, genauso wie die Begeisterung darüber, nun endlich vernetzt, gemeinsam öffentlich zu sagen: Wir sind hier, wir sind schon seit Langem da, und wir sind selbstverständlicher Teil der katholischen Kirche. Um die Art und Weise genauso wie um den Zeitpunkt dieses öffentlichen Zeugnisses haben wir sehr basisdemokratisch gerungen. Soll es möglichst schnell losgehen oder gibt es einen strategisch richtigen Moment – beispielsweise mit Blick auf den Fortgang des Synodalen Wegs? Soll die Kampagne starten mit denen, die gerade da sind, oder versuchen wir, als Gruppe noch zu wachsen? Kann es gelingen, durch die vielen, die dabei sind, so wirkmächtig zu sein, dass Einzelne geschützt werden können vor negativen Folgen ihres mutigen Schritts?

Nun, ein gutes Jahr nach dem ersten Impuls im Februar 2021, sind die Ideen immer größer, die Beteiligten immer entschlossener und die Unterstützer*innen immer zahlreicher geworden. Am 24. Januar 2022 ist unsere Kampagne #OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst gestartet. Hinter jedem einzelnen Foto auf der Homepage (www.outinchurch.de) steht eine persönliche Geschichte, und es kommen immer weitere hinzu.

Das Manifest macht unmissverständlich klar, wofür wir stehen und welche Veränderungen wir in unserer römisch-katholischen Kirche für unabdingbar halten. Quer durch die kirchliche Landschaft zeigen sich Verbände, Gruppen und Einzelpersonen solidarisch mit unserem Anliegen. Innerhalb von zwei Wochen haben bereits 100.000 Menschen die Petition mit den Forderungen von #OutInChurch unterzeichnet. Verstärkt durch die ARD-Dokumentation »Wie Gott uns schuf« und Medienberichterstattung machen wir die Gesellschaft auf Diskriminierungserfahrungen aufmerksam, die sich in ihrer Mitte ereignen.

Auch das vorliegende Buch ist ein weiterer Schritt auf dem Weg, den wir als Bewegung verstehen und hinter die wir nicht zurückgehen werden.

Manifest

#OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst

Wir sind’s! Es wurde viel über uns gesprochen. Nun sprechen wir selbst.

Wir, das sind hauptamtliche, ehrenamtliche, potenzielle und ehemalige Mitarbeiter*innen der römisch-katholischen Kirche. Wir arbeiten und engagieren uns unter anderem in der schulischen und universitären Bildung, in der Katechese und Erziehung, in der Pflege und Behandlung, in der Verwaltung und Organisation, in der sozialen und caritativen Arbeit, als Kirchenmusiker*innen, in der Kirchenleitung und in der Seelsorge.

Wir identifizieren uns unter anderem als lesbisch, schwul, bi, trans*, inter, queer und nichtbinär.

Unsere Gruppe ist vielfältig. Zu ihr gehören Menschen, die schon in der Vergangenheit mutig und oft im Alleingang ihr Coming-out im kirchlichen Kontext gewagt haben. Zu ihr gehören aber auch Menschen, die sich erst jetzt entschieden haben, diesen Schritt zu gehen, und solche, die diesen Schritt aus unterschiedlichen Gründen noch nicht gehen können oder wollen. Was uns eint: Wir alle waren schon immer Teil der Kirche und gestalten und prägen sie heute mit.

Die meisten von uns haben mannigfach Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung gemacht – auch in der Kirche. Vonseiten des kirchlichen Lehramtes wird u. a. behauptet, dass wir »keine korrekten Beziehungen«1 zu anderen Menschen aufbauen können, aufgrund unserer »objektiv ungeordneten Neigungen«2 unser Menschsein verfehlen und dass gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht »auf die geoffenbarten Pläne Gottes hingeordnet anerkannt werden können«3.

Derartige Aussagen sind im Licht theologisch-wissenschaftlicher und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse weder länger hinnehmbar noch diskutabel. Dadurch werden queere Liebe, Orientierung, Geschlecht und Sexualität diffamiert und unsere Persönlichkeit entwertet.

Eine solche Diskriminierung ist ein Verrat am Evangelium und konterkariert den evangeliumsgemäßen Auftrag der Kirche, der darin besteht, »Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit«4 zu sein.

Angesichts dieser Zustände wollen wir nicht länger schweigen. Wir fordern eine Korrektur menschenfeindlicher lehramtlicher Aussagen – auch in Anbetracht weltweiter kirchlicher Verantwortung für die Menschenrechte von LGBTIQ+-Personen. Und wir fordern eine Änderung des diskriminierenden kirchlichen Arbeitsrechts einschließlich aller herabwürdigenden und ausgrenzenden Formulierungen in der Grundordnung des kirchlichen Dienstes.

Denn: Bisher können viele von uns in ihrem kirchlichen Beruf oder Umfeld mit ihrer geschlechtlichen Identität und/oder mit ihrer sexuellen Orientierung nicht offen umgehen. Es drohen arbeitsrechtliche Konsequenzen bis hin zur Zerstörung der beruflichen Existenz. Manche von uns kennen Situationen, in denen Bischöfe, Generalvikare oder andere Leitungspersonen sie genötigt haben, ihre sexuelle Orientierung und/oder ihre geschlechtliche Identität geheim zu halten. Nur unter dieser Bedingung wurde ihnen ein Verbleib im kirchlichen Dienst gestattet. Damit ist ein System des Verschweigens, der Doppelmoral und der Unaufrichtigkeit etabliert worden. Es produziert zahlreiche toxische Wirkungen, beschämt und macht krank; es kann einen negativen Einfluss auf die persönliche Gottesbeziehung und auf die persönliche Spiritualität haben.

Alle in der Kirche, insbesondere die Bischöfe in ihrer Leitungsfunktion, sind dafür verantwortlich, eine Kultur der Diversität zu schaffen, sodass LGBTIQ+-Personen ihren Beruf und ihre Berufung in der Kirche offen und angstfrei leben können und dabei Wertschätzung erfahren.

Die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität sowie das Bekenntnis hierzu wie auch das Eingehen einer nicht heterosexuellen Beziehung oder Ehe dürfen niemals als Loyalitätsverstoß gelten und folglich Einstellungshindernis oder Kündigungsgrund sein. LGBTIQ+-Personen müssen freien Zugang zu allen pastoralen Berufen erhalten.

Weiter muss die Kirche in ihren Riten und Feiern zum Ausdruck bringen, dass LGBTIQ+-Personen, ob allein oder in Beziehung lebend, von Gott gesegnet sind und dass ihre Liebe vielfältige Früchte trägt. Hierzu zählt mindestens auch die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, die um einen solchen Segen bitten.

Mit all diesen Forderungen gehen wir gemeinsam den Schritt an die Öffentlichkeit. Wir tun dies für uns und wir tun dies in Solidarität mit anderen LGBTIQ+-Personen in der römisch-katholischen Kirche, die dafür (noch) nicht oder nicht mehr die Kraft haben. Wir tun dies in Solidarität mit allen Menschen, die der Stereotypisierung und Marginalisierung durch Sexismus, Ableismus, Antisemitismus, Rassismus und jegliche andere Formen von Diskriminierung ausgesetzt sind.

Wir tun dies aber auch für die Kirche. Denn wir sind davon überzeugt, dass nur ein Handeln in Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit dem gerecht wird, wofür die Kirche da sein soll: die Verkündigung der frohen und befreienden Botschaft Jesu. Eine Kirche, die in ihrem Kern die Diskriminierung und die Exklusion von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten trägt, muss sich fragen lassen, ob sie sich damit auf Jesus Christus berufen kann.

Lebensentwürfe und Lebenserfahrungen queerer Menschen sind vielfältige Erkenntnisorte des Glaubens und Fundstellen göttlichen Wirkens. Wir sind überzeugt und wir erleben, dass unsere Vielfalt die Kirche reicher, schöpferischer, menschenfreundlicher und lebendiger macht. Als kirchlich Engagierte wollen wir unsere Lebenserfahrungen und unsere Charismen deshalb in die Kirche auf Augenhöhe einbringen und sie mit allen Christ*innen und Nicht-Christ*innen teilen.

Für einen Neuanfang ist es unumgänglich, dass Kirchenleitende für die unzähligen Leiderfahrungen, die LGBTIQ+-Personen in der Kirche gemacht haben, die Verantwortung übernehmen, die Schuldgeschichte der Kirche aufarbeiten und unseren Forderungen folgen.

Der Kampf für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung darf nicht allein den marginalisierten Minderheiten überlassen werden. Er geht alle an.

Mit diesem Manifest treten wir für freies und von Anerkennung der Würde aller getragenes Zusammenleben und Zusammenarbeiten in unserer Kirche ein. Wir laden darum alle, insbesondere die Verantwortlichen und Kirchenleitungen, dazu ein, dieses Manifest zu unterstützen.

#OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst

Unsere Forderungen an die römisch-katholische Kirche

Wir wollen als LGBTIQ+-Personen in der Kirche ohne Angst offen leben und arbeiten können.LGBTIQ+-Personen müssen einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen Handlungs- und Berufsfeldern in der Kirche erhalten.Das kirchliche Arbeitsrecht muss geändert werden. Ein offenes Leben entsprechend der eigenen sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität, auch in einer Partnerschaft beziehungsweise Zivilehe, darf niemals als Loyalitätsverstoß oder Kündigungsgrund gewertet werden.Diffamierende und nicht zeitgemäße Aussagen der kirchlichen Lehre zu Geschlechtlichkeit und Sexualität müssen auf Grundlage theologischer und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse revidiert werden. Dies ist besonders in Anbetracht weltweiter kirchlicher Verantwortung für die Menschenrechte von LGBTIQ+-Personen von höchster Relevanz.Die Kirche darf LGBTIQ+-Personen bzw. -Paaren den Segen Gottes sowie den Zugang zu den Sakramenten nicht vorenthalten.Eine Kirche, die sich auf Jesus und seine Botschaft beruft, muss jeder Form von Diskriminierung entschieden entgegentreten und eine Kultur der Diversität fördern.Im Umgang mit LGBTIQ+-Personen hat die Kirche im Lauf ihrer Geschichte viel Leid verursacht. Wir erwarten, dass die Bischöfe dafür im Namen der Kirche Verantwortung übernehmen, die institutionelle Schuldgeschichte aufarbeiten und sich für die von uns geforderten Veränderungen einsetzen.

1 U. a.: Kongregation für den Klerus: Das Geschenk der Berufung zum Priestertum. Ratio Fundamentalis Institutionis Sacerdotalis (2016), Nr. 199.

2 U. a.: Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen (2003), und: Katechismus der Katholischen Kirche (1997), Nr. 2357.

3 Kongregation für die Glaubenslehre: Responsum ad dubium – Über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts (2021).

4 II. Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium 1.

Teil 2Den ganzen Menschen sehen

1. Zeugnisse lesbischer und schwuler Ordensleute und Priester

»Hier spricht Papst Franziskus …«1

James Alison

Ich denke, die Geschichte beginnt 1994, als ich nach ganzen sechs Jahren als Priester erkannte, dass ich nicht länger so tun konnte, als ob gleichgeschlechtliche Liebe falsch sei. Der verängstigte Junge, der die offizielle Linie akzeptiert hatte, nach der er objektiv ungeordnete Neigungen habe und der Zölibat deswegen eine Verpflichtung sei, war endlich erwachsen geworden. Verbunden mit dieser Erkenntnis stellte sich eine ganze Reihe weiterer Erkenntnisse ein, die alle miteinander verbunden waren. Erstens, dass jegliche Gelübde oder Versprechen nichtig sind, wenn eine der Parteien die andere beim Ablegen derselben angelogen hat. Und in diesem Fall hat die kirchliche Autorität mich und so viele andere angelogen in Bezug darauf, wer wir sind.

Während Menschen wie ich bereuen können, dass wir zuließen, dass diese Lüge Einfluss auf die Formung unserer Seelen nahm, sind die römischen Kongregationen leider nicht in der Lage, ihre Unwahrheit, die so viele von uns übernommen haben, zu diskutieren oder zu berichtigen. Gleichzeitig wusste ich: Sollte ich als Theologe arbeiten wollen (mein Traumberuf: Professor am Priesterseminar wie mein geliebter Lehrer in Brasilien, der verstorbene Ulpiano Vázquez Moro SJ), müsste ich bei dieser Lüge mitspielen. Und welchen Wert sollte es haben, als Theologe zukünftige Priester zu unterrichten, wenn ich sowohl in meiner Lehre als auch in meiner Vorbildfunktion darüber lügen und schweigen müsste, wer die meisten von uns sind? Doch andererseits: Welchen Wert würde ein loyaler und bekennender Theologe, der jedoch versucht, innerhalb seines Einflussgebiets die Wahrheit zu sagen, außerhalb der kirchlichen Strukturen haben? In beiden Fällen: gar keinen.

Da beides für mich keine Lösung war, verließ ich die kirchliche Welt, die ich so liebte und in der ich gehofft hatte, mein Leben zu verbringen, und sprang sozusagen ins kalte Wasser des »echten Lebens«. Von dort aus »watete« ich langsam durch einen Nervenzusammenbruch, durch Arbeitslosigkeit und endlich hinaus aus dem finanziellen Infantilismus, in den wir Kleriker so leicht hineingeführt werden. Als mir klar wurde, dass ich nur ein Gast, aber kein Mitglied der Dominikaner gewesen war (für deren Lehren, Gastfreundschaft und manche lebenslange Freundschaft ich nichts als Dankbarkeit empfinde), schrieb ich 1996 einen Brief an die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, in dem ich meine Geschichte erzählte, die Ungültigkeit meiner Gelöbnisse und Versprechen erklärte und anbot, meine Ordination aufzuheben. Daraufhin erreichte mich ein Dreizeiler, in dem die Gültigkeit meiner Ordination bestätigt, ich jedoch aufgefordert wurde, die Laisierung zu beantragen. Um das zu tun, hätte ich wieder Lügen erzählen müssen. Also folgte ich dem Rat eines Kirchenrechtsanwaltes und tat nichts – und hörte nichts.

Währenddessen erwachte ich langsam aus der zähneklappernden, depressiven Lähmung, in die ich gefallen war. Dank der Ermutigung einiger weltlicher Freunde begann ich, wieder theologisch produktiv zu werden. Und endlich traute ich mich, die Gottesdienstleitung zu übernehmen und zu predigen, wenn ich von unterschiedlichen Gastgeber*innen darum gebeten wurde, die aber alle genug wussten, um darüber nicht empört zu sein. Und so stellte ich fest, dass ich im Zweifelsfall als Priester handeln konnte, solange das keinen Skandal verursachte. Das war einfacher, als es mir zunächst erschienen war, denn diejenigen, die mich als schwulen Priester skandalös fanden, würden mich wohl kaum einladen, einen Gottesdienst zu leiten. Meine Versuche, Bischöfe oder Kardinäle zu sprechen, die meinen kirchenrechtlichen Status hätten »lösen« können, wurden regelmäßig zurückgewiesen – und mehr als einer von ihnen behauptete, es sei unklug für ihn, sich mit mir zu treffen. Viele Briefe blieben unbeantwortet. Ein paar freundliche, Mitra tragende Schwule waren zwar erfreut, sich mit mir zu unterhalten, machten aber gleichzeitig deutlich, nichts für mich tun zu können.

Über zehn Jahre vergingen. Schließlich fragte mich ein ordnungsliebender Dominikaneroberer, ob ich damit einverstanden sei, dass er sich um den Papierkram kümmere, um meine Mitgliedschaft im Orden aufzuheben. Ich hatte keine Einwände gegen das Vorgehen, da ich meine Mitgliedschaft schon vor Langem für nichtig erklärt hatte. Allerdings konnte ich an dem Prozess nicht mitwirken. Ich hätte vorgeben müssen, dass es etwas gibt, für das ich eine Dispens benötigte. Zum Glück war das aus seiner Sicht kein Problem. Ihm reichte es, dass ich die Benachrichtigung über den Vorgang erhalten hatte, dem aber nicht zustimmen musste. Er war so freundlich, den zuständigen Stellen zu erklären, dass ich Gewissensgründe geltend gemacht habe. Schließlich erhielt ich ein Dokument, das bestätigte, dass weder die Dominikaner noch ich Verpflichtungen dem jeweils anderen gegenüber hätten. Es bestätigte aber auch, dass ich ein unbescholtener Priester ohne Inkardination sei, jedoch inkardiniert werden könne, sollte ein Bischof kühn genug sein, mich zu nehmen.

Ein paar Jahre später fand ich mich in Brasilien als Begleitung eines angehenden LGBT-Apostolats wieder. Auf ein frühes Schreiben an den örtlichen Kardinal erfolgte keine Antwort. Als er mich später zu sich rief, zeigte er sich verärgert darüber, dass ein Zeitungsinterview, das ich gegeben hatte, unglücklicherweise gleich neben einer Kolumne erschienen war, die er anlässlich des CSD verfasst hatte. Er akzeptierte meine Erklärung, dass es nicht meine Absicht gewesen war, ihm die Schau zu stehlen – schließlich war ich lange nicht vor Ort gewesen und wusste nichts von den Plänen dieser Zeitung. Jedoch sagte er mir sehr deutlich, dass er mich laisieren wolle. Dazu brauchte er mein Einverständnis. Das ich ihm nicht gab. Bei einem späteren Treffen mit der gleichen Forderung konfrontiert, bot ich ihm an, dass er mich in seiner Erzdiözese inkardinieren könne, wenn er wolle (wodurch ich ihm Kontrolle über mich gegeben hätte). Er lehnte sofort ab. Kurz danach – inzwischen war Franziskus Papst geworden – erwirkte er eine Veränderung im kanonischen Recht und initiierte das Verfahren einer erzwungenen Laisierung. Diese Art von Verfahren war eigentlich darauf ausgerichtet, Bischöfen die Berechtigung zu geben, Priester von ihrer Liste zu streichen, die, ohne die notwendigen Formalitäten erledigt zu haben, vor vielen Jahren die Kirche verlassen hatten, um zu heiraten und nun nicht auf Briefe antworteten. Ein völlig anderer Fall als meiner.

Etwa ein Jahr später bekam ich einen Brief von der Kongregation für den Klerus – auf Latein verfasst –, der mir mitteilte, dass ich zwangsweise aus dem klerikalen Stand entfernt worden sei und dass es mir verboten sei, zu lehren, zu predigen oder einen Gottesdienst zu leiten. Es sei nicht möglich, in Berufung zu gehen. Sogar für jemanden wie mich, der sich die kafkaeske Natur der vatikanischen Bürokratie nur zu gut vorstellen kann, war es schockierend, Gegenstand eines Prozesses zu sein, in dem es nicht notwendig ist, den Angeklagten über die ihm vorgeworfenen Vergehen zu informieren, in dem eine Rechtsvertretung verboten ist und in dem für die Rechtskräftigkeit des Urteils die Unterschrift des Verurteilten nicht erforderlich ist. Ein Freund wies mich darauf hin, dass ein Urteil, in dem die Strafe ohne Information über die Anklagepunkte und ohne Rechtsbeistand auferlegt wird, in jedem Rechtssystem eindeutig ungültig sei. Ich war geistig einigermaßen auf die juristischen Feinheiten vorbereitet und wusste, dass ich mich von solch einer Gewalt nicht unterkriegen lassen sollte, trotzdem führte die unmissverständliche Botschaft an mich – »Dein Priestertum ist nichts wert« – zu einer tiefen Depression.

Immer noch labil, konnte ich ein paar Monate später mit meinem ehemaligen Novizenmeister sprechen, der nun Bischof war. Seine Reaktion kam prompt und war mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte: »Das ist absurd. Sie brauchen Leute wie dich in diesen Zeiten an ihrer Seite. Schreib nicht dem Papst; dein Brief wird nie durchkommen. Ich werde eine Privataudienz beantragen und ihn bitten, das zu regeln.« 18 Monate später hatte der Bischof seine Privataudienz und überbrachte einen Brief von mir, in dem ich gegen das Berufung einlegte, von dem die Kongregation behauptete, dass eine Berufung nicht möglich sei. In meinem Brief hatte ich darauf hingewiesen, dass der gesamte Prozess den Beigeschmack des »selbstreferenziellen Kurialismus« hat, den Franziskus so oft kritisiert hat. Und dass ich genau das getan hätte, wozu er uns öffentlich ermutigt hatte: das Evangelium »an den Rändern« zu verkünden und »ein wenig Aufruhr zu erzeugen«. Ich legte ihm in dem Schreiben meine Gewissensüberzeugung dar, dass ich das, was er öffentlich gesagt hatte, nicht mit dem lateinischen Dokument, das mir in seinem Namen zugesandt worden war, in Einklang bringen könne, und schlug vor, dieses Dokument daher als nicht gültig zu betrachten und weiterzumachen wie bisher.

Ich bat ihn, sofern möglich, meine Situation als Normalfall anzuerkennen – nicht, um mir persönlich einen Gefallen zu tun, sondern als Teil der Öffnung der seelsorglichen Arbeit für LGBT-Menschen in der Kirche. Denn so könnten diese in Zukunft aus der Ich-Perspektive sprechen, predigen und verkünden, ohne daran gebunden zu sein, in klerikaler Unehrlichkeit über Menschen wie sie selbst als »jene dort« zu sprechen. So erreichte der Brief im Mai 2017 seine Hände. Mein Freund, der Bischof, erzählte mir später, dass das Gespräch sehr warmherzig gewesen sei, der Heilige Vater sich verständnisvoll gegenüber meinen Lebensumständen gezeigt und er das Treffen verlassen habe mit der Versicherung, dass er etwas unternehmen werde.

Dann kam der Anruf am Sonntag, dem 2. Juli 2017, gegen 15 Uhr: »Hier spricht Papst Franziskus« – »Ist das Ihr Ernst?« – »Nein, ich mache nur Witze, mein Sohn.« Aber er war es wirklich! Natürlich war da der argentinische Akzent, aber vor allem die Tatsache, dass er den Inhalt meines Briefs kannte und sich im Gespräch deutlich darauf bezog, überzeugte mich davon, dass sich hier keiner meiner Freunde einen grausamen Scherz erlaubte. Und dann sagte er: »Ich möchte, dass du in tiefem innerem Frieden auf den Spuren des Geistes Jesu gehst. Und ich gebe dir die Schlüsselgewalt. Verstehst du? Ich gebe dir die Schlüsselgewalt.«2

Ich sagte Ja, obwohl es mir im Rückblick unglaublich erscheint, dass ich in meiner Benommenheit dieses Geschenk verstanden habe. Das Gespräch wendete sich dann mit Humor und sogar einer gewissen Lebhaftigkeit Freunden und gemeinsamen Bekannten zu. Im Hintergrund ein leiser Operngesang, den ich angestrengt versuchte zu erkennen. Nachdem er mich nachdrücklich um Diskretion gebeten hatte, um den Bischöfen keine Probleme zu verursachen, endete er mit: »Bete für mich. Ich werde mir deine Akten ansehen und mich bei dir melden.«

Was bedeutet diese außergewöhnliche Gnade für mich und was bedeutet sie für andere? Das Mindeste ist, dass der Urheber der kanonischen Ordnung das Urteil der eigenen Kongregation nicht als bindend betrachtete, da er mich wie einen Priester behandelte und mir die universale Vollmacht gab, die Beichte abzunehmen (etwas, von dem ich glaube, dass er es auch den Missionaren zusprach, die er in das Heilige Jahr der Barmherzigkeit entsandte). Dass er mir zutraute, die Freiheit zu haben, um verantwortlich der Priester zu sein, der ich über all die Jahre geworden war. Dass ich zum ersten Mal in meinem Leben in der Kirche von einem Erwachsenen wie ein Erwachsener behandelt wurde. Guter Gott – es braucht den Papst persönlich, damit das möglich wird!

Kürzlich hatte ich das Privileg, einen sehr angesehenen Kirchenrechtler zu fragen, was dieser unmittelbare Akt, mich als eine Art Priester von geheimer Gnade auszusenden, zu bedeuten habe. Er brach in schallendes Gelächter aus und sagte: »Aus kanonischer Sicht ergibt das überhaupt keinen Sinn, aber … er tut solche Dinge!« Es war eine Freude zu sehen, dass dieser erstklassige Kanonist nicht besorgt, sondern begeistert war von der Freiheit des Papstes. Und er deutete weiter an, dass ich keinesfalls der Einzige sei, der einen befreienden Anruf von einer unbekannten Nummer erhalten habe.