Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung - Bettina Lindmeier - E-Book

Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung E-Book

Bettina Lindmeier

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Das Lehrbuch bietet eine Einführung in pädagogisches Grundlagenwissen im Zusammenhang mit Behinderung und Benachteiligung. Einleitend werden wichtige Grundbegriffe und Konzepte analysiert, die den Gegenstandsbereich umreißen. Im Anschluss daran werden zentrale ethische Problemstellungen ausgeführt. Die folgenden beiden Abschnitte thematisieren Handlungsprinzipien und die Bestimmung der Qualität pädagogischen Handelns. Ausführungen zur Professionalität pädagogischen Handelns schließen den Band ab. In allen Kapiteln werden historisch relevante Entwicklungslinien ebenso wie international bedeutsame Diskurse berücksichtigt. Zudem sind die dargestellten Ansätze auch mit Blick auf ihre Relevanz für schwer behinderte Menschen ausgewählt, deren Situation durch eine große Gefahr der gesellschaftlichen Exklusion gekennzeichnet ist, woraus für eine Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung eine besondere Verantwortung erwächst. Der Band wendet sich ausdrücklich an Studierende des Lehramts wie auch außerschulischer Studiengänge, da die behandelten pädagogischen Grundlagen für verschiedene Handlungsfelder von Relevanz sind.

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Das Lehrbuch bietet eine Einführung in pädagogisches Grundlagenwissen im Zusammenhang mit Behinderung und Benachteiligung. Einleitend werden wichtige Grundbegriffe und Konzepte analysiert, die den Gegenstandsbereich umreißen. Im Anschluss daran werden zentrale ethische Problemstellungen ausgeführt. Die folgenden beiden Abschnitte thematisieren Handlungsprinzipien und die Bestimmung der Qualität pädagogischen Handelns. Ausführungen zur Professionalität pädagogischen Handelns schließen den Band ab. In allen Kapiteln werden historisch relevante Entwicklungslinien ebenso wie international bedeutsame Diskurse berücksichtigt. Zudem sind die dargestellten Ansätze auch mit Blick auf ihre Relevanz für schwer behinderte Menschen ausgewählt, deren Situation durch eine große Gefahr der gesellschaftlichen Exklusion gekennzeichnet ist, woraus für eine Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung eine besondere Verantwortung erwächst. Der Band wendet sich ausdrücklich an Studierende des Lehramts wie auch außerschulischer Studiengänge, da die behandelten pädagogischen Grundlagen für verschiedene Handlungsfelder von Relevanz sind.

Prof. Dr. Bettina Lindmeier und Professor Dr. Christian Lindmeier lehren und forschen an der Leibniz Universität Hannover bzw. an der Universität Koblenz-Landau.

Bettina Lindmeier Christian Lindmeier

Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung

Band I: Grundlagen

Verlag W. Kohlhammer

Alle Rechte vorbehalten © 2012 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-019808-1

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-023518-2

epub:

978-3-17-027734-2

mobi:

978-3-17-027735-9

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Behinderung und Benachteiligung als pädagogische Herausforderungen

2.1 Die Funktion wissenschaftlicher Grundbegriffe

2.2 Behinderung

2.2.1 Behinderung als individuelles Defizit

2.2.2 Behinderung als soziale Zuschreibung

2.2.3 Behinderung als mehrdimensionales und relationales Konstrukt

2.2.4 Disability Studies und menschenrechtliches Modell von Behinderung

2.3 Sonderpädagogischer Förderbedarf

2.3.1 Special Educational Needs bzw. Spezielle Erziehungs- und Bildungserfordernisse

2.3.2 Sonderpädagogischer Förderbedarf als schulpolitischer Legitimationsbegriff

2.3.3 Fachwissenschaftliche Kritik am Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs

2.3.4 Neuere internationale Entwicklungen

2.4 Benachteiligung

2.4.1 Was bedeutet (Bildungs-)Benachteiligung?

2.4.2 Die doppelte Benachteiligung von Schülern aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen

2.4.3 Die Benachteiligungsdebatte in der (Schul-)Pädagogik bei Lernbehinderungen

2.4.4 Risikobiografien benachteiligter junger Erwachsener

2.4.5 Benachteiligung in der Weiterbildung

2.5 Exkurs: Internationale bildungstheoretische Ansätze

3 Ethische Grundannahmen

3.1 Ethik und Pädagogik

3.2 Lebensrecht und Menschenwürde

3.2.1 Lebensrecht

3.2.2 Menschenwürde

3.3 Recht auf Bildung und Bildungsgerechtigkeit

3.3.1 Bildung als Menschenrecht

3.3.2 Bildungsgerechtigkeit

3.4 Anerkennung

3.4.1 Ethik der Anerkennung

3.4.2 Care Ethik (Fürsorgeethik)

3.4.3 Kommunitäre Ethik

4 Handlungsprinzipien und Zielperspektiven

4.1 Normalisierung

4.2 Selbstbestimmung

4.3 Empowerment

4.4 Lebensqualität

4.5 Sozialraumorientierung

4.6 Integration

4.7 Inklusion

4.8 Teilhabe

4.9 Prävention und Rehabilitation

5 Sicherung und Entwicklung pädagogischer Qualität

5.1 Pädagogische Qualität

5.2 Qualität von Leistungen zur Teilhabe

5.3 Qualität im Schulsystem

5.4 Standardisierung schulbezogener sonderpädagogischer Förderung

5.5 Ansätze der Schulentwicklung und Schulentwicklungsforschung

6 Professionalität pädagogischen Handelns

6.1 Historischer Verlauf der Professionalisierung schulischer Sonderpädagogik

6.2 Neuere erziehungswissenschaftliche Professionstheorien

6.3 Professionelle pädagogische Kompetenz bzw. Lehrerkompetenz

6.4 Entwicklungen innerhalb der Sonder- und Integrationspädagogik

6.4.1 Aufgaben, Rollen und Kompetenzprofile – Spezialisierung oder ,Deprofessionalisierung‘?

6.4.2 Veränderungen der sonderpädagogischen Berufsrolle: Sonderpädagogik als Serviceleistung

6.4.3 Berufsbiographische Fragen im Kontext der Professionalisierung von Sonder- und Integrationspädagogen

6.4.4 Kooperation von Lehrkräften

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Mit dem ersten Band dieses Lehrbuchs zur Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung verfolgen wir eine mehrfache Zielsetzung:

Es soll deutlich werden, dass die erziehungswissenschaftliche Teildisziplin der Sonderpädagogik

1

(alternativ: Heilpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik, Förderpädagogik) keine ausschließlich mit dem Gegenstand der Behinderung

bzw.

des sonderpädagogischen Förderbedarfs befasste Pädagogik ist, obwohl die allgemeinen Theorien der Sonderpädagogik dies nahezulegen scheinen. Vielmehr wollen wir zeigen, dass wir es in der Sonderpädagogik häufig auch mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu tun haben, die nicht von einer Behinderung betroffen sind, sondern aufgrund sozial bedingter Bildungsungleichheiten benachteiligt sind. Mit dieser Zielsetzung ist der Vorschlag verbunden, die Fachbezeichnung ‚Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung‘ in den fachlichen Diskurs einzuführen. Eine solche Fachbezeichnung drängt sich auf, zumal im nachschulischen Handlungsfeld der beruflichen Rehabilitation bereits seit geraumer Zeit – nicht nur auf der Ebene der Sozialgesetzgebung – zwischen (Schwer-)Behinderung und Benachteiligung unterschieden wird.

Die Fachbezeichnung ‚Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung‘ soll verdeutlichen, dass wir es in dieser Teildisziplin der Erziehungswissenschaft nicht mit einer ‚besonderen‘ Personengruppe oder Klientel (den ‚Behinderten‘ und ‚Benachteiligten‘) zu tun haben, sondern mit gesellschaftlich relevanten (Handlungs-)Situationen. In Bezug auf Behinderung beziehen wir uns dabei auf die mehrdimensionale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welche die Dimension der physischen

bzw.

sensorischen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen von einzelnen Menschen nicht ausklammert, aber die soziale Dimension der Partizipation

bzw.

Partizipationseinschränkung in den Vordergrund rückt, in dem sie nicht Personen, sondern Situationen klassifiziert. Analog kann Benachteiligung als „herkunftsbedingt ungleiche Bildungsteilhabe“ (Brake/Büchner 2011) beschrieben werden. Erst durch ein solches Begriffsverständnis können Behinderungs- und Benachteiligungssituationen auch als strukturelles Unrecht in Form von gesellschaftlicher Diskriminierung und Exklusion adressiert und einer sozial- und bildungspolitischen Bearbeitung zugänglich gemacht werden.

Wenn Behinderungen und Benachteiligungen (Handlungs-)Situationen darstellen, die im Sinne eines ‚Behindert- oder Benachteiligtwerdens‘ wirken, dann ergibt sich daraus für eine Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung, dass sie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Barrieren in den Blick nehmen muss, die Personen in Behinderungs- und Benachteiligungssituationen an der vollen und wirksamen Partizipation an der Gesellschaft und an der gleichberechtigten Inklusion in die Gesellschaft hindern. Um aus einer solchen Barrierenanalyse ableiten zu können, wie die Partizipation und Inklusion behinderter und benachteiligter Menschen

2

unterstützt und gefördert werden soll, ist allerdings eine wissenschaftliche Reflexion des normativen Geltungshorizonts der zugrunde liegenden moralischen und politisch-rechtlichen Grundsätze (Partizipation und Inklusion) nötig. Eine weitere Zielsetzung bildet daher die Darstellung der ethischen Grundannahmen einer Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung, die wir mit der Formulierung von Handlungsprinzipien und Kriterien pädagogischer Qualität konkretisieren und abschließend in eine Reflexion professionellen pädagogischen Handelns einmünden lassen.

Die übergreifende Ausrichtung des Bandes besteht im Sinne dieser Zielsetzungen vor allem darin, für den pädagogischen Handlungsansatz bei Behinderung und Benachteiligung herauszuarbeiten, dass die Achtung der Menschenwürde und die Neuinterpretation grundlegender Menschenrechte (assistierte Freiheit, Diskriminierungsverbot und Barrierefreiheit, gesellschaftliche Inklusion) den Ausgangspunkt bilden, um zu einer menschenrechtsbasierten Praxis des Umgangs mit Behinderung zu kommen, die sich analog auf den Umgang mit Benachteiligung anwenden lässt. Ausgehend von dem im Dezember 2006 verabschiedeten ‚Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen‘ der Vereinten Nationen (kurz: UN-Behindertenrechtskonvention

bzw.

UN-BRK) lässt sich die Zielsetzung einer solchen Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung formelhaft zusammenfassen in dem Motto „unterstützte Autonomie durch gleichberechtigte Inklusion, womit die Trias der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – eine aktualisierte Lesart erfährt“ (Bielefeldt 2011, 126).

Die Zielsetzungen dieses Buches lassen erkennen, dass wir uns hinsichtlich des Verständnisses von Behinderung und Benachteiligung und bezüglich der Formulierung von ethischen Grundannahmen pädagogischen Handelns – wie in der deutschsprachigen Sonderpädagogik zunehmend üblich – an der internationalen Fachdiskussion orientieren.

Zum weiteren Aufbau des Buches

Das zweite Kapitel des Buches beschäftigt sich mit den grundlegenden Begriffen einer Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Dabei widmen wir uns zunächst der Frage nach der Funktion (sonder-)pädagogischer Grundbegriffe. Anschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Behinderung. Dieser Abschnitt nimmt den meisten Raum innerhalb dieses Kapitels ein, weil wir auch auf die pädagogisch-anthropologische Kritik an der immanenten Sonderanthropologie traditioneller Begriffsauslegungen eingehen und unterschiedliche Theorieperspektiven gegenüberstellen. Ein weiterer Abschnitt, der auch die international-vergleichende Perspektive mit einbezieht, beschäftigt sich mit dem schulpolitischen Legitimationsbegriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, gefolgt von einer Darstellung des Begriffs der Benachteiligung aus ungleichheitssoziologischer und aus pädagogischer Sicht. Dabei zeigen sich begriffstheoretische Parallelen zu den aktuellen Bestimmungen des Behinderungsbegriffs, die sich an den strukturellen Merkmalen der Relativität und Relationalität festmachen lassen und auf die gesellschaftliche Konstruktion beider Begriffe verweisen. Den Abschluss bildet ein kurzer Exkurs, in dem die drei international einflussreichsten bildungstheoretischen Ansätze vorgestellt und hinsichtlich ihrer Bedeutung für politische Entscheidungs- und Handlungsoptionen diskutiert werden.

Das dritte Kapitel befasst sich mit den ethischen Grundannahmen einer Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung, wobei auch politisch-rechtliche Konsequenzen angesprochen werden. Die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen besitzt seit mehr als zwei Jahrzehnten einen hohen Stellenwert in unserer erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin und löste die Sonderanthropologie als jahrzehntelang gültiges normatives Bezugssystem ab. Im Einzelnen geht es hier um Fragen des Lebensrechts und der Menschenwürde und Fragen des Menschenrechts auf Bildung und der staatlichen Sicherstellung von Freiheit und Gleichheit im Bildungs- und Schulwesen (Bildungsgerechtigkeit). Zudem werden Fragen einer würdevollen und humanen Gestaltung des gesellschaftlichen Umgangs mit behinderten und benachteiligten Menschen behandelt, die durch die Rezeption der sozialanthropologischen und -ethischen Theorie der Ankerkennung (Honneth) eine Beantwortung finden. Ausgehend von der anthropologischen Prämisse der ‚anerkannten Abhängigkeit‘ (McIntyre) bieten derzeit insbesondere die anerkennungstheoretischen Ansätze der feministischen Care-Ethik und der kommunitaristischen Ethik der Solidarität konkrete Anknüpfungspunkte für die Reflexion von Handlungsprinzipen und Zielperspektiven wie Normalisierung, Integration/Inklusion oder Selbstbestimmung.

Folgerichtig reflektiert das vierte Kapitel diese zentralen Handlungsprinzipien und Zielperspektiven der Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Dabei ist zunächst zu klären, inwiefern pädagogische Aufgaben mehrdimensional zu legitimieren sind und welche gesellschaftlichen Instanzen an der Entwicklung von Handlungsprinzipien und Zielperspektiven für das konkrete professionelle Handeln beteiligt werden müssen. Erst danach können aktuelle Handlungsprinzipen und Zielperspektiven, die die Fachdiskussion und Praxis prägen, im Überblick dargestellt werden. Weil sich dabei sehr schnell zeigt, dass die Handlungsprinzipen und Zielperspektiven der Integration und der Inklusion im schulischen wie im außerschulischen Bereich Wirkung entfalten, werden sie etwas ausführlicher dargestellt. Die übrigen Prinzipien (Normalisierung, Selbstbestimmung, Empowerment, Lebensqualität, Sozialraumorientierung, Teilhabe) wurden insbesondere im außerschulischen Feld und häufig in Bezug auf erwachsene Menschen mit dauerhaftem und umfangreichem Unterstützungsbedarf wirksam. Bereits dieser Überblick macht deutlich, dass sich diese programmatischen Handlungsprinzipen und Zielperspektiven zu einem großen Teil überschneiden.

Im fünften Kapitel wird der in den vorherigen Kapiteln ausgearbeitete handlungstheoretische Ansatz der Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung mit der aktuellen Frage nach der Sicherung und Entwicklung pädagogischer Qualität verbunden. Der erste Abschnitt dieses Kapitels intendiert eine Klärung des Begriffs der pädagogischen Qualität. Anschließend gehen wir der Frage nach, was Qualität in unterschiedlichen Handlungsfeldern bedeutet. Dabei gehen wir zum einen auf die Qualität der Leistungen zur Teilhabe für erwachsene Menschen im Wohnen ein, da in diesem Feld wesentliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte besonders deutlich sichtbar werden. Zum anderen wird die Qualitätsdiskussion im Bildungsbereich exemplarisch am Handlungsfeld Schule dargestellt. In diesem Zusammenhang erörtern wir auch die aktuelle, keineswegs abgeschlossene Diskussion über die Standardisierung sonderpädagogischer Förderung. Abschließend werden als weitere Ansätze der Schulentwicklung und Schulentwicklungsforschung die Qualitätsentwicklung inklusiver schulischer Bildung und die Sicherung und Entwicklung von Schulqualität durch standardbasierte Evaluation vorgestellt.

Gleichsam als Kontrapunkt zu Qualitätssicherung und -entwicklung müssen anderseits auch professionstheoretische Reflexionen über die Struktur des professionellen Handelns in der Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung angestellt werden. Diese geschieht im sechsten Kapitel. Dabei zeigt sich, dass die Reflexionen über Professionalisierung und Professionalität nicht nur zu klären helfen, was das sonderpädagogische Handeln in schulischen und außerschulischen Arbeitsfeldern ausmacht und welche gesellschaftlichen Problemlagen durch dieses Handeln bewältigt werden sollen. Die sonderpädagogische Professionalitätsdebatte leistet gegenwärtig auch einen wichtigen Beitrag zur Lösung der spezifischen Probleme sonderpädagogischer Disziplinentwicklung.

1 Wir verwenden im Folgenden gelegentlich die Fachbezeichnung ‚Sonderpädagogik‘, weil sie an den sonderpädagogischen Ausbildungsstätten, an denen wir tätig sind (Leibniz Universität Hannover, Universität Koblenz-Landau), üblich ist. Der Begriff findet allerdings in diesem Buch nur noch Verwendung, wenn es der Sprachduktus nicht anders zulässt. Wann immer wir von Sonderpädagogik sprechen, meinen wir eine Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung in dem Sinne, wie sie in diesem Buch herausgearbeitet wird.

2 Die Bezeichnung ‚behinderte Menschen‘ umfasst das ‚Behindertsein‘ ebenso wie das ‚Behindertwerden‘ (vgl. zur Einführung dieser Unterscheidung Eberwein/Sasse 1998), während ‚Menschen mit Behinderung‘ suggeriert, dass es sich um ein Persönlichkeitsmerkmal handelt. Zudem kann die Behinderung in unterschiedlichen Lebensbereichen eines Menschen situativ auftreten und die Person so in verschiedenen Bereichen betreffen, während ‚mit Behinderung‘ auf ein abgegrenztes Merkmal hindeutet. Erstmals wies Fredi Saal darauf hin, dass seine Identität nicht ohne seine Behinderung zu denken sei, und fragt: „Warum sollte ich jemand anders sein wollen?“ (1992).

2 Behinderung und Benachteiligung als pädagogische Herausforderungen

2.1 Die Funktion wissenschaftlicher Grundbegriffe

Von Grundbegriffen spricht man in der Wissenschaft, wenn diese Begriffe eine Orientierungs- und Ordnungsfunktion für den fachlichen Diskurs innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin besitzen (vgl. Strachota 2002). Diese Funktion besteht in erster Linie darin, den Gegenstandsbereich einer wissenschaftlichen Disziplin in Forschung und Lehre zu kennzeichnen. Indem Grundbegriffe einen Wissensbestand ordnen, der intersubjektive Gültigkeit beansprucht, ermöglichen sie die Verständigung innerhalb der ‚scientific community‘ (vgl. B. Lindmeier 2005). Wissenschaftliche Grundbegriffe bestimmen aber nicht nur den Gegenstandsbereich, sondern auch den Verantwortungsbereich einer Wissenschaft (vgl. Strachota 2002). Dies gilt insbesondere für Handlungswissenschaften wie die Erziehungswissenschaft, die – ähnlich wie andere Humanwissenschaften (Medizin, Psychologie) – wegen der gezielten Einflussnahme auf Menschen einer erhöhten Verpflichtung zur ethischen Legitimation professionellen Handelns unterliegt (vgl. Kap. 3).

In den Handlungswissenschaften besteht außerdem Konsens darüber, dass „Wissenschaft nicht als System genereller Gesetzesaussagen zu definieren [ist], die Wirklichkeit abbilden, sondern als ein Werkzeug, das uns hilft, im praktischen Leben zurechtzukommen“ (König/Zedler 2002, 242). Die Grundbegriffe einer Handlungswissenschaft bedürfen daher auch der „Reflexion hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit“ (B. Lindmeier 2005, 136). Iris Beck verweist in diesem Zusammenhang auf die Funktion wissenschaftlicher Begriffe für die Praxis: „Die Begriffe werden in der Realität leitend zur Identifikation besonderer Unterstützungsbedürfnisse und sind damit definitionsmächtig, können zur Etikettierung, zur Einschränkung oder Ausweitung der jeweils als in den sonderpädagogischen Zuständigkeitsbereich fallenden Problemgruppen verwandt werden“ (1996, 445). Aus Grundbegriffen werden deshalb häufig Klassifikationssysteme zur Feststellung von unterschiedlichen individuellen oder gruppenspezifischen Bedürfnissen oder Bedarfen abgeleitet. Diese Identifikations- oder Klassifikationsfunktion spielte in der Geschichte der Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung eine wichtige Rolle, weil die Identifikation besonderer Förder- oder Unterstützungsbedarfe in der Regel die Voraussetzung für die bildungs- oder sozialpolitische Gewährung von zusätzlichen personellen, sächlichen und finanziellen Ressourcen darstellt. Damit geht die Gefahr einher, die als ‚besonders bedürftig‘ identifizierten oder klassifizierten Personen einer Etikettierung oder Stigmatisierung zu unterziehen (vgl. Füssel/Kretschmann 1993).

Es ist ferner zu berücksichtigen, dass unterschiedliche erziehungswissenschaftliche Theorien auf unterschiedlichen begrifflichen Grundlagen basieren oder die zugrunde gelegten Begriffe (z.B. Erziehung, Bildung) unterschiedlich auslegen. Es gibt also kein allgemeingültiges System von Grundbegriffen, das von allen erziehungswissenschaftlichen Theoriekonzepten geteilt wird, sondern eine begriffliche Vielfalt, die mit der Vielfalt erziehungswissenschaftlicher Theoriekonzepte korrespondiert und von der erziehungswissenschaftlichen Wissenschafts- oder Metatheorie (als Theorie über eine oder mehrere andere Theorien) analysiert wird (vgl. König/Zedler 2002). In der Sonderpädagogik lässt sich diesbezüglich konstatieren, dass die gängigen Theoriekonzepte in den vergangenen Jahrzehnten auf den Behinderungsbegriff fokussiert waren, was mit einigen Abstrichen auch für die Integrationspädagogik gilt (vgl. Moser/Sasse 2008). Dabei entwickelten sich nicht nur konträre Standpunkte hinsichtlich der theoretischen Modellierung von Behinderung (medizinisches vs. soziales Modell), sondern auch in Bezug auf die Frage, ob der Behinderungsbegriff als Legitimationsbegriff für das pädagogische Handeln – und damit als erziehungswissenschaftlicher Grundbegriff – fungieren kann.

Letzteres wird seit Ende der 1980er Jahre nicht nur von der Integrationspädagogik (vgl. zuerst Eberwein 1988), sondern auch von vielen sonderpädagogischen Fachvertretern in Frage gestellt (vgl. zuerst Speck 1988). Während die Integrationspädagogen allerdings mehrheitlich dazu tendieren, zugunsten einer ‚Dekategorisierung‘ (vgl. zuerst Benkmann 1994) gänzlich auf klientenbezogene Legitimationsbegriffe zu verzichten, favorisieren die meisten Sonderpädagogen Begriffsalternativen wie den von Speck in die Diskussion eingebrachten Begriff der speziellen Erziehungsbedürfnisse (vgl. Speck 1988), der eine Adaption des seit 1978 in Großbritannien gebräuchlichen Legitimationsbegriff der ‚special educational needs‘ (vgl. Warnock 1978) darstellt. In Auseinandersetzung mit diesen fachwissenschaftlichen Tendenzen vollzog auch die Bildungspolitik eine begriffliche Wende, indem sie – ebenfalls in Anlehnung an das Konzept der ‚special educational needs‘ – den ressourcenorganisierenden Begriff des s einführte (vgl. KMK 1994a).

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