Pädagogik und Glück - Christoph Blomberg - E-Book

Pädagogik und Glück E-Book

Christoph Blomberg

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Beschreibung

The main thing is being happy? Anyone involved either theoretically or practically in the upbringing and education of young people is, even if only unconsciously, trying to make them happy. Accordingly, happiness was an obvious and explicit goal of education in the early days of the field as an academic discipline. Today, surprisingly, there is little mention of it. That is the starting point for this book: beginning with views of happiness in antiquity, it traces educational reflections on happiness from the Enlightenment to the present day. It then inquires into possible reasons for the current marginalization of the topic. The book concludes with an invitation to give greater consideration again to the complexity of the topic of happiness in education & even though there is no educational action that is ultimately capable of guaranteeing happiness.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

Einleitung

1 Worüber reden wir? Erste inhaltliche Vergewisserungen

1.1 Formale Klärungen

1.2 Antike Grundlegungen

1.2.1 Glück als vorzügliche Tätigkeit – Aristoteles

1.2.2 Glück durch reflektierten Umgang mit Lust und Schmerz – Epikur

1.2.3 Das Glück innerer Freiheit trotz widriger äußerer Umstände – Stoa

1.2.4 Das nicht intendierbare Glück – pyrrhonische Skepsis

1.2.5 Zwischenfazit

1.3 Weitere historische Entwicklungen

1.4 Glücksbedingungen und -arten

1.4.1 Glück oder gutes Leben?

1.4.2 Ziel- und Wunschtheorien

1.4.3 Hedonistische Theorien

1.4.4 Fazit: Lebensfreude mit hedonistischer Schlagseite

1.5 Lebenskunst

1.5.1 Tugenden als Weg zum Glück?

1.5.2 Inhalte von Lebenskunst

2 Glück als pädagogische Zielkategorie

2.1 Die Glücksthematik an der Wiege der Pädagogik als Wissenschaft

2.1.1 Historische Vorbereitungen

2.1.2 Innere Ruhe und Heiterkeit angesichts äußerer Katastrophen – Comenius

2.1.3 Das Glück des geringsten Leides – Rousseau

2.1.4 Selbstliebe als Basis des Glücks – Helvétius

2.1.5 Erziehung und Unterricht zur Glückseligkeit der Menschheit – Französische Revolution

2.1.6 ›Hausglück‹ durch Liebe, Arbeit und Glauben – Pestalozzi

2.1.7 Glück als Erziehungsziel – die Philanthropen

2.2 Kants Eudämonismuskritik und die Folgen

2.2.1 Glückswürdigkeit statt Glückseligkeit – Kant

2.2.2 ›Eudämonismus‹ als Wertungswort – Fichte, Hegel, Schleiermacher, Herbart

2.2.3 Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit statt Glückseligkeit – Niemeyer

2.2.4 Heiterkeit statt Glück – Jean Paul

2.2.5 (Die Kraft der) Bildung statt Glück – Humboldt

2.2.6 Zwischenfazit: Vom Glück als Bildungsziel zur Bildung als Selbstzweck

2.3 Die Wiederentdeckung des Glücks durch die Pädagogik des ausgehenden 20. Jahrhunderts

2.3.1 Eine ›glücklose‹ erste Jahrhunderthälfte?

2.3.2 Reformpädagogik als Glücksthematisierung?

2.3.3 Befriedigung durch Tätigkeit – Nohls ›männliche Ethik‹

2.3.4 Grundphänomene menschlichen Daseins – Fink

2.3.5 Glücksgefühle im Kontext existenzieller Stimmungen – Bollnow

2.3.6 Mehr Hedonismus, weniger Leistung – Pädagogik im Sog der 1968er

2.3.7 Die Wiederentdeckung des Glücks als Leitkategorie

2.3.8 Fazit

3 Mögliche Ursachen einer Randständigkeit des Glücks

3.1 Das Beste kommt erst zum Schluss – religiös-metaphysische Einflüsse

3.2 Die Negation des Glücks – der lange Atem der ›Frankfurter Schule‹

3.3 Unglückliches Subjekt

3.4 Sozialpädagogische Probleme mit dem Glück

3.5 Nach Glück strebt nur der Amerikaner?

3.6 Fazit

4 Konsequenzen – Glück als Thema der Pädagogik

4.1 Ausgangspositionen

4.2 Glück ist kein Thema der Pädagogik

4.3 Glück ist ein Thema der Pädagogik

4.4 Fazit: Vom Glück reden?

Literatur

Der Autor

Dr. Christoph Blomberg ist Professor für Allgemeine Sozialpädagogik an derKatholischen Hochschule NRW, Paderborn, im Fachbereich Sozialwesen.

Christoph Blomberg

Pädagogik und Glück

Rekonstruktion einer vergessenen Beziehung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-038816-1

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-038817-8epub: ISBN 978-3-17-038818-5

Vorwort

Der Mensch strebt nach Glück. Ob er es soll oder nicht, ist strittig, unstrittig ist das Faktum. Also ist Pädagogik zwangsläufig mit dem Thema konfrontiert. Während aber in den letzten Jahrzehnten v. a. von psychologischer Seite viel zum Glück publiziert wurde, hielt sich die Pädagogik diesbezüglich eher zurück. Das ärgerte mich persönlich, einmal deshalb, weil ich vor vielen Jahren in der Auseinandersetzung mit der Kontingenzphilosophie Richard Rortys auf die Glücksthematik stieß und seitdem von deren pädagogischer Relevanz überzeugt bin. Zum anderen befremdete mich der Gedanke einer interventionslogisch orientierten Glücksförderung, denn sie vereinfacht m. E. nicht nur das Thema (was renommierte Psychologen auch so formulieren), sie kann in der Praxis auch dazu führen, gute pädagogische Alltagspraxis zugunsten (aus meiner Sicht fragwürdiger) systematischer Förderprogramme zu verdrängen. Also begab ich mich auf die Suche nach dem Glück in der Pädagogik, denn wenn alle Menschen nach Glück streben, dann müsste das Glück doch auch in pädagogischen Texten zumindest implizit thematisiert sein. Dabei folgte ich Arbeiten, die mich historisch immer weiter zurückführten und die zur Auswahl der hier behandelten Autoren1 mit beigetragen haben (pars pro toto Riemen 1990; Rülcker 1971; Koch 1975; Lassahn 1975; Keller/Mangold 2002; Zirfas 2011). Nun sind pädagogische Texte bei diesem Thema nicht alles: Sie beziehen sich immer wieder auf antike Glückslehren, und ohne deren Kenntnis und eine grundsätzliche Klärung darüber, was man unter Glück versteht bzw. verstehen kann, sind viele Diskussionen nicht zu verstehen bzw. ernsthaft zu führen. So ergab sich im Laufe der Zeit die Struktur dieses Buches:

Es beginnt auf der Basis antiker Glückslehren mit der Darlegung zentraler Inhalte von Glück bzw. Lebenskunst (▶ Kap. 1). Anschließend wird die pädagogische Thematisierung des Glücks seit der Aufklärung (mit ihren historischen Vorbereitungen) nachgezeichnet (▶ Kap. 2). Überraschend sind für mich nicht nur die klare Positionierung des Glücks als Erziehungsziel im Kontext der Aufklärung, sondern auch die vorhergehenden utilitaristischen Diskussionen in Deutschland, ohne dass es damals dieses Label schon gab. Dass diese enge Beziehung zwischen Pädagogik und Glück sehr abkühlte, in Teilen wohl auch beendet wurde, liegt ohne Frage am deutschen Idealismus, insbesondere an Kant. Trotzdem fragte ich mich, ob das der einzige Grund dafür sei, dass mir in meiner (zugegeben sehr lange zurückliegenden) Studienzeit das Glück nicht untergekommen ist. Kant ist sicher einer der maßgeblichen deutschen Philosophen. Aber er steht selbst auch in einer christlichen Tradition, und es gibt eine sehr besondere deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, und zumindest bei Letzterer kommt einem der Begriff des Glücks nur schwer über die Lippen. Ich habe daher anschließend versucht, einige systematische Überlegungen anzustellen bzgl. solcher Theorietraditionen, die möglicherweise das Glück bewusst oder unbewusst an den Rand drängen (▶ Kap. 3). Es sind unabgeschlossene Anregungen, dahinter verbirgt sich allerdings die Überzeugung, dass man jetzt pädagogisch nicht einfach ›in Glück‹ machen kann, quasi als noch unverbrauchtem neuem Label. Das Thema nötigt m. E. eher zu einem Überdenken eigener pädagogischer Positionen und v. a. Haltungen, sodass ich zum Schluss hinsichtlich des Verhältnisses von Pädagogik und Glück der Frage nachgehe, ob Glück eine pädagogische Kategorie ist und ob man von ihm reden sollte (▶ Kap. 4). Mein eigenes Fazit lautet: Ja, das Glück ist in jedem Fall ein ›einheimischer‹ Begriff. Für die einen leider, die anderen Gott sei Dank muss gleichzeitig jedoch ein ›Aber‹ folgen: Man muss das Ganze sehr differenziert betrachten, und zumindest zeitweise sollte man bzgl. des Glücks auch schweigen, was bekanntlich in Glückssachen ohnehin klug ist. Gleichzeitig könnte bzw. sollte ein Ergebnis aber auch die Selbstreflexion darüber sein, wie viel oder wenig vom Glück (und von welchem) in der eigenen pädagogischen Position enthalten ist oder überhaupt sein kann/soll.

Diese Offenheit des Schlusses ist gewollt. Beim Austausch über das Manuskript sprach eine Mitarbeiterin davon, sie habe beim Lesen in Gedanken mit den verschiedenen Autoren an einem Tisch gesessen und diskutiert. In dem Moment hatte ich das Gefühl, meine Intention zum Schreiben dieses Buches könnte gelingen: Einzuladen, sich anhand vieler – wie ich finde – zeitlos aktueller und überaus belebender Texte grundsätzlich mit dem Glück aus pädagogischer Perspektive zu beschäftigen, offen und unabgeschlossen: Als Austausch unterschiedlicher Blickwinkel, von denen jeder für sich Sinn ergeben kann. Ich habe daher versucht, mich in die Grundanliegen der Texte/Autoren hinzuversetzen und ihnen bei der Widergabe gerecht zu werden, um sie dann aus meiner Sicht zu bewerten. Gleichzeitig habe ich versucht, so zu schreiben, dass es auch für Studierende verständlich ist und sie so eine historisch-systematische Einführung ins Thema erhalten können. Und schließlich sollte wenigstens hin und wieder in Stil und Inhalt ein wenig Lebensfreude durchscheinen, gepaart mit Kritik an allzu ernsten/seriösen menschlichen und pädagogischen Selbstbeschreibungen.

Ganz allein kann man das nicht bewerkstelligen. Daher bin ich Christina Richter und Lyuboslava Awe für ihre je eigene intensive und ungemein wertvolle Unterstützung bei diesem Unterfangen äußerst dankbar. Sie dienten mir immer wieder als Resonanzraum, wir haben viel miteinander diskutiert und dabei zwar nicht unendlichen, aber doch eine Menge Spaß gehabt. Kerstin Weissenberger danke ich für ihre beeindruckende Lektoratstätigkeit.

Endnoten

1Ich verwende gemäß den Empfehlungen des Rates für die deutsche Rechtschreibung zugunsten der Lesbarkeit das generische Maskulinum, beziehe damit aber ausdrücklich alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers) ein.

Einleitung

Fragte man Eltern, was sie sich für die Zukunft ihres Kindes wünschten, würde vermutlich eine der ersten, vielleicht die erste Antwort lauten: Dass es glücklich wird. Paaren wünscht man zur Hochzeit selbiges, an Geburtstagen den Menschen ohnehin. Sehr wahrscheinlich ist auch, dass in nicht wenigen Reden an Schulabschlussfeiern die jungen Menschen ermutigt werden, ihr Glück zu suchen, oder die Hoffnung/der Wunsch ausgedrückt wird, sie mögen ihr Glück finden. Dass der Mensch nach Glück strebt, ist philosophisch kaum bestritten, dass er es sollte oder gar gezielt anstreben könnte, schon eher. Auf jeden Fall nimmt die Frage nach den Wegen zum Glück einen breiten Raum in der Philosophie seit der Antike ein, allerdings mit ›Konjunkturschwankungen‹ hinsichtlich einer breiten Diskussion. Sie steht damit aber nicht allein – da das Glück ein Menschheitsthema ist, verwundert es nicht, dass es auch in Religionen einen festen Platz in Form des Heilsbegriffs hat. Im Zuge des sich ausdifferenzierenden Wissenschaftsbetriebs wird das Glück auch in anderen Bereichen thematisiert, in Ökonomie wie in Politik, v. a. aber in der Psychologie, die gleich einen ganzen Forschungs- und Beratungsbereich dem Glück gewidmet hat unter dem Stichwort ›Positive Psychologie‹.

Merkwürdig zurückhaltend zeigt sich allerdings die Pädagogik und der mit ihr teils eng, teils distanziert verwobene Bereich der Sozialen Arbeit. Das ist aus zwei Gründen erstaunlich: Zum einen deshalb, weil das Glück dem Fach ein quasi naturgegebenes Thema ist. Wenn Pädagogik helfen soll, dem Menschen einen ihm gemäßen Weg in der Welt zu ermöglichen, dann ist man, ob man will oder nicht, mit dem je individuellen Glück sowie mit allgemeinen Vorstellungen vom Glück/gelingenden Leben konfrontiert. Zum anderen deshalb, weil der Pädagogik in ihren disziplinären Anfängen diese Verbindung mehr als bewusst war. Für Ernst Christian Trapp, immerhin erster Professor für Pädagogik in Deutschland, war Glück nicht ein, sondern das Erziehungsziel. Man konnte und kann sich dabei auf Aristoteles stützen, der zumindest für die Erziehung der Kinder das Lustprinzip, damit einen wesentlichen Bestandteil der Glücksthematik, als maßgeblich ansah. Systematisch und historisch betrachtet kann also die Beschäftigung mit dem Thema von pädagogischer Seite nicht verwundern; verwundern muss vielmehr die erst allmählich einsetzende Rückkehr zum Thema. Man könnte also sagen: Höchste Zeit, sich pädagogisch wieder dem Glück zuzuwenden. Andere aber könnten fragen: Warum sollte man? Immerhin ist das Glück (mindestens auch) etwas, das sich bestenfalls ereignet, aber nicht herstellen lässt. Darüber hinaus könnte man die Meinung vertreten, mit den fachspezifischen, sog. ›einheimischen‹ Begriffen von Bildung und Erziehung, vielleicht auch noch Lernen, sei der Kern pädagogischer Aufgabe abschließend benannt. Offensiv könnte man sogar postulieren, dass in ihnen, vielleicht insbesondere im Bildungsbegriff, inhaltlich das Glück umfasst sei. Weiter könnte man aber auch einer pädagogischen Glückseuphorie skeptisch gegenüberstehen – dann, wenn man mit dem Thema ausschließlich das Anstreben eines möglichst dauerhaften ›guten Gefühls‹ assoziiert. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass das Lernen, v. a. auch das ›Leben-Lernen‹, sehr viel mit Überwindung, Anstrengung, Umgang mit Nicht-Können oder Versagung, kurzum: mit einer Menge negativer Erfahrungen zu tun hat. Der Versuch, sie zu eliminieren, würde einen vermutlich im Leben nicht sehr weit bringen, davon einmal abgesehen, dass ein solches Leben vielleicht recht wenig Tiefgang hätte, vermutlich auch gar nicht möglich wäre, denn die Freude braucht, um als solche überhaupt erfahrbar zu sein, den Schmerz, zumindest aber das Gewöhnliche als Pendant. Und schließlich könnte man eine pädagogische Fokussierung auf das Glück ablehnen, weil man sie als schädlich ansieht: Wer ständig sein Glück sucht, werde unzufrieden, und eine Gemeinschaft von glückssuchenden Individuen verkomme zu einer Ansammlung von Egoisten, was wiederum den auch durch Erziehung hergestellten Fortbestand einer Gemeinschaft gefährde. Zu dieser eher gesellschaftlichen Perspektive kann sich die Überzeugung gesellen, das Elend der Welt nötige zu ganz anderen Themen als Glück.

Wem jedoch bei der Vokabel eine gewisse Sehnsucht oder Freude, eine allen Bedenken trotzende heitere Lebensbejahung mitschwingt, der könnte bedauern, dass ausgerechnet in einem so elementaren Geschäft wie der Begleitung bei der Weltaneignung nicht zumindest ein Hauch dessen spürbar ist.

Egal aber, welche Position man zum Glück als Thema der Pädagogik einnimmt – angesichts der relativ breit diskutierten und facettenreichen Thematik sowie seiner systematischen und historischen Bedeutung für die Pädagogik lohnt ein differenzierter Blick auf das Glück. Dazu muss man zunächst einmal klären, wovon man überhaupt spricht.

1 Worüber reden wir? Erste inhaltliche Vergewisserungen

Es ist nicht ganz einfach, dem Glück habhaft zu werden – unmöglich praktisch, nur in Ansätzen theoretisch. Etymologisch, philosophiegeschichtlich wie in systematischer Reflexion tun sich Unterschiede auf. Beim Versuch einer Bündelung ergibt sich folgendes Bild:

1.1 Formale Klärungen

Etymologisch

Ursprünglich bedeutet das deutsche Wort Glück als ›gelücke‹ »›schicksal, geschick, ausgang einer sache‹« (DWB 8, Sp. 233, Herv. im Orig.) in sowohl positiver wie negativer Bedeutung. Die Herkunft des Wortes sei ungewiss, am ehesten habe es die Bedeutung ›zuschließen, zuziehen, beenden‹, auch als zusammenbinden im dann übertragenen Sinne einer guten Fügung/eines guten Endes, eines guten Abschlusses. Diese positive Konnotation als ›günstiger Verlauf und Ausgang eines Geschehens‹ setzt früh im Mittelhochdeutschen ein (ebd., Sp. 233), wozu auch die Passivität der Betroffenen gehört:

»günstiges geschehen, das der einwirkung der beteiligten person entzogen ist, günstiger zufall, günstige fügung, günstiger umstand.« (ebd., Sp. 239, Herv. im Orig.)

Gut erklärbar ist die Herkunft des Wortes aus der indogermanischen Wurzel ›leug›/biegen als das gute Ende, der gute Abschluss, etwas, das sich am Ende zum Guten biegt/fügt (ebd., Sp. 226).

Wenngleich Glück als Wort sich durchgesetzt hat, existieren daneben noch synonyme oder teilsynonyme Wörter wie ›Fortune‹, ›Schick‹ und ›Massel‹ oder ›Dusel‹.

Im Deutschen sind Bedeutungen vereint, die in anderen Sprachen differenzierter sind, so im Englischen fortune, luck, felicity, happiness, im Französischen bonheur, béatitude, félicité. Mit Pieper (2003, 31 – 35) kann man entlang der lateinischen Begriffe unterschiedliche Inhalte erfassen:

Zunächst einmal handelt es sich beim Glück um den positiven Zufall, lateinisch fortuna. In der griechischen Mythologie ist dieser dem Menschen entzogene äußere Einfluss in der Schicksalsgöttin ›Tyche‹ personifiziert und im Wortpräfix unterschieden zwischen dem positiven und negativen Zufall (eutychia bzw. distychia, vgl. Janke 2002, 24). Wenn davon die Rede ist, Glück sei nicht gestaltbar, dann ist damit dieser äußere Einfluss gemeint, der in uns das Gefühl der Dankbarkeit oder des ›unverschämten‹, weil vielleicht unverdient erscheinenden Glücks, hervorruft (Pothast 2008, 55). Diskutiert werden kann, ob allein der äußere Einfluss ausschlaggebend ist oder ob es zumindest für einige Situationen denkbar ist, dass es auch auf die menschliche Reaktion gegenüber einem Zufall ankommt (z. B. den sorgsamen Umgang mit einem Lottogewinn), oder eine gewisse Offenheit gegenüber der Umwelt mit der vielleicht erhöhten Chance, glückliche Umstände zu erleben oder sie überhaupt als solche zu erkennen.

Sodann kennzeichnet ›Glück‹ einen positiven inneren Zustand. Das Griechische ›eudaimonia‹ meint den Besitz eines guten inneren Geistes (Dämons) und markiert die philosophische Reflexion der Abkehr von äußeren Dingen und Hinwendung zur inneren Gestimmtheit, exemplarisch bei Demokrit (ca. 460 – 370 v. Chr.):

»Seligkeit wohnt nicht im Besitz von Herden oder Gold. Ist doch die Seele Wohnsitz eines seligen Geistes« (Capelle 1968, 441/Stobaeus II 7, 3i).

Allerdings ist diese für uns heute selbstverständliche Aussage in der Antike noch nicht selbstverständlich. Sie setzt sich erst im Laufe der Zeit durch, maßgeblich in den ersten drei vorchristlichen Jahrhunderten durch die Epoche des ›Hellenismus‹, der durch eine Hinwendung zum Individuum gekennzeichnet ist (vgl. Hossenfelder 1985, 11 – 41).

Als ›Eudämonismus‹ im weiteren Sinne wird allgemein jene in der Antike entstandene Lehre bezeichnet, »(...) die explizit als Lebensziel den Glücksgewinn predigt.« (Meck 2003, 38).

Allerdings ist damit weder etwas über die konkreten Inhalte des Glücks ausgesagt noch über die Art und Weise, wie diese innere Gestimmtheit zu erreichen ist, und auch die Philosophie kennt unterschiedliche Positionen. Bevor darauf näher eingegangen wird, muss die positive innere Gestimmtheit, der gute innere Dämon selbst, betrachtet werden.

Intensitäten und Häufigkeiten

Jeder kennt vermutlich das Gefühl des euphorischen Augenblicks, aus welchem Anlass auch immer – Momente, in denen man die Welt umarmen könnte; und andere wiederum, in denen man die Frage, wie es einem gehe, ruhig und schlicht mit gut beantwortet und damit einer gewissen Zufriedenheit Ausdruck gibt. Das wirft die Frage nach der Intensivität der positiven Gestimmtheit auf – sie ist, wie so vieles, nur unscharf zu beantworten:

Im englischsprachigen Raum hat sich in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Psychologie – auch mit Blick auf die Messbarkeit dieser inneren Befindlichkeit ›Glück‹ – der Begriff des subjektiven Wohlbefindens (subjective well-being) etabliert und zu einer umfangreichen ›Glücksforschung‹ in der Psychologie geführt (pars pro toto Kahnemann et al. 1999; Mayring 2007, 187 – 191; Bucher 2018). Gemeint ist damit eine Position, die – ähnlich der o. g. Aussagen – vom je aktuellen Standpunkt aus zurückblickt auf das Leben im Ganzen und sich fragt, inwieweit man mit seinem Leben im Ganzen zufrieden ist. Unabhängig von der berechtigten Kritik, dass dies eine kognitive Bewertung und eben kein momentan empfundenes spontanes Glücksgefühl ist, soll der Begriff des subjektiven Wohlbefindens den zeitlichen Aspekt der positiven inneren Befindlichkeit und sein je aktuelles Empfinden umfassen: Es geht um eine länger anhaltende bzw. im Ganzen positive Lebenszufriedenheit, ein Mehr an positiven und Weniger an negativen Affekten (Bucher 2018, 30 – 32). Entsprechend definieren Diener et al. (2009) in ihrem Aufsatztitel programmatisch: »Happiness is the Frequency, Not the Intensity, of Positive Versus Negative Affect«; entsprechend unterteilt Argyle (2009, 14) die zum Glück gehörenden Emotionen in Zufriedenheit und positive und negative Emotionen, und definieren Diener/Biswas-Diener (2008, 216):

»If you feel fairly energetic and upbeat most of the time on most days, and are generally satisfied with your life with only the occasional complaint, you are, by our definition, happy. Some of us will feel more intense emotions and some of us less intense emotions due to our different temperaments, but frequent positive emotions should be the goal rather than continuing intense highs«.

Darin eingeschlossen sind emotionale ›Highlights‹, eruptive/ekstatische Momente ebenso wie emotionale Tiefs: Mehrheitlich positive Effekte verringern die Zahl der negativen nicht (Bucher 2018, 40 – 42). Allerdings senken dauerhafte emotionale Tiefs das Wohlbefinden. Glück impliziert demnach neben dem zeitlichen Aspekt den Aspekt der Intensität – emotionale Höhepunkte sind vorhanden, aber nicht der Normalfall des Glücks, sie wirken sich eher in der kontinuierlichen Zufriedenheit aus; zum Normalfall gehört auch der Schmerz, ohne den das Glück nicht erfahrbar wäre. Es ist also ein Trugschluss zu glauben, Glück meine oder Glücksforschung behaupte ein permanentes ›Gut drauf‹ bzw. die Abwesenheit von Schmerz. Im Gegenteil – der Schmerz als Kontrasterfahrung ist Bedingung für die Möglichkeit, Glück überhaupt empfinden zu können. Gemeint ist lediglich das Überwiegen der positiven gegenüber den negativen Gefühlen. Allerdings wird die Grundformel von der ausschlaggebenden Häufigkeit von einigen erweitert: Nicht nur die Summe, auch die Intensität könne sich dauerhaft auf das Wohlbefinden auswirken (Schimmack 2003; Kahnemann 1999, 19 f).

Eine klassische Bezeichnung für dieses Wohlbefinden als Ruhigstellung des inneren Geistes/der inneren Geister ist bei Epikur die Ataraxie (bzw. in der Stoa die Apathie). Ataraxie als ›Heiterkeit und Windstille der Seele‹ meint v. a. die Unabhängigkeit von äußeren Ereignissen/Gütern, eine Art Bedürfnislosigkeit als fehlender Schmerz, aber auch fehlender Begierde.

Die Betrachtung unterschiedlicher Intensitäten und der Hinweis, auch zu dauerhaftem Glück gehöre das Erleben von Unglück, führt zu einer weiteren Differenzierung, namentlich einer zeitlichen Betrachtung.

Eigenanteil, zeitliche und qualitative Differenzierung

Zur weiteren Kennzeichnung können die Begriffe felicitas und beatitudo dienen (vgl. Pieper 2003, 31 – 35). In Abgrenzung zum Zufall kennzeichnen sie den Eigenanteil menschlicher Aktivität am je eigenen Glück, man könnte sagen: das Schmieden. Entsprechend kennzeichnet Hentig den Begriff eudaimonia:

»Die Dämonen sind in uns zur Ruhe gekommen, und das ist unsere Leistung« (Hentig 1996, 79).

Felicitas bezeichnet das Glück eines bestimmten Zeitraums, wohingegen die beatitudo ursprünglich ein allumfassendes Glück bezeichnet, das sich in letzter Konsequenz erst bei Gott findet – quasi als ›Belohnung‹ eines gottgefälligen Lebens. Daher sind hier zeitliche wie inhaltliche Aspekte impliziert. Eine klassische Passage für den zeitlichen Aspekt eines glücklichen Lebens lautet bei Aristoteles:

»(...) ›in einem vollkommenen Leben‹. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein einziger Tag. So macht auch nur ein Tag oder eine kurze Zeitspanne niemanden selig oder glücklich« (NE 1098a 15).

Diese Differenzierung nach Zufall und Zeiten fasst Nozick (1991, 118) wie folgt:

»Ich möchte hier drei Typen von Glück betrachten: erstens das Glück darüber, dass die eine oder andere Sache der Fall ist (oder dass viele es sind); zweitens das Gefühl, dass das eigene Leben jetzt gut ist; und drittens die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben als Ganzem.«

Mit Seel (1999, 127, Herv. im Orig.) kann man in der Selbstbestimmung das zentrale Kriterium für die Zustimmung zum Leben sehen:

»Ein gelingendes Leben hat, wem es gelingt, ein auf ungezwungene Weise selbstbestimmtes Leben zu führen. Ein glückliches Leben hat, wem sich in einem selbstbestimmten Leben die wichtigsten eigenen Wünsche erfüllen. Ein gutes Leben hat, wer ein mehr oder weniger glückliches Leben führt.«

Angesichts unvermeidbarer ›Durstrecken‹ kann man hoffen, dass deren Zahl so gering sein möge, dass man am Ende ein Leben hatte,

»(...) das reich an episodischer Erfüllung war oder eines, in dem sich die wesentlichen Wünsche erfüllt haben – oder beides. Wir sprechen dann auch von einem ›erfüllten‹ Leben.« (ebd., 125)

Seel führt für diese Zustimmung noch ein notwendiges Kriterium an, auf das später noch eingegangen wird, das der fehlenden Selbsttäuschung in zentralen Dingen (ebd., 73).

Hat man Glück so als eine Art Gefühl der tiefen positiven Bewertung des eigenen Lebens gekennzeichnet, welches optimal am Lebensende noch/wieder vorhanden ist, muss noch ein inhaltlicher Anspruch genannt werden: Das in Summe glückliche Leben der beatitudo ist heute zwar ein subjektiv empfundenes diesseitiges, aber sollte in zentralen Punkten nicht herrschenden moralischen ›essentials‹ widersprechen (Pieper 2003, 33 f) – zumindest hofft man das.

Damit sind erste formale Klärungen getroffen. Nicht behandelt sind zwei Punkte, die im weiteren Verlauf angesprochen werden. Hier nur einleitend ein kurzer Problemaufriss:

In der empirischen Glücksforschung (vgl. Bucher 2018, 35 – 62) wird die Problematik von ›Glücksmessungen‹ diskutiert. Kern der Kritik: Aussagen über das eigene Wohlbefinden können entscheidend von aktuellen Umständen geprägt sein: dem Verhalten des Fragenden, einem vorhergehenden positiven Ereignis, der räumlichen Umgebung, der Bewertung einer Zeitspanne entlang ihres positiven Endes (›Ende gut, alles gut‹). Letzteres legt den Schluss nahe, dass auch ein in Summe weniger gutes Leben positiver bewertet würde, wenn die letzten Wochen/Monate angenehm waren. Umgekehrt könnte der Blick durch aktuell wirksame negative Dinge getrübt werden. Aussagen über die Zufriedenheit mit dem Leben im Ganzen sagten also eventuell mehr über die aktuell-situative Befindlichkeit aus als über eine Lebensbewertung als solche. Nicht selten sei die positive Bewertung der eigenen Situation auch Ausdruck des menschlichen Anpassungsvermögens an leidvolle, aber nicht änderbare Situationen – durch die Bezeichnung dieses Lebens als glücklich würden die zu skandalisierenden Umstände und die entsprechende Anpassung ignoriert. Zudem könne die Bewertung eines Lebens immer durch eine ›rosarote Brille‹ erfolgen, weil wir uns grundsätzlich gerne positiv sehen wollten. Nachzuweisen wäre eine solche Täuschung freilich schwerlich. Insgesamt gibt es für oder gegen empirische Glückforschung gute Argumente. Man kann möglichen Diskussionen an dieser Stelle die Dringlichkeit nehmen mit Blick auf Bilanzierungen renommierter Forscher2: Verwiesen wird einerseits auf die gleichen Ergebnisse antiker Weisheitslehren und empirischer Glücksforschung (Diener/Biswas-Diener 2008, 227), auch unter Bezug zur Tugendthematik (Seligman 2009, 32; auch Peterson/Seligman 2004). Anderseits wird auf die (lebenslange) Prozesshaftigkeit eines Glückslernens hingewiesen (Diener/Biswas-Diener 2008, 15; 230;), auf die Tatsache, dass man Unglück nicht vermeiden könne (ebd., 16) und darauf, dass man es strenggenommen nicht herstellen, sondern nur vorbereiten könne (Haidt 2009, 312). Schließlich wird z. T. nicht mehr vom Glück, sondern von ›flourish‹ (Seligman 2012; Lobel 2017) gesprochen, was begrifflich an das ehemals verwendete Bild vom Pädagogen als Gärtner erinnert. In dieser Arbeit wird hauptsächlich philosophisch argumentiert, empirische Arbeiten werden zur Unterstützung/Veranschaulichung hinzugezogen.

Mit diesen formalen Klärungen ist noch nichts über Inhalte eines glücklichen Lebens gesagt – das Glück anlässlich einer bestandenen Prüfung oder einer rauschhaften Nacht hat unterschiedlichen Charakter und führt zu groben Kategorisierungen des Glücksstrebens. Darin eingebunden sind Fragen nach äußeren Bedingungen für Glück oder objektiven Merkmalen eines guten menschlichen Lebens als solchem – letztere Position steht dann als eher objektive Theorie des Glücks einem Ansatz gegenüber, der das Glück eher in subjektiven Präferenzen verortet und diese dann inhaltlich unterscheidet. In der Diskussion bezieht man sich dabei bewusst oder unbewusst immer wieder auf zentrale Aspekte antiker Glückslehren. Um die Positionen um Inhalte des Glücks zu verstehen, ist es daher notwendig, sich im Folgenden der antiken Quellen zu vergewissern. Vor dem Hintergrund werden unterschiedliche Positionen bzgl. des Glücksstrebens behandelt und abschließend Kerninhalte von Glück gewonnen.

1.2 Antike Grundlegungen

Das grundsätzliche Auftreten der Reflexion über das Glück, wie auch deren zeitbedingte ›Intensivphasen‹, werden häufig erklärt mit einer Verunsicherung bzgl. herkömmlicher Weltdeutungen. Antike Glücksreflexion setze in dem Moment ein,

»(...) wo das noch von den Dichtern bezeugte Zutrauen und Vertrauen brüchig wird, daß G. und Unglück Gabe der Götter und des Geschicks und Heimsuchung durch sie seien.« (Ritter 1974, 679)

Die Glückslehre der Antike entwickelte sich entlang der Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Glücks des Einzelnen angesichts unsicherer äußerer Faktoren:

»In dieser Wende von dem Glück, das man in äußeren Gütern und leiblichen Genüssen hat, in denen der Mensch immer dem Walten der Notwendigkeit und des Geschicks ausgesetzt bleibt, hin zu der guten inneren Verfassung des Menschen und dem aus ihr folgenden Handeln und Leben wird der von der Philosophie getragene Begriff des Glücks zuerst exponiert.« (Ritter 1974, 679)

In der Epoche des sog. ›Hellenismus‹ wird das Glück erreicht »(...) dadurch, daß man sein eigenes Inneres in Ordnung hält.« (Hossenfelder 1985, 34). Zwar gehen viele antike Überlegungen von einer Gültigkeit für alle Menschen aus, andererseits zeigt sich aber bereits im Hellenismus eine tendenziell individualistisch ausgerichtete Philosophie, die nicht »vom Zerfall des bisher Geltenden abhängt« (ebd., 31).

1.2.1 Glück als vorzügliche Tätigkeit – Aristoteles

Die bis heute einflussreichste Darlegung der Glücksthematik entstammt der Nikomachischen Ethik des Aristoteles3. Ihre Aktualität verdankt sich ihrer umfassenden Anlage, aber auch ihres für unsere Ohren sehr vertrauten zentralen Begriffs, dem der Arbeit bzw. Tätigkeit.

Einer sich als Arbeitsgesellschaft verstehenden Sozialform wie der unseren muss die Bedeutung der Arbeit nicht erläutert werden, und tatsächlich ist heute Konsens in der Glücksforschung, dass herausfordernde Aktivitäten eine wesentliche Glücksquelle sind. Allerdings wird der Begriff der Tätigkeit bei Aristoteles erst verständlich im Gesamtkontext seiner Erörterungen über den Stellenwert des Glücks. Der Vollständigkeit halber muss aber gesagt werden, dass Aristoteles mit seiner Hervorhebung der Bedeutung der Vernunft, entsprechend einer vergleichsweise geringeren Wertschätzung der sinnlichen Lust, auf seinen Lehrer Platon zurückgreift:

Im ›Philebos‹ lässt Platon den Philebos und Sokrates darüber streiten, was das höchste Gut des Menschen sei. Während ersterer Lust und Vergnügen nennt, plädiert Sokrates für geistige Güter wie Erkenntnis und rationales/moralisches Handeln (Phil. 11b–c). In Quintessenz wird die ›göttliche Vernunft‹ als höchstes Gut vorgestellt, in einem mit Lust und Vernunft gemischten menschlichen Leben habe die menschliche Vernunft den Vorrang vor der Lust (vgl. v. a. Phil. 20b–22e). Die Vernunft sei dem Guten näher als die Lust, da die Lust und hier insbesondere der Geschlechtstrieb den Menschen zu völlig irrationalen und unmoralischen Handlungen treiben könne und insofern ein sehr ›unzuverlässiges‹ Gut sei (Phil. 65c–e). Analog wird in Platons ›Symposion‹ (Gastmahl) die Rede Diotimas über den Eros wiedergegeben (Symp. 201d–212c), die letztlich darin mündet, dass sich in allem Streben nach dem sinnlich Schönen letztlich der Wunsch nach Unendlichkeit manifestiere. Dadurch werde das Strebensziel entleiblicht zu einer rein geistigen Schau der Idee des Schönen an sich. Unsterblichkeit erlange der Mensch durch Herausbildung der Tugend.

Bei der Betrachtung der aristotelischen Glückslehre wird dieser Einfluss schnell deutlich: Zunächst wird Glück als das höchste Gut gekennzeichnet, als »(...) Ziel dessen, was wir durch Handeln bewirken können.« (NE 1097b 20 – 25). Das liegt daran, dass es nicht etwas ist, das man in Kauf nimmt, um etwas Anderes zu erreichen, und auch nicht etwas, das zwar angenehm, aber nur eine notwendige Etappe zur Erreichung eines noch höheren Ziels ist. Vielmehr ist Glück etwas, das man um seiner selbst willen anstrebt und das deshalb über allen angestrebten Gütern steht. Der Gedankengang lautet im Detail:

Jede menschliche Tätigkeit strebt nach einem Gut. Zu unterscheiden sind aber die Ziele dieses Strebens: Einmal ist es die reine Tätigkeit, ein andermal das Ziel der Tätigkeit, das Werk. Gibt es ein Ziel über die Tätigkeit als solche hinaus, ist es höher zu bewerten (NE 1094a 1 – 20). Das höchste zu erreichende Gut ist für Aristoteles das Glück, denn seine Güte ist in ihm selbst begründet, es ist diesbezüglich ›autark‹:

»Denn wir wählen es immer um seiner selbst willen und niemals zu irgendeinem anderen Zweck.« (NE1097b 1 – 5)

Damit ist allerdings noch nicht geklärt, was das Glück inhaltlich ausmacht, denn darüber, so Aristoteles, gebe es unterschiedliche Ansichten (NE1095a 20 – 25).

Um das zu klären, kommt der Begriff der Tugend ins Spiel. Das griechische Wort ›Arete‹ wird i. d. R. mit ›Tugend‹ übersetzt, und in dieser letzteren Übersetzung schwingen dann schnell moralische Bewertungen mit, die aber zunächst einmal nicht gemeint sind. Vielmehr bezeichnet Arete – Tugend –

»(...) das Gutsein (die Vortrefflichkeit, Tauglichkeit) eines Gegenstandes hinsichtlich seiner speziellen Funktion, Aufgabe, Leistung oder Fähigkeit (érgon).« (Trampota 2010, 517)

So auch im Mittelalter (Regenbogen/Meyer 2013, 675) und im deutschen Ursprung (DWB, Bd. 22, Sp. 1561).

Aristoteles veranschaulicht den Begriff wie folgt:

»Wie nämlich bei einem Flötenspieler, einem Bildhauer, ja bei jedem Künstler und überhaupt bei allen, die eine bestimmte Funktion oder Tätigkeit ausüben, das ›gut‹ und ›die gute Weise‹ in ihrer Funktion zu bestehen scheinen, so dürfte es sich auch beim Menschen verhalten, wenn es eine ihm eigene Funktion gibt.« (NE 1097b 25 – 30)

Das spezifisch Menschliche in Abgrenzung zu Pflanzen und Tieren sieht er in der Fähigkeit, zu denken und sich nach rationalen und sittlichen Maßstäben zu verhalten. Dabei ist die Fähigkeit nur die Basis für eine anzugehende Verbesserung – wie die Begabung für ein Instrument durch Übung verbessert werden könne, so auch das Denken. Die dem Wesen gemäße Tätigkeit wird durch Übung zur hervorragenden. Also lautet die inhaltliche Kennzeichnung des Aristoteles:

»Wenn sich das so verhält, dann erweist sich das menschliche Gute als Tätigkeit der Seele gemäß ihrer Tugend. Wenn es aber mehrere gibt, dann gemäß der besten und vollkommensten.« (NE 1098a 15 – 20)

Materielle und leibliche Güter werden deswegen nicht abgelehnt, aber als weniger wertvoll angesehen (NE 1098b–20; vgl. auch 1099a–1099b 10).

So gilt für Aristoteles, »(...) dass der Glückliche gut leben und es ihm wohl ergehen soll.« (NE 1098b 20 – 25). Dabei spielt die innere Einstellung eine zentrale Rolle: Zwar seien tugendhafte Handlungen an sich angenehm, der Mensch sei ohne die entsprechende innere Einstellung aber kein guter. Für das tugendhafte Glück gelte, dass man gerne tut, was gut ist (vgl. 1099a–30). Die Möglichkeit zu solchem Glück stehe jedem Menschen prinzipiell offen, er benötige dafür allerdings Lernen und Übung; einschränkend könnten äußere Einflüsse wirken:

»Denn wer ganz hässlich, niedriger Herkunft, einsam und kinderlos ist, hat kaum Aussichten auf Glück, noch weniger aber vielleicht, wenn jemand ganz schlechte Kinder oder Freunde hat, oder wenn er gute durch den Tod verloren hat.« (NE 1099b–10)

Unfähig seien aber auch Kinder, die er in einem Atemzug mit Tieren als (noch) nicht vernunftfähig ansieht (NE 1100a 1 – 5). Allerdings sei dieses Glück nicht vollends geschützt vor äußeren Beeinträchtigungen, wiewohl den Tugendhaften diese äußeren Widrigkeiten nicht vollends ins Unglück stürzen könnten (NE 1100b 10 – 35; 1101a-15).

Dass es bei Aristoteles nicht um subjektives Wohlbefinden, sondern die Bewertung eines Lebens als objektiv gut geht, zeigt sich in seiner Frage, ob man ein in Summe gutes Leben auch dann noch ein solches nennen könnte, wenn zwar die Person selbst ein gutes Leben geführt und gehabt habe, ihre Nachkommen aber nicht. Und tatsächlich kommt er zu dem Schluss, dass man in einem solchen Fall nicht uneingeschränkt vom Glück sprechen könne: Einerseits sei es zwar befremdlich, den Menschen, der dieses Leid seiner Nachkommen nicht mehr erlebt, deswegen als unglücklich zu bezeichnen; andererseits sei es ebenso befremdlich, diese Tatsachen nicht in die Bewertung einzubeziehen, sodass es im Ergebnis einen Einfluss auf das Glück der Toten ausmacht, der aber deren Kernbefindlichkeit nicht affektiere (1101b–10). Zusammenfassend lautet seine Glücks-Definition:

»Was hindert uns also daran, den Glücklichen als denjenigen zu bestimmen, der Tätigkeiten gemäß der vollkommenen Tugend ausführt und hinreichend mit äußeren Gütern versehen ist, und zwar nicht nur für eine beliebige Zeit, sondern für ein vollkommenes Leben? Oder ist noch hinzuzufügen, dass er nicht nur so leben, sondern auch entsprechend sterben wird? Obwohl die Zukunft für uns undurchsichtig ist, bestimmen wir doch das Glück als etwas in jeder Hinsicht und auf alle Weise Vollkommenes. Unter dieser Voraussetzung werden wir diejenigen unter den Lebenden als selig bezeichnen, die über all das, was wir gesagt haben, verfügen und auch weiterhin verfügen werden − selig allerdings als Menschen.« (NE 1101a 10 – 25)

Da Aristoteles die menschliche Vortrefflichkeit im Denken, v. a. in der Fähigkeit zur Einsicht in Sittlichkeit und entsprechendes Handeln, definiert, stellt sich die Frage, was nun bedeutsamer für das Glück ist, das sittliche Handeln oder die geistige Schau; für beides gibt es bei Aristoteles Belege und eine entsprechend vielfältige Diskussion (eine kurze inhaltliche Übersicht gibt Horn 2010, 83 – 85). Die Diskussion kann hier nicht geführt werden, allerdings ist mit Horn anzunehmen, dass eine strikte Trennung zwischen gutem theoretischem und schlechtem praktischem Leben ohnehin nicht möglich sei (83). Angesichts der Betonung des Unterschiedes zwischen Mensch und Tier durch die Vernunft und angesichts der Tatsache, dass die geistige Schau Glück gerade gegen äußere Unbillen ermögliche, spricht viel für eine etwas stärkere Gewichtung der geistigen Schau (Wolf 2013, 251; 254; ähnlich Römpp 2009, 79 f; auch Horn 2010, 79), wenn man überhaupt eine Gewichtung oder gar Trennung vornehmen will, denn selbst in einem Philosophenleben mit größtmöglichem Freiraum für intellektuelle Beschäftigung stellen sich alltagspraktisch ethische Fragen und können Bewertungen nur anhand praktischer Gegebenheiten erfolgen (zur Diskussion Wolf 2013, 249 – 256). Inhaltlich ist diese geistige Schau, in der es um das Reflektieren/Betrachten letzter unwidersprochener wissenschaftlicher Grundsätze geht, als eine Art ruhende Betrachtung und nicht als strebendes Erforschen letzter Gründe gedacht – so zumindest die Positionierung von Wolf (ebd., 242 f) in dieser Diskussion, mit Verweis auf die Aussage der NE, dass der Wissende in der Schau größere Lust hat als derjenige, der Wissen sucht.4 Zentrale Bedingung für diese Tätigkeit ist Muße – sie erst gibt als Freiheit von Alltagsgeschäften Raum für freies Denken (1177a 25 – 30), damit Gelegenheit, als Mensch ganz zu sich zu kommen. Ermöglicht ist sie durch äußere Tätigkeiten wie Arbeit oder Krieg (letzterer als Sicherung des Friedens, erstere z. B. als Sicherung des Lebensunterhaltes).

Hier kommt die Bedeutung der Gemeinschaft ins Spiel. Zum einen als Freundschaft, zum anderen als politische Gemeinschaft. Inhaltlich haben bei Aristoteles beide Gemeinsamkeiten: Die Freundschaft, ohne die kein Mensch leben möchte, auch wenn er alle anderen Güter hätte (NE 1155a 5 – 10), sei in ihrer vollkommenen Form (in Abgrenzung zu einer Freundschaft um der Lust und/oder des Nutzens willen) durch eine Art Seelenverwandtschaft gekennzeichnet zwischen zwei Menschen, die einander ausschließlich um des anderen Willen Gutes wünschten, weil sie selbst gute Menschen seien (1156b 5 – 15). Besonders wichtig sei sie zwar in der Not (notwendiger seien sie in der Not, schöner aber im Glück, (1171a 20 – 30), ihr Beginn liege aber im Wohlgefallen (1167a-15) und umfasse das Wertvolle, Lustvolle und Nützliche (1156b 5 – 25). Darin sei sie Spiegel der Selbstliebe (1168b-15). Sie ist aber nach Aristoteles auch notwendig für eine Gemeinschaft, wichtiger noch als Gerechtigkeit, da ohne ein Band gemeinsamen Wohlwollens keine Gemeinschaft bestehen könne (1155a 20 – 30). Überhaupt gewichtet Aristoteles stark die Bedeutung der Gemeinschaft. Sie könne glücksfördernd bzw. -sichernd wirken (z. B. in Form der Sicherung von Grundbedürfnissen, moralischen Standards, Frieden). Wenn sich also heute Volkswirtschaftler, Politologen oder Soziologen mit dem Glück beschäftigen, dann können sie sich auf Aristoteles berufen, der seine Ethik ausdrücklich bezeichnet als »(...) eine Art politischer Wissenschaft.« (1094b 10). Da der Staat die Rahmenbedingungen für den Einzelnen vorgibt, ist man damit bei der Gerechtigkeitsthematik. So lautet denn auch die Aufforderung des Aristoteles an den Staat, dafür zu sorgen, das Glück allen zu ermöglichen (die ›glückswürdig‹ sind, was z. B. Sklaven ausschließt):

»Der tüchtige Gesetzgeber hat ja die Aufgabe herauszufinden, wie ein Staat, eine Klasse von Menschen und jede andere Gemeinschaft am guten Leben und dem für sie erreichbaren Glück teilhaben können.« (Pol. VII, 1325a 5)

Aus dem bisher Gesagten lassen sich einige zentrale Inhalte der Glücksthematik herausfiltern: Das höchste Glück besteht in der reinen Tätigkeit des Verstandes sowie im Leben gemäß der Sittlichkeit. Dementsprechend geringer bedeutsam ist die sinnliche Lust/der Genuss, kurz: die Leidenschaft (wiewohl die Nikomachische Ethik zwei Kapitel über die Lust enthält, vgl. NE VIII, 12 – 15 und NE X, 1 – 5). Die höchste Lust ist eine der Wahrnehmung, und die Wahrnehmung bezieht sich auf die Betrachtung letzter Dinge oder des eigenen Lebens als tugendhaftem (vgl. Wolf 2013, 208 – 212). Aristoteles schwebt dabei eine Art ideales menschliches Leben vor:

»Im Fall der moralischen Tugend ist ein hervorragender Charakter – in etwa: sittliche Rechtschaffenheit – und im Fall der dianoetischen oder intellektuellen Tugend eine Höchstform menschlicher Intelligenz gemeint.« (Höffe 20019b, 4)

Diese Bestform ist deswegen möglich, weil in der Alltagspraxis die Klugheit (als eine Art praktische Vernunft) dem Menschen ermöglicht, das jeweilige Gut zu erkennen und umzusetzen. Als Richtschnur dienen Tugenden als Mittelstellung zwischen zwei Extremen (Aristoteles knüpft an die Tradition geistiger und praktischer Tugenden an, die es zu verstehen und einzuüben gelte; ▶ Kap. 1.5.1), was alltagspraktisch schnell einleuchtet: Nachdenken ist gut, kann aber zu ungesundem Grübeln ausarten, während der Verzicht auf Denken zu Sorglosigkeit bis Dummheit führt; Sparen für größere Anschaffungen kann Glück fördern, übertrieben als Geiz verhindern, während umgekehrt das unbedachte freie Geldausgeben nicht umsonst als sorgloses Verprassen getadelt wird.

Aristoteles' Ethik wird inhaltlich als eudämonistisch gekennzeichnet. Im weiteren Sinne ist sie das insofern, als jede Philosophie so bezeichnet wird, die sich am Glück als dem höchsten Gut orientiert. Im engeren Sinne eudämonistisch (als Gegensatz zu hedonistisch) ist sie, weil sie das Glück in die Verantwortung des Menschen gibt, das menschliche Leben aktiv gemäß seinen Fähigkeiten und moralisch gut zu gestalten:

»Die Nikomachische Ethik beginnt mit der Beobachtung, daß die für den Menschen charakteristischen Tätigkeiten auf Ziele hin orientiert sind, die vom Handelnden als positiv bewertet und insofern als ein Gut angesprochen werden. Die Begriffe ›Ziel‹ und ›Gut‹ sind weitgehend äquivalent. Nun bilden die verschiedenen Ziele bzw. Güter eine Hierarchie, an deren Spitze ein höchstes, und zwar ein schlechthin oder unüberbietbar höchstes Gut steht, das summum bonum, wie es im Lateinischen heißen wird. Aristoteles setzt es mit dem Glück gleich, freilich nicht mit dem Glück, das einem zustößt, mit Fortuna, sondern mit einem Glück, für das der Mensch selber die Verantwortung trägt, mit dem Glück im Sinne eines gelungenen, geglückten Lebens (eu zên). Weil Aristoteles das Gute (agathon) in Begriffen von Zielen, griechisch: telê, denkt, heißt seine Ethik teleologisch: zielorientiert. Und sie heißt eudämonistisch, glücksorientiert, weil sie das höchste Gut als Glück, griechisch: eudaimonia, anspricht.« (Höffe 2019b, 3, Herv. im Orig.)

Berücksichtigen muss man dabei, dass man mit heutigem Verständnis den Begriff eudämonistisch engführen kann auf individuelle Ziele. Das ist aber mit Blick auf Aristoteles nur sehr bedingt richtig. Zwar resultiert aus der Verwirklichung des tugendhaften Lebens das Glücksempfinden des jeweiligen Menschen, letztlich geht es aber nicht um subjektive Glücksvorstellungen, sondern um die Einsicht in ein allgemein gültiges, gutes Leben, dessen objektive Qualität auch von der intellektuellen Kapazität des Einzelnen abhängt.

1.2.2 Glück durch reflektierten Umgang mit Lust und Schmerz – Epikur

Freud und Leid, in altem Sprachgebrauch Lust und Unlust sind elementare Lebensäußerungen, deren Bedeutung auch Aristoteles hervorhebt: So schreibt er zu Beginn seiner Erörterungen über die Lust:

»Sie scheint nämlich ganz besonders eng mit unserer Natur verbunden zu sein. Deswegen erzieht man auch die Jugend, indem man sie mit Hilfe von Lust und Schmerz steuert. Auch ist es bekanntlich für die Charaktertugend entscheidend, dass man sich über das freut, worüber man soll, und hasst, was man soll. Denn diese Einstellungen beziehen sich auf alles im Leben und haben einen starken Einfluss die Tugend und das glückliche Leben betreffend. Lustvolles pflegt man nämlich zu wählen, Schmerzhaftes zu meiden.« (NE, 1172a 20 – 25)

Während bei Aristoteles aber Lust und Unlust nicht im Zentrum seiner Glückslehre stehen, ist dies bei anderen Philosophen der Fall. Ausgang solcher Überlegungen ist die Überzeugung, dass Glück v. a. eine Frage der sinnlichen Empfindung ist. Philosophiegeschichtlich5 gehen diese Positionen zurück auf Aristipp von Kyrene (435 – 360 v. Chr.) und Eudoxos von Knidos (398 – 345 v. Chr.), den Aristoteles in diesem Zusammenhang als Urheber nennt (NE, 1172b 5 – 25), und werden heute unter den Begriff des Hedonismus gefasst. Epikur (341 – 270 v. Chr.) knüpft an ihre Gedanken an, indem er die sinnliche Lust zum höchsten Gut und dieses Glück als jederzeit erreichbar erklärt. Er bettet dieses Luststreben jedoch in ein sehr rationales Konzept der Lebensführung mit Elementen stoischen Denkens ein, weswegen er mehrdimensional zu betrachten ist, was im Folgenden erläutert werden soll.

Zunächst zu seinem Ausgangspunkt, der sinnlichen Lust, den er mit Aristipp teilt und den Cicero Epikurs Dialogpartner Torquato in den Mund legt:

»Jedes Lebewesen, sobald es geboren ist, strebe nach Lust und freue sich an ihr als dem höchsten Gut, den Schmerz aber wehre es ab als das größte Übel und halte ihn, so sehr es könne, von sich fern, und dies tue es in seinem noch unverdorbenen Zustand, so dass die Natur selbst unverfälscht und unversehrt urteile.« (Hossenfelder 2013, 191/Cicero fin. 1,29)6

Mit diesem Faktum des Luststrebens ist aber noch nicht gesagt, wie genau diese Lust beschaffen ist, immerhin gibt es stillen Genuss und ekstatische Momente. Epikur knüpft in seiner Beschreibung der Lust an seine Vorgänger an, unterscheidet sich aber gleichzeitig von ihnen (vgl. insgesamt Hossenfelder 2006). Zunächst zur Beschreibung: Aristipp beschreibt Lust als »glatte«, den Schmerz (die Unlust) als »rauhe« Gemütsbewegung (Hossenfelder 2013, 50/DL 2, 86). Anders als Eudoxos kennt er dazwischen aber noch einen mittleren Zustand, die Ataraxia, als eine »Vergnügen- und Schmerzlosigkeit« (DL 2, 90), die für Eudoxos aber nicht erstrebenswert sei. Hier knüpft Epikur an: Nicht die sanfte Bewegung sei die höchste Lust, da der Mensch in ihr immer noch etwas anstrebe und so innerlich nicht zur Ruhe komme. Im ›mittleren‹ Zustand sei das aber der Fall, weswegen der als Abwesenheit von Begehren und Schmerzvermeidung für Epikur zum höchsten Gut wird, da hier die Bewegungen des Strebens bzw. Vermeidens zur Ruhe kommen (vgl. DL 2, 87; 2, 89; 10, 136):

»Epikur bevorzugt die ›katastematische‹, die gleichförmig-ruhige, gegenüber der kinetischen, der veränderlichen Lust« (Horn 2010, 96).

Diese Position wird auch als ›negativer Hedonismus‹ gekennzeichnet (Hossenfelder 2006, 73) – hedonistisch deshalb, weil sie den Vorrang subjektiv sinnlicher Empfindungen behauptet, negativ, weil es nicht um ein permanentes Streben nach Genuss geht, sondern um eine Freiheit vom Streben jedweder Art. Hier finden sich deutliche Bezüge zur stoischen Philosophie und deren Formulierung der Apathie als höchstem Gut (vgl. Hossenfelder 2013, XXIX; Werle 2000, 586; ähnlich Höffe 2018, 72, der das stoische Ideal der Unerschütterlichkeit mit Epikurs Philosophie verwandt sieht).

Epikurs Frage lautet nach dieser Grundsatzklärung nun, wie dieser Zustand zu erreichen sei. Hier setzt er sich mit den Gründen für Lust bzw. Unlust auseinander und versucht darzulegen, dass Glück erreichbar sei: Als sinnliches Erleben, gleichwohl vernunftbegleitet, und in einem klugen Sich-Verhalten gegenüber Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis und Existenz.Zunächst zur Frage, welcher Art Unlust der Mensch ausgesetzt ist. Hier nennt er zunächst die Furcht (vgl. Hossenfelder 2006, 78 – 83), unterteilt in solche vor den Göttern und solche vor dem Tod.

Unlust 1: Furcht vor Göttern und Tod

Die Furcht vor den Göttern versucht er zu beheben, indem er den Aberglauben bekämpft: Die Götter interessierten sich für unsere Welt nicht, da sie, als Wesen einer anderen Welt, in unsere nicht hineinwirken wollten. Zudem entstehe Furcht vor den Göttern anhand natürlicher Erscheinungen und Ereignisse – die ließen sich aber naturwissenschaftlich bzw. mit dem Zufall oder unserer eigenen Handlungen erklären. Daher müsse man die Menschen darüber aufklären, dass ihre Gottesbilder falsch seien (Hossenfelder 2013, 181, 184/Brief an Menoikus, DL 10, 124; 133 f), und könne ihnen so die Furcht vor ihnen nehmen:

»Durch die Erkenntnis der Natur aller Dinge werden wir vom Aberglauben erlöst, von der Todesfurcht befreit und nicht verwirrt von der Unkenntnis der Dinge, aus der gerade schreckliche Ängste entstehen.« (Hossenfelder 2013, 187/Torquatus bei Cicero fin. 1,63)

Wie genau verhält es sich nun mit der Furcht vor dem Tode, die gemäß obigem Zitat auch getilgt werden kann? Epikur unterteilt zur Beantwortung zunächst einmal in die Furcht vor einem schmerzhaften Ende; sodann vor einem immerwährenden Schrecken nach dem Tod; dann vor dem Tod als solchem; und schließlich die Angst vor dem Verlust von irdischen Glücksmöglichkeiten.

Die Furcht vor dem Tod als solchem versucht er zu beseitigen, indem er den Tod definiert als Empfindungslosigkeit: Schmerzen habe man, solange man empfinde. Da der Tod das Leben und damit die Empfindungen auslösche, sei kein Schmerz mehr zu fürchten:

»Gewöhne dich ferner an den Gedanken, dass der Tod uns nichts angeht. Denn alles Gut und Übel ist in der Wahrnehmung, der Tod aber ist der Verlust der Wahrnehmung. Daher macht die richtige Erkenntnis, dass der Tod uns nichts angeht, das Sterbliche des Lebens genußvoll, indem sie nicht eine unendliche Zeit hinzufügt, sondern die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit fortnimmt.« (Hossenfelder 2013, 181/Brief an Menoikus, DL 10, 124)

Somit kann auch die Angst vor immerwährenden Qualen entweder mit dem Verweis auf Empfindungslosigkeit oder Aberglauben behoben werden.

Bezüglich der Möglichkeit, man stelle kurz vor seinem Tod fest, dass man höchstes Glück noch nicht erlangt habe und daher so etwas wie Angst aufkomme, etwas verpasst zu haben, führt Epikur die Provokation eines jederzeit hier und jetzt möglichen Glückszustandes ins Feld: Die höchste Lust sei die Freiheit von Schmerzen und Bedürfnissen, die könne durch die Empfindungslosigkeit nach dem Tod nicht mehr gesteigert werden (vgl. Hossenfelder 2006, 82).

Das Thema der Furcht vor Schmerz, wie auch die Frage nach verpasstem bzw. jederzeit verfügbarem Glück, greift über zu Epikurs Lehre vom generellen Umgang mit Lust und Unlust. Der Tod als Empfindungslosigkeit bereitet keine Schmerzen. Wie aber verhält es sich mit den Schmerzen vor dem Tod bzw. zum Tode hin? Hier unterteilt Epikur grundsätzlich die Schmerzen in solche, die kurz sind und nicht heftig, solche, die heftig und zu lindern und solche, die heftig und tödlich, also begrenzt und daher zu ertragen sind.

Unlust 2: Schmerzen

Wieso Epikurs Hedonismus als ›negativer‹ bezeichnet wird, zeigt sich wohl am ehesten im Umgang mit Schmerz – nicht ein ausgefeilter Genuss, sondern die Abwesenheit von Schmerz ist ihm höchste Lust:

»Der Maßstab der Größe des Vergnügens ist die Befreiung von allem Schmerz.« (vgl. DL 10, 139)

Wie aber befreit man sich vom Schmerz? Epikur versucht, den Schmerz zu unterteilen: In einen solchen, der durch nichts (oder nicht entscheidend) gemindert werden kann. Dieser sei aber kurz, da er rasch zum Tode führe. Ein längerer Schmerz, der ›das Vergnügen nach dem Fleisch übertrifft‹, dauere nicht viele Tage (unklar ist allerdings, was damit gemeint ist), und bei permanenten Schmerzen überwögen letztendlich doch noch mögliche fleischliche Vergnügen/Linderungen (vgl. DL 10, 140), so dass er bilanziert:

»Die starken Schmerzen führen rasch zum Tode. Die chronischen aber haben keine Stärke.« (Hossenfelder 2013, 268/Plutarch mor. 36b)

Indem man dies bedenke, könne man Schmerz ertragen im Vertrauen auf sein Schwinden: Entweder durch Tod, oder durch eine natürliche Abnahme. Weiterhin könne Schmerz durch Erinnerung an vergangene schöne Dinge/Lüste gemindert werden, weswegen der Weise unangenehme Dinge vergesse angenehme in Erinnerung behalte:

»Die Toren werden von der Erinnerung an die Übel gequält, die Weisen erheitern der vergangenen, in dankbarem Gedenken erneuerten Güter. Es liegt an uns, dass wir das Negative gleichsam mit ewigem Vergessen zuschütten und das Positive in angenehmer und lustvoller Erinnerung behalten.« (Hossenfelder 2013, 268/Torquatus bei Cicero fin 1,57)

Ungeklärt ist noch die Frage nach der Problematik des verpassten Guten angesichts des Todes sowie des Umgangs mit einer dritten Quelle der Unlust, den ungestillten Bedürfnissen. Beides hängt zusammen – nach Epikur kann man jederzeit glücklich sein, da Glück jederzeit erreichbar sei:

Unlust 3: Ungestillte Bedürfnisse – vom rechten Umgang mit der Lust

Glück als Ataraxie wird nicht nur durch Schmerz, sondern auch durch die Unruhe des Begehrens gestört. Folgerichtig muss man sich dem Begehren zuwenden und fragen, ob dies gestillt werden kann – wenn ja, wie, wenn nein, wie man damit umgeht, und vorgelagert: Ob das Begehren überhaupt notwendig ist, was die Frage nach den Maßstäben aufwirft. Epikur unterteilt dazu die Begierden in natürliche und unnatürliche sowie notwendige und nicht notwendige: Hunger und Durst seien natürliche notwendige Begierden, deren Erfüllung einen Mangel- bzw. Schmerzzustand behebt. Das hervorragende Essen stille zwar Hunger, seine Lust liege aber v. a. im Besonderen, nicht notwendigen Genuss. Die Begierde nach Sexualität sei zwar natürlich, aber für das Überleben nicht notwendig (DL 10,149; vgl. Aristoteles, NE 1118b 10 – 30; auch der ›klassische Hedonist‹ Aristipp betont die Notwendigkeit des freien Gebrauchs der Lüste, ▶ Kap. 1.1.4). Um also nicht in Abhängigkeit/permanente innere Unruhe zu gelangen, müsse man sich beim Gebrauch der Lüste von der Vernunft leiten lassen:

»Niemand nämlich mißachtet oder haßt oder flieht die Lust selbst, weil sie Lust sei, sondern weil diejenigen, die nicht vernünftig nach Lust zu streben verstehen, von großen Schmerzen verfolgt werden.« (Hossenfelder 2013, 267/Torquatus bei Cicero fin. 1,32)

Komprimiert lautet das ›Erfolgsrezept‹: Lust ist das höchste Gut. Höchste Lust ist die Windstille der Seele, bereits durch Schmerzfreiheit gegeben. Sie kann jederzeit erreicht werden (DL 10,146): Schmerz kann um eines höheren Zieles willen oder im Wissen um seine kurze Dauer ausgehalten werden, oder er kann gelindert werden durch positive Gedanken oder körperliche Lust. Ist er nicht beherrschbar, führt er schnell zum Tod. Der Tod als Zustand ist schmerzfrei. Die Furcht vor Göttern ist durch Rationalität zu beheben. Die wirklich notwendigen Begierden können schnell gestillt werden (»Brot und Wasser verschaffen die höchste Lust, wenn einer sie aus Mangel zu sich nimmt.« Hossenfelder 213, 183/Brief an Menoikus DL 10, 131). Der Mensch muss sich nach Epikur keine Sorge machen, er könne angesichts des nahenden Todes etwas verpassen – denn mehr als Schmerzfreiheit ist nicht zu erreichen, weder in diesem noch in einem möglichen jenseitigen Leben (DL 10,145). Sein Postulat der (sinnlichen) Lust als höchstem Gut ist stark rationalistisch begleitet, weswegen er die Philosophie als ständigen Lebensbegleiter empfiehlt (Hossenfelder 2013, 180/Brief an Menoikus DL 10, 122). Inhaltlich zeigt er in der Skizzierung des Glücks als Bedürfnislosigkeit und der Reduktion der Bedürfnisse stoische Elemente, was antike Texte ihm auch zuschreiben. Epikur entwirft das Bild eines glücklichen Menschen als eines Weisen, der sein Glück jederzeit wahrnehmen kann aufgrund des Bedenkens seiner Erreichbarkeit und seines Charakters:

»So nämlich wird der Weise von Epikur als stets glückselig eingeführt: Er hat begrenzte Begierden, er kümmert sich nicht um den Tod, über die unsterblichen Götter glaubt er ohne Furcht das Wahre, er zögert nicht wenn es besser sein sollte, aus dem Leben zu scheiden. Mit diesen Dingen wohlgerüstet, lebt er stets in Lust. Es gibt nämlich keinen Zeitpunkt, an dem er nicht mehr Lüste hätte als Schmerzen. Denn er erinnert sich gern an die Vergangenheit, und er verfügt über die Gegenwart so, dass er beachtet, wie wichtig sie ist und wie angenehm, und er ist nicht abhängig von der Zukunft, sondern erwartet sie und genießt die Gegenwart. (...) Wenn ihm aber irgendwelche Schmerzen widerfahren, besitzen sie nie eine solche Stärke, dass der Weise nicht mehr hätte, worüber er sich freute, als worüber er sich sorgte« (Hossenfelder 2013, 291/Torquatus bei Cicero fin. 1,62).

Das Glück des Privatlebens

Man muss diese wie antike Glückslehren im Kontext der Suche nach innerer und äußerer Sicherheit angesichts realer Gefährdungen verstehen (Ritter 1974, 688). Die Möglichkeit des Glücks durch Reduktion von Bedürfnissen bezieht sich auf das Innenleben und damit auf den Bereich, den wir direkt beeinflussen können. Letzteres gilt für die äußeren Umstände nur bedingt, im Privatleben noch besser als in der Öffentlichkeit. Deswegen pflegte Epikur aus kluger Selbstsorge die Freundschaft, deren Ursprung und Wert der Nutzen, ihr Bestand aber durch Sympathie (›gemeinsame Lust‹) gewährleistet sei (DL 10, 120/vgl. Hossenfelder 2013, 284 f). Eine klassische Passage zur Freundschaft bei Epikur lautet:

»›Von allem, was Weisheit zur Glückseligkeit des ganzen Lebens bereitstellt, ist weitaus das Größte die Erwerbung der Freundschaft.‹« (Hossenfelder 2013, 284/DL 10, 120)

So war Epikurs Garten ein Ort der Begegnung, des Austauschs und Unterrichts, seine Schule nach Horn (2010, 53, mit Verweis auf DL 10, 3; 10, 5; 10, 25) ein »Freundschaftsbund« und vermutlich die erste, die Schüler ohne Standes- und Geschlechtsunterschiede unterrichtete.

Aus dem Bedürfnis nach Sicherheit empfiehlt er auch einen guten Umgang mit Nachbarn (Hossenfelder 2013, 280 f/DL 10, 154) und das Meiden öffentlicher/politischer Betätigung. Plutarch gibt dahingehend eine Einschränkung – Epikur habe denjenigen zur Politik geraten, die ohnehin nach Ruhm und öffentlichen Ämtern streben. Für sich selbst jedoch gilt der Satz: »›Lebe im Verborgenen.‹« (Hossenfelder 2013, 281/Plutarch mor. 1125c). Ritter (1974, 690) resümiert:

»So verdichtet sich mit Epikur noch einmal das Glück zum Stande des Menschen, der in der Distanz zur Welt die heitere Gelassenheit der Seligkeit zu behaupten sucht.«

Trotz dieser sehr vielfältigen Gedankengänge ist Epikur philosophiegeschichtlich lange Zeit zum Sinnbild eines rein lustorientierten, amoralischen Lebens geworden, zumal seine Aussagen hinsichtlich Gottesvorstellungen, Naturwissenschaften und Sittlichkeit etlichen Zeitgenossen, im Verlauf auch den Vertretern christlicher Lehre, nicht sonderlich kompatibel mit ihren Vorstellungen vom guten Leben schienen. Andere wiederum sehen ihn derart rational ausgerichtet, dass z. B. Meck (2003, 47) zu dem Schluss kommt, man könne ihn nicht uneingeschränkt als Hedonisten bezeichnen. Dem muss man mit Blick auf Epikurs Grundpositionen allerdings widersprechen: Er ist deswegen durch und durch Hedonist, weil sowohl seine Erkenntnistheorie (»(...) alle Vernunft hängt von den Sinnen ab.« DL 10, 32) als auch Ethik (»›Ursprung und Wurzel alles Guten ist die Lust des Bauches, auch das Weise und Überfliegende bezieht sich nur auf diese.‹« Hossenfelder 2013, 198/Athenaeus 546 f) bei dem Faktum unserer Körperlichkeit ansetzen. Wir streben nicht nach Glück, weil es das höchste Gut ist, sondern Lust ist das höchste Gut, weil wir es anstreben (vgl. O'Keefe 2010, 112 – 115). Das macht den fundamentalen Unterschied zu Aristoteles aus und hat in der Philosophiegeschichte zu der genannten Fehldeutung geführt, wonach Epikur den Menschen zu einem Tier/Schwein reduziere. So sprach man mal abwertend vom ›schweinischen Epikureismus‹, mal augenzwinkernd von sich selbst als »Schweinchen aus der Herde Epikurs« (Horaz, Briefe I 4. 5). De facto empfiehlt Epikur eine hedonistische Lebenshaltung, die eine rationale Lebensführung und Weltaneignung einschließt und den Menschen da, wo es geht, die Lust genießen lässt. Woolfe (2009, 60) hat dafür ein sehr schönes Beispiel: Angenommen, jemand hätte für einen Flug economy class gebucht, spontan sei aber ein Upgrade auf business class ›for free‹ möglich – der Epikureer würde diesen Luxus ohne weiteres ›mitnehmen‹, ohne deshalb zukünftige Erwartungen zu hegen. Das lässt sich mit Epikur selbst belegen:

»Wenn nämlich die Umstände uns freilassen, die Möglichkeit des Wählens uns offen steht und nichts daran uns hindert, das zu tun, was uns am meisten gefällt, dann werden wir jede Lust annehmen und jeden Schmerz zurückweisen.« (Gigon 1949, 85/Cicero Fin. I, 29 – 72)

1.2.3 Das Glück innerer Freiheit trotz widriger äußerer Umstände – Stoa

Ein weiterer, in der Antike zeitweise weit verbreiteter Ansatz zur Herstellung eines guten inneren Geistes ist der der Stoa, meistens nach führenden Vertretern noch zeitlich unterteilt in ältere, mittlere und jüngere (vgl. Hossenfelder 1985, 44 – 99; Horn 2010, 85 – 93; Forschner 1992; Böhling 1992). Inwieweit eine solche Unterteilung sinnvoll ist, wird bisweilen diskutiert. Mit Hossenfelder (1985, 94) muss allerdings ein für die Glücksthematik bedeutsamer Unterschied genannt werden: Die neuere Stoa (von der allerdings auch mehr Schriften erhalten seien) zeichne sich durch den Versuch aus, die Phänomene von Lust/Unlust undramatischer in das Gesamtkonzept der apathischen Seelenruhe zu integrieren. Demgegnüber postulierten frühere Positionen eine rigidere (letztlich erfolglose) Distanz von allen Affekten. Letzteres dient alltagssprachlich zur Kennzeichnung dieser philosophischen Position:

Unter einem stoischen Menschen versteht man gemeinhin jemanden, der wenig Gefühlsregung zeigt, insbesondere angesichts äußerer Widrigkeiten ruhig und unberührt bleibt wie ein Fels in der Brandung. Diese Gelassenheit ist für die Stoa tatsächlich das erstrebenswerte Ziel. Der Grund liegt in der auch zur Glücksreflexion gehörenden Bedeutung äußerer Umstände – bei Aristoteles führt sie zur Hervorhebung einer gerechten Politik als strukturelle Förderung des Wohlbefindens. Bei Epikur dagegen führt sie zur Empfehlung der Distanz zum öffentlichen Leben bzw. zur Politik zum Schutz der eigenen Verletzbarkeit. Einen ähnlichen Weg gehen auch die Stoiker, die v. a. auf Zenon von Kition (333 – 264 v. Chr.) zurückgehen und in den ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderten in Rom noch einmal eine Blütezeit hatte mit Seneca, Epiktet und Marc Aurel. Angesichts unsicherer äußerer Umstände und fehlender Einflussmöglichkeiten des Individuums kann man die Stoa lesen als Versuch, durch einen Rückzug ins Innere den eigenen inneren Geist möglichst wenig von außen affektieren zu lassen. Dies gelingt, indem man seine Bedürfnisse reduziert und das hinnimmt, was nicht zu ändern ist. Der Weg dorthin führt für die Stoiker über die Beobachtung der Natur. Für die Stoa, so gibt Diogenes Laertius (DL 2, 7,53) ihren Gründer Zenon wieder, ist derjenige glücklich, der gemäß der Natur lebe, und das wiederum bedeute tugendhaft zu leben, denn die Betrachtung der Natur führe zu ihr:

»Daher ergibt sich als höchstes Gut ›entsprechend der Natur leben‹, was bedeutet, ›gemäß der eigenen Natur und der des Ganzen‹, ohne etwas zu tun, was das allgemeine Gesetz zu verbieten pflegt, das die aufrechte Vernunft ist, die durch alle Dinge hindurchgeht und identisch ist mit Zeus, dem Leiter der Verwaltung alles Seienden. Eben darin aber bestehe die Tugend des Glückseligen und der Wohlfluß des Lebens, wenn alles getan werde im Einklang des jedem einzelnen beiwohnenden Dämons mit dem Willen des Verwalters des Ganzen.« (Hossenfelder 2013, 81 f/DL 7,87)

Alltagssprachlich formuliert: Durch das Studium der Natur erkennt man eine innere Logik/Struktur, der man selbst als Lebewesen unterliegt und in die man sich einfügt bzw. die man befolgt. Zu bedenken dabei ist auch hier, dass Tugend nicht automatisch und ausschließlich Sittlichkeit meint, sondern eine Vervollkommnung von Anlagen, was kurz später erläutert wird an Beispielen von Kunst, Gesundheit und Klugheit (DL 7, 90). Aus dieser Naturbetrachtung gewinnt die Stoa schon eine erste und für das Glück im Sinne einer Selbstbeschränkung zentrale Erkenntnis: Der Mensch wie die Tiere strebe nicht nach Lust, sondern nach Selbsterhalt. Dieser sei unreflektierte, im Lebewesen treibende Kraft, die es wie selbstverständlich Schaden meiden und Förderliches suchen lasse (DL 7, 85). Eine weitere Erkenntnis ist die Einsicht, dass Schmerz und Tod zum Leben gehörten, also ergebe es keinen Sinn, dagegen anzukämpfen bzw. darunter zu leiden. Der Tod treffe jeden Menschen sicher, ebenso wie schmerzhafte Situationen ohne Gestaltungsspielraum. Ein Kampf gegen beides sei aussichtslos und führe zu dauerhafter Unruhe. Daher lautet die Empfehlung, sich lediglich mit dem zu beschäftigen, was man ändern könne, und alles andere auszublenden, exemplarisch als Überschrift in Epiktets ›Handbuch der Moral‹ formuliert: »Was in unserer Macht steht und was nicht« (Epiktet 1987, 17).

Eine weitere Beschränkung liegt in der Hinwendung nur zu solchen Gütern, die notwendig erscheinen. Diese Güter gewinne man durch das Studium der Natur und der ihr innewohnenden logischen Ordnung. Man erkenne dann die Nicht-Notwendigkeit der meisten angestrebten Güter, die den Menschen dann nicht mehr beunruhigen müssten, weder als Angestrebtes noch als Verwehrtes. Wie radikal das gedacht ist, zeigt der Gedanke, dass unser Leben als solches als nicht in unserer Macht stehend betrachtet wird: Da nur passiv empfangen/geschenkt, ›auf Widerruf‹, wie Seneca formuliert, brauche der Weise den Verlust ebenso wenig zu fürchten wie den anderer Körperteile oder von Besitz oder Ehre (Seneca 2009, 76 f/De trancuilitate animi 12). Zur Erkenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten gehört auch die Tatsache, dass jedes Lebewesen sein Leben nach den ihm gemäßen Tugenden ausrichtet – was für jeden Menschen bedeutet, seine eigenen Tugenden zu erkennen und ihnen zu folgen.

Für heutige Ohren klingt das so erreichte Glück vermutlich ein wenig (zu) freudlos. Das liegt daran, dass der erwünschte Seelenzustand analog zu Epikurs Bedürfnislosigkeit nicht im Erreichen/Genießen, sondern der Befreiung von irrationalem Streben, in der Sprache der Stoiker ›Affekten‹ besteht (vgl. dazu die Passagen bei Hossenfelder 2013, 85 – 87). Daher ist als höchstes Gut die Befreiung von dem durch Affekte verursachten Leid (weil nicht notwendige Begierden vorstellend oder sich gegen Unabänderliches auflehnend) als Leidensfreiheit, ›Apathie‹, beschrieben. Als Affekte im stoischen Sinne nennt Laktanz »Begierde, Freude, Furcht und Trauer.« (Hossenfelder 2013, 85/Laktanz div. inst. 6,14). In dieser durch Affektfreiheit erreichten inneren Ruhe beschreibt Seneca den stoisch Weisen:

»Was hindert uns etwa zu sagen, ein glückliches Leben bestehe im Besitz eines Geistes, der frei ist und aufrecht, unerschrocken und fest, erhaben über Furcht und Begierde, der nur