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In den vergangenen Jahren wurden etliche kleine Waldorfschulen gegründet, die nur so wenige Schüler:innen haben, dass sie in Doppelklassen unterrichtet werden. Wie kann es gelingen, die Menschenkunde Rudolf Steiners, die auf homogenen Klassenverbänden fußt, mit diesem Konzept zu verbinden? Der Bund der Freien Waldorfschulen unterstützt auch Waldorfpädagogik auf dem Land und hat mit seinen Berater:innen Gründungsinitiativen begleitet. Diese Veröffentlichung beschreibt die Herausforderungen, die Lösungsmöglichkeiten und die Erfahrungen einzelner sogenannter Kleinschulen vor Ort.
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Seitenzahl: 82
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Einführung
Teil I Pädagogische Situation
Zeitliche Gestaltung in Kleinschulen mit Doppelklassen und Schlussfolgerungen
Methodisch-didaktische Lösungsansätze
Die Klasse als eine Einheit
Differenziert durch zeitliche Gliederung
Differenzierung durch räumliche Gliederung
Ausgeprägte Binnendifferenzierung
Epochen im Jahreslauf werden nach bestimmten Gesichtspunkten angeordnet
Ein Beispiel
Ungeeignet: Stammgruppen
Rituale an kleinen Waldorfschulen
Zeitliche Gestaltung des Unterrichts
Entwicklungsgerechte Gestaltung des Unterrichtes
Mindestanforderungen und Erweiterungen beim Fächerkanon und der Stundenanzahl
Vergleich von Stundentafeln
Klassenstärke und Raumkonzept
Bildung der Doppelklasse: Pädagogischen Gesichtspunkte
Abschlüsse
Stärken und Schwächen kleiner Waldorfschulen
Fragen der Ausbildung der Kolleginnen und Kollegen
Handlungspädagogische Waldorfschulen
Beobachtungen bei Besuchen an handlungspädagogisch orientierten Schulen
Verbindung des Kindes mit der Natur
Aufgaben für die Seminare im BdFWS
Forum kleine Schulen im BdFWS
Anhang 1: Grundlegende Literatur
Anhang 2: Verzeichnis von Literatur zu Doppelklassen
Anhang 3: Inhalte, bei denen die Entwicklungsdynamik der Kinder beachtet werden sollte
Anhang 4: Inhalte, mit denen Doppelklassen leichter realisierbar sind
Teil II Struktur und Verwaltung von kleinen Schulen
Grundsätzliches
Rechtliche Trägerschaft
Die Umsetzung einer Eltern-Lehrer:innen-Trägerschaft
Die klare Struktur der finanziellen Angelegenheiten
Die rechtliche Vertretung nach außen und innen
Der eingetragene Verein (e.V.)
Die eingetragene gemeinnützige Genossenschaft
Die gemeinnützige GmbH (gGmbH)
Das Kollegium
Die pädagogische Konferenz
Die technische Konferenz
Die geschäftsführende Konferenz
Der Elternrat
Der Schüler:innenrat
Schlussbetrachtung
Teil III Kleine Waldorfschulen vor Ort
Kastellaun
Lüchow
Melle
Seewalde
Zurow
Pente
STEFAN GROSSE
In den letzten Jahren war die Gründungsberatung des Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) immer häufiger mit Initiativen beschäftigt, die Waldorfschulen in strukturschwachen Räumen gründen wollten. Für diese Gründungen waren die üblichen Strukturen und wirtschaftlichen Konzepte nicht gemacht. Über lange Zeit bestand zum Beispiel Einigkeit darüber, dass die im Verhältnis zum Bedarf wenigen Waldorflehrer:innen, die die Ausbildungsstätten verließen, möglichst “ressourcenoptimiert” vor großen Klassen einzusetzen seien. Ein Hinderungsgrund für die Gründung von kleinen Schulen war zudem, dass ein zwölfjähriger Bildungsgang gemäß dem Lehrplan schwierig darstellbar war. Dieser wurde aber von den Genehmigungsbehörden häufig gefordert und begründete in einigen Bundesländern auch die Bezuschussung auf gymnasialem Niveau für die entsprechenden Altersstufen. Diese Situation sollte durch alternative Schulmodelle nicht gefährdet werden. Insofern gab es etliche Gründe, solche Initiativen nicht selbstverständlich zu fördern. Gleichwohl blieb die Frage, warum strukturschwache, ländliche Regionen nicht in den Genuss von Waldorfpädagogik kommen sollten.
Bei Überlegungen zur Gründung von kleinen Schulen muss man sich mit Fragen befassen, die man bisher ausblenden konnte oder die nur eine kleine Zahl von Pionier:innen im Bewusstsein hatten. Die Fragen sollen in dieser Schrift aufgezeigt und beantwortet werden.
Für diesen Zweck wurden die meisten dieser sogenannten Kleinschulen im Bund der Freien Waldorfschulen durch Gründungsberater: innen besucht, wo diese hospitierten und Einblick in das Schulkonzept und die Erfahrungen vor Ort erhielten.
Die Herausforderungen im Pädagogischen für die Kleinschulen liegen auf der Hand: Begründet mit der Menschenkunde Rudolf Steiners haben Waldorfschulen jahrgangshomogene Klassenverbände. Diese sind in der Regel in Kleinschulen wegen zu geringer Klassenstärke nicht realisierbar, was alternativ zu jahrgangsübergreifenden Lerngruppen führt. Dann aber treten Fragestellungen auf: Will man vor ein und derselben Kindergruppe die Schöpfungsgeschichte ausbreiten, um kurz darauf die Götterdämmerung darzustellen? Damit ist im Kern und beispielhaft für alle entstehenden Umstände eine der wesentlichen pädagogischen Herausforderungen umrissen.
Kleine Sozialverbände haben ihren eigenen Charme - und ihre eigenen Probleme. Sie sind persönlicher, wärmer, näher - aber gleichzeitig fallen Dominanzverhalten und Einseitigkeit stark ins Gewicht. Dem Team fällt es schwer, Ausfälle abzufedern, alles ist auf Kante genäht.
Hinzu kommt der betriebswirtschaftliche Aspekt, der sich für diesen Schultyp anders darstellt, als wir es von großen Schulen kennen. Ab welcher Klassenstärke und mit welchem Schüler:innen-Lehrer:innen-Schlüssel steht eine Kleinschule solide und stabil da?
Die Frage des geschlossenen Bildungsgangs ist zu beantworten. Wenn die eigene Schule keinen zwölfjährigen Bildungsgang und entsprechende Abschlüsse anbieten kann, muss sie Kooperationen mit Einrichtungen eingehen, die sowohl den kompletten Bildungsgang als auch Abschlüsse anbieten.
Ein weiterer Aspekt, der eine pädagogische Einordnung forderte, war die immer beliebter werdende sogenannte Handlungspädagogik. Auch diese findet sich in der vorliegenden Publikation.
Des Weiteren findet man ein Publikationsverzeichnis, anhand dessen man sich gründlich in das Thema einarbeiten kann.
Insofern hoffen wir, einen aktuellen und praxisnahen Leitfaden für den benannten Themenkreis vorlegen zu können. An dieser Stelle sei unseres verstorbenen Kollegen und Vorstands im Bund der Freien Waldorfschulen, Richard Landl, gedacht und gedankt: Er hat schon vor etlichen Jahren angeregt, das Thema neu zu denken und viel Vorarbeit geleistet, auf die wir zurückgreifen konnten. Des Weiteren bedanken wir uns bei der Waldorfstiftung für ihre großzügige Projektförderung.
Stuttgart, im September 2023
CHRISTIAN PAX
Waldorfpädagogik geht davon aus, dass die Entwicklung des Kindes und Jugendlichen im Vordergrund steht und unter diesem Aspekt die Inhalte für den Unterricht so ausgesucht werden, dass sie diese geistige, seelische und körperliche Entwicklung fördern und mit ihr korrespondieren. In einem zweiten Schritt ist dann an die methodisch-didaktische Umsetzung zu denken. Nicht zu vernachlässigen ist der soziale Rahmen, in dem das geschieht. Hiermit ist insbesondere die Gestaltung des Schulorganismus, die Zusammenarbeit zwischen den Klassen, mit den Eltern, zwischen Schule und Nachmittagsbetreuung sowie die zeitliche Gestaltung des Unterrichts gemeint.
Jahrgangsübergreifender Unterricht stellt deutlich höhere Anforderungen an das Wahrnehmungsvermögen der Lehrkraft bezüglich der Entwicklungssituation der Kinder. Bei Doppelklassen, die in der Regel eine Altersspanne von etwa 27 Monaten aufweisen, sind in der Praxis sehr verschiedene Phänomene zu beobachten.
Es gibt Klassen, in denen eine Entwicklungsstufe dominiert. In denen beispielsweise die älteren Kinder die aktiven sind und eine kleinere Gruppe deutlich jüngerer Kinder fast in deren Schatten gerät. Es gibt andere Klassen, die sich, seelisch betrachtet, in einer Mittelsituation darstellen, sodass auf den ersten Blick gar nicht deutlich wird, ob man nun vor einem Fünft- oder Sechstklässler steht. Außerdem ist die Entwicklung eines jeden Menschen von Phasen geprägt, in denen er deutlich vorankommt oder wie in einer Phase verharrt. Man könnte meinen, dieser Lebensabschnitt müsste von ihm besonders ausgekostet werden. Auch dadurch kann sich das Bild verändern, ob eine Doppelklasse als „jünger“ oder „älter“ empfunden wird.
Prägend ist bei allen Doppelklassenmodellen, dass Ältere immer Ältere, Jüngere immer Jüngere sind. Dass eine Altersstufe für sich allein ist, kommt nur in der 1. Klasse, eventuell beim Übergang in die Oberstufe und beim Schulabschluss vor. Rudolf Steiner dachte in der Gründungsphase der ersten Waldorfschule an ein Doppelklassenmodell, in welchen Kinder abwechselnd einmal die Jüngeren und einmal die Älteren sind. Aufgrund der guten Anmeldezahlen wurde dieses Modell 1919 nicht weiterverfolgt und wird derzeit auch nirgends praktiziert. Dieses Doppelklassenmodell widerspräche auch dem Konzept, dass sich auch in Doppelklassen ein Klassengeist, im Sinne von dauerhaften, stabilen sozialen Bezüge bilden sollte. Nicht zuletzt sind manchmal Inklusionskinder zu integrieren, für die oft Klassenhelfer: innen zur Verfügung stehen. Eine Sammlung von menschenkundlichen Schriften und grundlegender Literatur findet sich im Anhang 1.
Zunächst ist die Klassenbildung einer Doppelklasse ein Prozess, der sich deutlich über ein Jahr hinzieht. Erst im zweiten Jahr ist die Klasse komplett, wenn die neuen Erstklässler: innen hinzukommen; nun erst kann ein Ganzes entstehen.
Weiterhin ist stets um das 9. und 10. Lebensjahr zu beobachten, dass sich das Verhältnis des einzelnen Kindes zur Welt grundlegend ändert. Dies hat auch Auswirkungen auf das Verhältnis der Schüler:innen zu den Erwachsenen.
Der nächste Umschwung vollzieht sich um das 12. Lebensjahr. Nun erfasst der junge Mensch die Welt auch denkerisch und erlebt Kausalität.
Auch das Ende der so genannten Klassenlehrerzeit und der Übergang in die Oberstufe müssen im Detail betrachtet werden. Es gilt zu entscheiden, ob die Doppelklasse oder nur der ältere Jahrgang in die Oberstufe wechselt.
In der Oberstufe finden weitere wesentliche Umschwünge in der Entwicklung der Jugendlichen statt, die bei der Auswahl der Unterrichtsinhalte zu beachten sind.
Um das 18. bis 19. Lebensjahr entstehen Verantwortungsfähigkeit und soziale Reife. Auch dies ist ein deutlicher Umschwung.
Der Schulabschluss ist der letzte deutlicher Wendepunkt. Was geschieht mit der jüngeren Hälfte der Doppelklasse, wenn die ältere die Schule verlässt?
Diese hier zunächst nur skizzierte Entwicklungsdynamik verlangt von der Lehrkraft, dass sie Inhalte weder zu früh noch zu spät anspricht. An den noch nicht weit fortgeschrittenen Kindern geht ein zu früh gebrachtes Thema vorbei und die schon reiferen Kinder fühlen sich durch ein zu spät an sie heran gebrachtes Thema nicht angemessen behandelt. Es macht beispielsweise für Kinder einen großen Unterschied, ob sie in der ersten, zweiten oder „schon“ in der dritten Klasse sind. Wird jedoch ein Inhalt entwicklungsgerecht gebracht, kann Begeisterung entstehen.
Die Aufarbeitung der bestehenden Literatur und die Schulbesuche erbrachten verschiedene Ansätze, wie Kolleginnen und Kollegen mit der Situation in Doppelklassen umgehen. Hierbei waren je nach Fach oder Epoche in einer Schule in verschiedenen Jahrgängen verschiedene Lösungsansätze zu beobachten, die von den jeweiligen Lehrer:innen als sachgerecht empfunden wurden. Diese Unterschiede erfolgten nach Aussage der Lehrer:innen aufgrund der Verschiedenartigkeit der jeweiligen Doppelklassen vor Ort. Die in der Praxis wahrgenommenen Lösungsansätze werden im Folgenden kurz vorgestellt.
Die Lehrkraft nimmt genau wahr, an welchem Entwicklungspunkt die Mehrzahl der Kinder steht und konzentriert sich darauf, dieser Kerngruppe gerecht zu werden. Dazu gehört auch, dass einzelne Kinder deutlich vorauseilen oder zurückbleiben können. Der Vorteil dieser Lösung ist, dass die Doppelklasse als sozialer Zusammenhang erhalten bleibt. Der Nachteil kann sein, dass einzelne Kinder, vor allem die “Zugpferde”, unterfordert sind und von der Schule wegstreben.
Die Lehrkraft macht beispielsweise den rhythmischen und den Erarbeitungsteil zusammen. Dann verlässt ein Teil der Klasse den Raum und hat zum Beispiel eine Stunde Englisch. Der verbleibende Teil hört seinen altersgemäßen Erzählstoff. Nach der großen Pause hat der andere Teil seinen Erzählteil und der erste Teil der Klasse zum Beispiel Handarbeit.
Eine solche Lösung setzt voraus, dass die Fachlehrer: Innen sehr flexibel einsetzbar sind. Kann sich doch das Zeitschema je nach Epoche ändern, wenn