Pädagogische Psychologie - Marcus Hasselhorn - E-Book

Pädagogische Psychologie E-Book

Marcus Hasselhorn

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Beschreibung

Wie lernen Menschen und wie kann man ihnen dabei helfen? In diesem Lehrbuch werden Theorien und sie stützende empirische Befunde dargestellt, auf deren Grundlage erfolgreiches Lernen und Lehren möglich ist. Dabei geht es um die allgemeinen und individuellen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens und Lehrens sowie um die besonderen Herausforderungen, die aus der Unterschiedlichkeit der Lernenden resultieren. Für die vorliegende 5. Auflage wurde das Werk umfassend überarbeitet. Aufgrund der ungebremsten Entwicklungsdynamik der Forschung im Bereich der Pädagogischen Psychologie des Lernens und Lehrens und in den entsprechenden Teilbereichen der Empirischen Bildungsforschung waren erhebliche Aktualisierungen und Ergänzungen vorzunehmen. Beibehalten wurde jedoch die grundlegende Struktur, also eine Aufteilung in die beiden Hauptteile "Lernen" und "Lehren".

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Standards Psychologie

Begründet von

Theo W. Herrmann (†)

Werner H. Tack

Franz E. Weinert (†)

Weitergeführt von

Marcus Hasselhorn

Herbert Heuer

Frank Rösler

Herausgegeben von

Marcus Hasselhorn

Wilfried Kunde

Silvia Schneider

Marcus Hasselhorn

Andreas Gold

Pädagogische Psychologie

Erfolgreiches Lernen und Lehren

5., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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5., überarbeitete Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039782-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-039783-5

epub:   ISBN 978-3-17-039784-2

 

Inhalt

 

 

 

Vorwort zur 3. Auflage

Vorwort zur 5. Auflage

Wie man mit diesem Buch arbeiten kann

Einleitung

Was ist Pädagogische Psychologie?

Womit beschäftigt sich die Pädagogische Psychologie?

Wie ist Pädagogische Psychologie zu dem geworden, was sie ist?

Aufbau des Lehrbuchs: Erfolgreiches Lernen und Lehren

Teil I  Lernen

1  Auffassungen über Lernen

1.1  Lernen als Assoziationsbildung

1.2  Lernen als Verhaltensänderung

1.3  Lernen als Wissenserwerb

1.4  Lernen als Konstruktion von Wissen

2  Erfolgreiches Lernen als gute Informationsverarbeitung

2.1  Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis

2.2  Vorwissen

2.3  Lernstrategien und ihre metakognitive Regulation

2.4  Motivation und Selbstkonzept

2.5  Volition und lernbegleitende Emotionen

3  Ergebnisse erfolgreichen Lernens

3.1  Erwerb bereichsspezifischer Expertise

3.2  Erwerb bereichsübergreifender Kompetenzen

3.3  Lerntransfer

4  Besonderheiten des Lernens

4.1  Allgemeine Entwicklungsvoraussetzungen erfolgreichen Lernens

4.2  Lernschwierigkeiten

4.3  Lernbesonderheiten Hochbegabter

4.4  Lernen im (hohen) Erwachsenenalter

Teil II  Lehren

5  Auffassungen über Lehren

5.1  Lehren und Lernen

5.2  Dimensionen der Unterrichtsqualität

5.3  Voraussetzungen erfolgreichen Lehrens

6  Methoden erfolgreichen Lehrens

6.1  Darstellende Methoden

6.2  Entdeckenlassende und problemorientierte Methoden

6.3  Kooperative Methoden

6.4  Lehren selbstregulierten Lernens

7  Rahmenbedingungen des Lehrens

7.1  Schulbereitschaft und Einschulung

7.2  Klassenführung und Klassenmanagement

7.3  Beurteilen und Bewerten schulischer Leistungen

7.4  Instruktionsmedien

7.5  Determinanten schulischer Leistungen

8  Besonderheiten des Lehrens

8.1  Kognitives Training

8.2  Förderung von Motivation und Interesse

8.3  Jungen und Mädchen im Bildungssystem

8.4  Instruktion bei besonderen Lernvoraussetzungen

Fragen zur Lernkontrolle

Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort zur 3. Auflage

 

 

 

Neuauflagen eines Lehrbuchs sehen seine Autoren oft mit gemischten Gefühlen entgegen. Zum einen haben sich der Sachstand einer Disziplin und die Kenntnisse der Autoren weiterentwickelt, zum anderen hat sich die einst vorgelegte Konzeption offenbar bewährt. Ein ganz neues Buch möchte man also nicht schreiben – nur mit kleineren Korrekturen und Aktualisierungen ist es aber vielfach auch nicht getan. Wir haben für die 3. Auflage der Pädagogischen Psychologie grundlegende Überarbeitungen vorgenommen, die allerdings nicht alle Teilbereiche und Kapitel des Buches in gleicher Weise betreffen.

Beibehalten wurde die grundlegende Struktur des Lehrbuchs, also die Aufgliederung in die beiden Hauptteile »Lernen« und »Lehren« und die meist spiegelbildlich in diesen Hauptteilen jeweils angelegten vier inhaltlichen Kapitel. Beim »Lehren« ist ein Teilkapitel über Schulbereitschaft und Einschulung hinzugekommen. Ganz neu konzipiert wurde das fünfte Kapitel »Auffassungen über Lehren« – sehr viel mehr wissen wir inzwischen über die Dimensionen der Unterrichtsqualität und über Voraussetzungen erfolgreichen Lehrens. Auch die anderen Kapitel im Teil »Lehren« sind gründlicher überarbeitet worden.

Die Neuauflage ist um 50 Seiten umfangreicher geworden, das Literaturverzeichnis enthält mehr als 300 neue Belegquellen. Dennoch: Nicht alle Neuerungen und Weiterentwicklungen der Pädagogischen Psychologie konnten Berücksichtigung finden, um den Charakter eines einführenden Lehrbuchs nicht zu verlieren. Damit der umfängliche Zuwachs in Grenzen bleibt, haben wir auf den »Ausblick« verzichtet – das dort bislang angesprochene Thema »Beratung« hätte aufgrund seiner Bedeutsamkeit zusätzlichen Raum beansprucht, der nicht zur Verfügung stand.

Weil es beim Lernen und Lehren stets um männliche und weibliche Personen geht, musste mit Blick auf eine geschlechtergerechte Sprachverwendung eine Entscheidung getroffen werden. Da es sich beim vorliegenden Buch um ein Lehrbuch handelt, haben wir bei unserer Entscheidung das Kriterium der sprachlichen Einfachheit höher gewichtet als das der Gendergerechtigkeit der Sprache. Zugunsten einer leichteren Verständlichkeit und Behaltbarkeit der Ausführungen haben wir die verallgemeinernde grammatikalisch männliche Bezeichnung (Genus) gewählt, sofern sich im Einzelfall nicht andere, stilistisch ansprechende Alternativen finden ließen. Im Teilkapitel »Jungen und Mädchen im Bildungssystem« wird die generisch-männliche Form allerdings nicht verwendet, weil dort die Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern (Sexus) im Zentrum der Darlegungen stehen. Dort ist also mit Absicht entweder von Schülerinnen oder von Schülern die Rede.

Seit Erscheinen der 1. und 2. Auflage des Lehrbuches haben wir viele – zumeist sehr ermutigende – Rückmeldungen von Lesern erhalten. Die häufigste Rückmeldung bezog sich dabei auf die gewählte Darstellung unseres heuristischen Modells der INdividuellen VOraussetzungen erfolgreichen Lernens (INVO-Modell,  Kap. 2,  Abb. 2.1). Dort haben wir die fünf wichtigsten Inhaltsbereiche individueller Lernvoraussetzungen als Zahnradwerk dargestellt, in dessen Mitte das erfolgreiche Lernen steht. Viele Male sind wir zu Recht darauf hingewiesen worden, dass diese Darstellung an eine Maschine erinnert, die nicht funktioniert. Versucht man eines der Zahnräder in Bewegung zu setzen, so blockiert die Mechanik. Wir haben auch konkrete Vorschläge erhalten, wie sich diese »Lernmaschine« so darstellen ließe, dass sie »funktioniere«. Diese guten Vorschläge haben wir mit Bedacht dennoch nicht aufgegriffen und sehr bewusst die ursprüngliche Form der Darstellung beibehalten. Dies hat vor allem einen didaktischen Grund: Solange beim Lesen die Assoziation entsteht, dass diese »Maschine« noch nicht richtig »funktioniere«, erleichtert dies das Verstehen und Behalten unserer Kernaussage, dass wir mittlerweile zwar viel über die relevanten individuellen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens wissen und wie diese – jede für sich – den Lernprozess günstig beeinflussen, dass wir jedoch noch immer viel zu wenig darüber wissen, wie die individuellen Voraussetzungen in ihrem Zusammenwirken den Lernerfolg entstehen lassen.

Die Arbeit an der Neuauflage hat von Kommentaren und Anregungen unserer Leser ebenso profitiert wie von den Kritiken und Korrekturvorschlägen einiger Kollegen. Ein besonders herzlicher Dank für hilfreiche Anregungen beim Entstehen der hier vorgelegten 3. Auflage gilt Katrin Arens, Minja Dubowy, Dagmar Duzy, Lena Guderjahn, Julika Knopp, Mareike Kunter, Chantal Rietz und Cora Titz.

Frankfurt am Main, im Sommer 2012

Marcus Hasselhorn und Andreas Gold

Vorwort zur 5. Auflage

 

 

 

Die 2006 erstmals und 2009 in zweiter Auflage erschienene Pädagogische Psychologie war zuletzt für die 3. Auflage (2013) grundlegend überarbeitet und erweitert worden. Für die 4. Auflage (2017) war es mit einigen Aktualisierungen getan. Um der ungebremsten Entwicklungsdynamik im Bereich der Pädagogischen Psychologie des Lernens und Lehrens und in der Empirischen Bildungsforschung gerecht zu werden, waren für die 5. Auflage erneut erhebliche Aktualisierungen und Erweiterungen vorzunehmen. Sie betreffen alle Kapitel. Beibehalten wurde die grundlegende Struktur des Lehrbuchs, also die Aufgliederung in die beiden Hauptteile »Lernen« und »Lehren« und die meist spiegelbildlich in diesen Hauptteilen angelegten vier Hauptkapitel mit ihren Teilkapiteln. Beim »Lernen« sind die Neuerungen in den Teilkapiteln über die »Besonderheiten des Lernens« besonders augenfällig. Und auch beim »Lehren« sind die wichtigsten Neuerungen in den Teilkapiteln über die »Besonderheiten des Lehrens« zu finden, sowie bei den »Rahmenbedingungen des Lehrens«. Im letztgenannten Hauptkapitel wurde das vormalige Teilkapitel 7.2 ans Ende des Hauptkapitels verschoben.

Durch Kürzungen an anderen Stellen ist die Neuauflage nicht umfangreicher geworden. Das Literaturverzeichnis enthält mehr als 300 neue oder aktualisierte Belegquellen, dafür sind Verweise entfallen, die nicht mehr aktuell waren. Damit wesentliche Argumentationsmuster besser nachvollzogen und überprüft werden können, haben wir im Zweifelsfall den leichter zugänglichen Referenzquellen den Vorzug gegeben.

Frankfurt am Main, im Sommer 2021

Marcus Hasselhorn und Andreas Gold

Wie man mit diesem Buch arbeiten kann

 

 

 

Sie können das Buch von vorne bis hinten durchlesen. Aber Leserinnen und Leser unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Interessen und Absichten, ihre Vorkenntnisse und Vorerfahrungen und in Bezug auf die Fragen und Anliegen, mit denen sie an die Pädagogische Psychologie herantreten. Anhand des Inhaltsverzeichnisses und der einführenden Abschnitte zu den jeweiligen Hauptkapiteln können Sie eine Vorauswahl treffen, was Sie vordringlich lesen möchten. Um das Textverstehen zu erleichtern, haben wir uns um eine klare inhaltliche Strukturierung bemüht. Als besondere Strukturelemente werden Kästen verwendet, die gerahmt oder blau unterlegt sind. Davon gibt es drei unterschiedliche Typen. Zur Illustration sind sie hier aufgeführt. Zudem gibt es Leseempfehlungen am Ende der Kapitel.

Orientierungsfragen

Werden am Anfang der jeweiligen Teilkapitel gestellt. Auf welche Fragen soll ein Textabschnitt Antworten geben? Eine naheliegende Frage wäre im Moment etwa die folgende:

•  Wie kann man am besten behalten, was man liest?

Studie/Beispiel/Definition/Fokus

Solche Kästen gibt es am häufigsten. Ein Konzept oder ein Begriff werden definiert oder beispielhaft beschrieben. Eine empirische Studie oder ein Sachverhalt werden exemplarisch dargestellt.

Zusammenfassung

Enthält die Kernaussagen eines Hauptkapitels. Zusammenfassungen gibt es jeweils am Ende der acht Hauptkapitel und am Ende der Einleitung.

Als Hilfe zur Selbstprüfung finden Sie im Anhang einige Fragen zu jedem Hauptkapitel. Sie sollten sie nach dem Lesen des Buches beantworten können.

Strukturierungshilfen können nur ein Angebot sein. Das Verstehen und Behalten eines Textes hängt nicht nur von seiner Schwierigkeit und von Merkmalen der Textgestaltung ab, sondern ganz entscheidend von Ihren eigenen Kompetenzen und von den Verstehens- und Behaltensstrategien, die Sie einsetzen. Ein Lehrbuch, das Sie sich erarbeiten, zeigt anschließend Spuren dieser Arbeit; und das soll es auch, zumindest, wenn es Ihr persönliches Exemplar ist (bei entliehenen Büchern finden sich diese Spuren idealerweise auf Zetteln oder Kärtchen und nicht im Buch selbst). Deshalb ist ein Lehrbuch auch keine bibliophile Kostbarkeit, sondern als hilfreiches Arbeitsmittel zum Aufbau individueller Wissensstrukturen gedacht. Der Inhalt einer Textseite gelangt nämlich leichter in Ihren Kopf, wenn Ihre Gedanken zugleich den Weg auf die Textseite finden.

Lernen durch Lesen. Textverstehen wird durch strategisches Lesen begünstigt. Aus kognitionspsychologischen Theorien lässt sich ableiten, welche Strategien besonders geeignet sind, die Informationsaufnahme aus Texten zu unterstützen. Dazu gehören reduktiv-organisierende Strategien, die dabei helfen, die Hauptgedanken eines Textes zu erfassen. Dazu gehören auch elaborierende Strategien, die eine Anbindung der Textinhalte an das bereits vorhandene Wissen befördern. Hinzu kommen metakognitive Strategien, die dabei helfen, die eingesetzten Lesestrategien den wechselnden Anforderungen und dem individuellen Leseziel anzupassen und den gesamten Leseprozess optimal zu planen, zu überwachen und zu regulieren.

Beispiel: Lesestrategien

•  Sich Fragen zum Text stellen: Wozu muss/will ich das lesen? Was will ich wissen?

•  Sich an der vorgegebenen Textstruktur orientieren oder den Text selbst strukturieren.

•  Sich vorher einen Überblick verschaffen. Den Text durchblättern.

•  Wichtige Informationen durch Markieren oder Herausschreiben hervorheben.

•  Unwichtige Details übergehen und weglassen, um den Text zu kürzen.

•  Überschriften beachten oder selbst passende Überschriften formulieren.

•  Wichtiges in eigenen Worten zusammenfassen und wiederholen.

•  Nach Anwendungsbeispielen suchen.

•  Im Text Analogien zu bereits vorhandenem Wissen entdecken.

•  Widersprüche entdecken. Textaussagen kritisch bewerten.

•  Schwer verständliche Textstellen mehrmals lesen.

•  Das Verstehen selbst überprüfen.

•  Das Behalten selbst überprüfen.

Lernen durch Lesen heißt in zweifacher Hinsicht Lücken füllen. Zum einen soll ein Text Wissenslücken bei jenen schließen, die ihn lesen. Zum anderen müssen die Leserinnen und Leser Textlücken schließen, weil ein Text nie alle Informationen enthalten kann, die zu seinem Verständnis notwendig sind. Walter Kintsch (1996) hat das in seiner Theorie des Textverstehens formuliert und die Mechanismen benannt, die den Aufbau einer kohärenten Wissensrepräsentation begünstigen. Dazu später mehr. Die meisten der im Beispielkasten aufgeführten Aktivitäten lassen sich direkt aus der Theorie von Kintsch ableiten. In Trainingsprogrammen zur Förderung des Textverstehens werden solche Strategien vermittelt (zusammenfassend: Friedrich, 1995; Leopold, 2009; Metzger, 2013; Philipp, 2015). Im Kern geht es darum, das bereits vorhandene inhaltliche Vorwissen zu aktivieren, um eine tiefere Textverarbeitung auszulösen, die das Verstehen und Behalten des Gelesenen fördert.

Einleitung

 

 

 

»Pädagogische Psychologie ist das, was in Lehrbüchern, Handlexika und Wörterbüchern steht, die Pädagogische Psychologie im Titel führen« (Giesen, 2002). Sollte man daraus ableiten, dass es Buchautorinnen und Herausgeber sind, die den Inhaltsbereich der Pädagogischen Psychologie bestimmen? Das ist natürlich nicht der Fall. Eine wissenschaftliche Disziplin definiert sich über ihren Gegenstandsbereich und die Methoden, derer sie sich bedient. Der Gegenstandsbereich der Pädagogischen Psychologie ist das Verhalten und Erleben von Menschen in pädagogischen Situationen, die Methoden sind die der empirischen Verhaltenswissenschaften. Zwar verweist das Kompositum der Fachbezeichnung explizit auf die Nachbardisziplin Pädagogik, indes ist die Einordnung der Pädagogischen Psychologie unter die Teilgebiete der Psychologie eindeutig und unstrittig. Wissenschaftshistorisch betrachtet ist die Pädagogische Psychologie eines der Kerngebiete der akademischen Psychologie überhaupt (Burden, 2000; Reynolds & Miller, 2003).

Wer dieses Buch liest, hat bereits eigene pädagogisch-psychologische Erfahrungen gemacht, als handelnder Akteur in pädagogischen Situationen und als Adressat pädagogischer Maßnahmen. Unzählige Male sind Sie durch einen Lehrer oder durch eine Freundin, von den Eltern, durch ein Buch oder durch ein elektronisches Medium angeleitet oder unterrichtet worden, um etwas zu verstehen, zu behalten oder um eine Fertigkeit zu erwerben. Das Unterweisen hat entweder in der Schule oder im Elternhaus stattgefunden oder in anderen, alltäglichen und natürlichen Situationen. Zugleich haben Sie immer wieder die Seiten vom Lernen zum Lehren gewechselt, haben die Rolle des Lernenden mit der des Lehrenden getauscht, um selbst jemandem etwas in pädagogischer Absicht zu erklären, vorzuzeigen oder vorzumachen. Über das Lernen und Lehren – die beiden großen Themenbereiche der Pädagogischen Psychologie – wissen wir mithin alle aus eigener Anschauung bereits Bescheid. Es ist ein Ziel dieses Lehrbuchs, die aus eigener Erfahrung bereits vorhandenen Kenntnisse und Überzeugungen mit den Befunden und Erkenntnissen der wissenschaftlich betriebenen Pädagogischen Psychologie zu konfrontieren. Dies nicht, um die vorwissenschaftlichen Überzeugungen und das »pädagogische Brauchtum« schlicht zu widerlegen, indem kontraintuitive empirische Befunde präsentiert werden, sondern im Bestreben, die vorwissenschaftlichen Überzeugungen in geeigneter und auch notwendiger Weise zu präzisieren und zu modifizieren. Solcher Präzisierungen bedarf es schon deshalb, weil das sprichwörtliche Common-Sense-Wissen nicht selten widersprüchlich daherkommt, wie die beiden gegensätzlichen Redewendungen »Früh übt sich, … « und »Es ist nie zu spät …« illustrieren mögen. Was stimmt denn nun?

Die Widersprüchlichkeiten im Alltagswissen weisen darauf hin, dass sich Common-Sense-Überzeugungen eher auf die Haupteffekte von Variablen beziehen als auf ihre Wechselwirkungen. Dies stellt die wissenschaftliche Psychologie vor die wichtige Aufgabe, solche Widersprüche aufzulösen, indem sie zum einen die Bedingungen identifiziert, unter denen ein vorgeblicher Zusammenhang tatsächlich existiert und zum anderen diejenigen, unter denen der gegenteilige Effekt auftritt. (Kelley, 1992, S. 15)1

Wissenschaftlich überprüfen heißt, etwas in Frage stellen. Für eine anwendungsorientierte Disziplin wie die Pädagogische Psychologie, die nicht nur – wie die Psychologie insgesamt – mit dem allgemeinen Menschenverstand aller Beteiligten, dem sogenannten Großmutter-Wissen (Kelley, 1992), konkurriert, sondern zugleich mit dem tradierten pädagogischen Erfahrungswissen von Lehrerinnen und Erziehern, Belehrten und Erzogenen, ist die wissenschaftliche Dignität dieser Überprüfung von ganz entscheidender Bedeutung.

So gehört es zu den Zielen dieses Buches, auf die Notwendigkeit des Hinterfragens auch dann hinzuweisen, wenn einfache Antworten nicht zu erwarten sind. Kann man Lernen lernen? Was bewirkt Schule? Können Kinder auch ohne Lehrpersonen lernen? Kann man gleichzeitig Leistungsunterschiede zwischen den Lernenden verringern und dennoch alle an ihr Leistungsoptimum heranführen? Was spricht eigentlich dafür, Mädchen und Jungen gemeinsam zu unterrichten? Eignen sich Noten als Leistungsrückmeldungen an die Schülerinnen und Schüler? Wie können Erwachsene am besten lernen? Wie und wo sollen hochbegabte Kinder unterrichtet werden?

Solche und andere Fragen können neugierig machen auf Antworten, die die Pädagogische Psychologie anzubieten hat. Die meisten dieser Fragen beziehen sich auf Probleme der pädagogischen Praxis. Sie betreffen die Tätigkeit von Lehrerinnen und Erziehern und das administrative oder politische Handeln von Bildungsverantwortlichen. Den konkreten Praxisfragen vorgeordnet sind grundlegendere Fragen, die auf die psychologischen Prozesse zielen und auf die pädagogischen Möglichkeiten der Beeinflussung von Lehr-Lern-Prozessen. Diese Fragen lassen sich auf einen gemeinsamen Kern verdichten: Welches sind die Bedingungen erfolgreichen Lernens und Lehrens und wie kann man sie gezielt herbeiführen? Es geht also um das Lernen unter den Bedingungen des Lehrens – damit ist zugleich das Leitmotiv dieses Lehrbuchs benannt.

In diesem Lehrbuch wird eine thematische Abfolge und inhaltliche Verschränkung von »Lernen und Lehren« gewählt, der die Auffassung von Lernen als »erfolgreicher Informationsverarbeitung« zugrunde liegt. Und es wird eine Auffassung von Lehren vertreten, die unterschiedliche, aber nicht beliebige Vorgehensweisen zur Förderung solcher Lernprozesse zulässt. Den beiden thematischen Schwerpunkten sind die Hauptteile I (Lernen) und II (Lehren) des Buches gewidmet. Vorangestellt ist diese Einleitung.

Orientierungsfragen

•  Was sind die Kerngebiete der Pädagogischen Psychologie?

•  Ist die Pädagogische Psychologie eine theoretische oder eine praktische Wissenschaft?

•  Wie ist das Verhältnis zur Pädagogik?

•  Welches sind die wichtigsten Forschungsfelder?

Was ist Pädagogische Psychologie?

Je nach Temperament mag man die besondere Lage der Pädagogischen Psychologie zwischen den grundlagenwissenschaftlichen Ansprüchen auf der einen Seite und den Anwendungserfordernissen der erzieherischen und unterrichtlichen Praxis auf der anderen beklagen oder begrüßen. Oft wird diese »Zwischenlage« allerdings als besonders »spannend« oder als besonderes Privileg betrachtet: als Scharnierstelle zwischen dem theoretischen Wissen und der praktischen Anwendung dieses Wissens (Burden, 2000; Calfee & Berliner, 1996; Mayer, 1992; Reynolds & Miller, 2003). »Es ist nicht leicht, ein Pädagogischer Psychologe zu sein«, schreibt der US-Amerikaner Richard Mayer, einer der prominentesten Vertreter des Faches, und meint es aber nicht so:

Unsere Kollegen in der Psychologie diskreditieren uns als »zu pädagogisch« und meinen damit unser Interesse an pädagogisch relevanten Problemen, statt an künstlichen Laboruntersuchungen. Unsere Kollegen in der Pädagogik diskreditieren uns als »zu psychologisch« und meinen damit unser Bemühen, pädagogische Praxis auf wissenschaftlichen Forschungsmethoden und Theorien aufzubauen, statt auf populäre Überzeugungen und Lehrmeinungen zu vertrauen. Wir bringen Unruhe in die Psychologie, indem wir uns weigern, künstliche Laboruntersuchungen als Endpunkt psychologischer Forschung zu akzeptieren. Wir bringen Unruhe in die Pädagogik, indem wir uns weigern, gute Absichten, Expertenmeinungen und doktrinäre Forderungen als Begründungen für pädagogisches Handeln zu akzeptieren. Dennoch ist es gerade das Zusammentreffen dieser beiden Kritikpunkte, was das einzigartige Potenzial der Pädagogischen Psychologie ausmacht, sowohl die psychologische Theorie als auch die pädagogische Praxis gewinnbringend weiter zu entwickeln. (Mayer, 2001, S. 83)

Die Ansprüche und Fragen der pädagogischen Praxis bestimmen das Feld, auf dem pädagogisch-psychologische Forschung stattfindet. Sie markieren zugleich die hohen Erwartungen: Die Forschungsergebnisse sollen in der pädagogischen Praxis nutzbar sein! In der Pädagogischen Psychologie verbindet sich die pädagogische Praxis mit der wissenschaftlichen Psychologie, die eine wird zum Forschungsgegenstand der anderen. Die Pädagogische Psychologie lässt sich insoweit als »Theorie einer Praxis« (Ewert, 1979) bezeichnen. Franz Weinert charakterisierte sie prägnant als »theoretisch orientierte, empirisch betriebene und praktisch nutzbare Wissenschaft« (Weinert, 1996b, S. 98).

Diese Position war nicht unstrittig. Sie musste sich behaupten gegen Auffassungen, die in der Pädagogischen Psychologie vornehmlich eine Hilfswissenschaft für die Pädagogik sahen, eine auf die Erfordernisse von Erziehung und Unterricht Angewandte Psychologie der bloßen Erkenntnisübertragung, oder die ihr die Aufgabe zuwiesen, praktisch-technologische Handlungsregeln zu generieren (Ewert, 1979; Weinert, 1967).

Definitionen: Pädagogische Psychologie

Pädagogische Psychologie ist die wissenschaftliche Erforschung der psychischen Seite der Erziehung; sie setzt Erziehungen und Erziehung als gegebene Tatsache voraus und bemüht sich, diese eigenartige Realität, Erziehung genannt, auf ihre psychologischen Einschläge hin zu analysieren. In diesem Sinn handelt sie von den psychologischen Voraussetzungen, Grundlagen und Wirkungen aller Erziehungstechniken, von den psychischen Vorgängen in der erziehenden und in der Erziehung empfangenden Generation, von den psychischen Seiten aller dinglichen und institutionellen Erziehungsmittel … (Fischer, 1917, S. 116–117)

Pädagogische Psychologie ist in meinen Augen als Wissenschaft notwendigerweise eine reduktive, die Phänomene vereinfachende, nach Gesetzmäßigkeiten suchende, auf Wahrscheinlichkeitsaussagen gerichtete, also im besten Sinne des Wortes theoretische Disziplin – für welche das eigentliche, zwischenmenschliche, persönlich zu verantwortende, lebendige pädagogische Handeln immer eine »andere«, nie als solche erfassbare, in Grenzen aber wissenschaftlich beschreibbare und erklärbare Realität bildet. Pädagogisch-psychologische Forschung leistet damit einen prinzipiell beschränkten, aber unverzichtbaren Beitrag zum besseren Verständnis der psychologischen Prozesse im pädagogischen Geschehen, Handeln und Wirken. (Weinert, 1996b, S. 98–99)

Pädagogische Psychologie untersucht, wie und warum Menschen in und als Ergebnis von pädagogischen Interaktionen so denken, fühlen und handeln, wie sie es tun. Angewandte Pädagogische Psychologie stützt sich auf die Einsichten, die aus dieser Forschung entstehen, um so die Interaktionen zwischen den am pädagogischen Prozess Beteiligten zu fördern und notwendige Veränderungen im Bildungssystem zu ermöglichen. (Burden, 2000, S. 477–478)

Eine Wissenschaft für sich. Wenn sie keine bloße Hilfs-, Anwendungs- oder Anhangsdisziplin sein will, wodurch lässt sich die Eigenständigkeit der Pädagogischen Psychologie begründen? Letztlich durch die Fragestellungen, die sie bearbeitet und durch die speziellen Methoden, derer sie sich bedient. Schon Aloys Fischer (1917) hat die Pädagogische Psychologie über ihren Forschungsgegenstand als selbständiges Forschungsgebiet reklamiert, zur »Erforschung der psychischen Seite der Erziehung«. In einem Handbuch der Pädagogischen Psychologie klingt das 80 Jahre später so:

Pädagogische Psychologen bearbeiten einen eigenen Bereich wissenschaftlicher Probleme, für den sie eigene Theorien und Methoden entwickelt haben. Deswegen betrachten sie ihr Fachgebiet nicht einfach als einen angewandten Zweig oder eine angewandte Subdisziplin wissenschaftlicher Psychologie. (Calfee & Berliner, 1996, S. 6)

Der Verweis auf die eigenen Methoden ist hier besonders wichtig: Zur Erforschung der komplexen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den Merkmalen der Lernenden und der Lehrenden in pädagogischen Situationen bedurfte es nämlich einer Erweiterung des experimental-psychologischen Methodeninventars der Allgemeinen Psychologie. Denn eine experimentell-reduktionistische Ausrichtung – das wurde bald deutlich – wird dem besonderen Untersuchungsgegenstand der Pädagogischen Psychologie nicht gerecht und führt leicht in die Sackgassen der Irrelevanz. Ernest Hilgard (1964) hat früh für einen Methodenpluralismus plädiert, um der Doppelaufgabe einer Grundlagen- und Anwendungsforschung gerecht zu werden. Zwar sind die laborexperimentellen Befunde der Lernforschung unverzichtbar und von großer Bedeutung, sie reichen aber nicht aus. Notwendig sind außerdem Feldexperimente und Feldstudien sowie kontrollierte Interventions- und Trainingsstudien. Solche Interventionsstudien müssen allerdings hohen methodischen Ansprüchen genügen. Levin, O'Donnell und Kratochwill (2003) verwenden das Akronym CAREful, um in Anlehnung an die Prinzipien psychologischer Versuchsplanung (Campbell & Stanley, 1963) daran zu erinnern:

C Comparison

A Again and again

R Relationship

E Eliminate

Eine wissenschaftlich fundierte pädagogische Interventionsmaßnahme muss demnach stets im Rahmen eines angemessenen Vergleichsgruppen-Designs (Comparison), in replizierbarer Weise (Again and again) substantielle Wirkungen im Hinblick auf ein erwünschtes Erfolgskriterium (Relationship) erbracht haben. Konkurrierende Alternativerklärungen, die für das Zustandekommen von Trainingserfolgen ebenfalls verantwortlich sein könnten, sind durch entsprechende Vorkehrungen auszuschließen (Eliminate). Randomisierte kontrollierte Studien (RCT: randomized controlled trial), wie sie in der medizinischen Forschung üblich sind, erfüllen diese Anforderungen. Es ist wichtig zu betonen, dass erst das Einhalten solcher Standards die wissenschaftliche Dignität der Erkenntnisgewinnung sichert (Köller, 2020; Souvignier & Dignath van Ewijk, 2010).

Angewandte oder Grundlagenforschung? Einen solchen Gegensatz halten wir für künstlich. Die Pädagogische Psychologie ist eine theoretische Wissenschaft, die sich mit dem Verhalten und Erleben der in pädagogischen Situationen Handelnden oder durch pädagogische Maßnahmen Behandelten befasst. Ihr Kerngebiet ist die Erforschung des menschlichen Lernens unter den Bedingungen des Lehrens: Wie Menschen lernen und wie man ihnen dabei helfen kann. Angewandt auf Fragen und Probleme aus der pädagogischen Praxis ist die Pädagogische Psychologie deshalb auch stets eine praktisch nutzbare Wissenschaft.

Besonders betont wird immer wieder und zu Recht die empirische Grundlegung der Pädagogischen Psychologie, dies nicht zuletzt mit Blick auf den Niedergang der empirisch orientierten Pädagogik im Verlauf des 20. Jahrhunderts. In großen Teilen der Erziehungswissenschaft ist der Empiriebezug deutlich weniger dominant. Dass aus den Erfordernissen und Ansprüchen der pädagogischen Praxis fast zwangsläufig Spannungen und Friktionen für eine theoretisch verankerte und empirisch verpflichtete, zugleich aber anwendungsorientierte Wissenschaft erwachsen würden, hat Franz Weinert – wie schon andere vor ihm – konzediert, ohne das Primat der theoriegeleiteten empirischen Forschung deshalb in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Vor einem Verzicht auf die Grundlagenforschung hat Weinert dringlich gewarnt, weil das langfristig zur Entwissenschaftlichung der Disziplin führen würde. Die Pädagogische Psychologie werde sich ohne empirische Grundlagenforschung zu einer Fachdidaktik ohne Fach oder – wie Weinert es formuliert hat – zur »Ingenieurwissenschaft ohne Physik« entwickeln und damit zu einer »mehr oder minder erfolgreichen Handwerkelei« (Weinert, 1998a, S. 209).

Das Primat der Theorie ist also besonders hervorzuheben. Es kommt auch in anderen Wortschöpfungen zum Ausdruck, wenn es um die nähere Charakterisierung der Disziplin geht, so im Begriff der »angewandten Grundlagenforschung« (Weinert, 1974a), der »grundlagenorientierten Forschung« (Seidel, Prenzel & Krapp, 2014) oder in der bereits erwähnten »Theorie einer Praxis« (Ewert, 1979). Dabei hat die Anwendungsbezogenheit der Grundlagenforschung über Lehren und Lernen – das kann nicht oft genug betont werden – von jeher den besonderen Reiz der Pädagogischen Psychologie ausgemacht. Die Doppelrolle einer grundlagen- und anwendungsorientierten Disziplin hat aber eben auch von Beginn an zu anhaltenden Missverständnissen Anlass gegeben.

Enttäuschte Erwartungen. William James, einer der Gründungsväter der amerikanischen Psychologie, hat eine mit »Ansprachen an die Lehrer« überschriebene, einige Jahre zuvor durchgeführte Vortragsreihe am Ende des 19. Jahrhunderts in Buchform veröffentlicht. Dort warnt er schon in der Einleitung vor übertriebenen und unrealistischen Erwartungen, die an seine Ansprachen gerichtet sein könnten:

Mit Sicherheit sollte die Psychologie den Lehrern helfen. Aber dennoch gestehe ich, dass ich, da mir das Ausmaß mancher Ihrer Erwartungen bekannt ist, etwas ängstlich bin, dass am Ende meiner Vorträge nicht wenige von Ihnen eine gewisse Enttäuschung über die schlichten Ergebnisse empfinden könnten. In anderen Worten, ich bin nicht sicher, ob Sie sich nicht Erwartungen hingeben, die eine Spur übertrieben sind. (James, 1899, S. 5)

Prompt kam es wie von James vorhergesehen und befürchtet. Die enttäuschten Erwartungen derer, die sich von der Wissenschaft konkrete Handlungsanweisungen erhofften, lassen sich auch heute noch in den pädagogisch-psychologischen Vorlesungen und Seminaren in der Lehrerausbildung in gleicher Weise wie damals beobachten: Die hohen Erwartungen in Bezug auf die praktische Verwertbarkeit psychologischer Erkenntnisse bleiben unbefriedigt, weil sich die allgemeinen psychologischen Gesetzmäßigkeiten des Lehrens und Lernens nicht direkt für die Lösung dringlicher Probleme der alltäglichen pädagogischen Praxis nutzen lassen. Dieses Diskrepanzerleben irritiert. Aus der Enttäuschung kann eine Abwendung von sowie eine Entwertung der wissenschaftlichen Psychologie resultieren.

Gerade dann, wenn sich die Pädagogische Psychologie in die Lehrerbildung einbringt, liegen Glanz und Elend der Disziplin dicht beieinander. Hohe Erwartungen und große Enttäuschungen hat es gegeben. Für Lehrerinnen und Lehrer wurden die ersten Lehrbücher der Pädagogischen Psychologie geschrieben (z. B. James, 1899; Thorndike, 1903). Auf das Bestreben von Lehrervereinen ging in der Gründerzeit der Psychologie die Einrichtung von Lehrstühlen für Pädagogische Psychologie zurück. Der Oberlehrer Ferdinand Kemsies begründete 1899 die Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und versprach sich Aufschlüsse über den »gesetzmäßige(n) Zusammenhang zwischen der erzieherischen Einwirkung und den […] Phänomenen der Kinderseele« durch Anwendung naturwissenschaftlicher Methodik (Kemsies, 1899, S. 2). Ernst Neumann und Wilhelm Lay gründeten 1905 die Zeitschrift Experimentelle Pädagogik, die später mit der von Kemsies herausgegebenen fusionierte. Bald wurde die Pädagogische Psychologie verbindliches Studienfach in der Lehrerbildung und ist es bis heute.

Dennoch scheiterte der hohe Anspruch einer Psychologie für Pädagogen im Sinne einer wissenschaftlichen Grundlegung der unterrichtlichen Praxis früh (Ewert, 1979; Ewert & Thomas, 1996). Dazu hat entscheidend beigetragen, dass sich die Erkenntnisse einer rasch prosperierenden, aber in ihren Untersuchungsinhalten und experimentellen Versuchsplänen zunehmend von den pädagogischen Praxisfeldern entfernenden experimentellen Pädagogischen Psychologie nur mit Mühe auf die unterrichtliche Praxis rückbeziehen ließen. Es resultierten oft eklektische, irrelevante oder triviale Empfehlungen für die Unterrichtsarbeit, die die Disziplin zunehmend in Misskredit brachten (Weinert, 1996a, 1996c). Erst am Ende der 1960er Jahre wurde der zunehmenden Belanglosigkeit solcher Erkenntnisse gegengesteuert ( Kap. 5.1).

Es ist nur allzu verständlich, neben wissenschaftlichen Erkenntnissen und Einsichten auch handfeste Hilfen und Anregungen für die pädagogische Praxis zu erwarten. Diese Erwartungen müssen aber enttäuscht werden. Statt rezeptartiger Handlungsanweisungen für pädagogische Situationen können nur Handlungsoptionen und allgemeine Prinzipien aufgezeigt werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind stets allgemeiner Natur und können nicht ohne weiteres auf eine konkrete Unterrichtssituation oder auf eine bestimmte Person übertragen werden. Nachhaltig enttäuschen wird das nur den, »der von einer Wissenschaft vom Menschen Rezepte für dessen Behandlung erwartet und der den stets vorläufigen und approximativen Charakter jedes Forschungsergebnisses verkennt« (Weinert, 1967, S. 14). Stellt man diese prinzipielle Begrenztheit aber in Rechnung, lassen sich die Ergebnisse der empirischen Forschung gewinnbringend nutzen, um pädagogische Entscheidungen und Handlungen in einer rationalen Weise zu begründen.

Wozu kann die Pädagogische Psychologie beitragen? Sie stellt theoretisches Wissen bereit, das unser Verständnis von Lehr-Lern-Prozessen erweitert, und sie entwickelt und überprüft praxistaugliche Programme und Maßnahmen, um Lehr-Lern-Prozesse zu unterstützen bzw. zu optimieren. Sie ist damit als theoretische Wissenschaft anwendungsfähig und zugleich anwendungsorientiert. Die in pädagogischen Aufgabenfeldern praktisch Tätigen können ihre Erkenntnisse nutzen.

Von der empirischen Erforschung der pädagogischen Praxis mit Hilfe der Methoden der wissenschaftlichen Psychologie profitieren beide Seiten. Mayer (2001, S. 84) hat das primäre Erkenntnisinteresse der Pädagogischen Psychologie kurz und bündig so formuliert: »Verstehen, wie Menschen lernen und verstehen, wie man Menschen beim Lernen helfen kann«. Diese Auffassung schlägt sich auch im inhaltlichen Aufbau dieses Lehrbuchs nieder.

Hinzu kommt ein Weiteres: Erkenntnisse, wie sie z. B. aus nationalen und internationalen Schulleistungsstudien, aus der Forschung zur frühen Sprachförderung und zum kognitiven Training, aus den Studien zur Effektivität von Förderschulen oder zu den Auswirkungen einer auf sechs Jahre verlängerten Grundschulzeit gewonnen werden, können Entscheidungsgrundlagen für Bildungsadministration und -politik liefern. Das unerwartet mäßige Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler in den Schulleistungsstudien zu Beginn dieses Jahrhunderts (»PISA-Schock«) hat wissenschaftspolitisch einiges in Bewegung gesetzt und die unterrichtsbezogene Lehr-Lern-Forschung in hohem Maße stimuliert. Die Pädagogische Psychologie ist nun umso mehr gefordert, gemeinsam mit den Fachdidaktiken und der Erziehungswissenschaft zu einem besseren Verständnis von Lehren und Lernen und zur nachhaltigen Förderung der vorhandenen Lernpotenziale beizutragen. In einer interdisziplinär verstandenen Empirischen Bildungsforschung hat dies seinen Ausdruck gefunden.

Fokus: TIMSS, PISA, IGLU und Co.

Nationale und internationale Schulleistungsstudien haben in den vergangenen 20 Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Die ersten auf Deutschland bezogenen Ergebnisse von PISA 2000 (Programme for International Student Assessment) wurden im Dezember 2001 veröffentlicht, die Ergebnisse von PISA 2018 im Dezember 2019 (Baumert et al., 2001; Reiss, Weis, Klieme & Köller, 2019). Dazwischen lagen fünf weitere Erhebungswellen (Prenzel et al., 2004, 2007; Klieme et al., 2010; Prenzel, Sälzer, Klieme & Köller, 2013; Reiss, Sälzer, Schiepe-Tiska, Klieme & Köller, 2016). An den internationalen Grundschul-Lese-Untersuchungen PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) nahmen deutsche Grundschulen seit 2001 viermal teil, zuletzt im Jahr 2016. National bekannt geworden sind die Ergebnisse unter dem Akronym IGLU (Bos et al., 2003, 2007; Bos, Tarelli, Bremerich-Vos & Schwippert, 2012; Hußmann et al., 2017). An der Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS) hat Deutschland in den Schuljahren 1993 bis 1996 (damals: Third International Mathematics and Science Study) sowie in den Jahren 2007, 2011 und 2015 teilgenommen (Baumert et al., 1997; Bos et al., 2008; Bos, Wendt, Köller & Selter, 2012; Wendt et al., 2016). Erfasst wurden Leistungen in den zentralen Kompetenzbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften in einem Altersbereich von 9- bis 15-Jährigen. Oftmals wurden die Studien um ergänzende Untersuchungen erweitert.

Inzwischen gibt es auch regelmäßige nationale Vergleichsstudien in Deutschland, die sich an den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz orientieren (z. B. Köller, Knigge & Tesch, 2010; Stanat, Böhme, Schipolowski & Haag, 2016). Die nationalen und internationalen Schulleistungsstudien haben wichtige Erkenntnisse zum Kompetenzniveau der Schülerinnen und Schüler sowie zum Ausmaß der sozial- und migrationsbedingten Disparitäten erbracht. Solchen Bildungsmonitorings kommt im Sinne einer output-orientierten Steuerung eine wichtige qualitätssichernde Funktion zu. Nur in begrenztem Maße sind Schulleistungsstudien zur Beantwortung von Fragen geeignet, die sich auf die Weiterentwicklung von Unterricht beziehen (Drechsel, Prenzel & Seidel, 2020).

Womit beschäftigt sich die Pädagogische Psychologie?

Jahrgang 1, Heft 1, Seite 1 der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie beginnt unter der Überschrift »Fragen und Aufgaben der pädagogischen Psychologie« mit dem Abdruck der Schriftfassung eines Vortrags des Berliner Oberlehrers Ferdinand Kemsies (Kemsies, 1899). Die Hauptaufgabe sieht Kemsies in der naturwissenschaftlichen Erforschung der »ursächlichen Beziehungen« der »psychologischen Erscheinungen« im erzieherischen Feld; genauer: der Auswirkungen der »erzieherischen Einwirkung« auf die kindliche Psyche. Wichtige Fragestellungen der Pädagogischen Psychologie seien die mit schul- und unterrichtsorganisatorischen Entscheidungen verbundenen, aber auch bildungsinhaltliche und allgemein-didaktische Themen. Wichtig sei auch, dass die entwicklungs- und differentialpsychologischen Lernvoraussetzungen der Kinder erforscht würden.

Genau an diesen Fragestellungen wird auch mehr als 100 Jahre später noch gearbeitet. Reynolds und Miller (2003) nennen fünf große Inhaltsbereiche pädagogisch-psychologischer Forschung:

•  Lernen, Lehren und Entwicklung

•  Soziokulturelle und interpersonale Prozesse und Bedingungen des Lernens

•  Interindividuelle Unterschiede zwischen den Lernenden

•  Lernen und Lehren in spezifischen Inhaltsbereichen

•  Lehrerbildung und Bildungsplanung

Die ersten vier betreffen die Pädagogische Psychologie in ihrer erkenntnissuchenden Funktion als theoretische Wissenschaft. Der fünfte Inhaltsbereich signalisiert darüber hinaus den Anspruch, wissenschaftliche Erkenntnisse als rationale Entscheidungshilfen für curriculare und organisatorische Weichenstellungen verfügbar zu machen. Seidel, Prenzel und Krapp (2014) sprechen diesbezüglich von einer »praktischen«, Walberg und Haertel (1992) von einer »bildungspolitischen« Aufgabe der Pädagogischen Psychologie.

Alle wissenschaftlichen Fragestellungen der Pädagogischen Psychologie lassen sich thematisch den oben genannten großen Inhaltsbereichen zuordnen. Mit Blick auf ihre Hauptaufgaben ist es aber hilfreich, zwischen zwei Arten von wissenschaftlichen Ansprüchen zu unterscheiden: der Generierung von Grundlagenwissen und der Bereitstellung von Anwendungswissen. Der eine Anspruch – die Herstellung von Grundlagenwissen – ist bereits mehrfach formuliert worden: Pädagogische Psychologie als Theorie der erzieherischen und schulischen Praxis, als Erforschung des Praxisfeldes Erziehung und Unterricht und als Forschung über Lernen und Lehren mit den Methoden der empirischen Psychologie. Der zweite Anspruch – die Gewinnung handlungsrelevanten und praxistauglichen Wissens – definiert die Pädagogische Psychologie zusätzlich als Gestaltungs-, Optimierungs- oder Interventionswissenschaft (Levin et al., 2003; Seidel et al., 2014). Nichts ist nützlicher für die Praxis als eine gute Theorie. Die Pädagogische Psychologie erforscht theoriegeleitet und mit empirischer Methodik Phänomene der pädagogischen Praxis. Ihre Erkenntnisse lassen sich auf diese Praxis rückbeziehen. Inwieweit und unter welchen Bedingungen dies erfolgreich gelingt, ist seinerseits wiederum eine wissenschaftliche Fragestellung pädagogisch-psychologischer Forschung (Gräsel & Parchmann, 2004; Souvignier & Dignath van Ewijk, 2010). So verstanden ist Praxis – als Unterrichts- und Erziehungspraxis – ein Forschungsfeld einer anwendungsorientierten Pädagogischen Psychologie. Stokes (1997) hat ein solches Vorgehen als »Use-Inspired Basic Research« bezeichnet. Hartmann und Klieme (2017) machen darauf aufmerksam, dass die Wissenschaft dabei nicht einfach als Lieferant von Wissen und die pädagogische Praxis nicht nur als Wissensempfänger zu betrachten sei. Damit aus den Erkenntnissen empirischer Unterrichtsforschung evidenzbasierter Unterricht wird, braucht es einen Begegnungsraum des gleichberechtigten Austauschs zwischen Praxis und Forschung.

Inhaltsbereiche. Die Paradigmen und Begrifflichkeiten, unter denen zentrale Konzepte wie Lernen und Lehren, Entwicklung und Differenz oder Methode und Inhalt von Unterricht behandelt werden, haben sich immer wieder gewandelt. Einige Themenfelder wurden im Laufe der Zeit aufgegeben, andere kamen neu hinzu. Um einen Eindruck über die Forschungsaktivitäten der Pädagogischen Psychologie zu erhalten, bietet sich eine Inhaltsanalyse von Forschungsthemen in pädagogisch-psychologischen Fachzeitschriften an, wie sie beispielsweise von Hasselhorn (2000), Schiefele (2002), Brunstein und Spörer (2005), Leutner und Wirth (2007) sowie Möller, Retelsdorf und Südkamp (2010) für die Beiträge in der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie (ZPP) durchgeführt worden ist.

Fokus: Themenschwerpunkte Zeitschrift für Pädagogische Psychologie (ZPP)

In einer Themenübersicht, die sich auf die Jahre 2008 bis 2010 bezieht, haben Möller, Retelsdorf und Südkamp (2010) die folgenden Themenschwerpunkte (in Klammern die Anzahl der Beiträge) identifiziert:

•  Lehren und Lernen (22)

•  Pädagogisch-psychologische Trainingsforschung (11)

•  Selbstkonzept, Motivation und Emotion im Lernprozess (14)

•  Entwicklung von Basiskompetenzen (7)

•  Varia (6)

Brünken, Münzer und Spinath (2019) haben für ihr Lehrbuch weitere Jahrgänge gesichtet. Gemäß ihrer Schlagwortanalyse über die insgesamt 140 empirischen Originalarbeiten geht es am häufigsten um Schüler- und Lehrerkompetenzen, Unterricht, Motivation und Lernen. Auch in einschlägigen Hand- und Lehrbüchern sind »Lehren und Lernen« die zentralen Gliederungspunkte.

Mit einiger Verzögerung finden die Forschungsschwerpunkte ihren Niederschlag in Handbüchern sowie in enzyklopädischen Sammelbänden. In englischer Sprache ist der Wissenskanon der Pädagogischen Psychologie umfassend in der ersten, zweiten und dritten Auflage des Handbook of Educational Psychology (Berliner & Calfee, 1996; Alexander & Winne, 2006; Corno & Anderman, 2016) zusammengestellt sowie in der 5. Auflage des Handbook of Research on Teaching. Für die sich ändernden Auffassungen über Lehren und Lernen ist die Entwicklung der Themenauswahl in dem erstmals von Gage (1963), später von Travers (1973), von Wittrock (1986), von Richardson (2001) und schließlich in der 5. Auflage von Gitomer und Bell (2016) herausgegebenen Handbuch besonders illustrativ. Eine ausgezeichnete Bestandsaufnahme der Forschungsaktivitäten aus den letzten 20 Jahren findet sich darüber hinaus im Handbook of Research on Learning and Instruction (Mayer & Alexander, 2017). Als deutschsprachiges Pendant des amerikanischen Handbuchwissens konnten lange Zeit die vier Enzyklopädie-Bände zur Pädagogischen Psychologie gelten, die zwischen 1994 und 1997 erschienen sind – inzwischen bedürfen die dort dargestellten Sachstände einer Aktualisierung. Dies gilt mittlerweile auch für das Handbuch der Pädagogischen Psychologie (Schneider & Hasselhorn, 2008). Einen aktuellen Überblick zu den Inhaltsgebieten der Pädagogischen Psychologie erlaubt das von Rost, Sparfeldt und Buch (2018) in 5. Auflage herausgegebene Handwörterbuch Pädagogische Psychologie.

Lehrerbildung. Eine wichtige Aufgabe der Pädagogischen Psychologie besteht darin, das empirisch gewonnene Wissen an pädagogisch Handelnde weiterzugeben. Dabei kann zum Problem werden, dass die potenziellen Anwender dieses Wissens »fachfremde« Personen sind. Im Rahmen der Lehrerbildung an den Universitäten wird das fachliche Wissen der Pädagogischen Psychologie angehenden Lehrerinnen und Lehrern vermittelt. Schon Kemsies (1899) hatte das gefordert und eine Art Laborschule dazu – er nannte sie »Übungs- oder Musterschule« –, »um die Theorie sofort in die Praxis überzuführen und Lehramtskandidaten Gelegenheit zum Erwerb pädagogischer Kenntnisse und Fertigkeiten zu bieten« (S. 13). Wie viel Praxis allerdings in die universitäre Lehrerbildung gehört, wird durchaus kontrovers diskutiert. Denn in der Lehrerbildung an den Universitäten sollten nicht vordringlich Technologien des Lehrens eingeübt, sondern Theorien des Lehrens und Lernens vermittelt werden (Gage, 1964). Erst mit der Distanzierung von der unterrichtlichen Praxis schafft man den notwendigen Raum für ihre theoretische Analyse und ihre wissensgeleitete Veränderung. Eigenes praktisches Handeln wird stets subjektiv durchlebt – es kann in diesem Sinne nicht ohne weiteres zum Objekt einer notwendigen theoretischen Betrachtung werden. Allerdings muss das theoretische, distanzierte Wissen anschließend wieder praxistauglich gemacht werden.

Erst indem man Distanz zur Praxis schafft, ist es möglich, Wissen über die Praxis aufzubauen. Das praktische »gewusst wie« wird dabei in theoretisches Wissen umgewandelt. Die Schwierigkeit ist nun, wie man das theoretische Wissen wieder in die andere Richtung transformieren kann. Statt Distanz zur Praxis herzustellen, um theoretisches Wissen über die Praxis zu ermöglichen, müssen wir nun Distanz aus der Theorie entfernen, um wieder praktisches Wissen zu erhalten. (Bengtsson, 1993, S. 209–210)

Vorsicht ist deshalb geboten, wenn zu viel Praxis gefordert wird, denn es waren gerade die vorschnellen, häufig funktional-eklektischen Transformationen pädagogisch-psychologischen Wissens für die unterrichtliche Praxis, die einer unangemessenen Verkürzung der Pädagogischen Psychologie als einer vermeintlichen Psychologie für Pädagogen unfreiwillig Vorschub geleistet haben (Ewert & Thomas, 1996).

Bildungsplanung und Bildungspolitik. Oft werden die Erwartungen, die Bildungspolitik und Schulpraxis an die Pädagogische Psychologie herantragen, mit dem Begriff der Evidenzbasierung verbunden (Gold, 2018a). Welchen Beitrag kann die Pädagogische Psychologie zu einer wissenschafts- und evidenzbasierten Bildungsplanung und Unterrichtspraxis leisten? Wie bereits erwähnt, setzt diese Art von Transfer inhaltlich und methodisch anspruchsvolle Grundlagenforschung voraus, verlässliche Befunde aus dieser Forschung und zudem die Fähigkeit und die Bereitschaft, Forschungsergebnisse kompetent zu kommunizieren und für die praktische Anwendung nützlich zu machen. Möglicherweise braucht es dafür eigens »Verhaltensingenieure« als Zwischeninstanzen (Kaiser, 2011), zumindest aber einen geeigneten Theorie-Praxis-Begegnungsraum (Hartmann & Klieme, 2017). Wissenschaftliche Erkenntnis und anwendungsbezogene Nützlichkeit müssen sich nicht widersprechen. Auf Anwenderseite muss aber auch die Bereitschaft vorhanden sein, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu rezipieren.

In Deutschland ist nach den Bildungsmonitorings durch TIMSS, PISA und IGLU (s. o.) eine bildungspolitische Diskussion über Ziele und Qualität vorschulischer Bildung, Maßnahmen der Sprachförderung, Bildungsstandards und Kernkompetenzen sowie über Formen der Schul- und Unterrichtsorganisation in Gang gekommen, zu der auch die Pädagogische Psychologie beigetragen hat (zusammenfassend: Helmke, 2015; Reinders et al., 2015a, 2015b).

Zunehmend versteht sich die Pädagogische Psychologie (wie die wissenschaftliche Psychologie insgesamt) als Disziplin, die ihre Erkenntnisse in Gesellschaft und Politik tragen möchte, um zur Bewältigung von Problemen beizutragen (Gräsel, 2010, 2015; Prenzel, 2010; Spiel, Lösel & Wittmann, 2009; Spinath et al., 2012). Hasselhorn (2009) spricht sogar von einer »Bringschuld« der Psychologie im Hinblick auf diesen Transfer – bei allen Problemen, die damit verbunden sein können. Gerade im Bildungsbereich, wo tradierte Überzeugungen, Plausibilitäten und Ideologien besonders weit verbreitet sind, wird der Transfer evidenzbasierter Erkenntnisse in die politischen Entscheidungen und ihre praktischen Umsetzungen einen besonderen Zugewinn erwarten lassen. Als Arthur Graesser (2009) die Herausgeberschaft des Journal of Educational Psychology übernahm, hat er ebenfalls auf die Bringschuld der Pädagogischen Psychologie hingewiesen und auf die Notwendigkeit, theoretisch und empirisch fundierte Erkenntnisse der Lehr-Lern-Forschung in Empfehlungen für die unterrichtliche Praxis zu transformieren (»contributions from psychology to the real world«). Er hat beispielhaft einige bewährte Lernprinzipien aufgeführt, die sich leicht in der pädagogischen Praxis anwenden lassen: (1) verteiltes Lernen ermöglichen, (2) sprachliche und bildliche Informationen kombiniert darbieten, (3) auf Kontiguitäten achten, (4) interessante Aufgaben stellen, um kognitive Konflikte auszulösen, (5) geeignete Rückmeldungen geben. In den Kapiteln 5–8 dieses Lehrbuchs wird auf die Nützlichkeit dieser Prinzipien für das Lehren ausführlich eingegangen.

Reflexionen und Zweifel. In regelmäßigen Abständen wird die deutschsprachige Pädagogische Psychologie von fundamentalen Zweifeln an ihrer Daseinsberechtigung geplagt (z. B. Ewert, 1979; Krampen, 1996; Oerter, 1987; Weinert, 1996b). Dies wurde auch anlässlich der Diskussion der Frage deutlich, ob sie als Fach gänzlich verschwinden und in einer »Bildungspsychologie«aufgehen sollte (Spiel & Reimann, 2005). Eine Ursache des wenig gefestigten Selbstverständnisses mag der rasche Wandel von Forschungsthemen sein. Solche grundlegenden, oft mit Paradigmenwechseln verbundenen Veränderungen sind allerdings auch in anderen Teildisziplinen der Psychologie zu beobachten. Mehr fällt vermutlich das permanente Aufgeriebensein zwischen einer »anwendungsorientierten«, zugleich aber »theoretisch begründeten« Grundlagenforschung ins Gewicht.

Fokus: Bildungspsychologie

Verschiedentlich wurde vorgeschlagen, die Pädagogische Psychologie in einer Bildungspsychologie aufgehen zu lassen, weil sich auf diese Weise die Lehr-Lern-Forschung auf der Mikroebene mit einer Erforschung der Strukturen und Organisationsformen auf der Meso- und Makroebene des Bildungswesens leichter verbinden ließe. Eine so verstandene Bildungspsychologie befasst sich (1) mit individuellen Bildungsprozessen im Verlauf der gesamten Bildungskarriere eines Individuums sowie (2) mit den Bedingungen und Maßnahmen, die auf den unterschiedlichen Handlungsebenen Bildungsprozesse beeinflussen können (Spiel, Schober, Wagner & Reimann, 2010). Anders als die Empirische Bildungsforschung, deren Anspruch und Sichtbarkeit 2012 in der Gründung einer interdisziplinären Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF) ihren Niederschlag fand, hat sich eine Bildungspsychologie allerdings nicht nachhaltig etablieren können.

So verständlich der Wunsch nach Klarheit und nach einer einheitsstiftenden Struktur auch sein mag, eine dynamische und erfolgreiche Pädagogische Psychologie zeichnet sich eben auch durch Vielfalt, Grenzüberschreitungen und Neuerungen aus. Aus diesem Grund scheint Weinerts doppelsinnige Umschreibung von einer Wissenschaft »auf der permanent erfolgreichen Suche nach ihrem Gegenstand – ohne ihn bisher gefunden zu haben« (Weinert, 1996b) genauso treffend wie die Zurückweisung der beständigen »Kritik an den vermeintlichen Unzulänglichkeiten der Pädagogischen Psychologie« (Krapp, 2001).

In den Anfängen der Disziplin waren die Pädagogischen Psychologen ohnehin zugleich Allgemeine Psychologen oder Entwicklungspsychologen: William James, Edward Thorndike und Alfred Binet sind nur einige Beispiele dafür. Wie Krapp (2001) zu Recht anmerkt, ist es auch heute nicht leicht, »eine eindeutige Grenze zwischen der Pädagogischen Psychologie und anderen Teildisziplinen der Psychologie zu ziehen« (S. 71). So lassen sich heute wenigstens vier Varianten grundlagenwissenschaftlicher Orientierungen erfolgreicher Pädagogischer Psychologie erkennen: eine allgemeinpsychologische, eine entwicklungspsychologische, eine differenzialpsychologische und eine sozialpsychologische. Pädagogische Psychologen sind jene Personen, die pädagogisch-psychologische Fragestellungen mit empirischen Methoden bearbeiten – am Ende mögen es die gleichen sein, die man anderswo als Kognitionswissenschaftler bezeichnet (Mayer, 2001). Eine stetige Weiterentwicklung der Pädagogischen Psychologie, verbunden mit einer Neuausrichtung, wo sinnvoll oder notwendig, ist jedenfalls zu begrüßen. Einen Anlass, jedes Mal »gleich an den Fundamenten der Disziplin (zu) rütteln« (Krapp, 2001, S. 72), können wir darin nicht erkennen.

Wie ist Pädagogische Psychologie zu dem geworden, was sie ist?

Die Pädagogische Psychologie hat eine Geschichte. In ihren Anfängen – etwa ab dem Jahr 1900 – fällt diese Geschichte in großen Teilen mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie insgesamt zusammen, vor allem in der US-amerikanischen Geschichtsschreibung wird das so gesehen (Berliner, 2006; Burden, 2000; Hall, 2003; Reynolds & Miller, 2003). Zur historischen Entwicklung der Pädagogischen Psychologie gibt es eine Reihe von zusammenfassenden Abhandlungen, die, zusätzlich zu den oben genannten, auch ihren »deutschen Weg« und insbesondere ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Pädagogik beleuchten (z. B. Ewert, 1979; Krapp, 2014; Prenzel, 2006; Skowronek, 1979). Nach einer knappen Skizze der Entwicklung bis zum Ende der 1970er Jahre werden im Folgenden zwei Aspekte ausführlicher behandelt: die Thementrends der vergangenen 40 Jahre und die »großen«, zeitlos aktuellen Fragen.

Die ersten 80 Jahre

Die allgemeine Richtung für die ersten fünf Dekaden – also etwa von der Jahrhundertwende bis zum Ende der 1940er Jahre – stand stark unter dem Einfluss von Edward Thorndike ( Kap. 1.1). Daraus resultierte eine pragmatisch-induktive, labor-experimentelle (auch tierexperimentelle) lernpsychologische Grundlagenforschung behavioristischer Prägung. Die Frage, wie sich die vielfältigen Einzelergebnisse der Lernexperimente auf die praktischen Tätigkeiten des Lehrens und Erziehens im Einzelnen übertragen lassen, war dabei nachrangig – wenn sie überhaupt gestellt wurde. Von großer und überdauernder Bedeutsamkeit für die gesamte Lehr-Lern-Forschung war die von Thorndike vertretene Theorie des assoziativen, verknüpfenden Lernens ( Kap. 1.2). Thorndikes experimentelle Programmatik implizierte zugleich eine Abwendung von der durch John Dewey in der Pädagogik begründeten Tradition einer »fortschrittlichen Erziehung«, die Gesetzmäßigkeiten schulischen Lernens in sozialen, möglichst lebensechten Kontexten zu untersuchen trachtete, um daraus begründete Empfehlungen für das Unterrichten abzuleiten (Oelkers, 2010).

In der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg »vertiefte sich im deutschsprachigen Raum die Kluft zwischen […] (der) pädagogischen Psychologie und einer spekulativ-geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik immer mehr« (Weinert, 1967, S. 18), was zu einer allmählichen und anhaltenden Entfremdung zwischen den beiden Disziplinen beitrug (Terhart, 2002). Zwischen 1950 und 1980 folgte auf die expansive Gründungsphase der Pädagogischen Psychologie eine Phase der Konsolidierung und der Ausdifferenzierung des Faches. Dabei kam es auch zur Abtrennung und Verselbständigung von Teildisziplinen. Wichtig ist der Hinweis, dass ein beständiger Export von Konzepten und Personen in andere Bereiche der akademischen Psychologie stattfand – vornehmlich in die Entwicklungspsychologie sowie in die Differentielle und Diagnostische Psychologie. Viele methodologische und testpsychologische Entwicklungen haben in der Pädagogischen Psychologie ihren Ursprung (Glover & Ronning, 1987; Zimmerman & Schunk, 2003).

Inhaltlich-thematisch waren diese Jahre – im Hinblick auf den Kernbereich Lernen und Lehren – durch den Aufstieg und die Blütezeit, später durch den Niedergang der behavioristisch ausgerichteten Lehr-Lern-Forschung gekennzeichnet. Zunächst dominierten die experimentellen Arbeiten, später kamen zunehmend korrelative Studien hinzu. Wichtige Erkenntnisse über Gesetzmäßigkeiten des Lernens, über die Funktionsweise des Gedächtnisses und über die Wirksamkeit pädagogischer Interventionen sind dabei gewonnen worden. In dieser Zeit wurden viele amerikanische Standardwerke und Lehrbücher (z. B. Ausubel, 1968; Bloom, 1964; Bruner, Olver & Greenfield, 1966; Cronbach, 1954; Gage & Berliner, 1975; Gagné, 1965) ins Deutsche übertragen und intensiv rezipiert. Mitte der 1970er Jahre erschien in einer Phase der Bildungsreform und einer zunehmenden Akademisierung der Lehrerbildung das vierbändige Taschenbuch zum »Funkkolleg Pädagogische Psychologie« (Weinert, Graumann, Heckhausen & Hofer, 1974), das mit mehreren 100 000 verkauften Exemplaren auf große Resonanz stieß. Auch wurden außeruniversitäre Forschungsinstitute mit pädagogisch-psychologischer Schwerpunktsetzung gegründet, die zum bereits 1951 in Frankfurt eingerichteten Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (heute: DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation) hinzukamen: 1963 das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin, 1966 das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel, 1967 das Deutsche Institut für Fernstudien (DIFF) in Tübingen sowie 1981 das Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München mit einer explizit pädagogisch-psychologischen und entwicklungspsychologischen Ausrichtung. Am Ende dieser überaus prosperierenden Dekade haben Brandtstädter, Reinert und Schneewind (1979) den Sammelband Pädagogische Psychologie: Probleme und Perspektiven herausgegeben.

Entwicklungen seit 1980

In der US-amerikanischen Forschung sind die 1980er und 1990er Jahre durch die Dominanz kognitionspsychologischer Ansätze gekennzeichnet. Als inhaltliche Kernbereiche lassen sich die Forschungslinien zu Metakognition, Selbstregulation und Motivation identifizieren, aber auch zu den sozialen und kulturellen Kontextbedingungen von Lernen und Lehren, zu Geschlechterunterschieden und zur Frage der Koedukation, zur Psychologie und Didaktik der Unterrichtsfächer, zu den neuen Technologien und zum Lernen mit Medien insgesamt. Zunehmend ist auch die besondere Problematik der Lernstörung sowie der Hochbegabung betrachtet worden (Berliner, 2006; Calfee, 1992; Reynolds & Miller, 2003). Vor allem in Nordamerika hat sich die gewachsene gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Relevanz der Pädagogischen Psychologie auch darin niedergeschlagen, dass eine Reihe gesetzlicher Initiativen und Vorgaben – am bekanntesten ist sicherlich das »No Child Left Behind«-Gesetz von 2001 – unter ihrer maßgeblichen Mitwirkung auf den Weg gebracht wurden. Überhaupt wurden Maßnahmen zur Qualitätssicherung im Bildungssystem intensiviert (National Research Council, 2000).

Auch in der deutschen Forschungslandschaft hat die Kognitive Wende ihren Niederschlag gefunden. Die wissenschaftlich im Bereich der Pädagogischen Psychologie Tätigen arbeiten meist an Universitäten oder Pädagogischen Hochschulen sowie an außeruniversitären Forschungsinstituten (s. o.). Viele sind in der 1986 gegründeten Fachgruppe Pädagogische Psychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (www.dgps.de/fachgruppen/paedagogische-psychologie) oder in der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (www.gebf-ev.de) organisiert. Zur Internationalisierung auf europäischer Ebene hat die Gründung der European Association for Research in Learning and Instruction (EARLI) beigetragen, mit der von ihr herausgegebenen Zeitschrift Learning and Instruction (seit 1991).

In jüngerer Zeit werden vermehrt Anstrengungen unternommen, fachübergreifend die Zusammenarbeit mit der empirisch arbeitenden Pädagogik und mit Fachdidaktiken der Unterrichtsfächer zu intensivieren. Die öffentliche und bildungspolitische Rezeption der Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien TIMSS und PISA hat dazu beigetragen. Sichtbarer Ausdruck solcher Zusammenarbeit waren das DFG-Schwerpunktprogramm »Bildungsqualität von Schule« (Prenzel & Doll, 2002) im Anschluss an TIMSS und die Einrichtung von DFG-Forschergruppen zur Empirischen Bildungsforschung (Mandl & Kopp, 2005) im Anschluss an PISA. Auch das DFG-Schwerpunktprogramm »Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen« (Fleischer, Leutner & Klieme, 2012) ist in diesem Zusammenhang zu nennen.

Die Empirische Bildungsforschung darf allerdings nicht mit der Pädagogischen Psychologie gleichgesetzt oder verwechselt werden. Empirisch wird sie genannt, um eine Grenzlinie zum geisteswissenschaftlich-theoretischen Bildungsbegriff zu ziehen, der in der Pädagogik noch immer verbreitet ist. Die Empirische Bildungsforschung ist dagegen sozialwissenschaftlich orientiert und befasst sich mit den Bildungsprozessen im Verlauf der (institutionellen) Bildungskarriere von Individuen und mit Möglichkeiten der Beeinflussung solcher Prozesse (Ditton, 2015; Gräsel, 2015; Merkens, 2006). Wo sich das im engeren Sinne auf Lehr-Lern-Prozesse im Unterricht oder in vorschulischen Bildungsinstitutionen bezieht, sind das auch Fragestellungen der Pädagogischen Psychologie (Spinath, Hasselhorn, Artelt, Köller, Möller & Brünken, 2012). Verbindende Klammer ist also die Erforschung der individuellen, sozialen und institutionellen Determinanten von Lernprozessen. Es werden in der Pädagogischen Psychologie aber auch Themenbereiche bearbeitet, die sich nicht unter die Empirische Bildungsforschung subsumieren lassen, so etwa wenn es um die individuellen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens geht oder um die Ursachen von Lern- und Entwicklungsstörungen.

Die großen Fragen

Die pädagogisch-psychologische Forschungslandschaft ist heterogen und gelegentlich etwas unübersichtlich. Früher ist der rasche Wandel von Forschungsthemen und Paradigmen und deren geringe Kontinuität als Anzeichen der Profillosigkeit der Disziplin beklagt worden (z. B. Weinert, 1996a, 1996b). Die Dynamik und die Vielfalt von Themen lassen sich aber positiv werten, als notwendige Anpassungen an sich ändernde Herausforderungen. Im Folgenden werden fünf Aspekte herausgehoben, die wir als Ankerpunkte einer auf das Lehr-Lern-Geschehen fokussierten Pädagogischen Psychologie ausgemacht haben: (1) den Theoriebezug und die Methodik, (2) den Schulbezug, (3) die Domänspezifität des Lernens, (4) die Rolle der Lehrenden und (5) der Umgang mit Differenz.

Theorien und Methoden. Der Ausgangspunkt pädagogisch-psychologischer Forschung ist durch Probleme der pädagogischen Praxis vorgegeben. Theorien und Modelle, die der empirischen Forschung zugrunde liegen, beziehen sich auf dieses Praxisfeld. Die Forschungsmethoden müssen sich den Besonderheiten des Forschungsgegenstandes anpassen. Mit der Ausweitung des experimentellen Methodenkanons darf allerdings kein Aufweichen der methodologischen Strenge einhergehen. Andererseits führt ein alleiniges Beharren auf den labor-experimentellen Forschungsansätzen zu einer Marginalisierung in der wissenschaftspolitischen Diskussion:

Viele Wissenschaftler in der Psychologie betrachten die auf pädagogische Fragen angewandte Forschung als weniger wertvoll als die angebliche »Grundlagen-Forschung« ohne klaren Anwendungsbezug, selbst dann, wenn die angewandte Forschung wissenschaftlich begründet und theoretisch motiviert ist […]. Daher werden möglicherweise manche der potentiell nützlichsten Forschungsvorhaben niemals realisiert werden, weil sie zu wenig Prestige zu versprechen scheinen. (Sternberg & Lyon, 2002, S. 76–77)

Die Schule nicht verlieren. Das wichtigste Feld der pädagogischen Praxis ist die Schule. »Schule und Psychologie sind in den letzten Jahren aufeinander zugegangen« (Ewert & Thomas, 1996, S. 112). Das war auch dringend notwendig, denn ohne die Schule fehlte der Pädagogischen Psychologie nicht nur ihr wichtigstes Anwendungsfeld, sondern vor allem auch die Möglichkeit der Theorienbildung und Hypothesenprüfung in diesem Praxisfeld.

Man mag dagegen einwenden, dass sich die Pädagogische Psychologie doch auch mit Fragen der vorschulischen Bildung, der Fort- und Weiterbildung im Erwachsenenalter und der außerschulischen Bildung befasst – und damit das Primat der Schule längst nicht mehr gegeben sei (Spinath et al., 2012). Dies ist aber keineswegs der Fall. Auch die pädagogisch-psychologischen Beiträge zur frühen Bildung, Fort- und Weiterbildung im Erwachsenenalter, ja sogar zur außerschulischen Bildung orientieren sich an den durch Schule vorgegebenen Zielen und Standards und der Analyse der individuellen, sozialen und institutionellen Bedingungen erfolgreichen Lernens.

Domänspezifität des Lernens. Die kognitionspsychologische Expertiseforschung hat den Blick auf die besondere Bedeutung der Lerninhalte (und des Vorwissens) für das Lernen gelenkt. Damit ist auch eine stärkere Beachtung der Unterrichtsfächer verbunden (Mayer, 2001, 2003a) und eine Abkehr von den inhaltsunabhängigen »großen« Theorien des Lernens und Lehrens. Es ist naheliegend, dass in diesem Zusammenhang eine (Wieder-)Annäherung an die Fachdidaktiken eingefordert wird (Weidenmann, 2000). Konsequent werden in den US-amerikanischen Handbüchern die wichtigsten schulischen Kompetenzbereiche des Lesens und Schreibens, der Mathematik und der Naturwissenschaften sowie des Zweitspracherwerbs ausführlich behandelt (Alexander & Winne, 2006; Mayer & Alexander, 2017). Das gilt auch für das Handbuch der Pädagogischen Psychologie von Schneider und Hasselhorn (2008).

Die Rolle der Lehrenden. Die Auffassung von der Rolle der Lehrenden hat sich gewandelt: von der Kontrolle und Steuerung des Lernprozesses über die Gestaltung von Lernumgebungen bis hin zur aktivierenden Lernbegleitung. Der Wandel spiegelt den Übergang von den behavioristischen zu den kognitivistischen und zu den konstruktivistischen Auffassungen von Lernen und Lehren wider. Unversöhnlich sind diese Auffassungen nicht ( Kap. 5.1).

»Teachers make a difference« hatten Good, Biddle und Brophy (1975) getitelt, denn Lehrerinnen und Lehrer können das Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler tatsächlich durch geeignetes unterrichtliches Handeln in entscheidender Weise fördern. Dabei gilt: Für unterschiedliche Unterrichtsziele und -inhalte und in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen sind unterschiedliche Unterrichtsmethoden unterschiedlich gut geeignet. Untersuchungen über die professionelle Kompetenz von Lehrpersonen haben wichtige Erkenntnisse über die Dimensionen der Unterrichtsqualität und über individuelle Voraussetzungen erfolgreichen Lehrens erbracht.

Umgang mit Differenz. Das ist eine der zeitlos großen Fragen der pädagogischen Praxis: Wie geht man mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen um, wie mit individuellen Unterschieden in Herkunft, Kultur und Geschlecht? »Die Individuallage des Educandus im Unterricht berücksichtigen heißt, die Ziele und Methoden den interindividuellen Differenzen der Lernkapazität anpassen«, so Weinert (1967, S. 29) lapidar. Und Ausubel (1968) schreibt:

Wenn ich die gesamte Pädagogische Psychologie auf nur ein einziges Prinzip zu reduzieren hätte, würde ich folgendes sagen: der wichtigste Einzelfaktor, der das Lernen beeinflusst, ist das, was der Lernende bereits weiß. Ermittle dies und unterrichte ihn entsprechend. (Ausubel, 1968/1974, vi)

Was heißt »anpassen«, was heißt »entsprechend«? Beim Umgang mit Differenz lassen sich zwei grundsätzliche Vorgehensweisen unterscheiden: Eine integrative (inklusive) Behandlung und, dem entgegengesetzt, die leistungshomogenisierende (separative) Differenzierung der Lernenden. Beide Vorgehensweisen sind bei Leistungsabweichungen nach »oben« wie auch nach »unten« denkbar und üblich. In der US-amerikanischen Tradition wurde vornehmlich die Strategie der Inklusion verfolgt. Dann müssen unterschiedliche Formen des remedialen Lernens zum Einsatz kommen, etwa im Rahmen des sogenannten adaptiven Unterrichtens ( Kap. 6.1). Eine andere Möglichkeit, auf Differenz und Heterogenität zu reagieren, besteht in der Schul- bzw. Schulsystemdifferenzierung, wodurch die institutionellen Rahmenbedingungen des Lernens verändert werden. Weil diese Form der Differenzierung in Deutschland weit verbreitet war, hat es vor allem in den 1970er Jahren eine intensive bildungspolitische Debatte über das gegliederte Sekundarschulwesen gegeben (Fend, 1982; Helmke & Weinert, 1997a) – in der Folge der neueren internationalen Vergleichsstudien wird gelegentlich daran erinnert.

Aufbau des Lehrbuchs: Erfolgreiches Lernen und Lehren

Die 457 Textseiten des Lehrbuchs verteilen sich auf die beiden Hauptteile »Lernen« und »Lehren« sowie auf diese Einleitung. Dass das Lernen vor dem Lehren behandelt wird, erleichtert die Einordung und Bewertung der später vorgestellten Methoden und Prinzipien erfolgreichen Lehrens. Weil Lehren die Lernprozesse erst auslöst, wäre auch eine umgekehrte Reihung der beiden Hauptteile möglich gewesen – allerdings voraussetzungsvoller, weil sich das Lehren besser verstehen und bewerten lässt, wenn man weiß, wie Lernen funktioniert.

Lernen und Lehren. Erfolgreiches Lernen ist gute Informationsverarbeitung. Erfolgreiches Lehren umschreibt Tätigkeiten und Bedingungen, die diese Art des Lernens unterstützen. Im ersten Hauptteil werden unterschiedliche Auffassungen über das Lernen vorgestellt ( Kap. 1), die sich im Verlauf der mittlerweile mehr als 135-jährigen psychologischen Lernforschung herausgebildet haben. Die von uns bevorzugte Auffassung betrachtet erfolgreiches Lernen als »gute Informationsverarbeitung« ( Kap. 2). Gute Informationsverarbeitung setzt voraus, dass individuelle Voraussetzungen kognitiver, motivationaler und volitionaler Art gegeben sind, die ein zielführendes Aufnehmen, Verarbeiten und Behalten neuer Informationen möglich machen. Ergebnisse erfolgreichen Lernens manifestieren sich im Aufbau von Fertigkeiten und Kenntnissen, die bereichsspezifischer und inhaltsübergreifender Art sein können ( Kap. 3). Dass das Ausmaß des Lernerfolgs wie auch besondere Probleme, die beim Lernen auftreten können, durch individuelle Besonderheiten und Begabungen sowie durch allgemeine und spezifische Entwicklungsvoraussetzungen mitbestimmt werden, ist offensichtlich ( Kap. 4).

Im zweiten Hauptteil werden unterschiedliche Auffassungen über Lehren erörtert, die eine theoretische Einordnung der unterschiedlichen Lehrmethoden erleichtern ( Kap. 5). Erfolgreich sind Lehrmethoden vor allem dann, wenn sie den wichtigsten Dimensionen der Unterrichtsqualität Rechnung tragen. Bewährte Lehrmethoden sind z. B. die direkte Instruktion, Formen des entdeckenlassenden und problemorientierten Lehrens sowie die kooperativen Lernarrangements ( Kap. 6). Nicht jede Lehrmethode ist allerdings für jeden Lernenden und für jedes Lernziel gleich gut geeignet. Aussagen über die Wirksamkeit von Lehr-Lern-Prozessen müssen Rahmenbedingungen unterschiedlicher Art beachten ( Kap. 7). Besonderheiten des Lehrens ergeben sich beispielsweise daraus, dass sich die Lernenden voneinander unterscheiden, z. B. Jungen von Mädchen oder Kinder mit Lernstörungen von Kindern mit einer unauffälligen Lernentwicklung. Wie man durch unterrichtliche und unterrichtsergänzende Maßnahmen mit solchen Unterschieden, vor allem mit Lernschwächen und -störungen umgehen kann, lesen Sie in Kapitel 8 ( Kap. 8).

Was nicht behandelt wird. Es waren Entscheidungen zu treffen im Hinblick auf die Themenauswahl und die Gewichtung der einzelnen Inhaltsbereiche innerhalb dieser Auswahl. Die grundlegende Richtungsentscheidung ist bereits in der Inhaltsbeschreibung deutlich geworden: Lernen und Lehren werden als zentrale Inhalte der Pädagogischen Psychologie betrachtet. Nicht behandelt werden die wichtigen Bereiche des erzieherischen Handelns und der Sozialisation in außerschulischen, vornehmlich familiären Zusammenhängen. Auch Ausführungen über grundlegende Determinanten von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen, wie Erbe und Umwelt oder Geschlecht und Kultur, werden Sie vermissen. Wenn von Lernen die Rede ist, sind vornehmlich die kognitiven Lerninhalte gemeint. Andere Inhaltsbereiche und Lernziele, wie das emotionale oder soziale Lernen oder die Übernahme von Überzeugungen, Einstellungen und Werturteilen, werden nur am Rande behandelt.

Weil in diesem Buch häufig Ergebnisse empirischer Studien berichtet werden, ist es hilfreich, zentrale statistische Begriffe zu kennen, um die Bedeutsamkeit der Ergebnisse besser einschätzen zu können. Solche Begriffe beziehen sich vor allem auf Maße der zentralen Tendenz und der Variabilität, auf Maße des Zusammenhangs von Messwertreihen sowie auf Maße der Effektstärke. Im folgenden Kasten werden sie in ihren Grundzügen definiert.

Auf besondere methodische Ansätze der Pädagogischen Psychologie wird nicht gesondert eingegangen. Als empirische Wissenschaft ist sie dem Methodenkanon der Sozialwissenschaften verpflichtet. Nur an einigen Stellen – so bei der Evaluation pädagogischer Interventionsmaßnahmen – werden forschungsmethodische Aspekte eigens angesprochen, selbst dort sind sie jedoch nicht spezifisch für pädagogisch-psychologische Fragestellungen.

Zusammenfassung

Nicht die Anwendung psychologischer Erkenntnisse auf Erziehung und Unterricht ist der Gegenstand der Pädagogischen Psychologie, sondern die Gewinnung solcher Erkenntnisse. Die erkenntnissuchende Funktion einer grundlagenorientierten, theoretischen Wissenschaft wird ergänzt um den Anspruch, handlungsrelevantes und praxistaugliches Anwendungswissen zu generieren. Die Pädagogische Psychologie betreibt also eine nutzungsinspirierte oder nutzenorientierte Grundlagenforschung.