Pädagogisches Neusprech -  - E-Book

Pädagogisches Neusprech E-Book

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Beschreibung

Als "Neusprech" bezeichnet George Orwell in seinem dystopischen Roman 1984 die politisch gesteuerte Umformung der Sprache, mit der die in ihr aufbewahrte Vergangenheit dem Vergessen anheimgegeben, also unsagbar gemacht werden soll. Um solche Um- und Überformungsprozesse - in diesem Fall pädagogischer Begrifflichkeiten und Problemdebatten - meist im Namen von "alternativlosen" Reformen geht es auch in diesem Band. Denn die gegenwärtige Umgestaltung der pädagogischen Praxis mit neuen, der Kritik per se entzogenen Vokabeln bedarf eines Perspektivenwechsels. Anders als bei Orwell lassen sich die "Neuankömmlinge" jedoch nicht auf eine manipulierende Instanz wie den "großen Bruder" zurückführen, sondern speisen sich aus ganz unterschiedlichen Quellen und Kontexten, die hier, in umgekehrter Blickrichtung, aufgedeckt und kritisch auf ihre ideologischen Funktionen und möglichen Konvergenzen hin analysiert werden. In diesem Sinne behandelt werden folgende Begriffe: Individualisierung, Selbststeuerung, Kompetenz Gender/Geschlecht, Resonanz, Achtsamkeit, Vielfalt/Diversität, Resilienz, Nachhaltigkeit und Evidenzbasierung.

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Pädagogik kontrovers

 

Herausgegeben von Bernd Ahrbeck, Karl-Heinz Dammer, Marion Felder und Anne Kirschner

Die Herausgebenden

 

Dr. Karl-Heinz Dammer ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Dr. Anne Kirschner ist Juniorprofessorin für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Karl-Heinz Dammer, Anne Kirschner (Hrsg.)

Pädagogisches Neusprech

Zur Kritik aktueller Leitbegriffe

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-042809-6

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-042810-2

epub:     ISBN 978-3-17-042811-9

Zur Konzeption der Buchreihe »Pädagogik kontrovers«

Seit ihrer Entstehung als wissenschaftliche Disziplin im ausgehenden 18. Jahrhundert ist die Pädagogik ein widersprüchlicher und damit auch exemplarischer Ort für Kontroversen. Erkennbar wird dies bereits bei ihrem Begründer Rousseau, der in seinem Erziehungsroman Émile ou de l’Éducation den Erzieher vor die Alternative stellt, einen Menschen oder einen Bürger zu erziehen, sich also an den Entwicklungspotenzialen des Individuums zu orientieren und zu ihrer ungehinderten Entfaltung beizutragen oder ein auf gesellschaftliche Zwecke hin ausgerichtetes Wesen hervorzubringen; beides zugleich, so sagt Rousseau ausdrücklich, sei unmöglich. Wenig später wird diese Dichotomie in Deutschland als programmatischer Streit zwischen den am nützlichen Bürger interessierten Aufklärungspädagogen und den Neuhumanisten als emphatischen Verteidigern des sich frei bildenden Individuums erneut ausgefochten.

Im Kern ist dieser Streit bis heute nicht geschlichtet, wie beispielsweise die Auseinandersetzung um den auf Nützlichkeit fokussierten Bildungsbegriff zeigt, der der PISA-Studie zugrundeliegt. In den Debatten wird erkennbar, dass Erziehungs- und Bildungskontroversen nicht nur ein zentraler Reflexionsmodus der Disziplin sind, sondern dass mit der Frage »Bildung und Erziehung wozu?« auch immer wieder neu zu führende Aushandlungsprozesse von Gesellschaft- und Menschenbildern verbunden sind.

Diese kritische Funktion der Pädagogik scheint nun seit einiger Zeit zugunsten unterschiedlicher, aber stets widerspruchsfrei erscheinender und moralisch hoch aufgeladener Diskurse in den Hintergrund zu treten: Chancengleichheit – vor der Jahrhundertwende noch ein beispielhaftes bildungspolitisches Streitthema – wird nun einhellig gefordert, Vielfalt ist wertzuschätzen, Inklusion hat sich normativ immunisiert und empirische Messungen konnten sich bildungspolitisch als der vermeintlich einzig gültige Maßstab für die Qualität von Schulen und Unterricht etablieren. Damit verschiebt sich pädagogisches Denken von einem streitbaren Ort in Richtung einer Konsenszone, in der die gesellschaftspolitische Dimension der pädagogischen Kritik zunehmend an den Rand gedrängt wird.

Die Reihe »Pädagogik kontrovers« will, an diese kritische Funktion der Pädagogik anknüpfend, wieder Kontroversen initiieren, indem sie nach der Berechtigung des als selbstverständlich Geltenden fragt, andere Sichtweisen einbringt und auf diese Weise für produktive Irritationen sorgen und Denkanlässe schaffen möchte, um ideologische Moden (wieder) erkennbar und zum Gegenstand von Streit werden zu lassen.

Da die Bedeutung pädagogischer Kontroversen, wie eingangs angedeutet, über die Erziehung hinausweist, wird der Begriff »pädagogisch« hier nicht nur als erziehungswissenschaftlicher verstanden, sondern es geht dabei auch um die gesellschaftlichen, psychologischen und philosophischen Implikationen der Kontroversen.

Geplant sind Sammelbände oder Monographien zu entsprechenden Themen, verfasst von Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis unterschiedlicher Disziplinen (Erziehungswissenschaft, Soziologie, Philosophie, Psychologie). Die Buchreihe wendet sich aber explizit nicht nur an die Fachgemeinde, sondern an alle Personenkreise, die an bildungspolitischen Fragen und offener gesellschaftlicher Auseinandersetzung interessiert sind. Mit Blick auf diesen weiten Adressatenkreis werden auch unterschiedliche Darstellungsformen gewählt, also neben konventionellen wissenschaftlichen Beiträgen auch essayistische Reflexionen, um neue Denkräume zwischen wissenschaftlichem Fachbuch und populärem Sachbuch zu schaffen und der öffentlichen Debatte um Erziehungsfragen neue Impulse zu geben.

Inhalt

Zur Konzeption der Buchreihe »Pädagogik kontrovers«

Einleitung

Ein neuer Blick auf das Individuum

Individualisierung

Karl-Heinz Dammer

Selbststeuerung

Matthias Burchardt

Kompetenz

Karl-Heinz Dammer

Geschlechtergerechtes Sprechen. Gender-Neusprech: Begriffsverwirrung und pädagogische Verantwortung

Monika Barz

Resonanz. »Nicht gelb! Gelb ist so eine pissige Farbe.« Unterricht zwischen Resonanz und Dissonanz

Anne Kirschner

Achtsamkeit. Die neue pädagogische Tugend? Kritische Anmerkungen aus philosophischer Sicht

Hans-Bernhard Petermann

Ein neuer Blick auf die Gesellschaft

Vielfalt. Let’s celebrate diversity! Die Feier der Vielfalt und ihre blinden Flecke – zwei Szenen aus dem universitären Alltag

Florian Wobser

Resilienz. Macht. Bildung.

Anne Kirschner

Nachhaltigkeit. Ist Bildung für nachhaltige Entwicklung nachhaltig? Kritische Anmerkungen zum Nachhaltigkeitsdiskurs und ein Plädoyer für eine naturgemäße Bildung

Thomas Vogel

Evidenz als Paradigma in der Bildungsforschung

Sieglinde Jornitz

Die Autorinnen und Autoren

Einleitung

Diese naturgemäß wenigen Wörter hatten ihre Bedeutung so ausgeweitet, daß sie ganze Batterien von Worten einschlossen, die dann, weil sie von einem übergeordneten Begriff hinreichend abgedeckt wurden, ausrangiert und vergessen werden konnten. (Orwell 2017, S. 367)

 

Man konnte Neusprech tatsächlich nur dann zu unorthodoxen Zwecken benutzen, wenn man verbotenerweise einige der Worte in Altsprech rückübersetzte. (ebd., S. 372 f.)

Orwells Dystopie 1984 erzählt das Wesen eines totalitären Staates in einer geschichtsvergessenen Welt, deren entpersonifizierte Leerstelle, der »große Bruder«, so das Resümee von Daniel Kehlmann im Nachwort des Romans, ins kollektive Bewusstsein übergegangen ist, während die eigentlichen Figuren Winston Smith, seine Geliebte Julia sowie der Folterer O’Brian in der Rezeption überschattet bleiben (ebd., S. 377). Winston – oder: »Der letzte Mensch in Europa« (so der Arbeitstitel des Romans) – arbeitet im Ministerium für Wahrheit. Seine Aufgabe besteht darin, Zeitungstexte so umzuschreiben, dass ihre Inhalte und Aussagen mit den jeweils aktuell gültigen politischen Leitlinien übereinstimmen. Dabei entdeckt er, dass es eine Zeit vor der Diktatur gegeben hat, von der er nichts weiß, nichts wissen soll. Orwells Held lebt und scheitert in einer Welt, die nicht verstanden werden darf.

Der Sprache kommt in diesem Zusammenhang als Medium des Verstehens eine besondere Bedeutung zu: So dient das von der Regierung erdachte »Neusprech« der systematischen Reduktion, Vereinheitlichung und Enthistorisierung von Sprache, nicht nur, um ein Ausdrucksmittel für eine, der vorherrschenden Ideologie (im Roman ist dies der »englische Sozialismus«, kurz: »Ensoz«) gemäßen Weltanschauung und Geisteshaltung bereitzustellen, sondern auch um alternative Denkweisen unmöglich zu machen.

Nun sind literarische Bücher im Grunde nichts anderes als Erfindungen und ihr ästhetisches Gewand, die Fiktionalität, mag ein wenig verlässliches Kriterium sein, wenn es darum geht, aussagekräftige Zeitdiagnosen zu treffen. Wie kommen wir also dazu, einen frei erfundenen Ausdruck wie »Neusprech« zum Thema und Lackmustest eines Buches zu nehmen, das sich von seinem Anspruch her mit der sog. »Wirklichkeit«, genauer der pädagogischen Wirklichkeit beschäftigt? Die Antwort darauf lässt sich mit Terhart (1999) formulieren: Auch die Erziehungswissenschaft hat die Aufgabe, sich über die formative Kraft des eigenen sprachlichen Instrumentariums, mit welchem Anspruch auf Wirklichkeit erhoben wird, zu vergewissern und darüber aufzuklären (vgl. ebd., S. 158). Für diesen Zweck vermag kein noch so schlicht formulierter Titel zusammenzufassen, was Orwells Wortneuschöpfung auf den Punkt bringt. Der Ausdruck selbst mag nicht wahr sein, er ist aber in besonderer Weise geeignet, die Leserinnen und Leser vor das Problem der Wahrheit zu stellen.

Mit diesem Anspruch reiht sich das vorliegende Buch in das Kontinuum bereits bestehender zeitkritischer Glossare ein, die sprachlich vermittelte Um- und Überformungsprozesse gesellschaftlicher (Bröckling, Krasmann & Lemke 2013a) und damit zusammenhängender pädagogischer (Dzierzbicka & Schirlbauer 2008a) Felder nachzeichnen und analysieren. Die dort mit spezifischen Veränderungen des Vokabulars1 beschriebenen gesellschaftlichen und pädagogischen Wandlungsprozesse setzen sich bis heute fort und motivierten jüngst auch Feldmann u. a. (2022), gemeinsam mit mehr als 60 Autorinnen und Autoren das Nachschlagewerk Schlüsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. Pädagogisches Vokabular in Bewegung herauszugeben. Während die beiden erstgenannten Glossare importierte, neu geschaffene oder umgedeutete Begriffe versammeln, die nicht »schwer«, sondern »leicht«, d. h. von scheinbar fragloser Plausibilität sind und darum der Kritik entzogen scheinen, betrachten die Herausgeberinnen und Herausgeber der »Schlüsselbegriffe« jene, zu den etablierten Begriffen hinzugekommenen Termini ergebnisoffen und wertneutral als »Neuankömmlinge«, die einen produktiven Beitrag zur Überprüfung und Aktualisierung der pädagogischen Disziplin leisten (vgl. Rieger-Ladich u. a. 2022, S. 11 f.).

Diese scheinbar gegensätzlichen Auffassungen über die formative Kraft von übernommenen und umgedeuteten Begriffen in der Pädagogik lassen sich mit einem vergleichenden Blick auf die jeweiligen Einträge der zitierten Bände nachvollziehen. Denn dabei lässt sich feststellen, dass im Inventar der o. g. Glossare nur wenige Überschneidungen mit jenen »Schlüsselbegriffen« zu finden, vielmehr zwei unterschiedliche Ebenen zu erkennen sind, die aus der disziplinären Zusammenfassung der Pädagogik als pädagogischer Praxis (v. a. Hoch-/Schule und Unterricht) einerseits und ihrer wissenschaftlichen Reflexion (Erziehungswissenschaft) andererseits resultieren. So sind die neu angekommenen Schlüsselbegriffe im Band von Feldmann, wie etwa »Anthropozän«, »Othering« oder »Hegemonie«, das genaue Gegenteil von »leicht«, sie bedürfen also der Erläuterung, bevor sie ihrer eigentlichen Funktion (als pädagogische Reflexionsbegriffe) gerecht werden können. In dieser Eigenschaft entziehen sich die Schlüsselbegriffe samt ihren Verwendungsweisen einer unmittelbaren Instrumentalisierung für politische Ziele.

Demgegenüber zeichnen sich die von Dzierbicka & Schirlbauer (2008a) im pädagogischen Glossar der Gegenwart versammelten »Neuankömmlinge« (auch hier findet der Ausdruck Verwendung) durch eine eher strategische Funktion aus, insofern sie nicht zum Zwecke der wissenschaftlichen Reflexion, sondern im Nachgang des PISA-Schocks mit dem (bildungs-)politischen Ziel der Umgestaltung der pädagogischen Praxis übernommen wurden. Einträge wie »Bildungsstandards«, »Employability«, »Modularisierung« und »Qualitätsmanagement« verweisen auf entsprechende Transformationsprozesse und damit zusammenhängende sozialpolitische und ökonomische Steuerungslogiken (vgl. Dzierzbicka & Schirlbauer 2008b, S. 10 f.), die z. B. im Kontext von Bildungsplänen und neu geschaffenen (Hoch)Schulstrukturen nachhaltigen Einfluss auf das pädagogische Denken und Handeln nehmen.

Dieser Logik folgen auch die im vorliegenden Band versammelten Begriffe, die in ähnlicher Weise aktuelle Sprechweisen, besonders auf Ebene der pädagogischen Praxis, prägen. 16 Jahre nach dem Erscheinen des pädagogischen Glossars stellt sich heraus, dass die Sprache der gegenwärtigen Pädagogik zwar immer noch von ähnlichen, aber auch einigen neuen Begriffen durchsetzt ist, die nicht länger nur aus »den Labors der Managementwissenschaften«, sondern aus ganz unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Bereichen für die pädagogische Praxis akzeptabel und praktikabel gemacht werden (vgl. ebd., S. 11). Es handelt sich um eingängige, eben »leichte« Praxisvokabeln, die mittlerweile zum festen Inventar auch des Sprechens in Bildungsplänen, (hoch)schulischen Kommunikationsstrukturen, öffentlichen Berichterstattungen sowie der (Aus-)Bildung von Lehrkräften zählen. In all diesen Bereichen wird mit einem Mehr an »Kompetenz«, »Resilienz«, »Selbststeuerung«, »Nachhaltigkeit«, »Vielfalt«, »Achtsamkeit«, »Individualisierung«, »Evidenzbasierung«, »gendergerechter Sprache« und neuerdings auch »Resonanz« die Bewältigung nicht länger nur (hoch-)schulischer, sondern auch gesellschaftlicher Problemlagen und Krisen in Aussicht gestellt, während traditionelle pädagogische Grundbegriffe wie z. B. »Erziehung« von der Sprachoberfläche verschwinden.

Dass pädagogisches Vokabular seit jeher »in Bewegung« und die Pädagogik eine Disziplin ist, die in dieser Hinsicht »notorisch mehr importiert als exportiert« (vgl. Rieger-Ladich u. a. 2022, S. 10), ist längst Konsens. Im Rahmen dessen wird, auch schon vor PISA und der daran anschließenden folgenreiche Importe jener in den o. g. Glossaren inventarisierten Begriffe – sowie häufig in Anlehnung an Herbarts Forderung, die Pädagogik dürfe nicht »als eroberte Provinz von einem Fremden aus regiert werden« (Herbart 1982, S. 21) – die Frage aufgeworfen, ob es so etwas wie »einheimische Begriffe« in der Erziehungswissenschaft überhaupt gibt2 (vgl. König 1999). Einige der noch von Herbart angeführten zentralen Begriffe, die neben »Bildung« und »Erziehung« auch »Kinderregierung«, »Unterricht« und »Zucht« umfassen, werden heute längst nicht mehr zu den Grundbegriffen gezählt. Einige Vertreter der Disziplin sind sogar davon überzeugt, dass es schließlich gar keine einheimischen Begriffe mehr gibt. Dies kann man mit König als Auflösungsprozess der Pädagogik beklagen oder aber (wie aktuell auch Feldmann u. a.) als Ausdruck einer disziplinären Differenzierung und Spezialisierung begreifen. Unabhängig davon, ob man in diesem Vorgang nun Erosionstendenzen oder Entwicklungspotenziale der Pädagogik erkennt, machen die hier versammelten »Neuankömmlinge« die, in den einheimischen Begriffen aufbewahrte, Vergangenheit vergessen und drohen auf diese Weise, den einmal gewonnenen Problemhorizont der Pädagogik zu unterschreiten. So ist beispielsweise im Erziehungsbegriff historisch die allen pädagogischen Prozessen zugrunde liegende Dialektik von Freiheit und Zwang enthalten, die in den Neusprech-Begriffen ignoriert wird.

Im Anschluss an diese eher wissenschaftstheoretischen Diskussionen sowie mit Blick auf Überlegungen zur Entstehung von wissenschaftlichen Tatsachen (v. a. Fleck 1980) lässt sich fragen, ob Wahrheit nur innerhalb eines bestimmten »Denkstils« als solche bestimmbar ist, ob es überhaupt eine pädagogische Wahrheit geben kann oder man nicht eher von mehreren, sich gegenseitig ausschließenden Wahrheiten auch innerhalb der Erziehungswissenschaft(en?) ausgehen müsse (vgl. Thole & Vogel 2022). Im Zuge dieser Debatten, die ihren Ursprung nicht zuletzt in sehr unterschiedlichen theoretischen Paradigmen3 haben, wird jedoch leicht übersehen, dass Sprache eben nicht nur erkenntnisformierend, sondern auch wirklichkeitskonstituierend wirkt. Entsprechend adressieren die neuen Begriffe in bildungspolitischen Programmen (Bildungspläne), Bildungs- und Erziehungsnormen (Vielfalt, Nachhaltigkeit, Gesundheit) sowie in Leitlinien unterrichtsbezogener Konzepte (selbstgesteuertes Lernen, Individualisierung) Individuum und Gesellschaft in spezifischer Weise. Es ist das Anliegen des vorliegenden Bandes, solche Adressierungen als »Programme des Regierens« zu identifizieren und zu beschreiben, die mit Bröckling, Krasmann & Lemke (2013b) in ihrer Funktion dahingehend bestimmt werden können, dass sie Probleme definieren, in einer bestimmten Weise rahmen und Wege zu ihrer Lösung vorschlagen (vgl. ebd., S. 12).

Der Begriff des Regierens wird dabei im Anschluss an den französischen Philosophen Michel Foucault verwendet, der mit diesem Ausdruck eine über den Staat hinausgehende und ihn zugleich unterlaufende Sphäre der Machtausübung bezeichnet, die in der Peripherie des Politischen angesiedelt ist (vgl. Foucault 2014, S. 29 f.). In diesem Sinne kann auch die Pädagogik als eine Regierungskunst und die Bildungspolitik als »Kunst der Steuerung der pädagogischen Steuerung« aufgefasst werden (Dzierbicka & Schirlbauer 2008b, S. 11). Im Unterschied zum Begriff der Ideologie, welcher in einem allgemeinen Verständnis letztlich auf die Entgegensetzung von wahr und falsch hinausläuft, widmet sich Foucault den Produktionsmechanismen von Wahrheit und Wissen. Daraus lässt sich folgern, dass man Politik und Wissen gerade nicht einander gegenüberzustellen, sondern ein »politisches Wissen« in den Blick zu nehmen habe (vgl. Bröckling, Krasmann & Lemke 2013b, S. 10). Dieses Ansinnen ist auch das verbindende Motiv der im vorliegenden Band versammelten Beiträge, die in ihrer jeweils thematischen und konzeptionellen Verschiedenheit als Suchbewegung in den diskursiven Verschränkungen von (gesellschafts-)politischem und pädagogischem Wissen zu lesen sind, im Zuge derer nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Gesagten, mit anderen Worten: nach den Ursprüngen und Verwendungsweisen des pädagogischen Neusprechs gefragt wird.

Mit Foucault kann dieses Vorhaben in einem weiteren Sinne auch als Diskursanalyse4 verstanden werden. Ein Diskurs konstituiert sich, dem Philosophen folgend, über die Gesamtheit der Praktiken, die vermittels des Sprechens über die Dinge diese allererst bilden (vgl. Foucault 2013, S. 74). Etwas konkreter gefasst folgt daraus, dass sich Diskurse über regelhaft auftretende sprachliche Strukturen (Zeichenordnung) in Verbindung mit dem situativen Gebrauch dieser Strukturen (Zeichenpraxis) identifizieren und beschreiben lassen (vgl. Fegter u. a. 2015, S. 13 f.). Anzumerken ist dabei, dass Diskurse in diesem Verständnis jedoch keine präexistenten Gebilde, sondern stets künstliche Setzungen sind, insofern sie in der Analyse überhaupt erst hergestellt werden. Die Beiträge in diesem Band nehmen solche Setzungen notwendig vor, um jene wirklichkeitskonstituierenden Vorgänge, nicht etwa wie in Orwells Roman auf eine einzige manipulierende Institution zurückzuführen, sondern um die, den jeweiligen Neusprech-Begriffen zugrundeliegenden Quellen, Kontexte und Logiken aufzuspüren.

Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Perspektiven auf das jeweilige Thema, werden die hier verhandelten Begriffe in diesem Sinne als sprachliche Instrumente nicht nur zur Beschreibung der Realität, sondern auch als performative Werkzeuge zu ihrer Gestaltung analysiert. Mit Blick auf die pädagogischen Konsequenzen tritt dabei zutage, was (neu) thematisiert, was aber auch zugleich verschwiegen bzw. im Sinne Orwells dem Vergessen anheimgegeben wird.

Dies betrifft längst nicht nur wissenschaftliche Expertenkreise, sondern begegnet den Menschen auch außerhalb pädagogischer Handlungsfelder mit zunehmender Selbstverständlichkeit. Denn viele der hier zusammengetragenen Neusprech-Vokabeln sind, was ein Blick auf ihre steigenden Verlaufskurven5 bestätigt, längst in der Alltagssprache angekommen: Baumärkte werben mit »Holzkompetenz«; (nicht nur) Unternehmen wird mit Regal(kilo)metern an Resilienz-Büchern Krisenfestigkeit in Aussicht gestellt, Vielfalt soll auch in Kinderbüchern vermittelt werden; Managements sollen achtsam sein und individualisierte Tassen sind noch immer ein Verkaufshit. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Gleichzeitig wuchern diese Begriffe in theoriebasierten Analysen, empirischen Studien, Praxisbüchern, Schulprofilen sowie Tagungs- und Seminarthemen.

Vor dem Hintergrund dieser Streubreite laden die Autorinnen und Autoren dieses Bandes mit offenen Schreibstilen dazu ein, sich mit diesen Neusprech-Vokabeln aus unterschiedlichen disziplinären und theoretischen Blickwinkeln auseinanderzusetzen. Daher weichen einige Texte in diesem Band von konventionellen wissenschaftlichen Darstellungsweisen ab, indem sie z. B. auf minutiöse Literaturbelege verzichten, essayistische Stilistiken einsetzen oder mit gezielten Zuspitzungen und alternativen Textstrukturen spielen, während andere den Konventionen des wissenschaftlichen Schreibens treu bleiben. Zu dieser stilistischen Freiheit gehört auch, dass die Autorinnen und Autoren selbst entscheiden, welche Formen des gendergerechten Schreibens sie verwenden.

Die so entstandenen zehn Texte wurden nach zwei übergeordneten Aspekten strukturiert, deren erster mit »Individualisierung«, »Selbststeuerung«, »Kompetenz«, »Gendergerechtes Sprechen«, »Resonanz« und »Achtsamkeit« Begriffe betrifft, in denen ein neuer normativer Blick auf das Individuum zutage tritt, während im zweiten Teil Begriffe mit gesamtgesellschaftlichem Wirkungsanspruch behandelt werden, nämlich »Vielfalt«, »Resilienz«, »Nachhaltigkeit« und »Evidenzbasierung«. Den geneigten Leserinnen und Lesern werden dabei die vielfältigen Bezüge, die zwischen den Begriffen bestehen, nicht entgehen.

Ein neuer Blick auf das Individuum

Individualisierung

Im alltäglichen Sprachgebrauch sind »Individuum« und »Individualisierung« in der Regel positiv besetzte Begriffe, deren doppelte Ambivalenz selten gesehen wird: Von ihrer begrifflichen Funktion können sie sowohl deskriptiv als auch normativ verwendet werden und ihrem Gehalt nach implizieren sie sowohl Entfaltungsmöglichkeiten als auch Zwänge. Karl-Heinz Dammer geht in seinem Artikel zunächst dem Ursprung dieser Ambivalenzen nach und zeigt, dass und warum Individuum und Gesellschaft unauflöslich miteinander verbunden sind, weswegen es theoretisch wie politisch fragwürdig ist, die Ambivalenz zu der einen oder anderen Seite hin aufzulösen. Genau dies geschieht aber im gegenwärtigen Individualisierungsdiskurs, und zwar zur Seite des Zwangs und der Normativität hin.

Auf dieser Grundlage zeigt Dammer, wie mit der »neuen Lernkultur« auch ein neues Menschenbild Eingang in die Schule findet, in der nun das »selbstgesteuerte Lernen« den verpönten »Frontalunterricht« und der »Coach« die Pädagogin ersetzen soll. Die neoliberale Grundierung dieses Konzepts wird offengelegt und am Schluss die Frage diskutiert, warum es, obwohl traditionelle pädagogische Kategorien in ihm kaum noch eine Rolle spielen, dennoch in Pädagogenkreisen Anklang findet.

Selbststeuerung

Die in dem vorangegangenen Beitrag bereits als wesentliche Strategie der (Zwangs-)Individualisierung eingeführte Selbststeuerung wird von Matthias Burchardt eingehender hinsichtlich ihrer Ursprünge und Konsequenzen für die Erziehung und das der Selbststeuerung zugrundeliegende Menschenbild untersucht. »Selbststeuerung« ist ein Kernbegriff der Kybernetik; jener Grundlage »denkender« Maschinen, die auf der Basis von Sollwerten und einer entsprechenden Programmierung in der Lage sind, ihre Steuerungsaufgaben ohne weitere Eingriffe von außen zu erfüllen. Burchardt zeigt, wie sich dieses Prinzip in der »neuen Lernkultur« niedergeschlagen hat und wie sich dadurch nicht nur das Lernen als genuin menschliche Verstandestätigkeit, sondern auch das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden als einer personal bestimmten Beziehung hin zu einem »Technomorphismus« verschiebt, der den pädagogischen Kern des Lehrens überlagert. Der Beitrag wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, welcher Ort in einem technisch fundierten Transhumanismus noch für die Idee des Menschen als eines offenen, unbestimmten Wesens und damit für die Grundlage für Erziehung und Bildung bleibt.

Kompetenz

»Kompetenz« ist der von allen Neusprech-Begriffen wohl am häufigsten verwendete, was u. a. an seiner beliebigen semantischen Kombinierbarkeit von der »Achtsamkeits-« bis zur »Zweigeltkompetenz« liegt. Dementsprechend kann er in nahezu jedem denkbaren Diskurs auftauchen, in dem es um menschliche Fähigkeiten geht.

Der Beitrag geht zunächst den möglichen Gründen für den mit der PISA-Studie einsetzenden Kompetenz-Hype nach, bevor im Rückblick auf die Geschichte des Begriffs und seine Verwendung in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gezeigt wird, dass er in sehr unterschiedlicher Weise verstanden werden kann. Dies kontrastiert Dammer mit einer Analyse der F. E. Weinert zugeschriebenen Kompetenzdefinition und ihrer politisch-ideologischen Kontextualisierung, im Zuge dessen der heute dominante Kompetenzbegriff eine folgenreiche Einschränkung dieser Bedeutungsfülle mit sich bringt.

Um den Kompetenzbegriff seiner semantischen Kolonialisierung und damit problematischen Einengung zu entreißen, werden abschließend einige Überlegungen zu den Schwierigkeiten einer genauen Begriffsbestimmung und damit auch zu den Merkmalen eines Kompetenzbegriffs angestellt, der sich nicht im Ideal des sein Humankapital optimierenden Selbstmanagers erschöpft.

Geschlechtergerechtes Sprechen

Monika Barz’ Beitrag zum »Geschlechtergerechten Sprechen« ist eine Kritik im ursprünglichen, vollen Sinne des Wortes, nämlich ein durch eine differenzierte Analyse des Gegenstandes begründetes sachliches wie politisches Urteil. Die für Außenstehende verwirrende Vielfalt sich überkreuzender, z. T. bekämpfender Diskurse, die sich entgegen ihrer Lautstärke jeweils als partikulare Minderheitenpositionen erweisen, werden hier sortiert, analysiert und hinsichtlich ihrer politischen Implikationen bewertet. Deutlich wird dabei durchweg die, trotz ihrer relativen Marginalität, performative Kraft dieser Diskurse, also ihr Vermögen, über eine Beeinflussung des öffentlichen Bewusstseins die Wahrnehmung der Realität zu verändern und entsprechendes Handeln zu initiieren.

Um die komplexen Zusammenhänge transparent zu machen, argumentiert Barz auf mehreren Ebenen: der biologischen Sachebene, derzufolge die Rede von einem dritten oder gar einer Vielzahl von Geschlechtern unsinnig ist, der semantischen, indem sie die (wie sich zeigt z. T. sehr deutsche) Problematik der verschiedenen Schreib- und Sprechvarianten mit ihren jeweiligen Implikationen untersucht, der diskursiven, die die Ursprünge und Interessen der jeweiligen Diskurse erhellt, und der politischen, auf der normative Wirkung der Diskurse erkennbar wird. Im Hintergrund steht dabei immer die Frage, welche Auswirkungen die Genderdebatte auf die betroffenen Personenkreise hat und wie z. T. unreflektiert damit in der Pädagogik umgegangen wird. Bei alldem geht es Barz nicht darum, die Forderung nach gendergerechtem Sprechen in Zweifel zu ziehen, sondern den Unterschied zwischen dahingehenden Bemühungen und der teilweise dogmatisch unterfütterten Gender(stern)debatte aufzuzeigen.

Resonanz

»Resonanz« kann hier als jüngster Neusprech-Begriff gelten, der erst mit der gleichnamigen Studie Hartmut Rosas (2016), dann allerdings umso schneller, prominent wurde; auch in der Pädagogik, die umgehend ihr nicht kleines Repertoire an Bindestrich-Varianten um eine weitere ergänzte und die »Resonanzpädagogik« ins Leben rief.

Anne Kirschner nähert sich diesem Begriff auf ungewöhnliche Weise gleichsam via negationis, indem sie im Laufe ihrer Überlegungen eine anfangs zitierte Szene aus dem Unterrichtsalltag Stück für Stück auf seine ihm fehlende Resonanz hin untersucht. Der Akzent der Untersuchung liegt dabei auf der Funktion von Metaphern für das Sprechen über Pädagogik, die zumal dann lohnt, wenn, wie hier, ein physikalischer Begriff nicht nur zur Beschreibung, sondern mehr noch zur normativen Orientierung pädagogischer Beziehungen dienen soll. Auch wenn dies auf den ersten Blick naheliegen mag, scheint doch »Resonanz« in einem einzigen prägnanten Bild auf den Punkt zu bringen, worum es in der Gestaltung pädagogischer Beziehungen geht.

Kirschner kann indes zeigen, dass die vermeintliche Prägnanz mit einigen Verkürzungen und Vereinseitigungen des stets sich durch Widersprüche lavierenden Erziehungsgeschäfts erkauft wird.

Achtsamkeit

Der letzte Beitrag zu den individuumsbezogenen Neusprech-Begriffen ist der »Achtsamkeit« gewidmet. Er wurde bewusst ans Ende des ersten Teils gesetzt, weil sich hier gleichsam der Kreis zur Selbststeuerung schließt, auch wenn »Achtsamkeit« zunächst als das seelisch-verinnerlichte Gegenteil der technisch-kybernetisch motivierten Selbststeuerung erscheinen mag.

Hans-Bernhard Petermann erschließt diesen Begriff im Stil eines philosophiegeschichtlichen Wörterbucheintrags aus einer philosophisch-existentiellen Perspektive, indem er die antike Frage nach dem guten Leben, als deren Antwort »Achtsamkeit« heute auftritt, ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. Die Vielzahl der Initiativen, Projekte und Ratgeber zu dem Thema zeigen, wie Petermann einleitend feststellt, dass der Begriff Hochkonjunktur hat, die Frage nach dem richtigen »Lifestyle« also viele Menschen umtreibt. Petermann erhellt aber in seinem Beitrag Schritt für Schritt, dass die Antwort darauf wesentlich komplexer ist, als der Achtsamkeitsdiskurs es suggeriert.

Entsprechende Verkürzungen des Achtsamkeitskonzepts erkennt Petermann, wo er dessen buddhistischen, abendländischen, v. a. moralphilosophischen Wurzeln nachgeht, was naheliegt, da Achtsamkeit sich als Tugend ausgibt.

Im Anschluss an die kenntnisreichen Exkurse der philosophischen Begriffsbildung werden die Konsequenzen dieser Befunde für die Pädagogik angesprochen, insbesondere für Bildung und Schule. Dem Gerede von einer unerlässlichen »Schlüsselkompetenz« zur gezielten Herstellung von Glück, das inzwischen auch Eingang in Bildungspläne gefunden hat, stellt Petermann eine Idee von Bildung gegenüber, die sich im Bewusstsein der widerständigen Welt dem »Drama menschlicher Möglichkeiten von Freiheit und Verantwortung« stellt.

Ein neuer Blick auf die Gesellschaft

Vielfalt

Der Teil zu den gesellschaftsbezogenen Neusprech-Begriffen wird mit deren wohl prominentestem, der »Vielfalt«, eröffnet, der zugleich auch am schwierigsten zu fassen ist, denn es kursieren parallel neben »Vielfalt« auch die Begriffe »Diversität«, »Heterogenität« und »Intersektionalität«, die nicht nur unterschiedliche theoretische Ursprünge haben, sondern z. T. entgegengesetzte Ziele verfolgen. Insofern gibt es nicht einen Vielfaltsdiskurs, sondern mehrere sich überkreuzende und teilweise bekämpfende.

Florian Wobser ist es gelungen, diesen gordischen Knoten zu durchtrennen, indem er dem Leser und der Leserin die umfangreiche Darstellung dieser Diskurse erspart und direkt die allen innewohnende zentrale Problematik zum Thema macht, nämlich die eines theoretisch begründeten und politisch vertretbaren Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem, hier konkret zwischen Individuen bzw. Gruppen von Individuen mit besonderen Merkmalen und dem gesellschaftlichen Ganzen.

Fokussiert man das Problem in dieser Weise, so kristallisieren sich zwei entgegengesetzte Argumentationsmuster heraus, nämlich einerseits das Beharren auf der Nichtidentität des Individuums (wörtlich das Unteilbare) mit der Gesellschaft und andererseits eine harmonistische Sichtweise, die das Individuum in seiner Einzigartigkeit reibungslos in eine als solche unbestimmt bleibende Vielfalt der Gesellschaft integrieren will, ohne nach den homogenisierenden Kräften zu fragen, dank derer die Gesellschaft mehr ist als eine Ansammlung von Vereinzelten und denen das Individuum zwangsläufig ausgesetzt ist.

Wobser verdeutlicht dieses Spannungsverhältnis mit Szenen aus dem universitären Alltag, in denen ein harmonistisches Vielfaltskonzept sich in seine Widersprüche verstrickt bzw. als bloß normativer Appell an Pädagogen verhallt.

Resilienz

Resilienz, die ursprünglich eine ausgeprägte psychische Widerstandskraft bezeichnet, wäre diesem Verständnis nach eher dem ersten Teil des Bandes zuzuordnen gewesen. Da der Begriff aber inzwischen auch auf Kollektive, Organisationen und sogar die Gesellschaft als Ganze ausgedehnt und dadurch in besonderer Weise diskursmächtig wird, taucht er erst in diesem Teil auf.

Der Titel von Anne Kirschners Beitrag »Resilienz. Macht. Bildung« bringt in seiner Mehrdeutigkeit das Thema auf den Punkt. Zum einen geht es darum zu klären, inwieweit diese drei Begriffe miteinander verschränkt sind, zum anderen lässt sich die Fügung auch als Frage verstehen: Ist Resilienz inzwischen ein wesentliches Ingrediens von Bildung und was bedeutet das für den Bildungsbegriff?

Der Titel strukturiert sogleich den Text. So gibt die Autorin im ersten Teil einen Überblick über die unterschiedlichen Verwendungsweisen der Resilienz auch in der Pädagogik und zeigt u. a., dass der Begriff als ein ressourcenorientiertes Konzept präsentiert wird, das zwar notwendig in Bedrohungsszenarien (Krisen) fundiert ist, aber zugleich deren Überwindung in Aussicht stellt.

Den zweiten Teil ihres Beitrags widmet Kirschner einer genauen Diskursanalyse dieser Lesart von Resilienz, indem sie auf Foucaults Verständnis von Macht und seine diesbezüglichen Studien zur Biopolitik und Gouvernementalität zurückgreift.

Ausgehend von dieser theoretischen Basis unterzieht die Autorin das Gutachten des »Aktionsrats Bildung« zum Verhältnis von Bildung und Resilienz einer genauen Analyse und erkennt darin einen durch Bildung vermittelten Zuschnitt der Resilienz auf eine (auch) organisationsbezogene Krisenbewältigungsfähigkeit hin. Im Bildungssektor findet dies seinen Ausdruck in der Propagierung lebenslangen Lernens als Anpassung an sich stets wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse, was, so das Gutachten, schulisch am besten durch die digitale Flexibilisierung des Unterrichts und Lehrkräfte als zugeschaltete Lernprozessbegleiter zu verwirklichen sei, also durch die »neue Lernkultur«6. Auf diese Weise wird Bildung, so Kirschner abschließend, rein funktional auf eine bloße Bewältigungsstrategie für das Überleben in schweren Zeiten umgedeutet und von emanzipativen Potenzialen abgekoppelt.

Nachhaltigkeit

Der Klimawandel, der Jahr für Jahr deutlicher die bereits 1973 vom Club of Rome festgestellten Grenzen des Wachstums vor Augen führt, hat einen vorher nur in Fachkreisen bekannten Begriff populär gemacht, den der »Nachhaltigkeit«. Da ein solches Schlüsselproblem der Gesellschaft (Klafki) nicht spurlos an den Bildungsinstitutionen vorbeigehen konnte, tauchte bald darauf auch das Konzept einer »Bildung für nachhaltige Entwicklung« auf, dem sich der Beitrag von Thomas Vogel widmet, indem er zunächst die Herkunft und Konzeptionalisierung des Begriffs »Nachhaltigkeit« als »ideological masterframe« der Umweltdebatte darstellt. Dabei gelangt er zu dem kritischen Befund, dass der dominante Diskurs zur Nachhaltigkeit zwar zwischen Ökologie und Ökonomie zu vermitteln verspricht, sich faktisch aber für Partikularinteressen instrumentalisieren und insofern auch in einen ökonomischen Verwertungsrahmen integrieren lässt.

Aus seinen Überlegungen leitet Vogel die bildungstheoretische Konsequenz ab, dass es angesichts der fundamentalen Krise im Verhältnis von Natur und Mensch nicht primär um eine »Bildung für nachhaltige Entwicklung« gehen könne, die auf ein problembewussteres Konsumentenverhalten zielt, sondern um eine »naturgemäße Bildung«, die in ihrem Anspruch fundamentaler ansetzt und auch die sozioökonomischen Bedingungen der Krise mit einbezieht.

Evidenzbasierung

»Evidenzbasierung« ist der einzige unter den hier behandelten Neusprech-Begriffen, der als solcher nur in einem spezifischen gesellschaftlichen Diskurs verwendet wird, nämlich dem der Wissenschaft, da die damit verbundene Praxis letztlich aber gesamtgesellschaftliche Auswirkungen hat, wurde er mit in den Band aufgenommen.

In ihrem Beitrag klärt Sieglinde Jornitz zunächst einen Irrtum auf, der sich aus der unreflektierten Übernahme des Begriffs »evidence« bzw »evidence-based« aus dem Englischen ergibt: Während im Deutschen »Evidenz« das unmittelbar vor Augen Stehende bezeichnet, ist »evidence« mit »Beweis« zu übersetzen, der auf unterschiedliche Weise geführt werden kann. »Evidenzbasiert« in diesem Sinne ist die auf naturwissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen beruhende Medizin, aus der der Begriff in andere Wissenschaften, u. a. die empirische Bildungsforschung, übertragen wurde, wo er indes Probleme aufwirft, die Jornitz sowohl systematisch als auch an einem prägnanten Beispiel näher analysiert.

Jornitz dekonstruiert den Anspruch evidenzbasierter Forschung auf wahre objektive Erkenntnis mit einem Beispiel aus der empirischen Bildungsforschung über den Zusammenhang von Klassengröße und Lernleistungen, das deutlich zeigt, dass und warum die behauptete Evidenz im Bereich der Sozialforschung Illusion bleiben muss. Das entscheidende Dilemma besteht darin, dass die empirische Bildungsforschung nur Korrelationen, aber keine Kausalitäten ermitteln kann, auf die es aber ankäme, wenn man daraus eindeutige Schlüsse für politisches Handeln ableiten wollte.

Literatur

Bröckling, U., Krasmann, S. & Lemke, T. (Hrsg.) (2013a): Glossar der Gegenwart (5. Auflage). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Bröckling, U., Krasmann, S. & Lemke, T. (2013b): Einleitung (5. Auflage). In: dies. (Hrsg.), Glossar der Gegenwart (5. Auflage) (S. 9–16). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Dammer, K.- H. (2022): Theorien in den Bildungswissenschaften. Opladen, Toronto: Budrich.

Dzierbicka, A. & Schirlbauer, A. (Hrsg.) (2008a): Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Zertifizierung (2. Auflage). Wien: Löcker.

Dzierbicka, A., Schirlbauer, A. (2008b): Einleitende Bemerkungen. In: dies. (Hrsg.), Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Zertifizierung (S. 10– 12). Wien: Löcker.

Fegter, S. u. a. (2015): Erziehungswissenschaftliche Diskursforschung. Theorien, Methodologien, Gegenstandskonstruktionen. In S. Fegter u. a. (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliche Diskursforschung. Empirische Analysen zu Bildungs- und Erziehungsverhältnissen (S. 9–55). Wiesbaden: Springer.

Feldmann, M. u. a. (2022): Schlüsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. Pädagogisches Vokabular in Bewegung. Weinheim, Basel: Beltz.

Fleck, L. (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Foucault, M. (2013): Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Foucault, M. (2014): Die Regierung der Lebenden. Vorlesungen am College de France 1979–1980 (hg. v. François Ewald, Alessandro Fontana u. Michel Senellart). Berlin: Suhrkamp.

Herbart, J. F. (1982): Pädagogische Schriften (hrsg. v. W. Asmus) (Bd. 2). Stuttgart: Klett.

Keller, R. (2011): Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. Wiesbaden: VS Verlag.

König, E. (1999): Gibt es einheimische Begriffe in der Erziehungswissenschaft? Pädagogische Rundschau, 53, (1), 29–42.

Orwell, G. (2017): 1984 (43. Auflage). Berlin: Ullstein. [ED 1949]

Rieger-Ladich, M. u. a. (2022): Im Begriff, sich zu verändern. Zur Einleitung in das pädagogische Vokabular. In: M. Feldmann u. a. (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft. Pädagogisches Vokabular in Bewegung (S. 7–14). Weinheim, Basel: Beltz.

Terhart, E. (1999): Sprache der Erziehungswissenschaft. Einführung in den Thementeil. Zeitschrift für Pädagogik, 45, (2), 155–159.

Thole, F. & Vogel, K. (2022): Sprache, Wahrheit und Wissenschaft oder: Vom Unabomber zur Sprachforensik zu Ludwig Fleck. Online verfügbar unter: http://netzwerk-ew.uni-goettingen.de/programm/, Zugriff am 12. 08. 2022.

1     Hier und im Folgenden wird abwechselnd von Neusprech-Vokabeln und -Begriffen gesprochen. Gemeint ist dabei im Prinzip immer beides: Die Tatsache, dass es sich um Ausdrücke aus pädagogikfernen bzw. -fremden Bereichen handelt und dass diese nicht nur als bloß bedeutungstragende Wörter, sondern als Gesamtheit spezifischer Vorstellungen und Konzepte in einer gedanklichen Einheit betrachtet werden. Je nachdem, auf welchem Bedeutungsaspekt der Schwerpunkt der jeweiligen Argumentation liegt, kommt einer der beiden Ausdrücke im vorliegenden Text zur Anwendung.

2     Dies wird zum einen mit der Öffnung der Erziehungswissenschaft in Richtung der Sozial- und (neuerdings auch) Kulturwissenschaften, zum anderen mit der Ausdifferenzierung der Pädagogik in verschiedene Teildisziplinen begründet. Die Frage nach den einheimischen Begriffen ergibt sich dabei nicht nur aus der (notwendigen) Verankerung der Erziehungswissenschaft in empirischer Forschung, sondern auch aus dem Umstand, dass die Festlegung von Grundbegriffen nicht einer (zumal philosophisch begründeten) Allgemeinen Pädagogik, sondern zunehmend den unterschiedlichen Teildisziplinen obliegt (vgl. König 1999, S. 30 f.).

3     Vgl. hierzu die umfassende Darstellung der Theorien in den Bildungswissenschaften von Dammer (2022).

4     An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass man im Anschluss an die Arbeiten Foucaults nicht von »der« Diskursanalyse sprechen kann. Vielmehr handelt es sich dabei um eine forschungsmethod(olog)ische Klammer, die sowohl linguistische, historische (archäologische), kulturalistische, wissenssoziologische und (macht)kritische Zugänge einschließt (für einen Überblick vgl. Keller 2011).

5     Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) dokumentiert auch die Worthäufigkeit eines Eintrags im Laufe der Zeit, die sodann in sog. Verlaufskurven abgebildet wird. Es lohnt sich, (nicht nur) die hier zusammengestellten Begriffe einmal einzugeben: https://www.dwds.de.

6     Vgl. hierzu auch die Beiträge von Dammer und Burchardt.

Ein neuer Blick auf das Individuum

Individualisierung

Karl-Heinz Dammer

1          Fallstricke der Individualität

Beim Begriff »Individualität« stellen sich, zumindest in unserem Kulturkreis, in der Regel positive Konnotationen wie »einmalig«, »unverwechselbar«, »originell«, »eigensinnig« etc. ein. Gibt man bei Google die Begriffe »Individuum« und »einzigartig« ein, so stößt man auf eine Fülle von Sinnsprüchen der Art: »Sei einzigartig«, »Sei immer du selbst« oder, wie an dem Stand eines Geschenkartikelladens, den ich in einer kleinstädtischen Fußgängerzone entdeckte:

Abb. 1:    Individualität (eigenes Archivbild)

Im Gegensatz zu den spontanen Konnotationen hinterlassen die zitierten Sinnsprüche einen zwiespältigen Eindruck: Die Sehnsucht nach Individualität ist offenbar ein Massenphänomen; man kann in dem abgebildeten Geschenkeartikelladen zwar eine durch den eigenen Vornamen individualisierte Tasse erwerben, von »Abbigail« bis »Zyprian« sind wir aber alle putzige Robben und insofern keineswegs »etwas ganz Besonderes«. Außerdem scheinen wir bei der Suche nach Individualität einem gewissen Druck zu unterliegen, sonst bräuchte man uns nicht imperativisch anzusprechen (»Sei einzigartig«). Wir mögen zwar alle mit einzigartigen Anlagen auf die Welt kommen, dies reicht aber offenkundig nicht, um gesellschaftlich als Individuum adressiert zu werden. Individuum werden wir erst, wenn wir uns selbst dazu machen; nur unter dieser Voraussetzung ist es überhaupt sinnvoll, von »Individualisierung« zu sprechen. Warum aber dieser Zwang?

Einen wesentlichen Grund dafür offenbart folgender Buchtitel: »Sei einzigartig! Wie Sie als Jungunternehmer erfolgreich werden.«1 Warum der Unternehmer einzigartig sein muss, ist nicht schwer zu erraten, denn nur mit originellen Ideen und deren Umsetzung in Produkte kann er auf dem Markt gegen die anderen einzigartigen Unternehmer bestehen, und diese Originalität muss er auch in seiner Person repräsentieren, woraus folgt, dass letztlich die Marktgesetze darüber bestimmen, wie Individualität zu inszenieren ist. Dies gilt nicht nur für den Unternehmer, sondern letztlich mehr oder minder für alle Menschen, die sich mit ihrem individuellen Profil auf dem Arbeitsmarkt behaupten müssen. Wer nicht besonders ist, erhöht sein Risiko, ausgesondert zu werden.

Diese Form der Individualisierung hat freilich ihren Preis, den der französische Soziologe Alain Ehrenberg in seinem Buch »Das erschöpfte Selbst« beschreibt: Der Zwang zur individuellen Selbstbestimmung überfordert uns langfristig und ist eine der wesentlichen Ursachen für die Zunahme von Depressionen (Ehrenberg 2004).

Wir sehen also: Individualität und Individualisierung sind offenbar vertrackter, als die vordergründige Emphase es erscheinen lässt, weswegen es sinnvoll ist, einmal genauer nachzufragen, was heute, vor allem im Kontext von Schule und Lernen, mit »Individualisierung« gemeint ist und bezweckt wird. Dazu gilt es zunächst, den Begriff »Individuum« und dessen Verhältnis zur Gesellschaft näher zu bestimmen, bevor die schulischen Konsequenzen der Individualisierung zur Sprache kommen. Ihr liegt ein Verständnis von Individualität zugrunde, das sowohl aus den theoretischen Debatten des ausgehenden 20. Jahrhunderts sowie aus der sozioökonomischen Entwicklung seit Ende der 1970er Jahre resultiert, die kurz dargestellt werden sollen, bevor wir uns der sog. »neuen Lernkultur« zuwenden, deren erklärtes Ziel die Individualisierung von Lernenden ist. Abschließend werden im Rahmen einer kurzen Ideologiekritik einige hypothetische Antworten auf die Frage formuliert, warum die neue Lernkultur so viele Anhänger findet.

2          Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft