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Derzeit begehen wir ein trauriges Jubiläum: Der Erste Weltkrieg begann vor hundert Jahren. In den unzähligen Büchern sowie in den Filmen über dieses Ereignis wird uns der Horror im Felde vor Augen geführt. Im vorliegenden Werk hingegen treffen wir auf eine völlig andersartige Sichtweise, denn das Kriegsgeschehen wird fast unsichtbar, irreal, obwohl der Held selber in Frontnähe steht. Der Stabsarzt, von seinen Familienangehörigen Papsch genannt, ist, das letzte Jahr ausgenommen, die komplette Kriegsdauer über in Belgien stationiert. An seine, in Braunschweig verbliebene, Familie schickt er fleißig Briefe und Feldpostkarten, die hier in Auszügen zitiert werden. Das Kriegsgeschehen, seine Gräuel, das Leiden in den Lazaretten, in denen Papsch die Verwundeten verarztet, finden zur Schonung seiner Familienangehörigen nie Erwähnung. Papsch beschreibt seinen Alltag, seine Behausungen, das fast als luxuriös anmutende Leben eines Offiziers in nicht exponierter Lage, als befände er sich fernab vom Kriege. Nichtsdestotrotz sind Kriegsthemen angeschnitten, wie die anfängliche euphorische Einstellung zu diesem Krieg, die erschwerte Lebensmittelversorgung, die von Regierungsseite ausgesprochenen, aus heutiger Sicht eher bizarren Restriktionen und Verordnungen, nebst den persönlichen Zielen und Erwartungen des Briefautors. Die Briefe verschaffen ebenso einen Einblick in die Gesellschaft und in das Familienleben der ausgehenden wilhelminischen Zeit. Die in den Briefen erwähnten geschichtlichen Ereignisse sind zum besseren Verständnis in den historischen Kontext eingebettet. Darüber hinaus werden namhafte Autoren herangezogen, die die Erlebnisse und die Sichtweise des Briefschreibers bekräftigen und bestätigen. Das vorliegende Werk stellt ein Zeitdokument mit einem völlig ungewohnten Einblick in den Lebensstil eines Offiziers an der Westfront im Ersten Weltkrieg dar.
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Seitenzahl: 308
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Briefe eines Stabsoffiziers
Einleitung
1914: Veni, vidi, vici
1915: „Der Friede steht an“
1916: „Wie steht's mit Helmuts Beförderung?“
1917: „Ist das Fleischpaket angekommen?“
1918 oder das wahre Bangen um den Großen
Emma und Julius als Vorkriegspaar
Julius' Briefwechsel mit Gerold
Das Umfeld für Gerolds Werdegang
Papsch, der sanfte, in seinem Verhältnis zu Klein Eddi
Das bizarre Hoffnungskind Helmut
Papsch und Pipsch, Vater und Tochter
Bibliographie
Im August 1914, als Elfriede 16 Jahre alt ist, bricht der Krieg aus, der für sie insofern eine große Veränderung mit sich bringt, als zwei männliche Familienmitglieder die häuslichen vier Wände verlassen sollen. Es handelt sich um ihren blutjungen Bruder Helmut und vor allem um den Vater.
Dr. Julius Hampe ist Arzt, Spezialist für Nervenkrankheiten. Er hat bereits 1906 von Kaiser Wilhelm II. die Ernennung zum Stabsarzt der Reserve verliehen bekommen. Zu dem Zeitpunkt ahnt er wohl kaum, dass er eines Tages tatsächlich mit seinen Fähigkeiten dem äußerst militaristischen Vaterlande zu Diensten stehen wird. Aber „der Titel des königlich-preußischen Reserveoffiziers war seit den 60-er Jahren (des 19. Jahrhunderts) zur alles entscheidenden Eintrittskarte für die gute Gesellschaft geworden (vgl. Berno J. Lilge, „Erziehung zum Krieg im Deutschen Kaiserreich“, München 1997, S. 2), was im Bürgertum von großer Wichtigkeit war, denn bis dahin hatte überwiegend der Adel das Offizierskorps gestellt: „Im Kaiserreich hätten sich Unternehmer und höhere Beamte aristokratischen Lebensformen angenähert, hätten ihre gewaltigen materiellen Erfolge durch Nobilitierungen, Reserveoffizierspatente und kaiserliche Orden zu veredeln gestrebt“ (s. Andreas Schulz, „Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert“, Oldenburg 2005, S. 69). Und „Führungspositionen in der Zivilverwaltung wurden vornehmlich den Reserveoffizieren vergeben“ (s. B. Lilge, ebd., S. 2), ein weiterer Beweis für die hohe gesellschaftliche Bewertung dieser Auszeichnung.
Bereits im August 1914 begleitet Julius als Stabs- und Bataillonsarzt das Landsturmbataillon I von Braunschweig in feindliches Gebiet. Er kann von Glück reden, denn er betritt als Besatzungsmacht bereits erobertes Land, sodass er keine Kämpfe durchstehen muss. Die über vier Jahre des Krieges wird er keinerlei wirklicher Gefahr ausgesetzt sein, steht immer nur als stiller Beobachter daneben, was nicht bedeutet, dass er und seine Familie es momentan anders sehen und sich Sorgen um den Verteidiger machen. Die meiste Zeit wird er sich im besetzten Belgien aufhalten, in Lüttich und Aywille, später sogar im Heimatlande selbst, in Oldenburg, immer in nicht zu großer Entfernung von Braunschweig, Aufenthaltsort seiner Angehörigen.
Die Jahre der Trennung versucht der Familienvater durch emsiges Briefeschreiben zu überbrücken. Hauptempfängerin ist seine Ehefrau Emma. Von den an sie geschriebenen Briefen sind insgesamt 370 vorhanden, 17 aus dem Jahre 1914, 69 von 1915, 91 von 1916, 93 von 1917, 70 von 1918 und 30 undatierte. Ihre Anzahl war wahrscheinlich noch viel ansehnlicher, wenn man bedenkt, dass er an einzelnen Tagen mehrere Briefe abgeschickt hat, offensichtlich unter Ausnutzung der verschiedenen Postsendungen. Bei diesen Schriftstücken handelt es sich ab Beginn des Krieges um Feldpostkarten, um Ansichtskarten aus den Städten seines Verbleibs und um Feldpostbriefe im normalen Umschlag versandt oder in Form von Spezialbriefen, die in zwei Größen erhältlich waren, ab Mitte 1915 die kleineren in Hellblau und ab ca. März 1916 die größeren in Weiß. Nur auf einer einzigen Postkarte erscheint der Vermerk: „geprüft und zu befördern“. Die Adressatin ist immer als Frau Dr. med. Emma H. angegeben, was klarlegt, wie wichtig ihm Titel sind, in diesem Falle sein eigener. Aber die Übernahme von Titel und Rang des Mannes durch die Ehefrau „in der hierarchischen Bürgerwelt“ war allgemein üblich in der wilhelminischen Zeit (vgl. Thomas Nipperdey, „Deutsche Geschichte“, Band I, München 2013, S. 52). Diese Titelreiterei in Bezug auf andere Personen wird uns noch öfters in seinem Briefwechsel begegnen; vielleicht ist sie es, die verhängnisvolle Folgen für seinen ältesten Sohn heraufbeschwört. Seine eigene Adresse ist die ganze Zeit hindurch als „Landsturmbataillon I, Braunschweig“ bezeichnet. Sein tatsächlicher Aufenthaltsort soll ja geheim bleiben, damit der Feind nicht eventuell die Stellung des Regiments in Erfahrung bringt.
Seine Briefe zeugen von großer Liebe für seine Ehefrau und für seine Kinder. Allein die Vielfältigkeit der Anreden, die er für seine Gattin findet, stellt einen Beweis für seine Zärtlichkeit dar. Er wechselt zwischen „liebes Mimchen“ zu „liebes Mimschen“, von „liebes Frauchen“ oder gar „mein liebes Frauchen“ zu „lieb’ Frauchen“ oder „mein lieb’ Frauchen“, neben „süß’ Frauchen“ oder redet sie ganz einfach mit „liebe Emma“, „liebes Mamachen“ oder schließlich nur mit „meine Lieben“ an. Seiner Kinder gedenkt er meist mit den Worten „liebe Kinderchen“, obwohl sie gar nicht mehr so klein sind, aber die Verkleinerungsform beweist ebenso wie die Vielfalt der Bezeichnungen für die Mutter seine große Zuneigung für sie alle. Auch er selber besitzt einen Kosenamen, den er nicht scheut, als Unterschrift unter seine Briefe zu setzen, von einem einfachen „Papa“ über „Papsch“ bis zu „Papisch“ oder „dein Männchen“. Auch die Kinder tragen ihre Kosenamen: Elfriede nennt er „Pipsch“, meist erweitert zu „mein lieber süßer Pipsch“, der erstgeborene Helmut heißt einfach der „Große“ oder „unser Ältester“, später „der Mann“, während er Edgar, den jüngsten, mit Eddi oder noch liebevoller mit „mein Herzblatt“ erwähnt. Sein drittes Kind, Gerold, spricht er meist mit „Stumpel“ an, während er bei der Adresse, nochmals höchst penibel auf Äußerlichkeiten Wert legend, die Anrede höchst korrekt formuliert, entweder „Herrn Gymnasiast“, „Herrn Quintaner“ (ab 1915), „Herrn Quartaner“ (ab 1916) oder „Herrn Tertianer“ (ab 1917) schreibt. Für die damalige Zeit vielleicht eine recht übliche Anrede, die aber heute vollkommen in Vergessenheit geraten ist.
Auch in der Findung von Schlussworten für seine Briefe zeigt er sich erfinderisch: „Grüße auf vergnügtes Wiedersehen“, „Grüße auf fröhliches Wiedersehen“ oder „Grüße Euch allen mit hoffentlicher baldiger Umarmung“ stammen noch aus den ersten Kriegsmonaten, wo der Kriegsgang allgemein als ein längerer Spaziergang gedeutet wurde. Häufiger steht die Wendung: „Grüße und Küsse von Eurem getreuen Papsch“, auch abgewandelt in „Herzlichste Grüße und süße Küsse“ oder in „Seid alle herzlichst gegrüßt und geküsst von Eurem stets an Euch denkenden Papa“ beziehungsweise in „Herzliche Grüße und Küsse, Euer ständig gedenkend, Euer Papa“ bis zu „So seid alle recht süß geküsst und innigst gegrüßt und träumt recht hübsch und wonnig von Eurem lieben Papisch“. Manchmal ergeht er sich in leicht pikantere Worte, die Emma wohlweislich der Nachwelt nicht erhalten hat, indem sie die Schere an sie ansetzte. So verbleiben nur Andeutungen einer heißen Liebe in Ausdrücken wie „Dein sich sehnendes Männchen“ oder „Herzliche Grüße und innige Küsse“, gekrönt durch „Herzliche Grüße Euch allen, ein besonderer Kuss noch dem ungeduldigsten süßen Edgar und - na, du weißt schon, Euer Papisch“.
Allein schon diese verbalisierten Liebesbekundungen stellen klar, dass Elfriede und ihre Geschwister inmitten wohliger, menschlicher Wärme aufgewachsen sind. Der Vater erkundigt sich ständig und voller Ernst gemeintem Interesse nach ihrem Wohlbefinden und ihren Fortschritten.
Da die größte Anzahl der Briefe der Gemahlin Emma gelten, sind in ihnen die interessantesten Informationen beispielsweise über die Kriegssituation enthalten. Der Rest der Familie ist selbstverständlich als Mitleser einkalkuliert. Somit befasse ich mich als erstes mit diesem Konvolut von immerhin 370 Briefen.
Wir Wilhelm
von Gottes Gnaden
König von Preußen etc.
Thun kund und fügen hiermit zu wissen: Nachdem wir resolviret haben, den Oberarzt der Reserve im Landwehrbezirk Braunschweig
Dr. Julius Hampe
wegen seiner guten Eigenschaften und erlangten militärärztlichen Kenntnisse zum Stabsarzt der Reserve in Gnaden zu ernennen und zu bestellen, so thun wir solches auch hiermit und in Kraft dieses Patents dergestalt dass uns und Unserem Königlichen Hause derselbe ferner getreu, hold und gehorsam sein, Unsern Nutzen und Bestes überall suchen und befördern, Schaden und Nachtheil aber verhüten, warnen und abwenden; was ihm von seinen Vorgesetzten aufgetragen und anbefohlen wird, bei Tag und bei Nacht, zu Lande und zu Wasser, mit Fleiß und Application ausführen, auch bei allen vorkommenden Kriegsbegebenheiten mit williger und ungescheueter Daransetzung seines Leibes und Lebens sich ferner dergestalt verhalten und bezeigen solle, wie es einem getreuen Diener und rechtschaffenen Sanitätsoffizier eignet und gebühret, auch dessen Eidespflicht es gemäß ist, Dagegen wollen Wir Unsern nunmehrigen Stabsarzt Dr. Hampe bei diesem Dienstgrade und allen damit verbundenen Praerogativen jederzeit in Gnaden schützen und mainteniren.
Das zu Urkund haben Wir dieses Patent Eingenhändig unterschrieben und mit unserem Insiegel bedrucken lassen. So geschehen und gegeben
Bonn, den 16. Oktober 1906 Ll
Wilhelm
Patent
als Stabsarzt der Reserve für den bisherigen Oberarzt der Reserve
Dr. Hampe
Der Stimmung der deutschen Allgemeinheit in Anbetracht dieses Krieges unterliegt auch Julius. Es herrscht die Überzeugung, das mächtige Deutschland werde die Feinde in Windeseile besiegen. Julius strotzt über vor Übermut und Stolz, die ihn dazu verleiten zu Kriegsbeginn, am 24.8.1914, zu schreiben:
„Soeben den Vater Rhein überfahren! Großartige Stimmung! Überall begeistert aufgenommen...! Große Dinge sind wieder gemeldet. In 8 Tagen werden wir in Paris sein!!!“
Den Enthusiasmus der deutschen Bevölkerung, das so genannte „Augusterlebnis“, gibt Stefan Zweig sehr eindringlich in „Die Welt von gestern“ wieder. Er zeigt auf, dass ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl sie eint, es keine sozialen Unterschiede mehr gibt, alle gleichgestellt sind, jeder einzelne zum Helden werden kann, sich Fremde nunmehr grüßen, da sie ein Volk sind. Männer in Uniform flössen selbstverständlich Ehrfurcht ein. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf Deutschland: Auch in Frankreich dominiert die gleiche Begeisterung für den Kampf. In beiden Ländern beteiligen sich die Sozialisten der Regierung an den Kriegsplanungen, sodass man in Deutschland die Absichten fallen lassen kann, die Sozialisten bei Kriegsausbruch einzusperren.
Der Krieg wird irrtümlicherweise als Erlösung aus der Erstarrung und Langeweile des Friedensdaseins empfunden. So sehen es viele Maler und Dichter wie Georg Heym, Hermann Hesse und sogar Rilke, obwohl die meisten nach Erfahrung der Realität ihre Meinung revidieren werden (vgl. Gunther Mai, „Das Ende des Kaiserreichs“, München 1997, S. 14 ff.). Max Beckmann, einer der vielen Freiwilligen unter den Künstlern, in Belgien als Sanitäter eingesetzt, „zeitweilig dicht hinter der Front“, findet keine Erwähnung von dem in seiner Nähe stationierten Julius! (s. W. Mommsen, „Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde 1870 – 1918“, Frankfurt 1994).
Am deutlichsten äußert sich Thomas Mann in seinen „Gedanken zum Kriege“ zur Gemütslage:
„Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte! Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung!“ Wohlbemerkt erst im Frühjahr 1915 niedergeschrieben! (zit. nach Mommsen, ebd. S. 130)
Allgemein scheint die Auffassung Victor Klemperers vertreten zu sein: „Geht es wirklich um Deutschlands Existenz - und es scheint doch darum zu gehen -, dann muss eben der letzte Mann heraus“ (V. Klemperer, „Curriculum Vitae“, Berlin 1996, S. 180). Und konsequenterweise meldet sich dieser Dr. phil. freiwillig! Aber er ist offensichtlich nicht der einzige, der auf diesen Gedanken kommt: „Auch er (ein Bekannter) erzählte, es würden massenhaft Freiwillige entlassen, weil alles überfüllt sei“ (ebd. S. 186). Und woher stammt diese Begeisterung? Klemperer fasst die Empfindung in Worte: „Das märchenhafte Gefühl, in einer großen historischen Epoche wie der napoleonischen zu leben, von dem ich früher phantasiert habe!“ (ebd. S. 207) Ja, Deutschland macht Geschichte, nur eine erbärmliche, in der das Leichenzählen Bücher füllen wird!
Ein weiterer Grund für die Befolgung des Marschbefehls liegt in der „Autoritätsfixierung“ und im „Systemmodell des Obrigkeitsstaats“, dem sich das wilhelminische Bürgertum unterworfen hat (vgl. A. Schulz, ebd. S. 58). Diederich Heßling, der Held des 1914 erschienen zeithistorischen satirischen Romans von Heinrich Mann, spricht von seiner „treudeutsche(n) und kaisertreue(n) Gesinnung“, von seinem „echt deutsche(n) Charakter“, dass „einzig unser scharfes Schwert... unsere Stellung in der Welt (sichert), und es scharf zu erhalten, ist der Beruf Seiner Majestät des Kaisers!“ (s. Heinrich Mann, „Der Untertan“, Ulm 1983) Die Machtstellung des Militärs ist so omnipräsent, dass sich 1906 ein Friedrich Voigt als „Hauptmann von Köpenick“ bedingungslosen Gehorsam verschafft!
Für viele bedeutet der Krieg auch, dass man etwas von der Welt, zumindest der um Deutschland befindlichen, sehen wird. Man kommt auf diese Weise hinaus. So schildert es auch Victor Klemperer in seinem zitierten autobiografischen Werk: „Die andern strebten alle hinaus, mit der Begründung, dass es draußen „etwas zu sehen“ und weniger Drill (als in der Kaserne) gebe...“ (ebd. S. 305). Julius hatte zwar schon einiges von seiner Heimat näher kennengelernt, denn sein Medizinstudium verlegte er von einer Universität in eine andere, von Gießen über Leipzig nach München, eine vielleicht für die damalige Zeit angebrachte Usanz, da man wohl nicht alle Spezialgebiete seines Faches in einer Stadt antraf. Dennoch erfüllt ihn bei der Überquerung des Rheins, des urdeutschen Flusses, ein besonderes Gefühl, und anscheinend nicht nur ihn allein, sondern die ganze Mannschaft mit ihm. Natürlich soll sich die Hoffnung, Paris im Handumdrehen einzunehmen, im Nichts auflösen: Die deutsche Armee erreicht dieses Ziel überhaupt nicht.
Begonnen hatte der Krieg zwar mit ganz anderen Objektiven, nach Osten ausgerichtet, aufgrund der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gemahlin in Sarajevo durch einen serbischen Fanatiker am 28. Juni 1914. Einen Monat später erst erfolgte die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Da Serbien aber zu Russlands Interessensgebieten zählte, mobilisierte das Zarenreich seine Truppen, was wiederum zur Mobilmachung Deutschlands, des Verbündeten Österreichs führte. Am 1.8.14 erfolgte die Kriegserklärung des Reichs an Russland; marschiert wurde dann aber in die entgegengesetzte Richtung, nach Belgien, denn Berlin hatte auch Frankreich am 3.8.14 den Krieg erklärt. Es galt nämlich den aus dem Jahre 1905 stammenden Plan Schlieffens durchzuführen, der die Einnahme von Paris nach der Belgiens inszeniert hatte. Gewählt wurde dieser Weg über das neutrale Belgien, weil ein direkter Angriff Frankreichs über die Ardennen aufgrund der bergigen Beschaffenheit der Region für die Truppen sehr aufreibend gewesen wäre. Der Plan enthielt aber das große Risiko, dass England nicht untätig zuschauen würde. Und tatsächlich reagierte Großbritannien am 4.8. prompt mit der Kriegserklärung an Deutschland. Die Deutschen stießen am 30.8.14 bis an die Marne vor und bedrohten Paris, zogen sich aber furchtsam am 11.9. wieder zurück. Auf diese kommenden Ereignisse bezieht sich Julius siegessicher. Die Einnahme des unbeteiligten Belgiens hingegen glückte und war am 15.10.14 vollendet. Der Kriegsgrund, Serbien, scheint zumindest für die Deutschen in Vergessenheit geraten zu sein. Der eigentliche Serbienfeldzug wird erst am 6.10.15 starten und mit der vollständigen Eroberung des Königreichs inklusive Montenegros und Albaniens innerhalb von ein paar Wochen vollzogen sein. Die Ausweitung des Krieges auf mehrere Gebiete findet ihre Erklärung im Streben nach einer Großmachtstellung, denn „nur wer über ein Großreich – ein Imperium – verfügte, so lautete die gängige Vorstellung, konnte im bevorstehenden 20. Jahrhundert Weltmacht sein und sich im angenommenen Daseinskampf der Völker behaupten“ (s. L. Grevelhörster, „Der Erste Weltkrieg und das Ende des Kaiserreiches“, Münster 2004).
Im nächsten Brief, vom 31.8.14, hat Julius auch schon Kriegswirklichkeiten zu berichten, die ihn selber erschaudern lassen:
„Bevölkerung zahm, ganz verarmt. Heute über Dörfer geritten, deren Häuser bis auf einige wenige die weißen Fahnen aufgesteckt hatten, zusammengeschossen und ausgebrannt sind. Interessant, aber schauerlich. Wundervolle Gegend hier, wie im Harz; wir sind wie im Kurort (Aywille).“
Der Krieg zeigt seine Monsterseiten. Das Spielchen beginnt ernst zu werden. Das Leiden ist angedeutet, obwohl Julius sich nie näher damit befassen wird, weil er ja nicht an die Front kommt, sondern im Gegenteil das Glück hat, sozusagen zur Nachhut zu gehören, die bloß die „Früchte“ der Krieger zu ernten hat. Über seine Kranken verliert er auch später kein Wort, vielleicht um seine zarte Familie zu schonen, denn er muss doch im Lazarett Gräuel erlebt haben.
In diesem frühen Schriftstück findet bereits eine Beschäftigung Erwähnung, die ihn auch in den folgenden Jahren angenehme Stunden bereiten wird: Das Reiten.
Der nächste mehrseitige Brief vom 7.9.14 stammt ebenfalls aus Aywille, Ortsnamen, den er nicht scheut, im verschlossenen Umschlag als seinen Aufenthalt anzugeben.
Seine Überheblichkeit hat in dieser kurzen Zeit sogar zugenommen:
„Ja, wir sind hier die Herren, auch die Kohlen haben wir dem Wirt geliefert.“
Oder: „Wir sind Herren hier und fühlen uns auch als solche.“
Das Herrenvolk macht sich schon um einige Jahrzehnte verfrüht bemerkbar! Die Selbstsicherheit ist allgegenwärtig, so auch als Begleittext auf einer handkolorierten Postkarte zur Beschießung der Festung Namur mit der Abbildung einer Riesenkanone:
„Der Weltkrieg 1914
Die Einnahme der belgischen Festung Namur.
25. August 1914
Nach Lüttich die Festung Namur! 9 starke Forts bildeten einen schwer bezwingbaren Gürtel um die davon eingeschlossene Stadt. Aber die Belgier hatten die Rechnung ohne die hier in Tätigkeit tretenden neuen, die Welt in Staunen setzenden Kruppschen Riesengeschütze gemacht, deren 42 cm-Geschosse Betonmauern, Felsen und Panzertürme umblasen und fortfegen. Oft genügte ein einziger Schuss, um einen Panzerturm wie eine Rakete in die Luft zu sprengen! Am 21. August abends begann die Beschießung, am 24. August waren 5 Forts und die Stadt Namur in deutschem Besitze, und am 25. August brachen auch die letzten 4 Forts zusammen!“
Eine den Patriotismus schürende Schilderung aus den ersten Kriegstagen, in der die Kriegsdauer noch auf das Jahr 1914 beschränkt gesehen wird!
Julius berichtet über Truppenbewegungen:
„Freilich gibt’s häufig starke Stockungen im Zugverkehr, wenn Zug auf Zug mit Soldaten hier vorbei ins Feld fahren, da liegen oft 7 und mehr Züge vor dem Bahnhofe und können nicht weiter, zumal das Signalsystem hier noch vorsintflutlich (ohne Blocksystem) und die Weichen nicht halten, die ganze Bahn überhaupt eingleisig ist.“
Eine herbe Kritik am technischen Rückstand der Belgier, obwohl sie zu den Pionieren der industriellen Revolution gehört hatten. Bei Kriegsausbruch erwirtschaftete dieses kleine Land aber nur 2,0 % der industriellen Weltproduktion, Deutschland hingegen 15,7 %. (s . C. Gispert, Hrsg., „Historia Universal“, Band 4, Océano Verlag, Barcelona 1998, S. 905)
Die Verachtung des Feindes finden wir auch beim schon zitierten Romanisten Klemperer: „Ich glaube doch, dass der Volksdurchschnitt bei uns ein besserer ist als anderwärts. Wenn ich mir die Enge französischen Volksdenkens vorstelle! Von allem, was außerhalb Frankreichs liegt, haben sie keinen Schimmer; die Pariser kennen überhaupt nur Paris“ (ebd. S. 194).
Aber es kommt noch heftiger von Julius:
„Bei unserer Ankunft sahen wir noch belgische Lokomotiven in den zahlreichen Tunnels des gebirgigen Landes. Die dummen Belgier glaubten, wenn sie die Tunnel verstopften, könnten die Deutschen nicht hindurch. Sie hatten es gar nicht dumm angefangen: Sie hatten bei Doppelgleisen die Schienen ein wenig verbogen, dann zwei Maschinen auf den beiden Gleisen sich mit voller Kraft entgegenlaufen lassen, so dass sie sich schräg vorn fassten und seitwärts geschleudert den Tunnel verstopften; so machten sie es mit z. T. 7 Maschinen hintereinander. Sie waren aber sehr erstaunt, die Herren Belgier, als die Deutschen mit ihren eigenen Lokomotiven kamen und die belgischen einfach herausholten. „Ja“, haben sie verwundert ausgerufen, „wenn Ihr alles mitbringt, was Ihr braucht, dann könnt Ihr wohl Krieg führen.“
Und ihre Augen wurden immer größer, als sie die unendlichen Militärzüge erblickten, die nun sich häuften, mit den fröhlichen, kampfbegierigen jungen kräftigen Gestalten, die drei dumme Belgier in eine Faust nahmen, und nicht fassen konnten sie, woher die vielen Gefangenen, die nun wieder zurück aus dem Feld kamen, denn genommen sein konnten, und Angst hatten sie, auf den Knien lagen sie, um die gefangenen Verwandten noch einmal zu sehen, denn sie waren überzeugt, dass jene in Deutschland nun würden erschossen werden; überglücklich waren sie, als sie sich endlich überzeugen ließen, dass das ja Blödsinn sei und dass ja ihre Leute in Deutschland gut behandelt und verpflegt würden.“
Julius schreibt wie im Rausche. Er kann gar nicht aufhören über die Dummheit der Belgier zu berichten, seine Sätze verheddern sich, so ungeduldig und aufgeregt wirkt er bei seiner Schilderung. Er ist noch ganz in Rage gegen sie, die schon die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges zu erahnen scheinen. Dabei ist er immer noch voller Enthusiasmus für sein eigenes Volk, blickt stolzen Auges auf die deutsche Jugend, ohne das Opferlamm in ihr sehen zu wollen. Auf dieselbe Art wird er über seinen Soldatensohn Helmut sprechen, bis das Schicksal ihn auserwählt...
Sabotageakte sowie belgische Franktireurs waren äußerst gefürchtet, so dass es auch zu Überreaktionen der deutschen Soldaten bei unbedeutenden Zwischenfällen kam. „Am schlimmsten war die Erschießung von sechshundert Zivilisten in Dinant (Belgien) am 23. August (1914), als Antwort auf angebliche, nie nachgewiesene Guerilla-Aktionen gegen die deutschen Truppen“ (s. Wolfgang Mommsen, ebd., S. 120).
Der Privatdozent Klemperer schreibt mit ähnlicher Begeisterung über das deutsche Potenzial: „Welch ein unerschöpflicher Soldatenreichtum - Millionen im Felde, und noch Millionen zu Haus!“ (ebd., S. 203) Aber all diese Millionen werden nicht ausreichen! Obendrein beschränkt sich die Truppenstärke der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn zu Kriegsbeginn auf 3,7 Millionen Mann, während die Alliierten, Frankreich, Russland und Großbritannien, 5,8 stellen! (s. Ludger Grevelhörster, „Der Erste Weltkrieg und das Ende des Kaiserreiches“, Münster 2004, S. 42 – 43).
Stolz ist Julius aber auch auf den deutschen materiellen Reichtum: Die Eisenbahn zählt zu den großen Errungenschaften der letzten Dekaden. Sie war der Motor der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, da sie den Transport der Arbeitermassen sowie des Rohmaterials in die Industriewerke ermöglichte. Und Julius gehört zu diesem wohlhabenden Volk, das damit alle Voraussetzungen erfüllt, den Krieg erfolgreich zu gewinnen. Aber gerade an Material wird es dem deutschen Reiche in diesem Kriege fehlen durch die Seeblockade, die England ab Februar 1915 errichtet. Julius freut sich zu früh, denn der Riegel Großbritanniens wird sich auch als Hungersnot in der deutschen Bevölkerung stark bemerkbar machen. Aber Tatsache ist, dass Deutschland zu Kriegsbeginn „bereits zu den weltweit führenden Industriestaaten (zählte). Die Industrialisierung des Landes hatte später als in anderen westeuropäischen Staaten wie England oder Frankreich eingesetzt, war dann aber umso dynamischer vonstattengegangen. Besonderen Anteil daran hatten neben der Eisen- und Stahlindustrie die elektrotechnische und – mehr noch – die chemische Industrie, die in den 1890er Jahren zu neuen Leitindustrien aufgestiegen waren und die so genannte zweite Industrielle Revolution mit Macht vorantrieben. Zwischen 1870 und 1913 stieg die Industrieproduktion in Deutschland infolgedessen um mehr als das Vierfache; seit 1880 betrugen die jährlichen Steigerungsraten durchschnittlich 5,3%... Im Jahr 1912 entfielen schon 12,1% des Welthandels auf Deutschland. Das Reich war damit im Begriff, das industrielle Pionierland Großbritannien an ökonomischer Kraft zu übertreffen und sich neben den USA zur ersten Weltwirtschaftsmacht zu entwickeln. Bei den Deutschen erzeugte der unbestreitbar rasante wirtschaftliche Erfolg verbreitet Gefühle von Stolz und ausgeprägter Selbstgewissheit.“ (s. Ludger Grevelhörster, ebd. S. 5)
Julius fährt weiter mit einer psychologischen Analyse des Feindes, immerhin aus der Feder eines Nervenarztes:
„Ja, die Bevölkerung ist hier sehr dumm und ungebildet. Trotz alle dem von ihr Geschauten, trotz unserer Proklamationen über unsere Züge glauben sie lieber den Lügengeschichten ihrer Verführer, dass die Franzosen in 3 Wochen hier sind und die Deutschen dann vertreiben würden. Dass Franzosen und Engländer ausgerissen, dafür hatten sie nur ein: „Ce n’est pas vrai!“ („Das ist nicht wahr!“)
Es ist den Belgiern wohl kaum zu verdenken, dass sie noch Hoffnung auf Rettung schöpfen. Und sie versuchen, sich in der Form von Sabotage zu wehren, durch das erwähnte Verstopfen der Tunnels und weiterhin:
„Die eiserne Soldatenfaust machte sich alsbald geltend. 4 Pfarrer wurden festgenommen unter dem Verdacht, falsche Nachrichten verbreitet zu haben; es konnte ihnen nichts bewiesen werden, aber sie bleiben unter Bewachung... Am anderen Morgen wurde das Schloss nebst Stallgebäude und einem Bauernhause niedergebrannt, gerade als die Schlossbesichtiger aus Lüttich (also die Deutschen) ankamen (Die Schlossfrau ist sehr verdächtig der Anstiftung zum Mord).“
Trotz dieser Gräueltaten, die bestimmt allerseits gleichermaßen durchgeführt wurden, schreibt der Bruder des Schriftstellers Klemperer an diesen voll Begeisterung: „Über alles Grausige triumphiert bisher in mir das Erhebende, die Herrlichkeit des Krieges“ (ebd., S. 201). In seiner Verblendung steht er bestimmt nicht alleine da.
Und so siegestrunken ist der Offizier Julius, dass er es nicht abwarten kann, bis sein Sohn Helmut Karriere beim Militär gemacht hat:
„Wenn Helmut schon Offizier wäre, könnte er meinen Husarensäbel mitnehmen.“
Einige Jahre später wird er sich ebenfalls lamentieren, aber aus einem anderen Grunde, was ihn dennoch nicht daran hindert im nächsten Brief nachzufragen: „Hat er feldgrüne Uniform?“ Fragen einer aufs Militär ausgerichteten Mentalität, die ihn wiederum ausrufen lässt: „Da kannst Du doch stolz sein; 2 Männer im Felde!“ Emma ist zweifelsohne zwischendurch stolz, aber in erster Linie macht sie sich als Mutter und Ehefrau Sorgen um ihre Männer, die sie viel lieber neben sich in Sicherheit wähnt.
Es ist eine Zeit, in der die Ehre noch eine große Rolle spielt und die Aufopferung des Soldaten eine Selbstverständlichkeit darstellt. Der Kodex verbot es, vor feindlichem Feuer Deckung zu suchen, und ein Offizier ging seiner Abteilung mit erhobenem Degen in der Hand voraus. Auf diese Weise wurde die deutsche Führungsschicht im 1. Weltkrieg dahingeopfert. Aber auch die Feinde, wie beispielsweise Winston Churchill, lobten die deutschen Truppen mit ihrem ungebrochenen Kampfesgeist, der trotz der Ferne zur Heimat anhielt. Der Brite T. E. Lawrence, der die Araber in Syrien, Palästina und Arabien gegen die Herrschaft des Osmanischen Reiches aufgewiegelt hat, bringt in seinem Werk „Der Aufstand der Wüste“ seine Bewunderung über die Nervenstärke des deutschen Soldaten und über sein geordnetes Auftreten auf dem Schlachtfeld zum Ausdruck.
Am 16.10.14 muss Julius auch gestehen:
„Hier kommen jetzt wieder viele Züge mit Gefangenen und Verwundeten durch. Wir helfen auf dem Bahnhof nach Möglichkeit.“ Also auch auf der deutschen Seite Verluste. Trotzdem ruft er aus: „Zu tun ist wenig oder gar nichts.“
Dann die Beschreibung der Franzosen und der Engländer:
„Die Franzosen mit ihrem weiten roten Rock und langen blauen Schoßröcken sehen ganz unmilitärisch aus, sie sind sehr friedlich und gewöhnlich froh, gefangen zu sein, haben gar keine Wut auf die Deutschen, umso mehr auf die Engländer, die ihnen das ganze Elend gebracht haben, was sie jetzt einsehen. Englische Gefangene kriegt man nicht mehr zu sehen, auf die herrscht solch Ingrimm, dass sie kein Pardon mehr erhalten, sondern regelrecht abgemurkst werden. Es ist mir wiederholt erzählt worden, dass die Hauptleute ihren Mannschaften gesagt haben: „Wer mir einen gefangenen Engländer bringt, kriegt 3 Tage Arrest.“ Die Bayern sollen 10 m vor der englischen Bande das Gewehr weggeworfen, den Rock ausgezogen und mit dem Messer auf sie losgegangen sein. Eine Truppe Bayern hatten 200 englische Gefangene zu transportieren, sie kamen aber nur mit 7 an ihrem Bestimmungsort an. Gefragt, wo denn die anderen 193 wären, haben sie geantwortet, die hätten unterwegs einen Herzschlag gekriegt. Na, den „Herzschlag“ kann man sich denken!“
Ob dies wohl möglich gewesen sein kann? Die gewöhnlichen Gräueltaten eines Krieges? Anscheinend schon, denn V. Klemperer erwähnt die gleiche Anekdote mit nur leicht veränderten Zahlen (vgl. ebd. S. 216). Julius scheint aber das Ganze nicht weiter zu beeindrucken. Keinen Ton der Entrüstung lässt er verlauten. Julius, der typische Soldat?
Dann wieder über die verhassten Belgier:
„Unsere Belgier sind eine saudumme Gesellschaft. An unserem Siege glauben sie immer noch nicht, nur ihre Lügengeschichten; sie sind überzeugt, dass wir wieder hinausgeworfen werden; wenn Franzosen in Eisenbahnzügen hier durchkommen, winken sie ihnen zu und werfen Kusshände. Auf den Bahnhof dürfen sie natürlich nicht, abends 9 Uhr darf keiner mehr auf der Straße sein. Wir halten sie im Druck und sie sind sonst auch ganz artig.“
Mal wieder liegt Julius im Irrtum und es sind die Belgier, die Recht behalten werden. Er sollte den Tag nicht vor dem Abend loben, was er dennoch auch am 13. November 1914 tut: „Der Sieg ist sicher unser.“ Oder: „Über April 1915 hinaus wird überhaupt der Krieg nicht dauern.“
Diese war die Einstellung der Kriegsführung, die einen Blitzkrieg zu führen gedachte, denn für einen längeren Krieg fehlte Deutschland die Versorgung an Material und Lebensmitteln. Aber diese Sichtweise war eigentlich seit der Niederlage bei der Marneschlacht vor Paris begraben. Dennoch gehört dieses Gefühl des Stolzes, das alle bisherigen Briefe von Julius durchzieht, in den damaligen Zeitgeist, was Sebastian Haffner, den berühmten Journalisten zu folgenden Kommentar verleitet: „Die Deutschen waren damals die führende Macht Europas. Während es in England nur noch langsam, in Frankreich noch langsamer vorwärtsging und Russland noch ganz in den Anfängen der Industrialisierung steckte, wurde Deutschland in technischindustrieller Hinsicht in reißendem Tempo modernisiert und war darauf auch ungeheuer stolz. Leider setzte sich das alles oft in bramarbasierende, übermäßig selbstbewusste, selbstliebende Haltung um, die einem heute, wenn man die damaligen Äußerungen liest, etwas auf die Nerven fällt“ (S. Haffner, „Von Bismarck zu Hitler“, München 1987, S. 89).
Im gleichen Brief ein Bericht der Privilegien:
„In den großen Städten (Lüttich usw.) hatten die meisten Offiziere ihre Frauen bei sich; jetzt aber sind letztere alle ausgewiesen, und das ist schließlich recht so, denn damit wird den Mannschaften ein untröstliches Beispiel gegeben.“
Und weiter geht es mit der Schilderung seines Tagesablaufs, d. h. jenes eines Stabsarztes:
„Ich schlafe gut aus, vor halb neun Uhr stehe ich gewöhnlich nicht auf, wenn nichts Ärztliches passiert ist (anfangs waren wir eifriger, haben schon morgens 7 Uhr geritten). Dann trinke ich meinen Kakao, der eine oder andere Kamerad kommt. Um halb elf gehe ich ins Revier, d. h. mein Lazarett, die Kranken zu besichtigen und neu aufzunehmen. Ich kann mir den Dienst hier einrichten, wie ich will, da ich als Bataillonsarzt ganz selbstständig bin. Auch die mancherlei schriftlichen Sachen werden erledigt. Manchmal dauert es bis zum Mittagessen (1 Uhr), häufig aber bin ich früher fertig. Nach dem Essen, das gewöhnlich gut ist, und der Stärkung durch unseren vorzüglichen Rotwein, kommt die Zigarre und dann die Siesta. Von 4 bis 6 Uhr wird geritten mit Kameraden oder mit einem - auch zwei - Burschen, da ich ja 3 Pferde habe (auch gelegentlich reite ich noch andere). Ein hübscher Ritt auf Pferdes Rücken in die herrliche Natur hier, in die Berge und über die Dörfer bei bisher prächtigem Himmel, in wunderbaren Abendlandschaften erfrischt Körper und Geist.“
Man könnte fast vergessen, dass es sich um einen Bericht sozusagen aus dem Kriegsgemetzel handelt. Man glaubt sich eher in eine Urlaubsschilderung versetzt, in der die maximal zweieinhalb Stunden Dienst eine willkommene Abwechslung darstellen. Wie passend doch das spanische Wort „Siesta“ zu seinem Leben als „Gaucho“ wirkt, der immerhin auch eine Art Uniform trägt. Das gute Leben, das Offiziere während des Krieges führen, ihr gutes Essen und die Möglichkeit, sich vor exponierten Taten zu drücken, werden den Hass des gemeinen Soldaten oder einfach des Mannes dermaßen schüren, dass die aufgestaute Wut sich berechtigterweise in Form der Rebellion und des Ungehorsams gegenüber den Offizieren am Kriegsende, in der Revolution der Soldatenräte äußern wird. Auch Klemperer erwähnt, dass „auf hundert böse Äußerungen über die Offiziere höchstens eine freundliche kam und dass diese eine unfehlbar den Zusatz erhielt: „Der ist anders als die andern“ (ebd. S. 372).
Unterdessen braucht sich Emma wahrhaftig keine Sorgen mehr um ihr „Männchen“ machen, das nicht nur gut speist, sondern auch noch mit guten Weinen verköstigt wird. Kein Wunder, dass es ihn zumindest in den ersten Kriegsmonaten nicht zu stark nach Hause zieht. Er liefert auch eine Erklärung dafür, dass die Weine so exzellent sind:
„Wir essen vorzüglich und trinken die feinsten Weine aus den vielen Schlössern hier.“
Wein als Beute- beziehungsweise Diebesgut!
Aber weiter geht es mit der Beschreibung des Ausritts:
„Ich reite jetzt ohne Waffen, die Einwohner sind vernünftig und haben uns schätzen gelernt, sie rühmen es, dass aus unserer vortrefflichen Kompagnieküche die Armensuppe und das Brot verabfolgt wird (dafür müssen die Frauen Kartoffeln schälen); man weiß das weit ins Land hinein. Die „Blauen“ (das sind wir) schätzen sie als gute Leute, aber die „Grünen“ (unsere Vorgänger, Sachsen) haben sie nicht geliebt. Wir mussten ihnen ja freilich auch alles wegnehmen, Rinder, Pferde, Getreide, Betten und alles mehr, aber es geschah auf nette Weise, da wurde es ihnen nicht fühlbar. Jetzt sogar, wo wir Verpflegungsgelder bekommen, erhalten sie alles bezahlt (anderen wurde nur ein Gutschein ausgestellt) - leider sind letztere wieder auf die Hälfte herabgesetzt, da die großen Städte die Kriegskontribution nicht bezahlt haben, statt 12,- Mk. mehr bekomme ich jetzt nur 6,- Mk. täglich, dazu aber noch 655,- Mk. Gehalt. Die Leute sind sehr freundlich, grüßen nett, auch die Weiber - das ist sehr ulkig - durch Anlegen der Hand an die Schläfe, ob sie einen Hut aufhaben oder nicht. Mich kennt die ganze Bande als Monsieur le docteur...
Nach dem Reiten wird eine Zigarre geraucht, zur Abkühlung auch noch ein Glas Bier - wir haben jetzt deutsche Biere, die wir aus Lüttich mit dem Kompagniewagen holen - vertilgt; ein paar Karten werden geschrieben oder die Zeitung gelesen bis zum Abendessen, wenn nichts Ärztliches mehr zu erledigen ist. Nach dem Essen sitzen wir noch ein bisschen beisammen beim Glase Bier, ich lege Leutnant Jakobi im Schachspiel hinein oder dergl.“
Krieg als geselliges, vergnügliches Beisammensein, bei dem es den Beteiligten an nichts zu mangeln scheint. Wo bleibt die Realität der uns gezeigten Filme über den Ersten Weltkrieg? Alles phantasiert oder hat Julius nur einfach Glück? Er ist ja auch kein Soldat, der in den Kampf ziehen soll, aber seiner ganzen Kompanie scheint es kaum schlechter zu gehen als ihm selber. So etwas wie Luxusdasein inmitten eines Tränentals, das in Werken wie Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ oder in Ernst Jüngers „Unter Stahlgewittern“ mit den schauderhaften Schilderungen der erfolglosen Stellungsschlachten in den Schützengräben dargestellt ist.
Trotz seines Soldatentums hofft Julius immer auf baldigen Frieden:
„Heute waren Leute von uns in Lüttich, um Sachen zu holen, die trafen einen von unseren Husaren, die vor Reims liegen. Der sagte, sie seien schon lange untätig, Frankreich habe an England das Ultimatum bis 23. des Monats gestellt, 250.000 Mann zu schicken, sonst müssten sie Frieden machen. Endlich scheinen die Franzosen einzusehen, wie sie von den niederträchtigen Briten betrogen sind; vielleicht gehen sie mit uns noch zusammen gegen die Bande. Das wäre eine Lust! Dann gäbe es auch bald Frieden! Es sieht so aus, als wäre in Frankreich so eine Art Waffenstillstand. Hoffen wir das beste. Lange können die Franzosen ja auch nicht mehr aushalten, vermutlich, wenn der Winter kommt.“
Die Briten niederzumetzeln wäre also ein Genuss für ihn gewesen. Dieser Hass auf die Engländer liegt vielleicht in deren Kriegserklärung an Deutschland begründet. Die deutsche Heeresführung hatte die Wahnvorstellung gehegt, England würde die Deutschen unbehelligt nach Frankreich einmarschieren lassen, aber das Inselvolk, stets auf das Gleichgewicht auf dem Kontinent bedacht, konnte diese Kräfteerweiterung des deutschen Reiches unmöglich hinnehmen. Außerdem hatte die Reichsführung es nicht versäumt, die Legende des Angriffs der Alliierten auf das friedliche Deutschland zu propagieren.
Tatsache ist, dass seit der industriellen Revolution ein Wettkampf zwischen Großbritannien und Deutschland um die kontinentale Vorherrschaft bestand. 1913 hatte Deutschland seinen Widersacher bereits aus seiner Vormachtstellung katapultiert, denn England war nur noch mit 14 % (gegenüber 15,7 % Deutschlands) an der industriellen Weltproduktion beteiligt gegenüber satten 31,8 % im Jahre 1870. Hinzu kommt die Bestrebung Deutschlands im Schiffbau England ebenbürtig zu werden.
Auf jeden Fall teilt Julius diese negative Meinung über die Engländer mit vielen Deutschen: „Allen ist England der Hauptfeind. Der Gefürchtetste? Der Verachtetste? Der Verhassteste? Alles das zugleich.“, so gibt V. Klemperer in seinem Lebensbericht die Einstellung der deutschen Intelligentsia wieder (vgl. ebd., S. 202).
Die gleiche Voreingenommenheit vertritt die bereits erwähnte Romanfigur Diederich Heßling: „So wie ich England hasse, hat nur Friedrich der Große dies Volk von Dieben und Händlern gehasst. Das ist ein Wort Seiner Majestät und ich unterschreibe es“ (Heinrich Mann, ebd., S. 450).
Zum ersten Mal muss Julius das Weihnachtsfest fern von der Familie verbringen, denn „das Vaterland verlangt uns“, und er kann nicht einmal etwas schicken, „denn hier ist nichts zu haben.“ Dafür kann er mit Schilderungen der belgischen Sitten aufwarten:
„Hier werden die Kinder nicht zu Weihnachten, sondern zum Nikolaustage, d. i. 6. Dezember, beschenkt (katholisch). Die Kinder unserer Wirtsleute haben wir auch mit Kleinigkeiten beschenkt, dafür haben wir das Landesgebäck bekommen: eine große Frau aus Semmelteig (die habe ich schon beinahe ganz aufgegessen) und einen Mann aus Makronengebäck, den ich Euch mitschicke.“ Also hat er doch noch etwas zum Schicken gefunden!
Dann aber wieder im selben Brief vom 16.12.14 Berichte zur Kriegslage in Russland, da Julius annimmt, dass Helmut dorthin geschickt wird:
„In Russland ist es weniger gefährlich; dass er nur ordentlich warme Sachen hat, Leibbinde, Kopfschützer, warme Handschuh usw. Auf dem Pferde freilich wird man warm, aber nachher wird’s recht kalt sein. Vielleicht kann er auch Pelzkragen gebrauchen. Andere Artillerie für Russland hat Schafpelze geliefert bekommen.“
Er versucht eindeutig, Emma in ihrer Angst um ihren Erstgeborenen zu beschwichtigen, ist aber gleichzeitig rührend um das körperliche Wohlbefinden des jungen Mannes besorgt. Es geht weiter:
„Ist Helmut schon geimpft? Er soll draußen möglichst kein Wasser trinken, nur gekocht.“ Hier kommt der Arzt zu Worte, der ein paar Zeilen vorher berichtet hat:
„Das ganze Bataillon impfe ich jetzt gegen Typhus.“ Er weiß also ganz genau, welchen Gefahren ein Soldat nicht nur durch die schlechte Ernährung im Kriege ausgesetzt ist.
Für seine restliche Familie braucht er sich in dieser Hinsicht nicht zu sorgen:
„Dass Ihr doch nicht hungert, wie es erst die Aussicht hatte, freut mich sehr; ich hoffe, Euch hübsch rund wieder anzutreffen.“