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Dieses Werk handelt von verschiedenen Arten von Verfall, die uns umgeben: Einerseits der menschliche durch unser Altern in Bezugnahme auf Beispiele aus der Literatur und der heutigen Altersrealität in Deutschland, der städtische durch die Nichtverwertung von aufgegebenen Gebäuden und deren Grundstücken sowie der industrielle aufgrund des scheinbar unaufhaltsamen wirtschaftlichen Niedergangs, vor allem jenem der BRD.
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Seitenzahl: 101
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vorwort
Eine Männergesellschaft
Die neuen Alten
Es war einmal
Stadt- und Landansichten
Noch Industriestandort?
Bibliographie
Altern ist ein normaler Prozess, für uns Menschen genauso wie für Gebäude, Wirtschaftszweige und Industrien. Parallelen, Ähnlichkeiten in der Entwicklung sind bei ihnen allen feststellbar. Im konstanten Wandel kann vieles ersetzt, erneuert werden, Branchen können aufblühen, sich entfalten oder doch - aus welchen Gründen auch immer - untergehen. Es ist aber einzig und allein der Mensch, der einem sicheren, unausweichlichen Ende zusteuert.
Von diesem Verfall, der uns umgibt, dem wir auf Schritt und Tritt begegnen, wenn wir die Augen dafür weit offenhalten, handelt dieses Buch. Es sind Beispiele genannt, zu denen noch unzählige hinzugenommen werden könnten, sowohl für menschliche Fälle wie für welche in unseren Städten und Landschaften. Vieles übersehen wir absichtlich, denn es ist das Schöne, Erfreuliche, das zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Dennoch geschehen unaufhörlich derartige Umbrüche, übrigens seit Menschengedenken. In unserem Zeitalter der Nachhaltigkeit und des Aussetzens der Großfamilie soll dieses Werk ein wenig zum Nachdenken anregen oder noch besser: Zur Achtsamkeit für unsere Wirklichkeit.
Er fiel sofort auf, denn er ging barfuß! Die Zehen ein wenig befallen, nicht gerade ein Augenschmaus. Die Hose, eine einfache graue Jogginghose, hing labberig an seinen Beinen herunter. Zeichnete sich nicht gerade durch übermäßige Reinlichkeit aus. Er sprach sie an, offensichtlich erfreut, dass er ein Opfer ausfindig gemacht hatte. Die anderen kannten seine Geschichten sicherlich in- und auswendig! Niemand interessierte sich mehr dafür. Aber Adelheid, sie hörte ihm zu. D. h. sie unternahm den Versuch! Das war schon viel wert für ihn und anstrengend für sie, denn er lallte monoton vor sich hin, verstehen konnte sie nur ein paar Brocken. Sie wusste nicht, wen sie vor sich hatte. Vielleicht war er früher ein angesehener Universitätsprofessor gewesen. Nunmehr in die Anonymität des fortgeschrittenen Rentenalters verdammt. Abgeschieden von vergangener Brillanz.
„Bei dem heutigen milden Wetter ist Ihnen ohne Schuhe bestimmt nicht zu kalt!“, antwortete sie auf seinen unverständlichen Redeschwall. „Aber nein, ich ziehe auch im Winter nichts über meine Füße!“, lautete diesmal die Antwort ganz klar. „Ausgenommen sicherlich bei Schnee und Glätte!“, führte sie die Konversation fort. „Aber doch!“, und dann folgten ihr unerklärliche Laute, sodass sie nur zustimmend nickte. Ihm war sein Monolog wichtig, nicht der Dialog. Zufrieden ging er des Weges, eine Erlösung für sie. Und eine Woche später wollte Adelheid ihn auf seine nun doch besohlten Füße ansprechen, von ihm erfolgte aber keinerlei Reaktion. Er schaute sie kaum an. Hatte er ihr vormaliges Gespräch bereits vergessen? Litt er an der neuen Volkskrankheit der älteren Generation? Durchaus möglich.
Bei diesem Eindruck sollte es aber nicht bleiben. Adelheid staunte nämlich nicht schlecht, als sie erfuhr, dass ihr Barfüßler, tatterig wie er ihr erschien, als Chauffeur für seinen Freund und Nachbarn Dieter fungierte! Sozusagen ein Einäugiger, der einem Blinden unter die Arme griff! Denn Dieter war noch schlimmer dran! Er hatte einige Jahre zuvor einen Schlaganfall erlitten, war halbseitig gelähmt und ohne Rollator kaum gehfähig, augenscheinlich geistig hingegen viel fitter als sein Fahrer. Dieter auf diesen angewiesen, obwohl ihm die Gefahrensituation mit solch einem Autolenker sicherlich bewusst war. Adelheid wähnte sich in einem Irrenhaus! Die Insassen dennoch zumindest halbwegs valide!
Eine Gruppe von ca. 18 Personen traf sich regelmäßig in einem Gasthof zum Skat spielen. Wohlgemerkt nicht im Hauptraum mit angemessenem Mobiliar, sondern in einem Nebenraum mit heruntergekommenen Tischen und Stühlen, der Boden abgenutzt, die Toiletten in desolatem, aber akzeptablem hygienischen Zustand, die Luft verbraucht, denn die Fenster durften wegen Zugbildung nicht geöffnet werden. Die Fenster anzufassen wäre sogar ein mit großem Risiko behaftetes Unterfangen gewesen, denn einige wären schnurstracks aus ihren Befestigungen herausgefallen. Für die wenigen Stunden des Beisammenseins und in Anbetracht der außergewöhnlichen Gestalten, die sich hier allwöchentlich versammelten, konnte man den Raum als hinnehmbar bezeichnen.
Neben Adelheid setzte sich ein kleiner, schlanker Mann mit Viertagebart. Gepflegt war auch sein ganzes Outfit nicht. Dafür waren seine Kommentare witzig und voller Esprit. Offensichtlich noch voll auf geistiger Höhe trotz seiner 83 Jahre! Er sei zum fünften Mal verheiratet, offenbarte er Adelheid. Sie staunte nicht schlecht und fühlte sich im Gegensatz zu ihm mit ihrer 50-jährigen einmaligen Ehe erbärmlich ärmlich. Zwischendurch dann ein Hustenanfall seinerseits, bei dem man befürchtete, er würde seine Lungen samt Bronchien in den Saal schleudern! Und danach hin und wieder ein Sabbern, das auf sein ungebügeltes Hemd tropfte! Nicht gerade eine Augenweide. Widerwillen ergriff die Spieler, als sie die klebrigen Karten in den Händen hielten, zusammengeschmolzen durch Fritz‘ Speichel! Niemand äußerte sich, niemand rügte ihn, man war es gewohnt! Ein jeder mit seiner Eigenheit, ein jeder mit seinen Gebrechen! Alle geeint durch die Degeneration, das Dahinschwinden im Alter, dem langsamen, steten Niedergang einzelner oder mehrerer Fähigkeiten. Geeint durch dieses Wissen, dass es keinem erspart bleiben würde, von diesem Kelch des Verfalls zu kosten. Vor seinem Weggang noch Fritz‘ Bemerkung: „Ich muss nun schnell nach Hause! Denn meine Ehefrau wird sonst eifersüchtig! Sie befürchtet, ich gehe fremd! In meinem Alter, stell dir das vor!“. Keiner lachte, obwohl allen bestimmt danach zumute war. Man respektierte die Besonderheiten des anderen, verbunden durch die schon Jahrzehnte währenden Zusammenkünfte. Macke hin oder her. Jeder war doch einzigartig. Auch Fritz übrigens ein ehemals anerkannter Akademiker.
Und wie stand es um den langen Robert? Zwischen den Spielen stand er auf, um sich zu recken und zu strecken. Offensichtlich machte ihm sein Rücken zu schaffen. Er bückte sich, gelangte mit den Fingerspitzen bei weitem nicht an den Boden. Adelheid lag ein Kommentar auf der Zunge, hielt sich aber zurück und überlegte: „Wenn ich bedenke, dass ich es im Gegensatz zu Robert schaffe, bei gestreckten Beinen die ganze Handfläche auf den Boden zu legen! Das erwähne ich nicht, demonstriere es ihm ebenso wenig. Wozu denn? Sie sind alle dermaßen höflich untereinander, niemand kränkt den anderen. Die Zeiten des sich Profilierens offensichtlich vorbei! Nachahmenswert!“.
Mit Helmut hingegen sah es ein wenig anders aus. Er sei ein Hedonist, äußerte er. Mit diesem Attribut kannte sich Adelheid aus, denn es gehörte zu jenen ihres verstorbenen Gemahls, der auf allen Gebieten ein genusssüchtiger Herr gewesen war. Durch Helmuts Erzählungen wurde ihr allerdings klar, dass sich sein Pläsir ausschließlich auf die Essensaufnahme beschränkte. Er achtete auf einen fein gedeckten Tisch, womöglich durch Kerzenlicht erhellt, auf die genaue Anordnung aufeinander abgestimmter Gerichte. Und vor allem sollte die Zeremonie, denn es handelte sich eher um eine solche, lange andauern, um die Freude daran ausgedehnt zu genießen. Er zeigte Adelheid Fotos von seiner Tafel, wohlgemerkt für eine einzelne Person hergerichtet. In Adelheids Betrachtungsweise war diese Solodarstellung nicht mit einem wohligen Genussgefühl vereinbar. Sie fand somit die Eigenbezeichnung Helmuts nicht angemessen. Sie bezweifelte, dass er die Fähigkeit besaß, sich auch in anderen Bereichen eine Situation auf der Zunge zergehen zu lassen. Bei den meisten Menschen besteht eine Fehleinschätzung des Selbst. Er langweilte sie obendrein mit der Aufzählung verschiedener Öl- bzw. Balsamicosorten, die jeweils zu
verschiedenartigen Gerichten passten. Solche Einzelheiten lagen außerhalb ihrer Interessensgebiete. Dabei war Helmut weder fehlende Intelligenz noch Erfolg im Arbeitsleben abzusprechen, denn er gehörte zu der Kaste von hervorragenden Autoindustrie. Entwicklungsingenieuren in der
Herbert wiederum war ein anderer Fall. Ein Hypochonder! „Ich muss mich sehr in Acht nehmen. Ich erwische sonst alle möglichen Bakterien oder Viren“, behauptete er offen. Eine Türklinke fasste er nicht an. Er schob sie mit dem Ellenbogen hinunter. Oder er trug Einweghandschuhe. In einem Museum, in einem Restaurant. Und er erkrankte tatsächlich immer wieder. „Pass auf, dass du nicht auch bald im Bett liegst!“, meinte er zu Adelheid, die sich aber nicht um diese Gefahren scherte.
Alfred mit seinen 78 Jahren, durch die Osteoporose gekrümmt, verkleinert, stellte wiederum seine Kenntnisse im Computerressort der Allgemeinheit zur Verfügung. Ohne eine Gegenleistung in Anspruch zu nehmen. Offenkundig ein Altruist, eine aussterbende menschliche Sorte! In seinen Augen eine Sünde, so viele wertvolle Kenntnisse mit sich ins Grab hinüber zu tragen.
Edgar erzählte von seinem Hobby: Rockkonzerte. Immer noch! Mit seinen 72 Jahren! Inzwischen fuhr er alleine in alle Richtungen Deutschlands, manchmal auch ins Ausland. Keiner seiner ehemaligen Wegbegleiter hatte noch das Aushaltevermögen, die vier Stunden des Konzertes im Stehen durchzuhalten. Obendrein ständig rhythmisch in Bewegung bleibend! Obendrein bereits zwei Stunden vor Beginn in der Schlange stehend, um einen einigermaßen passablen Stehplatz in der riesigen Halle zu ergattern! Unter 40- bis 80.000 anderen Anhängern! Die Erschöpfung nach den Events stets unbeschreiblich. Die Kosten summierten sich: Für die Fahrt, die Übernachtung, die Verköstigung und das Ticket nicht zu vergessen. Sie waren es ihm offensichtlich wert! Erlebte er es als eine Wiederholung seiner Jugend, seiner Vergangenheit? Damit stand er nicht alleine da: Edgar erwähnte die Sonderplätze für die Fanatiker mit Rollator! Auch sie hingen ihren Erinnerungen nach und nahmen die gewaltigen Strapazen auf sich! Ähnlich wie es Adelheid einige Tage später in der Oper beobachten sollte? Die Stehplätze von älteren Herrschaften besetzt! Sowohl Frauen wie Männer, die nicht einmal versuchten, einen frei gebliebenen Sitzplatz in Anspruch zu nehmen. Sie verharrten stur auf ihren bezahlten Plätzen, nur nach der Pause, nach dem Weggang einiger Zuhörer erlagen sie der Versuchung. Wollten sie demonstrieren, dass ihnen die Musik die Unannehmlichkeiten des Stehens wert war? Kompensierte der mehrmalige Operngenuss den körperlichen Stress? Klar erkennbar war, dass der wiederholte Kauf von Sitzplätzen ihr Ausgabenbudget sprengen würde.
Und Manfred? Wollte mit seinem Vermögen die Menschheit retten, zugestanden nur einen kleinen Teil von ihr. Für mehr langte es nicht. Er gründete eine Stiftung, die nach seinem Ableben mit bestimmten Beträgen eine Schulgründung für Mädchen in Afrika unterstützen sollte. Warum nicht? Ein lobenswerter Ansatz. Obwohl in Adelheids Sichtweise nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ein Anfang immerhin getan.
Günther begab sich in den Pausen nach draußen, um ein Zigarillo zu genießen. In seinem herben Umgang spiegelte sich sein Schmerz wider. Ob ihm bewusst war, dass er unethisch gehandelt hatte? Denn er hatte geheiratet. Eine um zwanzig Jahre jüngere Dame. Nur um zu verhindern, dass seine Schwester eines Tages sein Erbe erhielt. Das Schicksal rächte sich nun an ihm. Elizabeth ging ihre eigenen Wege. Hatte eventuell sogar einen Liebhaber. Was konnte der inzwischen 80-Jährige ihr, abgesehen von seinem Geld, noch bieten? Offensichtlich mied sie seine Gegenwart. Aus Widerwillen ihm gegenüber? Dass sie es auf sein Vermögen abgesehen hatte, war unverkennbar. Würde sie ihn in einem Krankheitsfalle zur Seite stehen oder würde sie ihn seinem Los überlassen? Diese Ungewissheit, diese Furcht nagte an Günther.
Albert hatte ebenso unvorsichtig gehandelt. Seinen drei Söhnen ihre Erbteile ausgezahlt. Ihm blieb genug zum Leben, aber seine Sprösslinge gingen ihm abhanden. Sie gaben sich nicht die Mühe, nach seinem Befinden zu fragen; weder Telefonate noch Besuche statteten sie ihm ab. Er vereinsamte; die Trauer war ihm ins Gesicht geschrieben. Hatte er sich über das Verhältnis seiner Kinder zu ihm etwas vorgemacht? Die Ratschläge seiner Freunde, die eventuell Ähnliches erlebt hatten, hatte er schlichtweg ignoriert. Nach dem Motto: Ich kenne doch meine Buben. Die sind anders! Die werden mich nicht im Stich lassen. Und dennoch!
Klaus hingegen verschloss die Augen vor dem, was kommen sollte, mit Gewissheit einsetzen würde. „Ständig sichert man sich gegen alles ab! Patientenverfügung, Generalvollmacht! Nein, danke! Ohne mich! Ich denke mit meinen 82 Jahren nicht an die Zukunft. Ich lebe in den Tag hinein. Irgendwie wird es schon gehen. Eine Lösung wird sich finden, wenn ich oder meine Ehefrau pflegebedürftig sind. Die Kinder sind ja auch noch da. Ihnen wird schon etwas einfallen. Du meinst, sie sind beschäftigt, haben ihre Arbeit und ihre Kinder? Wir haben stets genügend für sie getan. Dann werden sie mal dran sein. Ich weiß, nicht alle denken wie ich. Man soll den Nachkommen ja nichts aufbürden! Sie hätten genug mit den eigenen Sorgen. Ich bin der Meinung, kommt Zeit, kommt Rat. Du meinst, es sei die Vogelstraußmethode, den Kopf in den Sand stecken? Der bald eintretenden Realität nicht gewahr werden wollen? Dein Einwand stört mich nicht im Geringsten! Ich mag mich einfach nicht verrückt machen mit Eventualitäten, die womöglich überhaupt nie oder ganz anders eintreten werden. Das bedeutet nicht, dass ich ein Genussmensch bin, eher ein Feigling, da hast du recht.“.