Paris 1734 - Der Tortenzauberer - Reinhard Skandera - E-Book
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Paris 1734 - Der Tortenzauberer E-Book

Reinhard Skandera

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Beschreibung

Ein Bäcker verzaubert Paris – Fesselnde Paris Geschichte aus dem 18. Jahrhundert Ein junger Mann aus der Provinz erobert die Herzen der Pariser und Pariserinnen. Das Glück hält nicht lange an. Das Schicksal mag es einfach nicht, wenn jemandem alles gelingt. Es legt seine unsichtbaren Fallen aus. Missgunst und Intrigen werfen den Protagonisten aus der Bahn. Die Leser erleben eine Irrfahrt der Gefühle. Neid bestimmt die Motive seiner Gegner. Ein Gesellschaftsdrama aus dem Paris des Rokoko, längst eine Großstadt von 600.000 Einwohnern, zu einer Zeit, als Berlin ein Dorf mit 60.000 Bewohnern war. Eine unvergessliche Reise in eine Vergangenheit, die bis heute nachwirkt.

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Paris 1734

Der Tortenzauberer

 

Reinhard Skandera

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lektorat

Verlag Kolodzik, Niddatal

 

©Reinhard Skandera

All rights reserved

 

1. Auflage 10.2021

 

Covergestaltung

Liane Mai

 

Impressum

Reinhard Skandera

Im Oberried 11

61194 Niddatal

1. Kapitel

 

„Ich breche auf in Richtung Paris, um der berühmteste Pâtissier Frankreichs zu werden. Du kannst mich nicht für ewig an deinem Rock festheften.“ Unmissverständlich erklärte André Roublard, der das Licht der Welt im Jahr des Herrn 1714 in dem Dörfchen Monteton in Burgund erblickte, der Mutter Rose, dass die gemeinsame Zeit dem Ende entgegenging.

Er lebte mit der vom Ehemann verlassenen Frau sowie den Schwestern Eloise und dem Nesthäkchen Sophie auf einem bescheidenen Hof. Der Vater, "der verfluchte Hurensohn“, so nannte ihn Rose Roublard nach einer zugegeben plötzlichen Wende in der Lebensplanung des geliebten Gatten. Das Schicksal erlaubte sich einen überraschenden Zug.

Eine steinreiche Duchesse legte ausgerechnet in ihrem Örtchen auf der Durchreise eine Rast ein. Armand Roublard, ein echter Naturbursche, schaute tief in ihre Augen, worauf die Gute ein Coup de Foudre erschütterte. Das Ehegelübde gegenüber dem Ehemann, einem vermögenden Duc, hinderte sie nicht an ihrem entschlossenen Vorgehen. Sie unterbreitete Armand, der ihr keine Gegenwehr entgegenzusetzen wusste, ein derart unmoralisches Angebot, dass der "verfluchte Mistkerl“ Frau und Kinder auf der Stelle für eine Reichtum versprechende Zukunft opferte.

Mit dem Nötigsten im Gepäck hechelte er hinter ihr her wie der Hund dem Frauchen, obwohl sie rein äußerlich der Kategorie dick und hässlich angehörte. Die wirtschaftlichen Überlegungen überwogen.

Seit dem denkwürdigen Tag erreichte die Familie nicht das geringste Lebenszeichen mehr von ihm. Bald flackerten Gerüchte durch Monteton, die Duchesse ertrüge die peinlichen Beiträge zu einer gepflegten Konversation nicht, weshalb sie ihn ohne Abfindung vom Hof jagte.

Nach dem ersten Schock wurde aus dem Abgang ein Glücksfall. Der Weggang bedeutete für Frau und Kinder einen ökonomischen Aufstieg, denn das Einkommen des Holzfällers genügte nur bescheidenen Ansprüchen. Rose dagegen baute mit Beharrlichkeit gepaart mit Fleiß einen Tuchhandel auf, der ein materiell sorgenfreies Leben ermöglichte. Sie gehörte zu den wenigen im Dorf, die das Lesen sowie das Schreiben beherrschten. An dem Tag, an dem sie ihr Ehemann schmählich verriet, schwor sie nie wieder das Bett mit einem männlichen Wesen zu teilen. Später revidierte sie den Schwur etwas. Auf Reisen durchs Land lernte sie respektable Herren kennen, manchem wenn er sie berührte, gönnte sie eine Nacht nie mehr.

André liebte Mutter und Schwestern abgöttisch. Sie behüteten ihn wie einen Schatz, verwöhnten ihn nach allen Regeln der Kunst. Avancen von Dorfbewohnerinnen blockten sie mit unnachgiebiger Härte ab. Andrés Schönheit lockte die gleichaltrigen Mädchen an, aber nicht nur die, sondern auch erfahrenere Frauen, die ihn gerne die Raffinessen der Liebe eingeführt hätten. Sie fürchtete Rose am meisten.

Eloise, die Ältere der Schwestern, schwärmte heimlich für den Pfarrer des kleinen Örtchens. André wusste davon. Zwischen den Geschwistern bestand ein stiller Pakt. Eloise erlaubte André in den Zeiten der Abwesenheit der Mutter gewisse Bewegungsfreiheiten, der im Gegenzug der Mutter nichts vom Abbé erzählte. Andrés größte Zuneigung galt mitnichten den Verehrerinnen. Das von Rose erlernte Handwerk der Kreation von köstlichen Torten bedeutete ihm mehr als die Verehrung der Dorfbewohnerinnen. Mit einer für das Alter ungewöhnlichen Klarheit entschied er, dieser Bestimmung zu folgen. Früh erkannte er, wenn man das, was man liebt, zum Beruf erwählt, führt man ein glückliches Leben.

Im Laufe der Geschichte änderte er die Ansicht, so viel darf jetzt schon verraten werden. Wir schreiben das Jahr 1734 nach Christi Geburt, André feierte vor Kurzem den 20. Geburtstag. Der weibliche Teil der Bevölkerung im Dorf beneidete Rose im Geheimen um den schönen Sohn. Obwohl ihm die herben, entschlossenen Züge eines markanten Kinns und auffälliger Wangenknochen fehlten, in seinem Gesicht fand man keinen Makel, übte er eine Magie auf das zarte Geschlecht aus, die nicht nur mit der außergewöhnlichen Schönheit zu erklären war. Er wirkte offen, ehrlich, ohne jede Arglist, versprühte einen Optimismus, mit dem er die Umgebung ansteckte. Wer bewusst in die kleinen, strahlend blauen Augen schaute, dem entging eine gewisse Unruhe nicht. Frauen beneideten ihn um die lockigen brünetten Haare, die er schulterlang hatte wachsen lassen.

Andrés bester Freund, Stanislaus Emmery, lebte seit einem Jahr in der Hauptstadt Frankreichs, Paris. Die Stadt quoll über. Das Volk sprach von 1 Millionen Einwohner, eine Zahl, die die übliche Übertreibung des Volksmunds widerspiegelte. Mit ungefähr 600.000 Bewohnern gewann Paris in Europa nach London den 2. Platz in der Liste der bevölkerungsreichsten Städte.

Stanis überragte den nur 1,70 Meter großen André um mehr als einen Kopf. Das ungleiche Freundespaar verstand sich blind. André, launisch wie ein Mädchen, der die empfindsame Seite keinem außer Stanis offenbarte. Stanis der Kraftprotz mit einem Körper aus Stahl, in dem niemand einen sensiblen Charakter vermutete. Lachte Stanis ihn aus leuchtenden tiefgrünen Augen an, änderte sich Andrés Stimmungslage in Sekunden. Wegen dieses Einflusses auf den Sohn mochte auch Rose Stanis, bis er nach Paris ging.

Er arbeitete in der Hauptstadt als Zimmermann, eine Berufsgruppe, die zu jenen Zeiten maximal gebraucht wurde. Rose schlief seitdem mit der Angst ein, dass Stanis André das aufregende Leben in dem Sodom und Gomorrha, das Paris für sie darstellte, in seinen Briefen in den schönsten Farben ausmalte, sodass der geliebte Sohn mit falschen Hoffnungen dorthin stürmte. Sie unternahm alles, um André vor Enttäuschungen zu bewahren. Bereits im Kindesalter fing sie damit an. Jetzt zweifelte sie, ob sie die Fürsorge nicht übertrieben hatte. Im Sündentempel, wie Paris von den Franzosen genannt wurde, ginge er ohne ihre Hilfe unter.

Stanislaus schrieb dem Freund den längsten Brief, den er im Leben zu Papier bringen würde. Er schwärmte von Paris, zeichnete die aufregenden Tage, die er dort verbrachte, in den leuchtendsten Farben. Einen Tag nach der Ankunft fand er Arbeit bei einem Meister, der ihm eine direkt an der Seine gelegene Wohnung verschaffte.

Paris wuchs wie chinesischer Blauregen. Täglich wanderten arme Menschen aus den ländlichen Gebieten zu, um nach einem besseren Leben zu suchen. Stanis begeisterte sich für die unzähligen Gaststätten, die Tanzabende veranstalteten, auf denen jeder halbwegs gescheite Junge ein Mädchen fand, so schrieb er. Er erlebte das seltene Glück oder das große Pech, wie André es gesehen hätte, auf seinem ersten Ball der Frau fürs Leben zu begegnen.

„Das passiert mir nicht, ich probiere einige aus“, schwor André. Der Brief entfaltete gewaltige Wirkung. Keine 10 Pferde könnten ihn davon abbringen, dem Freund zu folgen. Rose Reaktion auf die Pläne des Sohnes entbehrte nicht einer gewissen Heftigkeit.

„Nein Junge, nicht Paris, den Saustall, der Sumpf, der einen anständigen Kerl wie dich verschlingt wie das Moor einen Verdammten. Die Menschen in der Stadt setzen sich zur Hälfte aus Dirnen zusammen, während die anderen 50 Prozent der Kategorie Hurenböcke zuzuordnen sind. Das wirst du mir nicht antun, das weiß ich genau.“ Sie redete und redete in der Hoffnung, ihn müde zu quatschen, doch die bewährte Methode versagte. Das erste Mal überhaupt stellte André sich gegen sie. Das Amüsement in der Großstadt verführte viele, André hingegen konzentrierte sich auf das Ziel, für dessen Erreichung er hart arbeiten würde. Er träumte davon, den Menschen mit den Torten, die er kreierte, Freude in ihrem mühseligen Dasein zu schenken. Er wollte eines Tages der berühmteste Pâtissier in Paris sein.

Wie schon gesagt, liebte Rose ihren Sohn auf eine Art und Weise, die man nicht als gesund bezeichnen kann. Sie glaubte, Gott hatte ihr mit ihm ein besonders Geschenk bereitet, nachdem er sie bei der Auswahl des Ehemanns schlimm fehlen ließ. Sie verwöhnte den Jungen über alle Maßen mit Folgen, die André im Leben bisweilen im Weg stehen würden. Er wich Konflikte gerne aus und umging Festlegungen. Lieber lief er heute in die eine Richtung, die Aufregung und Ertrag versprach morgen in eine andere, die neue Abenteuer verhieß.

Nur in die Kreation von Torten investierte er bereitwillig jede erdenkliche Mühe. Die Aufgaben, die die Mutter ihm zu Beginn anvertraute, Herstellung des Teigs, Vorbereitung der einzelnen Ingredienzen und Überwachung des Backprozesses erfüllte er hoch konzentriert und zuverlässig. Bald brauchte er keine Arbeitsanleitung mehr, meisterte die schwierigsten Kreationen allein. Rose willigte schließlich in eine Bäckerlehre ein.

Der Lehrherr hielt weniger von Torten als von der Herstellung des täglichen Brotes, sodass André die Lust an der Arbeit bald abhandenkam, zumal Vorschläge für feinere Produkte beim Meister auf taube Ohren stießen. André brach die Lehre ab und kreierte wieder zu Hause allseits gefeierte Torten. Einzig die Galette des Rois zum Feiertag der Heiligen Drei Könige backte Rose selbst. Nach der geübten Tradition im Dorf verteilte sie Kuchen und Kronen an alle Familien im Dorf. Nur die Männer wussten um das Geheimnis der kleinen Porzellanfigur, ein nackter Knabe, die sie in einem der Galette des Rois versteckte. Der Mann, der das Männchen in der Torte entdeckte, lief freudestrahlend mit dem Püppchen durchs Dorf. Statt per Wahl kürte Monteton den Bürgermeister für ein Jahr auf diese Art und Weise. Vor langer Zeit hatte Rose der Ratsversammlung das Verfahren empfohlen, da sie die Schlammschlachten nervten, die sich bei früheren Bürgermeisterwahlen die Kandidaten lieferten.

Dabei traten immer wieder Geheimnisse zutage, die besser unter der Decke verborgen geblieben wären. Sie führten zu heftigen Kontroversen zwischen den Bewohnern von Monteton, insbesondere denen, deren Rätsel aufgedeckt wurden. Der glückliche Finder des nackten Jungen gewann neben dem temporären Anrecht auf das Bürgermeisteramt noch eine Überraschung hinzu, die er unter keinen Umständen preisgeben durfte. Bei Bruch der Schweigepflicht verwirkte er auf Lebenszeit das Recht der Teilnahme an der Lotterie. Sie darf deshalb hier nicht offenbart werden. Rose feilte inzwischen an Andrés Verbleib.

„Verdammt noch einmal Eloise, wo bewahrt er den vermaledeiten Brief dieses Kretins Stanislaus auf. Wir müssen wissen, was drin steht, um Stanis der Lüge zu überführen und André zu überzeugen, bei uns zu bleiben.“ Eloise zog ein verzweifeltes Gesicht.

„Keine Ahnung Mutter. Wir haben in jedem Schrank, jeder Schublade, jeder Ecke nachgesehen. Er kennt dich, also versteckt er ihn draußen an einem geheimen Ort.“

Es brach der Mutter das Herz, doch der Wille des Sohnes, das Gold seines Lebens zu suchen, erwies sich als übermächtig. Ihre Mittel, es zu verhindern, hatten sich erschöpft. Sie spielte einen letzten Trumpf aus, indem sie ihm Eloise an die Seite stellte, die ihr jeden Monat mittels Brief genauestens berichten musste, wie es ihnen im Höllenschlund erging. Rose berief einen Familienrat ein, um einen geordneten Abgang sicherzustellen.

„André wird uns verlassen, Monteton bietet dem feinen Herrn nicht mehr genug. Paris muss es sein, die große Stadt. Herr Stanislaus pfeift und der Herr Roublar springt. Er hat weder Arbeit und noch Unterkunft und hofft auf gutes Glück.“

„Maman, entschuldige bitte, aber du irrst dich. Stanislaus teilte mir die Adresse des Bäckermeisters Joseph Delacroix mit, für den er Arbeiten ausführte. Der Meister braucht dringend Hilfe und stellt mir neben Kost eine kleine Kammer zur Verfügung. Du weißt, wie gerne ich Torten kreiere.“

„Hoffentlich ist das Zimmer groß genug für ein zweites Bett, denn deine Schwester Eloise wird dich nach Paris begleiten.“

Überraschung gelungen, mit dem Schachzug ihrer Mutter rechneten die Geschwister nicht. Beide wehrten sich vehement gegen die Anordnung. Vor allem Eloise empörte es, den Aufpasser für den Bruder zu spielen. Außerdem passte es zu der Zeit überhaupt nicht in ihre eigenen Pläne. Beim Erstellen von Fürbitten verguckte sie sich in den Ortspfarrer. Den verpflichtete der Zölibat zur Enthaltsamkeit, doch dank der ungewöhnlichen Raffinesse, die ihm gegeben wart, wusste er Rat.

Passierte es, nehme Eloise die Schuld auf sich. Er hingegen bewahre das Gelübde, da das Weib ihn verführte.

Ihm imponierten die originellen Fürbitten der properen Eloise. Aber nicht nur die, sondern auch der üppige Busen und der klassische Po verzückten ihn. Eloise erwiderte die Zuneigung. Sie pflegte eine Affinität zu allem, was mit der christlichen Religion zusammenhing.

„Maman, so gerne ich André begleiten würde, leider bin ich bereits anderweitig verpflichtet. Der Abbé hat mich beauftragt, in Zukunft die Fürbitten für ihn zu schreiben. Du weißt, dass er mir damit ein besonderes Vertrauen beweist, dem ich unbedingt nachkommen will. André ist alt genug, allein in Paris zu leben, und mit Stanislaus steht ihm ein starker Mann zur Seite.“ Rose, die die ungute Liaison mit einem Geistlichen missbilligte, rief die Tochter zur Ordnung.

„Gerade der Hallodri Stanislaus erfordert dringend deine Anwesenheit in Paris. Vergiss nicht, der Abbé darf dir nicht geben, was auch die frömmste Frau braucht. Genug diskutiert Eloise, du wirst André nach Paris begleiten, ich dulde keine Widerrede.“ Rose schaute Eloise ernst und bestimmt an, als sie die Worte sprach. Die senkte den Blick und schwieg.

André verhielt sich still, akzeptierte Rose Entscheidung scheinbar wohlwollend. Er hegte nicht den geringsten Zweifel, dass Eloise, die er Ma Soer nannte, der Mutter stets gute Nachrichten übermittelte. Es galt, Maman nicht mehr zu reizen, sodass sie ihre Zustimmung nicht hinterfragte. Den Pfarrer würde Eloise dort bald vergessen, weil es in Paris nur so vor Pfaffen wimmelte, wie Stanislaus schrieb. André kannte die Schwester dem Aussehen und dem Charakter des Mannes maß sie untergeordnete Bedeutung zu, Hauptsache Theologe, nach Möglichkeit ein Erzbischof.

Gnadenlose Steuereintreiber des Königs Louis XV. trieben viele redliche Männer dazu, in das Fach der Räuber zu wechseln. Reisen über Land in den Zeiten bargen die Gefahr, überfallen zu werden. Die Allermeisten hegten keine Mordgedanken, sondern gaben sich mit Essensgaben beziehungsweise einer Spende in Gold- und Silbermünzen zufrieden. Natürlich vagabundierten auch dunkle Gesellen durch das Land, ihnen ging man besser aus dem Weg oder man riskierte das Leben.

Nachdem der tränenreiche Abschied von Rose überstanden war, marschierten Bruder und Schwester los. Der Fußweg bis Troyes dauerte 4-5 Tage, sodass sie einige Nächte unter freiem Himmel verbringen mussten. Nachts schmiegten sie sich in ihrem Versteck im Dickicht unter einer Decke eng aneinander. Zwei harte, dicke Stöcke, die stets neben ihnen lagen, dienten der Verteidigung. Maman spendierte für den Notfall 2 Livre, 10 Sou und 60 Dernier und Proviant, der bei sparsamer Verwendung 14 Tage reichte.

Überglücklich über die Ankunft in Troyes liebäugelte André mit dem Kauf einer Flasche Champagner, verwarf den Gedanken sofort wieder, nachdem ein Einwohner ihm erzählte, dass er dafür mindestens fünf Livre auf den Tisch legen muss. Obwohl Familie Roublard nicht unter Armut litt, wie so viele Franzosen, Rose handelte mit Tuch im gesamten Burgund und verkaufte gut an Stammkunden, kam sie dennoch nie auf die Idee, zum Beispiel zu Weihnachten, Champagner zu servieren. Sie verabscheute jeglichen Luxus und Übertreibungen in den alltäglichen Dingen des Lebens. Oft schimpfte sie über die Geschäfte in Paris, die sich auf Luxusgüter spezialisierten, wie goldene Schnupftabakdosen oder wertvolle Herrenuhren. Rose Roublard bewertete das Streben nach Prachtexemplaren als Angeberei und Großmannssucht. Dem Sohn vermittelte sie ihre Lebensweise ohne Erfolg, denn er betrat Paris, um ein reicher Mann zu werden, wie Rose glaubte.

Rose Roublars Einstellung stand im Zusammenhang mit ihrem Ehemann. Sie lebten zu dem Zeitpunkt, zu dem er sie verließ, glücklich und zufrieden, ohne vermögend zu sein. Diese Duchesse, der sie wünschte, im schlimmsten Fegefeuer zu verglühen, bot Armand eine Apanage in Höhe 20 Louis d’or pro Monat. Eine derart verrückte Summe vernebelte dem Armen vollkommen das Gehirn. Eloise versuchte damals, die Mutter zu trösten:

„Maman, Goldstücke schenkte einst der Teufel den Menschen, damit sie sich hassen und gegenseitig umbringen.“

 

Eloise wechselte tagelang kein Wort mit André. Der hasste Konflikte generell und in der Familie im Besonderen. Den Seelenschmerz der Schwester, ausgelöst durch die Trennung von ihrem Abbé Maurice, hatte er unterschätzt. Am Abend vertilgten sie Brot und einen Becher einfachen Landwein. Nach dem Essen weinte Eloise hemmungslos. Sie bezichtigte André der Herzlosigkeit, weil er ihre Liebe nicht ernst nahm, sie als eine harmlose Schwärmerei abtat. Sie vermisste Maurice, bei dem sie Geborgenheit spürte, die der sensiblen Frau innere Sicherheit verlieh. Rose eher der resolute, anpackende Typ, fing mit der Empfindsamkeit der Tochter wenig an. Sie nahm sich keine Zeit für längere Gespräche.

„Ich kann ohne ihn nicht leben, lieber Bruder bitte, ich drehe um und du verfolgst deinen Weg weiter in Richtung Paris.“ Der Gedanke gefiel ihm, aber was würde Maman dazu sagen. Er traute ihr zu, nach Paris aufzubrechen und ihn zurück nach Monteton zu holen. Deshalb schärfte er Eloise ein, der Mutter zu erzählen, dass er stundenlang auf sie eingeredet habe, wie mit Engels Zungen, um sie von der Weiterreise zu überzeugen. Sie verspürte jedoch aufgrund der abrupten Trennung von Maurice im Herzen einen derart großen Schmerz, dass sie die Angst überfiel, am Seelenschmerz zu sterben. André sah das verärgerte Gesicht der Mutter vor sich, nachdem sie Eloise Entschuldigung gehört hatte. Ein heimliches Lächeln konnte er nicht verbergen. In sanftem Ton sprach er zur Schwester:

„Liebe Eloise, bitte verzeih meine Ignoranz. Ich habe nicht erkannt, welches Leid ich dir bereite, wenn ich dich mit nach Paris nehme. Ich fühle mit dir. Unter keinen Umständen bringe ich es übers Herz, die Reise mit dir fortzusetzen. Geh zurück zu Maurice. Bei ihm findest du dein Glück.“ Eloise strahlte und heulte gleichzeitig:

„Ich konnte mich noch nicht einmal vernünftig von Maurice verabschieden. Er glaubt ganz bestimmt, ich will unsere Liebe aufgeben. Ich muss ihm alles erklären.“

André wunderte sich zwar, wie weit die Sache zwischen der Schwester und dem Pfaffen ging, er verschwendete dennoch keine überflüssigen Worte. Sie küssten sich zum Abschied und versprachen ihr Leben lang füreinander da zu sein, wann immer Einer von ihnen Hilfe benötigte.

Am nächsten Tag erreichte André Troyes. Das schöne Kleinstädtchen lag an der Seine, dem Fluss, auf dem André per Anhalter Richtung Paris schippern wollte. Aufgeregt streifte er in dem Ort herum. Um den zentralen Platz gruppierten sich Restaurants sowie Bäcker und Metzger. Das kannte er von Monteteon nicht. Aus den einfachen Restaurants flogen ihm verführerische Geruchswolken entgegen, sodass ihn ein Heißhunger ansprang. Das Gebot der Sparsamkeit wurde für ein paar Stunden beiseitegelegt. Ein kleines Speiselokal mit einigen Sitzen im Freien gefiel ihm. La Patronne pries die Fischgerichte an. Garantiert am Tag der Zubereitung gefangen, versicherte die propere Frau im besten Alter. Aber André entschied sich anders. Nicht, dass er ihrem Urteil nicht traute, jedoch wollte er in Zukunft dem Rat von Damen im Alter von Maman nur noch in Ausnahmefällen folgen.

Das Fleischgericht des Tages Boeuf Bourguignon schmeckte nicht so gut wie zu Hause, aber diesen Maßstab legte er bei auswärtigem Essen nie an. Wichtiger für ihn war das Stück Torte, dass er sich zum Dessert gönnte. Französische Walnusstorte gehörte zu seinen Favoriten, deren Liste jedoch viele Meisterwerke der Pâtisserie beinhaltete.

 

André hoffte, einen Kahn zu finden, der ihn mitnahm in Richtung Hauptstadt. Die Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Die meisten Flussschiffer weigerten sich, einen Unbekannten mitzunehmen, da sie fürchteten, an Banditen zu geraten. Straßenräuber, die Reisende egal auf welcher Reiseroute überfielen, lauerten überall. Dann bleibe ich eben eine Nacht in Troyes, sagte er sich, morgen wird sich eine Gelegenheit ergeben.

In einer herunter gekommenen Herberge übernachtete er für 20 Sous. Er schlief unruhig, da während der gesamten Nacht keine Ruhe in die Pension einkehrte. Ständig kam jemand oder ging ein anderer.

André lernte einen Fuhrmann kennen, der die Sechziger bereits überschritten hatte. Wohingegen die Frau an seiner Seite mindestens 30 Jahre jünger war. Nach einer lautstark und emotional geführten Diskussion, die Frau plädierte vehement für die Mitnahme des Passagiers, der Gatte lehnte sie rundweg ab, willigten sie ein, ihn auf ihrem Hausboot bis zum Port Aux Pierre südlich von Paris gelegen mitzunehmen.

Als Gegenleistung verlangten sie Andrés Hilfe beim Ausladen der zentnerschweren Getreidesäcke. Vertrauenerweckend wirkte das ungleiche Pärchen auf Franz nicht. Die Kauleisten wiesen zahlreiche Lücken auf. Ein Schicksal allerdings, das sie mit vielen Franzosen in dieser Zeit teilten. Justine sparte nicht mit ihren Reizen. Die obersten drei Knöpfe der Bluse benutzte sie nicht und wie selbstverständlich trug sie die Brüste direkt unter dem dünnen Baumwollhemd. Eine gründliche Wäsche und frische Kleidung würden manchen Galan dazu verlocken, sein Handwerk an ihr auszuprobieren.

Mittags zog sie sich in das kleine Häuschen in der Mitte des Kahns zurück und bereitete das Essen zu. Ihre Kochkünste änderten Andrés Blick auf sie grundlegend. Justine zauberte auf der primitiven Feuerstelle eine köstliche Forelle, veredelt mit feinen Kräutern. Dazu servierte sie Champignons, Speckwürfeln und glasierte Zwiebeln. Vollkommen überrascht, welchen Genuss sie mit ihren dreckigen Fingern kreieren konnte, lobte André sie überschwänglich.

„Justine, deine Forelle schmeckt überwältigend. Du könntest in jedem Restaurant arbeiten.“ Justine fing mit seinem Lob nichts an. Sie kannte die Situation einfach nicht. Also schwieg sie lieber. Anschließend flirtete sie heftig mit André, ohne die geringste Rücksicht auf den Begleiter zu nehmen. Wie man sich an einen Mann heranmacht, das wusste sie. In diesem Fach benötigte sie keine Nachhilfe.

Früh am Morgen verließ der Kapitän das Schiff in der Nähe von Aix-en-Othe. Den harten Kanten Weißbrot, den Justine ihm servierte, musste André in den Chicorée Kaffee tauchen, um ihn herunterschlucken zu können. Nach dem Frühstück bat Justine ihn, ihr in der Küche ein wenig zur Hand zu gehen. Die Hitze des Tages motivierte sie, einen weiteren Knopf ihrer Bluse zu öffnen, sodass André einen freizügigen Blick auf den wohlgeformten Busen geschenkt bekam. Unglaublich, welche Reaktion ein Knopf bei einem Mann auslösen kann. André wuchs die Szenerie langsam über den Kopf. Er versuchte es mit Humor. Justine störte es nicht, sie folgte einem klaren Schlachtplan.

„Mensch, Justine, du hast dich heute gewaschen, muss ich mir Sorgen um dich machen?“ In anderer Umgebung zerstörte er damit etwas nicht so bei dieser Frau.

„Ach, du süßer kleiner Lümmel, nur für meinen Schönen habe ich das gemacht. Ich glaube, so sauber war ich noch nie.“ André begann fürchterlich zu schwitzen und fühlte eine große Hilflosigkeit, die zu einer Erstarrung führte. Sie prüfte erst einmal, ob der zusätzliche offene Knopf die gewünschte Wirkung entfaltete. Ein zufriedenes Lächeln überzog ihr Gesicht. Was dann geschah, erinnerte André später erst nach und nach. Er erlebte "Das-Erste-Mal“, trug jedoch nur wenig dazu bei. Justine bewegte sich geschmeidig wie eine Wildkatze und läutete gerade eine neue Runde ein, als die donnernde Stimme des Ehemanns das Spiel unterbrach. Justine hatte nichts auszogen, auch nicht die Unterhose, die ließ sie gleich morgens weg. Sie half dem zitternden André beim Anziehen. Gleichzeitig begann sie Kartoffeln zu schälen. Die bösen Blicke des Gehörnten konterte Justine nonchalant:

„Endlich zurück, mein Geliebter. Der Junge hilft mir bei den Kartoffeln. Ist das nicht lieb von ihm?“

Für Andrés empfindliches Nervenkostüm erwies sich das Abenteuer als zu aufreibend. Unter dem Vorwand, in Aix-en-Othe einen Freund besuchen zu wollen, verabschiedete er sich eiligst.

Das Schicksal beschloss ihm nach all der Aufregung einen Gefallen zu erweisen. Im Waschhaus in Aix-en-Outhe sprach ihn ein älterer Herr an, der sich als Henri Gensommé vorstellte. Der gebildete Mann André schätzte ihn auf 50 Jahre, erkundigte sich höflich nach dem Ziel seiner Reise. Nach dem Bad lud ihn der Noble zu einem Gläschen Rotwein ein. Henri trug Perücke, ein Accessoire, das sich in der Zeit vor allem unter den Betuchten Beliebtheit erfreute. So viel wusste André. Vor mir sitzt kein Schiffer. Bevor er zu ihm in das Boot stieg, Consommé hatte ihm angeboten, mit ihm zu fahren, wollte er wissen, wen er vor sich hatte. Henri kam ihm zuvor und fragte, warum er nach Paris reise. André antwortete offenherzig:

„Ich bin Bäcker und werde in Paris beim Bäckermeister Delacroix arbeiten. Meine Spezialität ist die Kreation von Torten.“ Sofort erwachte Henris Interesse.

„Welch ein Zufall. Ich darf mich Assistent des Erzbischofs von Paris, Ihre Eminenz Charles Hippolyte de Prudentius, nennen. In dessen Namen lade ich die Konditoren jedes Jahr zum Heilige-Drei-Könige Tag zu einem Wettbewerb ein. Derjenige unter den Pariser Bäckern, der den Sieg davonträgt, gewinnt gleichzeitig den Auftrag, den Bischofssitz ein Jahr mit Backwaren zu beliefern.“ Mit seinen Worten elektrisierte Gensommé André. Mit hochrotem Kopf erkundigte er sich nach dem Abschneiden der Bäckerei Delacroix. Woraufhin Henri den Kopf in den Nacken legte und hochmütig lächelte.

„Delacroix? Eine völlig unbedeutende Brotwerkstatt, ohne die geringsten Chancen, den Preis zu gewinnen. Sie nehmen nicht einmal in jedem Jahr teil.“ André gefiel der trägt-die-Nase-hoch Ton des Herrn in den albernen Culotte überhaupt nicht.

„Werter Herr, ich sage ihnen schon heute, dass sich das ändern wird, wenn ich die Torte für Delacroix zubereite. Verlassen sie sich darauf.“ Erstaunt schaute der Diener des Kirchenfürsten André an.

„Junge, weil du es nicht wissen kannst, nehme ich dir deine Unverschämtheit nicht übel. Eine Jury bestehend aus 6 mehr oder weniger noblen Frauen aus der Pariser Gesellschaft, ernannt von ihrer Exzellenz, entscheidet, wer die beste Galette des Rois präsentiert. Die konkurrierenden Bäckereien besuchen die Jurymitglieder schon Monate vor Heilige Drei Könige. Böse Zungen behaupten insbesondere César-Guillaume Camus, der fünfmal hintereinander triumphierte, übe einen großen Einfluss auf die Damen aus. Leider wischt der Erzbischof meine diesbezüglichen Einwendungen vom Tisch, ohne weitere Argumente anzuhören.“ Neugierig geworden schwieg André nicht, sondern wollte mehr erfahren.

„Herr Henri besteht nicht die Gefahr, dass nicht der beste Bäcker siegt, stattdessen der Raffinierteste,“ fragte André. Wenngleich er gerne mehr erzählt hätte, beendete Henri das Thema. Um nicht zu viel preiszugeben, spielte er den Bescheidenen.

„Junge, du fragst den Falschen. Die Politik macht der Erzbischof, ich bin nur der Handlanger.“

„Sie Ärmster,“ blieb André nur zu sagen.

Die weitere Fahrt in Henris kleinem Personenkahn verbrachten sie schweigend. Auf halber Strecke legten sie eine Rast ein, um Henris Proviant zu vertilgen. Die Schwestern aus dem Kloster, das Henri besuchte, hatten ihn vorzüglich versorgt.

Er holte ein kaltes Cassoulet aus einer Tasche, bestehend aus Speckschwarte, weißen Bohnen, Gänsefett, Karotten, gepökeltem Schweinefleisch und einer Gänsekeule. Maman Rose servierte das Gericht 1 - 2 Mal pro Jahr zu Hause in Monteton. Auch kalt schmeckte es köstlich.

André fühlte sich satt und zufrieden, zumal die Josephsschwestern Henri mit 2 Stückchen Cognac-Torte überraschten. Die teilte er mit einem glücklichen André.

Sie näherten sich Paris, Andrés Herz pochte immer schneller. Er platzte nämlich beinahe vor Aufregung und Neugier. Ein wenig Geduld erforderten Henris Pläne, den g seinen jüngeren Bruder zu besuchen. Damit löste er ein Versprechen ein.Er wohnte im Hotel Royal des Invalides, das Frankreich als ein Ort der Isolation für diejenigen diente, die aus den unzähligen Kriegen verstümmelt oder schwer verletzt zurückkehrten. Henri stimmte Andrés Wunsch, ihn zu begleiten, zu. Am südlichen Rand von Paris legten sie auf der Isle des Cignes an. Auf der in der Seine gelegenen Insel löschten und lagerten die Schiffer Unmengen von Holz, weil die Erweiterung der Stadt sehr viel Baumaterial verschlang. Über Pont des Cignes betraten sie den Bezirk Gros Caillou. Das riesige Heim für versehrte Soldaten, zu dem auch eine mächtige Kirche gehörte, wirkte irgendwie deplatziert in dem dünn besiedelten ländlichen Bezirk.

Die Kriegslüsternheit der Monarchen verwandelte Felix Gensommé, einen fröhlichen, geselligen jungen Mann in einen Krüppel. André hielt es fast nicht aus in dem Gebäude, da nur schwer verletzte, traumatisierte ehemalige Soldaten dort lebten. Das Mitleid, das sich in ihm entfaltete, schmerzte ihn unbeschreiblich. Wenn er zu Hause auch nur andeutete, Geld als Söldner verdienen zu wollen, folgte stets Mamans Rede gegen den Krieg. In der Beziehung ließ sich Rose vom Gefasel von Ruhm und Ehre, die durch das Sterben fürs Vaterland errungen werde, nicht beeinflussen. Ihr Sohn würde nicht für den Lustmolch von König sterben. André trug sich in der Jugendzeit mit dem Gedanken, in den Krieg zu ziehen. Jetzt erst begriff er, was es bedeutete. Das heuchlerische Gerede der Werber von der Ehre, auf dem Schlachtfeld für das Vaterland zu sterben, entlarvte sich in dieser Stätte des Elends und der Verzweiflung als plumpe Floskel. Sie starben oder vegetierten dahin für die Launen und Spielchen von Königen und Kaisern samt ihrem Hofstaat. André ging und wartete draußen auf Henri.

Die beiden schipperten die Seine hinauf in Richtung Paris Mitte. Wunderschöne Gebäude an den Ufern des Flusses fesselten André. Palais des Tuileries, der ehemalige Sitz der französischen Könige und Kaiser ganz besonders. Er ließ sich gefangen nehmen von den Eindrücken, sodass er das Invalidenheim schnell vergaß. Das Boot passierte Pont Roial, gebaut in Stein, freigegeben im Jahre 1689 unter dem Sonnenkönig Louis IV. Die am Ufer der Seine erbauten Galleries du Louvre verbanden den Palais des Tuileries mit Vieux Louvre. Ein wahrhaft imposantes Ensemble, das Louis IV. dennoch gegen Schloss Versailles eintauschte.

Henri hielt einen Moment lang mit dem Ziehen inne, um André die Zeit zu spendieren, die Prachtbauten vom Kahn aus zu betrachten. Weitere Erklärungen sparte er sich, weil die Eindrücke allein André aufwühlten. Pont Neuf, die zentrale Brücke der Stadt, bedeutete für ihn Endstation. Er stieg aus. Am Westufer erhob sich die Kirche Saint Germain L’Auxerois. Vor dem Eingang des Gotteshauses wartete Stanislaus jeden Tag auf ihn, nachdem er die Arbeit beendete. So hatte er es in dem Brief geschrieben. Die Kirche erstreckte sich entlang des Ufers der Seine in unmittelbarer Nähe der Pont Neuf. Beim herzlichen Abschied überreichte ihm Henri eine Karte, auf der seine Adresse in der Rue de la Draperie vermerkt war. Sie verlief auf der Île de la Cité, die in der Seine gelegen Paris Mitte bildete. Henri lud André ein, ihn dort zu besuchen.

Als der wenig später die Gegend um den Dom absuchte, begegnete er unzähligen Menschen jedoch nicht Stanislaus. Die Uhr zeugte vier am Nachmittag, sodass noch Zeit für einen kleinen Rundgang war. Bis Stanis kommt, bin ich lange zurück, dachte er. Über den Quai Bourbon, an dem etwa zwei Dutzend Boote lagen, erreichte er Pont Neuf. Er schloss sich dem Menschenstrom an und gelangte auf die andere Seite. In der Mitte der Brücke bewunderte er die Statue Henri des IV., erster König aus dem Haus Bourbon, genannt "Unser guter König Heinrich“. Er hatte genug vom Bad in der Menge und kehrte zurück. Vor einem Kloster, das unmittelbar neben dem Treffpunkt mit Stanis emporragte, begegnete er einem freundlichen Mönch, der ihn in die Abtei einlud. Er führte André in die Küche, um dem Gast eine kleine Mahlzeit zu servieren. Gleichzeitig, André erkannte es sofort, vertiefte sich ein anderer Ordensmann in die Kreation einer Torte. André fragte den "Bäcker“:

„Bruder, bitte sag, welche Torte kreierst du?“ Da sich die Mitbrüder für den Prozess der Herstellung der Köstlichkeiten, die sie verschlangen, als gäbe es kein Morgen wenig interessierten, freute Raymond Andrés Aufmerksamkeit. Der sollte den Geistlichen in nicht zu ferner Zukunft in einer anderen Rolle wiedersehen, von der beide zum Zeitpunkt der ersten Begegnung nicht das Geringste ahnten. Der Mönch zeigte André, wie man den Karamell für eine Tarte Tatin herstellt, die Äpfel darauf legt und die Tarte mit der runden Seite nach unten in die Backform legt. Bevor das gute Stück in den Ofen geschoben wurde, beträufelte er es mit etwas Zitronensaft.

André vergaß Zeit und Stanislaus. Euphorisch erzählte er dem Bruder Raymond von seinen Plänen. Der schmunzelte zwar über die hochtrabenden Ziele des jungen Mannes, fand ihn aufgrund der ehrlichen und offenen Art von Anfang an sympathisch. Raymond klopfte André auf die Schultern und verabschiedete ihn mit den Worten, dass er ihn jederzeit besuchen dürfe. Die Uhr zeigte 21:00 Uhr. André rannte zum vereinbarten Treffpunkt. Stanislaus hockte auf den Kirchenstufen. Vor Begeisterung den Freund zu sehen, haute er ihm einige Male kräftig auf die Schultern. André wusste um die Marotte, sodass er nach dem dritten Mal Abstand suchte.

„Da bist du. Bis vor ein paar Sekunden dachte ich, Maman Rose lässt ihn nicht gehen. Umso mehr freue ich mich, Bruder. Jetzt erobern wir zusammen Paris.“ Die Dunkelheit hatte eingesetzt. Stanis wohnte lang genug in Paris, um zu wissen, dass jede Bewegung nachts in der Innenstadt Gefahr für Leib und Leben barg. Deshalb mahnte er zu schnellem Aufbruch.

Bäckermeister Joseph Delacroix hatte für André ein kleines Zimmer in einem der Brückenhäuser angemietet.

 

Im Laufschritt hasteten sie bis zur Statue Henri des IV.. Ohne den Schritt zu verlangsamen, bogen sie auf die Île de la Cité ab. Über den Quai d’Orfevres gelangten sie in die Rue Saint Louis, die sie auf Pont Saint Michel brachte. Das 5-stöckige Wohnhaus, in dem Meister Delacroix ein Zimmer gemietet hatte, thronte auf der Brücke. Auf beiden Seiten ragten die Hochhäuser empor. André verweilte mitten auf der Brücke starr vor Ehrfurcht. In einem dieser Häuser soll ich wohnen, dachte er unmöglich. Auf Pont Saint Michel herrschte ein unbeschreibliches Chaos. Jeder schien zu schreien und zu schimpfen. Pferde scheuten vor plötzlich auftauchenden Hindernissen, wieherten wild und kämpften gegen das Zaumzeug an. Vollgepackte Handkarren polterten über das Kopfsteinpflaster. Zwischen all dem Trubel bellten herrenlose Hunde. André fragte sich, warum Frauen in abgerissener, freizügiger Kleidung im Vorübergehen Männer anfassten und fordernd ansprachen. Es stank grauenvoll. Stanislaus bemerkte den Schrecken in Andrés Gesicht.

„Das ist Paris lieber Freund, und das hier ist bei Weitem nicht der schlimmste Ort.“ Sie traten durch die geöffnete Haustür in eines der Häuser. In jedem 2. Stock hing eine schwache Gaslampe an der Wand, die das Treppenhaus minimal beleuchtete. In Monteton fände man nicht einen annähernd derart dreckigen und stickigen Ort. Nie im Leben könnte ich Maman hier empfangen, schoss es André durch den Kopf. Stanislaus zeigte ihm die Klos auf dem Plateau zwischen den Etagen, die einen direkten Blick auf den Fluss ermöglichten. André lief der Schrecken den Rücken hinunter. Er bezog die erste eigene Wohnung. Eine 8 Quadratmeter große Kammer, in der es außer einem Bett nichts gab. Das runde Fenster glich einem Bullauge auf einem Schiff. Im Hof des 5-stöckigen Hauses wuschen sich alle Bewohner an einem Trog im Freien. Obwohl der Tag André viel abforderte, freute er sich auf den nächsten Morgen. An keinem Tag des bisherigen Lebens verspürte er eine vergleichbare Spannung. Das Leben beginnt gerade, dachte er. Stanislaus verabschiedete sich:

„Ich wohne gleich um die Ecke. Morgen früh um 2 Uhr hole ich dich ab und wir gehen gemeinsam zur Backstube Delacroix in der Rue de la Juiverie, nicht weit entfernt von Notre Dame.“

 

 

2. Kapitel

 

André fand keine Ruhe. Er schlief in dieser Nacht nicht eine Minute. Zu sehr wühlten die Eindrücke des Tages ihn auf. Die imposanten Gebäude und Monumente der Hauptstadt, der ständige Trubel und die nicht aufhörende Bewegung brachten das Seelenleben gehörig durcheinander. Einiges störte André gewaltig an der Großstadt. Die vielen Bettler und zerlumpten Typen, die überall vagabundierten und der Dreck sowie der Gestank.

Es hielt ihn nicht in seinem neuen Bett. Hellwach verließ er um Mitternacht das Haus, um sich in der Umgebung umzusehen. Er reckte den Kopf aus der Haustür, da er die Lage vor Haus prüfen wollte, bevor er hinaustrat. Statt vollkommener Dunkelheit, mit der er gerechnet hatte, empfing ihn ein schummriges Licht. Ein gruseliges Szenario, zumal ständig jemand vorbeihuschte wie ein flüchtiger Geist. An quer über die Straße gespannten Ketten hingen Öllampen, die mit ihrem diffusen Lichtschein die Finsternis durchbrachen. Nächtliche Ruhe kannten die Pariser und Pariserinnen offensichtlich nicht. Laute Pferdehufe hallten auf dem Pflaster und die Schreie der Kutscher brachen schon nach kurzer Zeit an den hohen Häusern. Gestalten, die Kapuzen trugen, huschten an André vorbei und beschimpften ihn, wenn er den Weg versperrte. Das alles nahm ihn so gefangen, dass er sich in Bewegung setzte. Er ging gleichen Weg in umgekehrter Richtung, den er am Abend mit Stanislaus genommen hatte. Nach kurzer Zeit fand er sich auf Pont Neuf wieder. Der Verkehr auf der Brücke übertraf den auf Pont Saint Michel um ein Vielfaches. André vergaß die Zeit, bis ihn ein Typ mit einem Holzbein von hinten festhielt und auf ihn eindrosch. Der behinderte Straßenräuber witterte leichte Beute. Nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, setzte André sich zur Wehr. Es gelang ihm, von dem Angreifer wegzukommen und Spielraum für die Flucht zu gewinnen. Zu Fuß gab der Angreifer das sinnlose Unterfangen schnell auf. Atemlos erreichte André die Unterkunft. Oben empfing ihn Stanislaus.

„Wo kommst du denn her mitten in der Nacht? Willst du als Nachtmüll in einem Graben enden?“

„Ich habe mich nur ein bisschen umgesehen. Konnte nicht schlafen. Los, ich freue mich auf Delacroix.“

Sie marschierten in Richtung Île de la Cité, bogen von der Brücke zu March Neuf ab. Über die Rue de la Cassandre kamen sie in die Rue de la Juiverie, in der die Bäckerei Delacroix das tägliche Brot vieler Pariser Bürger backte. Die schmale, dicht bebaute Gasse wurde durch vier Laternen beleuchtet. Das Privileg der Beleuchtung gewährte die Stadtverwaltung nur etwa 20 Prozent aller Straßen. Über den Hof eines dreistöckigen Hauses, das der Familie Delacroix gehörte, führte der Weg zur Backstube. Ein kleiner Verkaufsraum direkt an der Rue de la Juiverie, diente den Kunden zur Abholung der bestellten Brote. Andrés Herz pochte von Minute zu Minute schneller.

Joseph Delacroix leitete das Backhaus in der dritten Generation und erschuf aus einem Geschäft, das ausschließlich Brot backte mit tatkräftiger Hilfe seiner Frau Sophie eine der drei führenden Bäckereien in Paris. Joseph, ein schwarzhaariger Kugelblitz von 1,60 Meter Größe, trug eine Nase im Gesicht, die der eines alten Boxers glich. Dabei hatte er sich zeit seines Lebens allein mit dem Brotbacken beschäftigt. Damit kannte er sich sehr gut aus. Um das Finanzielle kümmerte sich Sophie, seine Frau. Sie verwaltete die Gold- und Silbermünzen der Familie.

Die nächste Generation hockte bereits in den Startlöchern. Beide, Jean-George, der etwas begriffsstutzige Sohn, und die Tochter Pauline, schafften in der Familienbäckerei. Neben Delacroix versorgten zwei andere größere Bäckereien die Menschen in Paris mit Brot. Petitout und Camus. Er, der ungekrönte König der Pariser Brotproduzenten, trug den stolzen Namen César-Guillaume Camus. Er eroberte den Rang 1 nicht zuletzt, weil er die katholische Kirche exklusiv belieferte und per Dekret des Gouverneurs von Paris das alleinige Recht innehatte, Bäckereien auf den bebauten Brücken der Stadt zu unterhalten.

 

Bei den Petitous leitete Jacqueline, eine wahre Meisterin des Handwerks, das Geschäft. Da eine Frau jedoch keinen Betrieb besitzen durfte, firmierte der Bäckerladen unter dem Namen des Ehemanns Pierre. Sie war eine außerordentlich schöne Frau, die aufgrund ihrer ungewöhnlichen Schönheit alle Blicke auf sich zog. Schlank, dennoch gesegnet mit weiblichen Rundungen, wunderschöne mahagonirote, gelockte Haare und grüne Katzenaugen schenkte ihr Gott für ihren Weg auf dieser Welt. Nach Ankunft aus der Bretagne, die sie aus familiären Gründen überstürzt verließ, sah sich zum Teil auch rüden Annäherungsversuchen von unzivilisierten Typen ausgesetzt. Pierre heiratet sie auf der Stelle, befreite sie somit vor den Attacken der "Galane“.

André verspürte Nervosität, als sie in das Allerheiligste eintraten. Stanislaus steuerte schnurstracks auf einen untersetzten Mann, der einen enormen Bauch stolz vor her trug, zu und ergriff das Wort:

„Guten Morgen Meister Delacroix, darf ich ihnen meinen Freund André Roublard vorstellen. Er freut sich, die Stelle als Bäckerlehrling anzutreten.“ Der kleine Dicke sah André lange prüfend an. Nach einer gefühlten Ewigkeit sprach er:

„Der ist zu schön für das Backen. Sophie, komm her und schau dir den neuen Lehrling an, den können wir nicht nehmen.“ Sophie nahte kopfschüttelnd, sie warf dem Gatten einen giftigen Blick zu.

 

„Unsinn, ein bisschen Schönheit schadet nicht. Denk einmal im Leben nach. Wir liefern auch an edle Damen.“ André peinlich berührt, versuchte, ihr zu imponieren.

„Ja, es sind insgesamt 6 Damen, die die Jury bilden.“ Delacroix schlug sich auf den Dickbauch.

„Schau an, schau an, da kriegen wir aber einen ganz Schlauen Sophie.“ Sophie Delacroix begrüßte André warmherzig. Sie umarmte ihn ein wenig zu lange wie Stanislaus fand und begrüße ihn mit den Worten:

„Herzlich willkommen Junge, lass dich von dem Kugelblitz nicht entmutigen. Selbstverständlich fängst du bei uns an, obwohl du wirklich schön bist. Da kommt auch Pauline, meine Tochter, sie wird mit dir zusammen die Lehre beginnen. Im Übrigen auch ich bin Mitglied in der Jury des Galette des Rois Wettbewerbs“ Er gab Pauline die Hand und lächelte ihr freundlich ins Gesicht. Sogleich errötete sie, was der Mutter sichtlich Vergnügen bereitete. André gefielen an ihr die glänzenden blonden Locken und blauen, wachen Augen. Sein erster Gedanken war, dem Fräulein sitzt der Schalk im Nacken.

Sophie Delacroix gehörte zu den Frauen, die mit Mitte 40 den Gipfel ihrer weiblichen Attraktivität erklimmen. Sie repräsentierte die Backstube in der Pariser Gesellschaft. Da Brot das Hauptnahrungsmittel der meisten Menschen war, genossen Bäcker einen hohen Rang. Joseph entschied, dass sie bereits genug Zeit für die Vorstellung vergeudet hatten. Er klatschte dreimal in die Hände und zeigte André seinen Platz an dem Tisch, auf dem der Teig für das Brot geknetet wurde. Die erste Woche verbrachte er ausschließlich mit dieser Tätigkeit. Brot bedeutete für 98 Prozent der Pariser und Pariserinnen Leben. Die meisten Familien gaben die Hälfte des Monatseinkommens für Brot aus. Nach 2 Schichten spürte André weder Arme noch Oberkörper.

Er verdiente als Lehrling 15 Sous pro Tag im Monat, also 360 Sous, was 18 Livré entsprach. Alle Mitarbeiter durften pro Arbeitstag ein Weißbrot zu einem verbilligten Preis von 5 Sous kaufen. Für das Zimmer behielt der Meister 50 Sous ein. Damit konnte sich André täglich ein bis zwei Gläschen Rotwein leisten und hin und wieder auch ein Stückchen Schweinefleisch. Nach dem Schock, den das Straßenbild bei ihm ausgelöst hatte, gewann er langsam die Zuversicht zurück, dass er das Glück in Paris finden würde.

Sophie Delacroix knöpfte sich ihren Mann noch am Abend von Andrés 1. Tag vor. Wie er so dumm sein könne, den armen, unbedarften Jungen in der gefährlichen Gegend um Pont Saint Michel unterzubringen, schimpfte sie. Sie nahm die Sache selbst in die Hand und quartierte André in einem Haus auf Pont Marie weiter flussabwärts gelegen, ein. Die Gebäude auf der Brücke glichen denen auf Pont Saint Michel wie ein Ei dem anderen. Jedoch herrschte dort weniger Lärm und die Umgebung machte einen saubereren Eindruck. Sophies Fürsorge brach nicht völlig uneigennützig über André herein. Sie heiratete Joseph mit gerade 18 Jahren. Der Vater, ein armer Mann, gequält von den körperlichen und seelischen Folgen von Kriegseinsätzen, arrangierte die Ehe mit dem Handwerksmeister. Er sah die Tochter gut versorgt. Außerdem musste Josef ihn kostenlos mit Brot versorgen. Sophie, zufrieden, nicht glücklich, spürte seit einigen Jahren, das es etwas gab, was Joseph ihr nicht gab, also holte sie es sich selbst.

Sie bestellte André zu einer festgelegten Zeit auf Pont Marie. Der wartete bereits eine Stunde, als neben ihm eine Kutsche hielt, der eine Frau entstieg, die er nicht sofort erkannte. Die Dame trug eine burgunderrote Robe a la Française. Unter dem mit Blüten geschmückten Hut brach sich das brünette, lockige Haar Bahn. Sie kam auf André zu. Wer um alles in der Welt ist das, dachte der. Wenig später fühlte sich André wie ein Gefangener. Der Duft des Parfüms schwebte ihm entgegen. Madame Delacroix benutzte an diesem Tag ihr Teuerstes. Die Kopfnote aus Nachthyazinthe, die Herznote aus Wurzel der Iris und Rosmarin, die Basisnote aus Bergamotte. André wünschte sich mehr Frische, sie fehlte der Duftnote etwas. Der Duft hüllte ihn ein in eine Wolke, der er nicht mehr entrinnen konnte. Sie stand unmittelbar vor ihm und er erkannte sie.

 

 

„Um Gottes willen, Madame Delacroix, sie sehen völlig anderes aus als in der Backstube.“ Sophie lächelte nachsichtig.

„Mein Schöner, wir sind heute nicht zusammengekommen, um Brot zu backen.“ Wie in Trance folgte er ihr in seine neue Bleibe, die aus 2 Zimmern bestand. Sophie hatte für eine nette Einrichtung gesorgt. Ein zweiteiliges gebrochenes Chaiselongue, dazu eine Kommode mit offenem Fach sowie ein bequemes Bett aus Nussbaum. Ferner aus dem gleichen Material 2 Stühle und ein runder Tisch. Die Möbel verliehen den Räumen eine gediegene Atmosphäre. Eine Gobelin-Bordüre an einer Wand, die eine schöne Landschaft abbildete, gab dem Ganzen einen Hauch von Noblesse. Den Holzboden bedeckte ein Teppich in orientalischem Stil.

„Nun, André, wie findest du dein neues Zuhause?“ Sie sah ihn dabei erwartungsvoll an. Er erinnerte sich an den Blick. Justine in der Bootshütte hatte ihn genau so angesehen. Ein Gefühl sagte ihm, worauf es hinauslief. Es gefiel ihm nicht. Die Sache mit Justine lag anders, die setzte dem Alten dauernd Hörner auf, aber die Frau des Chefs, nein, das riecht nach Ärger.

„Madame, ich kann das nicht bezahlen von meinem Lohn.“ Wieder lächelte Sophie.

„Darüber brauchst du dir keine Gedanken machen, du Schöner. Ich verwalte die Kasse bei den Delacroix. Der Fette bekommt ein Taschengeld mehr nicht.“ Sie stellte sich vor das Chaiselongue und befahl ihn zu sich.

„Du machst jetzt genau das, was ich dir sage, verstanden?“ André nickte mit ernstem Gesicht.

„Zuerst hilfst du mir, dieses sperrige Kleid auszuziehen.“ Wenig später stand sie da in ihrer seidenen Unterkleidung und den feinen Strümpfen, die an der dünnen Stelle zwischen Oberschenkel und Knie befestigt waren.

„Als Nächstes ziehst du mir die Strümpfe aus.“ André gehorchte ohnehin unfähig, Widerstand zu leisten. Sollte Sophie darauf gehofft haben, dass er die Schüchternheit ablegen würde und Initiative ergreifen, irrte sie. Er ergab sich. Für sie spielte es keine Rolle, sie wusste zu hundert Prozent, was sie wollte.

„Zieh mir die Schnürbrust aus und auch gleich das Unterhemd.“ André tat wie ihm geheißen und sah sich mit ihrem nackten Oberkörper konfrontiert. Er starrte auf die makellose Brust und die steifen Nippel immer noch mit todernster Mine. Sophie nahm seine rechte Hand und führte sie zu ihren Brüsten. Sie küsste ihn sanft und vorsichtig, bis er reagierte, sodass sie die Intensität erhöhen konnte. Die Erregung steigerte sich. An dieser Stelle unterbrach sie die Zärtlichkeiten.

„Wir sind mit dem Ausziehen noch nicht fertig. Jetzt noch den Rest.“

 

Als sie in den Morgenstunden in die wartende Kutsche stieg, schlief André in vollkommener Glückseligkeit.

Nach 1 Woche Kneten kommandierte Sophie ihn ab in die Abteilung Pâtisserie. Sie beauftragte ihn mit einer delikaten Mission, zwei Malakoff Torten an eine kapriziöse Frau zu liefern.

„Guten Morgen André. Madame La Grande Duchesse Marie Paulette de Maillé de la Tour-Landry, genannt Grande Paulette, hat zwei Torten Malakoff bestellt, die du übermorgen ausliefern wirst. Grande Paulette ist eine Freundin, die wie ich einen Sitz in der Jury bekleidet. Ich halte sie für ein bisschen verrückt, andere sehen in ihr ein Sprungbrett in die höheren Schichten der Gesellschaft.“ André fragte, wie sie die Malakoff kreieren.

„Die Torte Malakoff, die wir komponieren werden, besteht aus einem mit dem Gelee aus Johannisbeeren bestrichenem Boden aus Mürbeteig, einem Boden aus Kakao, Maraschinosahnecreme und in Rum getränkte Löffelbiskuits.“

„Madame, ich freue mich riesig, mit ihnen eine Torte zu kreieren. Das ist die Arbeit, die ich am meisten liebe, auch mit Maman habe ich oft Torten gezaubert.“

„Das ist schön, mein Kleiner.“ Sie ging von dem etwas rauen Klopfen auf die Schulter, mit dem sie ihn begrüßte, über zum Streicheln der Wangen. Während er an den Torten arbeitete, störten ihn die Berührungsversuche der Chefin. Er ging völlig in der Arbeit auf und vergaß alles um sich herum. Zwar ließ er die Annäherungen wortlos geschehen, Sophie stellte sie dennoch bald ein, da sie keinerlei Resonanz auslösten. Am Nachmittag brachte André die beiden Meisterwerke in einem kleinen Handwagen zu der Kundin. Sophie erklärte ihm den Weg.

„Notre Dame passieren, über Pont Notre Dame verlässt du Île de la Cité, du läufst immer am Ufer der Seine, lässt Hôtel de Ville links liegen, vorbei am Port au ble.“ André unterbrach sie behutsam.

„Madame, sie erklären mir meinen Heimweg.“ Sophie, leicht ungehalten, wischte den Einwand weg.

„Hör zu. Ja, an Pont Marie vorbei, bis zum Ende des Port Saint Paul, an dem du das Ende der inneren Stadt erreichst. Weiter scharf links in die Rue du petit Muse. Am Ende der Straße kommst du auf die Rue Saint Antoine, die nach kurzem Weg auf die Bastille stößt. An der Bastille verlässt du den inneren Bereich durch Porte Saint Antoine. Du rollst mit dem Wagen an Hôpital Enfants Trouvés, einem Waisenhausentlang und passierst die Kirche Saint Antoine. Du biegst rechts in die Rue de Reuilly und stehst wenig später vor dem Palais Reuilly, ein Riesenpalast, in dem Grande Paulette und ihr verdammter Mann Le Grand Duc Francois-Alexandre residieren. Alles verstanden?“

„Nein Madame, aber ich denke, ich muss trotzdem gehen, oder?“

 

„Das siehst du vollkommen richtig, lieber André.“ Er zog mit dem Handkarren los, der eine Besonderheit verbarg, nämlich einen doppelten Boden, unter dessen Deckel Sophie die Torten deponierte. Auf die Klappe lud Joseph zwei Dutzend alte harte Brote. Andrés fragende Blicke beantwortete Joseph:

Unterwegs begreifst du den Sinn der Beiladung schnell, glaube mir. Er ärgerte sich über Sophies Leichtfertigkeit, den Jungen loszuschicken, ohne ihn auf die Gefahren hinzuweisen.

„Auf dem Weg zu Grande Paulette werden dir Bettler und arme Teufel auf die Pelle rücken. Wenn es heikel wird, schenkst du dem Pöbel ein Stück Brot, allerhöchstens ein Halbes, wenn einer handgreiflich wird. Vergiss nicht, du musst auch noch zurück. Wahrscheinlich lagert bei den Herrschaften Maillé de la Tour-Laundry Altbrot, frag sie danach. Sag ihr, Joseph bittet sie, es dir zu überlassen.“ Es begann schon auf Pont Nôtre Dame, Bedürftige bedrängten André heftig. Eine Decke verhinderte den direkten Blick auf die Brote, dennoch entdeckten die armen Teufel sie, da ihre Nasen hochsensibel auf Essbares reagierten.

„Ich muss sieben Kinder und eine Frau ernähren, bitte guter Junge, erbarme dich.“ André reichte ihm ein Viertel von dem Brot, während der Nächste schon an seiner Jacke zerrte. Am Ende von Pont Nôtre Dame hatte sich der Brotvorrat um zwei verringert. Die Überquerung der Brücke schleppte sich endlos dahin, da ein irrsinniger Verkehr von Pferdefuhrwerken, Fußgängern und Karren herrschte, den die Undiszipliniertheit der Teilnehmer potenzierte. Um das Rathaus herum tobte das absolute Chaos, weil böse Kämpfe um die Reihenfolge an der Brotausgabestelle ausbrachen. So unauffällig wie möglich schlich er an den aufgebrachten Menschen vorbei. Hinter dem Getreidehafen verringerte sich die Menschenmenge deutlich. Bis dahin hatte er mehr als die Hälfte des Brotes verschenkt. Am Port Saint Paul glaubte er, das Schlimmste sei überstanden. Plötzlich umzingelten ihn fünf böse dreinschauenden Typen, die sich benahmen wie eine Patrouille. Sie forderten Auskunft über sein Vorhaben. André kreierte nicht nur leckere Torten, Gott segnete ihn auch mit Schlagfertigkeit.

„Zur Bastille Saint Antoine, den armen Seelen altes Brot bringen,“ log er. Reaktionen der Bande blieben aus. Die fünf Kerle untersuchten den Wagen, fanden aber außer den Kanten keine potenzielle Beute. Der Anführer hob die Faust in Andrés Richtung:

„Die Verdammten in der Bastille wollen wir nicht beklauen. Bürschchen, denk daran, wir sind die Vengeurs, beim nächsten Mal zahlst du Zoll.“ Er ahnte, dass er den Kerlen nicht das letzte Mal begegnete. Möglicherweise verfolgten sie ihn bereits ab der Bäckerei.

 

André wuchsen Flügel, vorbei an der Bastille durch die Porte Saint Antoine auf die Rue Saint Antoine. Madame Sophie hatte ihm noch eine Aufgabe aufgehalst, die er erledigen musste, bevor er die Torten bei der Grande Duchesse ablieferte. Dem Heim Enfants Trouvés, einem Waisenhaus, spendete Sophie Delacroix 1 Louis D’or. Mit diesen Worten übergab er die Goldmünze. Der Besuch lenkte ihn vollkommen von der Aufgeregtheit ab, die ihn vor dem Besuch bei der Grande Duchesse überkam. André rechnete damit, traurigen und schwermütigen Kindern zu begegnen. Er irrte komplett. Sie beeindruckten ihn durch ihre Fröhlichkeit und Freundlichkeit, mit der sie den Besucher begrüßten. Er vergaß die Zeit, spielte lange mit ihnen, bevor ihm plötzlich einfiel, dass er einen wichtigen Auftrag zu erfüllen hatte. Eine halbe Stunde später stand er vor dem riesigen Anwesen der Maillé de la Tour-Landry. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ein Diener, der jeden Schritt mit der exakt gleichen langsamen Geschwindigkeit setzte, das Tor öffnete.

„Der Herr wünschen?“

„Ich bringe die Torten für die Grande Duchesse.“ Der Domestik rümpfte die Nase, etwas schien ihm an der Aussage nicht zu gefallen.

„Ich vermute, dass sie Madame la Grande Duchesse Marie Paulette de Maillé de la Tour-Landry meinen. Folgen Sie mir.“ André trottete mit dem Handkarren hinter ihm her. Er befahl, den Karren vor dem Eingang stehen zu lassen und mit ihm in das Haus zu gehen. Jeder trug eine Malakoff Torte hinein.

André erlitt den nächsten Schock. Die Aura des Reichtums, die ihm entgegenschlug, überwältigte ihn. Praktisch ständig konfrontierten ihn die Wände mit dem eigenen Spiegelbild. Jemanden, der das nicht kannte, brachte diese permanente Begegnung mit sich selbst aus dem Gleichgewicht. In den riesigen Zimmern schmückten Gobelins die Räume, die Jagdszenen, Badeszenen im Freien und andere Freizeitbeschäftigungen der Noblen zeigten. Ausschließlich die königliche Tapisserie Manufaktur in Paris stellte sie her, wie ihm Madame später erklärte. Nur wenige privilegierte Adelsfamilien durften neben dem König dort einkaufen. Teppiche mit orientalischen Motiven bedeckten das blank polierte Teakholz-Parkett. André senkte den Blick, da er nicht wusste, wohin er schauen sollte. Grande Paulette schwebte in einem blauen Seidenkleid bestickt mit rosafarbenen Blüten herein. Sie überraschte André, der einen persönlichen Empfang des Boten durch die Hausherrin nicht erwartet hatte. Das Parfum eilte ihr voraus. Sie hatte eine warme erotische Note gewählt. Die Kopfnote bestand aus hauptsächlich aus Neroli, die Herznote aus Jasmin und die Basisnote aus Eichenmoos. André wahrte Abstand.

 

„Guten Tag junger Mann. Sophie legt bei der Wahl der Lehrlinge immer Wert auf Schönheit, das muss ich zugeben. Der gute Joseph merkt es ja nicht.“ Die spitze Zunge der Grande Paulette fürchtete mancher in der oberen Pariser Gesellschaft. Zu Andrés Überraschung kam sie ihm mit dem Handrücken etwa auf halber Distanz entgegen. Der Duft ihres Parfüms forderte zunächst die volle Aufmerksamkeit, bevor er begriff, was ein Gentleman in der Situation tat, nämlich den Handkuss zelebrieren. Sie fragte, ob er Tee oder Kaffee bevorzuge, und wies den inzwischen eingetretenen Domestiken an, Tee und Gebäck zu servieren.

„Madame, ich bringe ....“ Sie unterbrach ihn.

„Die Torten, ich weiß doch, mein Lieber, die Torten.“ Geplagt von Nervosität spürte André den Druck, etwas zu sagen.

„Denken Madame, dass am kommenden Dreikönigstag wieder Monsieur César-Guillaume Camus gewinnt?“ André betrat unbeabsichtigt sensibles Terrain. Ihr bislang freundliches Gesicht nahm ernste Züge an.

„Woher kennen Sie Monsieur Camus?“

„Monsieur Henri Gensommé gewährte mir die Großzügigkeit, auf seinem Boot mitfahren zu dürfen. Auf der Fahrt in Richtung Paris kamen wir ins Gespräch. Er verriet mir, dass Monsieur Camus in den letzten 5 Jahren die beste Galette des Rois präsentierte.“ Angstvoll schaute er sie an. Hoffentlich gefällt ihr die Antwort, dachte er.

„Nehmen Sie sich vor dem Mann in acht. Die besten Torten bringt er im Wettbewerb garantiert nicht ein. Er verfolgt verschlungene Wege, die für mich undurchsichtig sind. Aber sie führten dazu, ihm in den letzten Jahren den Sieg verschafften. Viele spekulieren darüber, wie es ihm gelingt, die Jury zu überzeugen. Keiner weiß Genaues. Wobei niemand an der Kumpanei mit dem Erzbischof zweifelt.“

„Genug davon, mein Lieber. Lassen Sie uns den chinesischen Tee genießen und anschließend einen kleinen Rundgang durch das Haus unternehmen. Ich bin sicher, so etwas haben Sie noch nicht gesehen.“ André schwieg und beobachtete die Bewegungen der Grande Duchesse aufmerksam.

Vor einem Monat feierte sie den 52. Geburtstag. Sie repräsentierte eher den Typ Frau, den man gerne als klein und rund charakterisiert. Die Robe à la Française aus einem edlen Baumwollstoff, veredelt durch Spitze, die die Damen zu der Zeit teuer bezahlten. Das in einem Sanften ockergelb gehaltene Kleid kennzeichnete vorne und hinten die Form einer Ellipse. Die teure Frisur, kreiert von einem der ersten Friseurmeister der Stadt, erhob die Grande Duchesse über all die anderen, die glaubten, etwas zu bedeuten. Ganz einfach, weil diese Friseure für die 2. Reihe nicht arbeiteten. Paulette bestellte ihren täglich ein. Wer sie anschaute, landete nach Sekunden bei dem Kunstwerk auf ihrem Kopf. Das blonde, wunderbar frisierte Haupthaar angehoben, an den Seiten gedrehte Locken, in der Farbe leicht verändert, verziert mit farbigen Blüten und einer kleinen Porzellanfigur, die den König zeigte. Sie schien nachzudenken, sodass eine Pause entstand, die er als endlos empfand.

Er fühlte Erleichterung, als sie zum Rundgang durch das schlossartige Gebäude schritt. Sie nahm sich viel Zeit und wurde von Zimmer zu Zimmer anhänglicher. Zunächst berührte sie ihn fast zufällig bei ihren Erklärungen zu Bildern, Tapeten, Wandteppichen und wertvollen Möbeln. Später legte sie ihm den Arm um die Schulter oder über den Rücken. Ihr Gesicht näherte sich dem seinen auf wenige Zentimeter, der Geruch des Parfums verwirrte seine Sinne. André folgte ihr stumm, achtete jedoch trotz aller Annäherungen auf Distanz. Dann übergab sie ihn wieder an den Diener und er deutete zum Abschied noch einmal einen Handkuss an. An der Tür wurde er gebeten, zu warten. Eine Mademoiselle kam mit einem silbernen Tablett herein, auf dem ein Briefumschlag lag. Stumm forderte sie ihn auf, den Umschlag zu nehmen. Das Kuvert roch nach dem gleichen Parfum wie das, das die Grande Duchesse verströmte. André nahm schnell den Karren und schlüpfte durch dieAußentür. Draußen öffnete er gespannt den Brief. Jemand schrieb in einer wunderschönen Schrift:

 

 

Verehrter André Roublard,

Ich erlaube mir, Sie ehrerbietigst einzuladen, im

Juli den 14. Tag im Hotel Conti an dem Quai Conti

nahe Pont Neuf den Nachmittagstee mit mir zu feiern

 

Auf dem Umschlag fehlte der Absender und der Brief blieb ohne Unterschrift und Gruß. Was bedeutete das? Bat etwa die ehrenvolle Grande Duchesse Paulette um ein geheimes Treffen mit einem Jungen vom Lande? Gefiel er einem der Dienstmädchen, die durch das Haus huschten? Er schloss aus, dass hinter dem ominösen Text die Grande Duchesse steckte. Diese gemütliche runde Frau fasst gerne zu.

---ENDE DER LESEPROBE---