Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung - Svenja Heck - E-Book

Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung E-Book

Svenja Heck

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Beschreibung

Im aktuellen Fachdiskurs gilt die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung als unabdingbares Recht und das positive Erleben von Partnerschaft und Sexualität wird in unmittelbarem Bezug zur Lebensqualität diskutiert. Gleichzeitig sind die konkreten Erfahrungsräume des Personenkreises von anhaltenden Reglementierungen und Tabuisierungen gekennzeichnet. Das Buch geht der Frage nach, wie sich dieses durchaus widersprüchliche Phänomen erklären lässt und welche Perspektiven sich daraus für das heilpädagogische Handeln ergeben. Neben einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung werden ausgewählte Leitideen und Handlungsansätze behandelt, um sich praxisnah und verstehend einem fachlichen Umgang mit der Thematik anzunähern.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Phänomen geistige Behinderung

1.1 Geistige Behinderung oder Lernschwierigkeiten?

1.2 Ein psychodynamisches Verständnis von geistiger Behinderung

2 Grundlegende Aspekte professionellen Handelns im Bereich von Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung

2.1 Einleitende Gedanken zum Bedarf eines »behinderungsspezifischen« Blickwinkels

2.2 Merkmale und Herausforderungen professionellen Handelns und Verstehens in der Heilpädagogik

2.3 Ethische Dimensionen

3 Partnerschaft und geistige Behinderung

3.1 Partnerschaftswünsche und -suche

3.2 Gelingensbedingungen und Bedeutungen von Partnerschaften

3.3 Mögliche Konfliktfelder

4 Sexualität als Thema in der heilpädagogischen Praxis

4.1 Entwicklung eines weiten Verständnisses von Sexualität

4.2 Sexuelle Entwicklung im Kontext der geistigen Behinderung

4.2.1 Erstes Lebensjahr

4.2.2 Zweites und drittes Lebensjahr

4.2.3 Viertes bis sechstes Lebensjahr

4.2.4 Die Latenzphase

4.2.5 Adoleszente Entwicklung

4.3 Sexualität und geistige Behinderung – aktuelle Entwicklungen

4.4 Verstehende Annäherung an die Perspektive der Fachkräfte

5 Handlungsweisende Ansätze, Leitideen und Konzepte

5.1 Psychoanalytische Pädagogik und geistige Behinderung

5.1.1 Psychoanalytisch-pädagogisches Verstehen

5.1.2 Implikationen für die heilpädagogische Praxis

5.2 Selbstbestimmung versus Fürsorge oder die Frage nach der Legitimation paternalistischer Interventionen

5.3 Empowerment

5.4 Professionelle Unterstützung im Kontext von Queerness und geistige Behinderung

5.5 Zur Bedeutung des Konzepts der Leichten Sprache

5.6 Nähe und Distanz als Spannungsfeld professionellen Handelns

6 Ausgewählte Praxisfelder

6.1 Sexuelle Bildung und geistige Behinderung

6.2 Sexuelle Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen

6.3 Sexualisierte Gewalt

6.3.1 Gefährdungsdimensionen

6.3.2 Präventions- und Interventionsansätze

6.4 Sexualassistenz und Sexualbegleitung

6.5 Eltern- und Angehörigenarbeit

6.6 Kinderwunsch und Elternschaft

6.7 Mediennutzung und Medienbildung im Kontext von Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung

6.8 Ansätze der Unterstützung von Partnerschaft und Partnerschaftssuche

7 Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Die Autorin

Dr. Svenja Heck ist Professorin für Behinderten- und Heilpädagogik am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt.

Svenja Heck

Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung

Professionelles Handeln und Verstehen in der Heilpädagogik

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-039540-4

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-039541-1epub: ISBN 978-3-17-039542-8

Vorwort

Es ist keine neue Erkenntnis, dass das Erleben von Partnerschaft und Sexualität als basales menschliches Bedürfnis gilt (Heck 2022, 174). Aus fachlicher Perspektive sind Rahmenbedingungen zu schaffen, die jedem Menschen einen Zugang zu diesen Lebensthemen ermöglichen (Urbann et al. 2022, 191). Dennoch werden auch im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs sowie in der Praxis anhaltende Reglementierungen und Tabuisierungen in diesem Bereich für Menschen mit geistiger Behinderung beschrieben (vgl. u. a. Kunz 2022; Mayrhofer/Seidler 2020; Jennessen et al. 2019), wenngleich weitestgehend ein Konsens darüber zu bestehen scheint, dass die sexuelle Selbstbestimmung auch für diese Personengruppe nicht nur ein unabdingbares Recht darstellt, sondern zugleich zu einer Steigerung der Lebensqualität beitragen kann und unmittelbar mit dem Erfahren von Würde verknüpft ist (Kunz 2022, 62).

Wie lassen sich diese durchaus widersprüchlichen Phänomene erklären, ohne verführt zu sein, mögliche Fremdbestimmungsprozesse oder angenommene »Fehleinschätzungen« von Seiten der Fachkräfte vorschnell zu bewerten? Wie können Unsicherheiten und Ängste, die dem Thema innezuwohnen scheinen, auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Prozesse und struktureller Bedingungen verstanden werden und welche Perspektiven für das heilpädagogische Handeln folgen daraus?

Eine professionelle Begegnung mit den vielschichtigen Dimensionen von Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung scheint im Alltag auf mehreren Ebenen erschwert. So birgt die Thematik an sich fachliche und persönliche Herausforderungen und auch die neuen, teils unüberschaubaren Entwicklungen der letzten Jahre zu sexueller und partnerschaftlicher Vielfalt können zu weiteren Irritationen und Unsicherheiten führen. Daneben steht Fachkräften und Mitarbeitenden in Einrichtungen nicht selbstverständlich ein haltender Handlungsrahmen durch Rückbezug auf Fachwissen aus Aus- und Weiterbildung oder in Räumen zur (Selbst-)‌Reflexion zur Verfügung.

Das Buch setzt hier an und gibt zunächst einen Überblick über den aktuellen Fachdiskurs zu Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung und den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen professionellen Handelns. In einem zweiten Schritt werden ausgewählte handlungsweisende Zugänge und Leitlinien in der Heilpädagogik praxisnah beleuchtet, deren Rückbezug eine verstehende und professionelle Rahmung im Sinne eines »haltenden Denk- und Handlungsrahmen‍[s]« (Brückner 2022, 12) für die anschließende Auseinandersetzung mit verschiedenen Praxisfeldern erlaubt. Wenngleich davon auszugehen ist, dass die genannten Dimensionen wesentliche Voraussetzungen für professionelles Handeln darstellen, ist einzuräumen, dass dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit in Hinblick auf Zugänge, Themen und Diskurse erheben kann und möchte. Ebenso ist es alleine vor dem Hintergrund der Individualität der Menschen mit geistiger Behinderung nicht möglich, eindeutige Handlungsimpulse zu vermitteln. Die dargestellten Dimensionen dienen vielmehr der Anregung und Sensibilisierung für einen fachlichen Umgang mit dem Themenfeld Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung in dem Wissen, dass es nicht nur »den einen richtigen Weg« (Ortland 2020, 22) geben kann.

Wenngleich sich die Studienlage zur Thematik nach wie vor recht übersichtlich gestaltet, werden an möglichst vielen Stellen im Buch Forschungsergebnisse, Verweise auf Fallvignetten oder reale Aussagen von Menschen mit geistiger Behinderung, Fachkräften sowie Eltern und Angehörigen eingefügt, um einen unmittelbaren Praxisbezug herzustellen. Ein Teil davon stammt aus meinen eigenen Praxiserfahrungen und zwei meiner Forschungsprojekte, der wissenschaftlichen Begleitung einer Partnervermittlung für Menschen mit Behinderung1 (vgl. Bender 2012) sowie der Beratungsstelle Liebelle für selbstbestimmte Sexualität von Menschen mit Lernschwierigkeiten2 (vgl. Liebelle Mainz 2023).

Endnoten

1Die wissenschaftliche Begleitung der Partnervermittlung fand zwischen 2006 bis 2009 statt, die Ergebnisse wurden in Bender 2012 veröffentlicht.

2Die wissenschaftliche Begleitung der Beratungsstelle Liebelle wurde im Zeitraum von 2016 bis 2018 durchgeführt und beinhaltet die Erhebung und Auswertung von narrativen Interviews mit Menschen mit geistiger Behinderung, Eltern und Angehörigen sowie Fachkräften zu den Themen Partnerschaft und Sexualität. Die Interpretation fand als tiefenhermeneutische Analyse (vgl. Kratz/Ruth 2016; Gerspach 2021) prozessbegleitend in einer festen Kleingruppe statt. Passagen eines Elterninterviews wurden bereits in Heck 2019 veröffentlicht, Blitzlichter aus den Interviews mit Fachkräften in Heck 2022. Weiteres, bislang noch unveröffentlichtes Material ist in dieses Buch eingearbeitet.

1 Phänomen geistige Behinderung

1.1 Geistige Behinderung oder Lernschwierigkeiten?

Der Begriff der geistigen Behinderung gelangte in Deutschland erstmals im Jahre 1958 durch die »Bundesvereinigung Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e. V.«3 in die fachliche und gesellschaftliche Diskussion. Neben einer deskriptiven Verwendung besaß und besitzt er auch eine deutlich normativ geprägte Seite (Theunissen 2000, 13; Kulig et al. 2006, 116 f.). In den wissenschaftlichen Diskurs fand er vor allem durch das Werk »Pädagogik der Behinderten« von Bleidick um 1970 Eingang (Kulig et al. 2006, 117). Seit geraumer Zeit wird er nicht nur kritisch bewertet, sondern gilt als der »problematischste Begriff in der Heil- und Sonderpädagogik« (Mesdag/Pforr 2008, 7). Dederich schätzt die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Terminus der Behinderung sogar als eines der »komplexesten und schwierigsten Probleme der Behindertenpädagogik« (Dederich 2009, 37) ein.

Infolgedessen finden sich in Wissenschaft und Praxis unterschiedliche Bezeichnungen für den Personenkreis von Menschen mit geistiger Behinderung vor. So spricht man beispielsweise von einer kognitiven oder mentalen Beeinträchtigung, wenngleich jeder dieser Begriffe sich ebenfalls mit Kritik konfrontiert sieht (Lingg/Theunissen 2018, 13). Die Suche nach einem geeigneten Terminus gestaltet sich unter anderem deshalb schwierig, da man einerseits den Forderungen der Betroffenen selbst nach einer Umformulierung in »Menschen mit Lernschwierigkeiten« nachkommen und damit der negativen Konnotation entgegentreten möchte, diese Bezeichnung der in Deutschland vorherrschenden Abgrenzung zwischen Lernbehinderung und geistiger Behinderung jedoch nicht vollends gerecht werden kann (Heck 2022, 174). Aus der Perspektive der Interessenvertreter*innen soll mit dem Begriff der Lernschwierigkeit betont werden, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung lebenslang lernen können, wenn dafür die entsprechenden Entwicklungsräume eröffnet werden. Es scheint allerdings fraglich, ob alleine durch den Begriffswechsel eine Auflösung von Zuschreibungen und Kategorisierungen erreicht werden kann (Sigot 2017, 33 f.), oder nicht vielmehr das »gesellschaftliche Ordnungsformat« (Heite 2010 zit. n. ebd., 34) bestehen bleibt, indem Menschen mit Lernschwierigkeiten weiterhin in ihrer Differenz zu Menschen ohne Lernschwierigkeiten wahrgenommen werden. In diesem Fall bestünde, wie bei dem Terminus der geistigen Behinderung die Gefahr, dass individuelle Themen, Wünsche und Bedürfnisse verborgen bleiben, wenn jegliche Aussagen über Personen durch Zuschreibungen gefärbt sind (Radtke 1994, 110). »Die Person selbst [...] wird dadurch zum Randthema. Vor allem tritt sie in ihrem Eigenwillen zurück, in ihrer Sperrigkeit, in jenen Formen der Besonderheit, die eine tiefergehende, über das Alltägliche hinausgehende Auseinandersetzung erfordert« (Ahrbeck 2011, 9).

Gleichzeitig stellt sich im fachlichen Diskurs mit Bezugnahme auf den Anspruch der Inklusion schließlich die Frage, ob nicht gänzlich auf eine Kategorisierung bzw. begriffliche Zuordnung zu verzichten sei. Allerdings scheint dies mit der Gefahr unausgesprochener heimlicher Zuschreibungen einherzugehen, die dann nicht mehr explizit thematisiert werden dürfen und somit keine Bearbeitung erfahren, wodurch Abwehrprozesse weiter manifestiert werden können. Allein der Entzug der Begrifflichkeit führt nicht zwangsläufig zu einer Auflösung von wahrnehmbaren Unterschieden. Gleichzeitig sollte die Realität der Behinderung mit den ihr innewohnenden Themen für die Betroffenen nicht verleugnet werden (Ahrbeck 2011, 9 ff.), um unter anderem Prozesse von Diskriminierung und Fremdbestimmung in den Blick nehmen und ihnen entgegenwirken zu können. So sind gut gemeinte Aussagen, wie »Wir alle sind behindert«, vor dem Hintergrund des Wunsches der Unterstützung von Entstigmatisierung und Anerkennung von Menschen mit Behinderung zwar nachvollziehbar, aber eher als »Verlegenheitsformeln« (Drepper 1998 zit. n. Ahrbeck 2022, 46) einzustufen, die zur Verschleierung von Lebensrealitäten beitragen, zumal die Perspektive der Betroffenen hier nicht zwangsläufig Beachtung findet. In diesem Kontext stellt sich Ahrbeck die Frage, »wie es auf Menschen mit Behinderung wirken mag, wenn ein Sprachgebrauch gesucht wird, der vermeidet, was für sie selbst offensichtlich ist« (Ahrbeck 2011, 74)?

Nicht nur bei der Beschäftigung mit den Themen Partnerschaft und Sexualität ist in der Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung eine zentrale Entwicklungschance zu sehen. Sie kann umso deutlicher erschwert werden, je weniger die Realität der Behinderung, auch durch die Verwendung des Begriffs, benannt werden darf (vgl. Bender 2012). Daran anknüpfend findet in diesem Buch der Terminus der geistigen Behinderung weiterhin Verwendung, nicht zuletzt, da er eine (inter-)‌disziplinäre Verständigung erlaubt, im wissenschaftlichen Diskurs noch kein Konsens über eine ähnlich fundierte Bezeichnung existiert (Klauß 2006, o. S.) und er eine Perspektive auf mögliche Auswirkungen der Diagnose im Kontext der Themen Partnerschaft und Sexualität ohne Verschleierung ermöglicht, wie auch Pixa-Kettner bezogen auf die Elternschaft formulierte:

»Ein wichtiger Grund für das Festhalten an der alten Bezeichnung der geistigen Behinderung liegt darin, dass die Brisanz der Thematik des vorliegenden Bandes weniger eindeutig konnotierter Begriffe wie ›lernbeeinträchtigt‹, ›mit Lernschwierigkeiten‹ o. ä. nicht entschärft werden soll« (Pixa-Kettner 2015, 13, Hervorhebungen im Original).

Um das Anliegen der Betroffenen dennoch nicht zu negieren, wird ausschließlich von Menschen mit geistiger Behinderung gesprochen und damit der Mensch und nicht die Beeinträchtigung in den Vordergrund gerückt. Mit dem Bewusstsein darüber, dass die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung grundsätzlich äußerst heterogen und jede*r Einzelne in ihrer bzw. seiner Einzigartigkeit zu sehen ist, stehen insbesondere die fortwährenden Abhängigkeitsprozesse (Kunz 2022, 62) und möglichen Folgen der Diagnose für das Individuum (Cloerkes 2011, 7) im Vordergrund, die sich erschwerend auf das Ausleben von Partnerschaft und Sexualität auswirken können.

1.2 Ein psychodynamisches Verständnis von geistiger Behinderung

Im Jahr 2021 lebten rund 7,8 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland, davon 14 Prozent mit geistiger oder seelischer Behinderung (Statistisches Bundesamt 2023, o. S.). Wenngleich die Übergänge zwischen diesen beiden Behinderungsformen durchaus fließend sein oder vielmehr Doppeldiagnosen auftreten können, verwundert es doch, dass andere Behinderungsformen in der Statistik eine durchaus differenziertere Betrachtung erfahren, wenn beispielsweise zwischen Schädigungen von Armen und Beinen oder der Wirbelsäule unterschieden wird (vgl. ebd.). Gemeinhin wird mitunter noch angenommen, der geistigen Behinderung läge stets eine organische Schädigung zugrunde, wenngleich Speck bereits 1990 betonte, dass bei ca. der Hälfte der Menschen mit geistiger Behinderung eine solche nicht nachzuweisen sei (Speck 1990, 46 f.). Die aktuelle Klassifikation der WHO, die ICF4, versucht den Blick weg von einer linearen Zuschreibung auf vielschichtige Wechselwirkungen zu erweitern, wie Abbildung 1 verdeutlicht (▸ Abb. 1).

Abb. 1:Schematische Darstellung ICF (aus: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (Hrsg.) (2022): ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, S. 21)

Das Modell von 2001 besitzt nicht nur bis heute Gültigkeit, sondern bietet auch den Referenzrahmen für den Behinderungsbegriff sowie die Bedarfsermittlung im neuen Bundesteilhabegesetz, kurz BTHG (Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz 2023, o. S.).

Gleichwohl lässt sich an der ICF nach wie vor eine medizinische Orientierung erkennen, die subjektive Biografiespuren der Individuen sowie gesellschaftliche Zuschreibungen und Normen nicht vollständig erfassen kann (Fischer 2008, 411 ff.). Eine psychodynamische Annäherung an das Phänomen der geistigen Behinderung könnte hier den Blick zusätzlich erweitern.

»Über jede mögliche organische Beschädigung hinaus ist [...] ein emotional beeinträchtigtes Beziehungsgeschehen zu fokussieren, welches eine fundamentale Schwierigkeit offenbart, einem psychodynamischen Druck standzuhalten, ohne zu unbewussten Verschleierungen und Ausblendungen greifen zu müssen« (Gerspach 2008, 32).

Eine Zuordnung zu dem Personenkreis von Menschen mit geistiger Behinderung umschreibt nicht nur eine gesellschaftliche und professionelle Realität, sondern wirkt sich auch auf individueller und innerpsychischer Ebene aus. Sie ist als vielschichtiges Phänomen anzusehen, welches sich im individuellen Lebenslauf prozessual verändern kann (Mesdag/Pforr 2008, 7 ff.). Sinason unterscheidet zwischen einer primären und sekundären Behinderung und geht von einer Verbindung zwischen möglichen Traumata, Schädigungen und behindernden Prozessen aus (Sinason 2000, 11 ff.). Ein solches Verständnis einer geistigen Behinderung als soziale Kategorie findet vornehmlich in drei Bereichen ihren Ausdruck: in einer erschwerten Beziehungsgestaltung in der frühen Kindheit sowie in eingeschränkten Kommunikations- und Teilhabemöglichkeiten (Mattner 2008, 17). Durch die Diagnose einer geistigen Behinderung können Veränderungen in der Beziehung zwischen dem Kind und den primären Bezugspersonen entstehen, insbesondere dann, wenn sie keine Unterstützung in dieser sensiblen Phase erhalten (Jonas 1993, 76). Dabei geht es keineswegs um individuelle Schuldzuweisungen an die Bezugspersonen, sondern eine verstehende Annäherung an deren mögliches Erleben im Kontext der Diagnosestellung. Dieses kann von starken Ambivalenzen, Trauer, Wut, Schock und auch Hoffnungslosigkeit geprägt sein, Emotionen, die neben der Liebe für das Kind gleichermaßen existieren und durch kränkende und zurückweisende Erfahrungen durch die Umwelt zuweilen eine Intensivierung erfahren (Pforr 2022, 492). »Eine solche Nachricht bedeutet zumeist eine Beschneidung der Träume, eine Zensur der Vorstellung, eine Erschütterung des Gewohnten [...]. Ein durch Normen geordnetes und an ihnen orientiertes Leben wird zerstört« (Sonnleitner 2018, 31). Nicht selten geht die Konfrontation mit der Diagnose der geistigen Behinderung auch mit dem Erleben eines Identitätsverlustes (Jonas 1991, 98) sowie großen Unsicherheiten einher. »Sie müssen sich mit Fragen beschäftigen, die ihnen zuvor fern waren, und bestehende Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung des Kindes und ihrer eigenen Lebensplanung revidieren« (Seifert 2014, 25). Die eigenen Vorstellungen von »Normalität« geraten auf den Prüfstand, es bedarf zuweilen einer Auseinandersetzung mit Ohnmacht und Unglaube (Teubert 2020, 45). Insbesondere die Zeit unmittelbar nach der Diagnosemitteilung beschreiben viele als besonders herausfordernd, wie auch in der folgenden Aussage einer Mutter deutlich wird:

»So war die Geburt unseres Sohnes mit Down Syndrom ein Ereignis, das die Familie in ihren Grundfesten erschüttert hat. Mein Mann ist bei der Diagnosestellung in Ohnmacht gefallen, ich selbst meinte zum Arzt, dass es sich hier um eine Verwechslung handeln müsse, und mein Vater wollte den Arzt sprechen, um den Irrtum zu klären. So etwas sei in unserer Familie schließlich noch nie vorgekommen. Und es kann nicht sein, was nicht sein darf. Noch heute, nach all den Jahren, wenn ich an diese ersten Tage zurückdenke, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Wir konnten es alle nicht begreifen. Die erste gemeinsame Nacht zu dritt zu Hause, die wir komplett durchgeweint haben, mit unserem kleinen Sohn abwechselnd auf unserem Bauch liegend und mit keiner Perspektive vor uns, unser Leben ein Trümmerfeld, das zumindest glaubten wir, war eine furchtbare Erfahrung. Der Schmerz über den Verlust unseres ›Wunschkindes‹ war damals überwältigend. Wir konnten uns ein Morgen und Übermorgen überhaupt nicht mehr vorstellen. Die Zukunft schien zerbrochen« (Carda-Döring et al. 2006, 30, Hervorhebung im Original).

Eine andere Mutter berichtete uns im Interview:

»[A]‌ls unsere Tochter auf die Welt kam, die behinderte, dann hat man nur gesagt, der Arzt nur gesagt, Kinder, die so aussehen, haben was. [...] Das ist schon ein Schlag, wenn man als Eltern sowas gesagt kriegt. Und und dann haben sie lang herumgedoktert und kam halt alles verzögert. [...] Das war schon ne harte Zeit. Auch das Akzeptieren, dass es so ist« (Elterninterview Frau G, 2016, Z. 339 – 360).

Eine solche nachvollziehbare emotionale Verfasstheit nach der Diagnosemitteilung birgt schließlich die Gefahr, dass die emotionalen Anliegen des Kindes nicht adäquat bedient werden (Fröhlich 1994, 154) und sich die Belastungen der Bezugspersonen hemmend auf die Abstimmungsprozesse auswirken (Pforr 2022, 492 f.). Sind die primären Bezugspersonen beispielsweise aufgrund eigener Trauerprozesse nicht dazu in der Lage, das Gefühl des Kindes in der Interaktion widerzuspiegeln, wird es dem Säugling erschwert, das eigene innere Empfinden zu erkennen und eine Repräsentanz dieser Selbstbefindlichkeit auszubilden, wodurch die Benennung der eigenen Gefühle und Vorstellungen im Verlauf des weiteren Lebens gehemmt sein kann (Fonagy 2005, 37 f.). Um zwischen dem realen Gefühlsausdruck der Bezugsperson und dem gespiegelten Affekt zu unterscheiden, ist eine empathische markierte Spiegelung von Nöten. Gelingt eine solche Affektspiegelung nicht, kommt es zu einer realistischen Spiegelung, in der die (negativen) Affekte des Kindes von der Bezugsperson übernommen und ungefiltert zurückgegeben werden (Gerspach 2008, 38 ff.), wodurch negative Gefühle und Ängste unbearbeitet im Kind zurückbleiben (Preiß 2006, 73). Ein fehlendes Abstimmungs- und Antwortverhalten kann schließlich die Internalisierung eines »fremde‍[n] Selbst« zur Folge haben (Fonagy et al. 2006, 135 ff.), welches wiederum eine überhöhte Anpassung an die Vorstellungen und Empfindungen der Bezugspersonen begünstigt.

Der Prozess der Spiegelung kann allerdings nicht nur durch eine eingeschränkte Affektregulation der Bezugspersonen beeinträchtigt werden, sondern auch die Interaktions- und Kommunikationsversuche des Kindes werden womöglich aufgrund der Beeinträchtigung nicht ausreichend verständlich wahrgenommen, wodurch die nachvollziehbare hohe Verunsicherung ein empathisches Einfühlen erschwert (Gerspach 2004, 62). So führen neben psychischen Dimensionen auch mögliche Einschränkungen in Motorik, Wahrnehmung und Kommunikation zu der Schwierigkeit, im Kindesalter aktiv in die Beziehung zu den Bezugspersonen einzutreten und eine positive Selbstidentität durch die angesprochenen Spiegelungsprozesse aufzubauen (Schnoor 1992, 200 ff.).

»Es kann vorkommen, dass der Erwachsene sich schon wieder abgewendet hat, bevor eine Reaktion erfolgt. Die Mühe des Kindes findet keine Beachtung mehr und damit keine Antwort. Es passiert leicht, dass das Kind unterfordert wird, weil wir ihm nicht ausreichend Zeit lassen für seine eigene Reaktion und an seiner Stelle handeln. Ebenso können wir das Kind überfordern, wenn wir zu viel erwarten. Man sieht dann‍[,] wie das Kind uns ausweicht und die Interaktion beendet« (Wolff 1998 zit. n. Gerspach 2022b, 18).

Wie diese Prozesse eine wechselseitige Wirkung entfalten können, möchte ich gerne an einer Fallvignette illustrieren.

Im Rahmen meiner Arbeit in einer Frühförderstelle besuchte ich einmal wöchentlich eine Familie, in die nur wenige Wochen zuvor ein Kind mit Trisomie 21 geboren wurde. Sobald ich die Wohnung betrat, fühlte ich mich regelrecht von einer wahrnehmbaren Schwere erdrückt. Ich fand Mutter und Säugling zumeist alleine im Wohnzimmer vor. Das Kind lag auf einer Decke und bewegte sich kaum, es ging keinerlei Blickkontakt oder motorische Aktivität zur Kontaktaufnahme von ihm aus. Die Mutter blickte zumeist ins Leere und meine Kommunikationsversuche wurden von ihr nur spärlich beantwortet. In der Beziehungsanbahnung mit dem Kind fühlte ich mich zumeist verloren, wenn ich versuchte, Interaktionen einzuleiten, die jedoch nicht beantwortet wurden. Nach der Stunde breitete sich stets eine unmittelbare außerordentliche Erschöpfung in mir aus, die mir ansonsten in der Arbeit nicht begegnete. Auch nach mehreren Wochen waren keine Entwicklungen für mich wahrnehmbar. Schließlich stand ein großes Sommerfest des Trägers der Frühförderstelle an, das auf dem Gelände einer zugehörigen Wohngruppe für Menschen mit geistiger Behinderung ausgerichtet wurde. Ich lud die Familie zu dieser Feierlichkeit ein und die Mutter sagte nach einigem Widerstreben zu. Nach diesem Tag schien die Stimmung in der Wohnung deutlich verändert. Die Mutter begrüßte mich wortintensiver und ich konnte erste direkte Interaktionen zwischen ihr und ihrem Nachwuchs beobachten. Nach kurzer Zeit erklärte sie mir, dass sie sich nach der Diagnosemitteilung »wie im Nebel« gefühlt habe. All ihre Vorstellungen über das Leben ihres Kindes schienen aufgrund der Beeinträchtigung mit einem Mal nicht mehr realisierbar. Die Konfrontation mit älteren Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Sommerfest, die ihren Alltag in weitestgehender Selbstbestimmung in der Wohneinrichtung verbrachten, ließen erste Hoffnungen und neue Phantasien über mögliche Entwicklungsräume in ihr aufkeimen. Fortan war eine Basis geschaffen, in der die Mutter ihre höchst ambivalenten Gefühle verbalisieren konnte, wodurch sich auch entwicklungsfördernde Momente in der Beziehung zu ihrem Kind anbahnten.

In diesem Kontext ist auch auf die Ausbildung der Mentalisierungsfähigkeit5 zu verweisen, die bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht selten einer Einschränkung unterliegt. Diese ist jedoch nicht vordergründig mit der Diagnose selbst zu erklären, sondern vielmehr »mit der Resonanz, die geistig behinderte Menschen insbesondere in emotionaler Hinsicht bei anderen auslösen« (Datler 2006, 77). Mentalisieren wird als Fähigkeit beschrieben, sich selbst und andere Personen als Subjekte mit jeweils eigenen mentalen Zuständen zu verstehen und diese miteinander in Verbindung zu setzen (Gerspach 2018, 77). Die Fähigkeit ist als Anlage angeboren und entfaltet sich insbesondere in den ersten Lebensjahren in Abhängigkeit der Beziehungs- und Bindungserfahrungen mit den Bezugspersonen (Gingelmaier et al. 2021, 30). Nach Datler umfasst diese Kompetenz,

»sich den inneren Beweggründen des eigenen Verhaltens, aber auch den Beweggründen des Verhaltens anderer Menschen in verstehender Weise zuzuwenden,

angemessene Vorstellungen von der ›inneren Welt‹ von Menschen auszubilden,

sich auch sprachlich/symbolisch mit anderen Menschen über Inhalte der ›inneren Welten‹ zu verständigen

und im Prozess des Nachdenkens über innerpsychische Prozesse, die der eigenen Welt zuzurechnen sind, Emotionen, Wünsche und Impulse ›zu verdauen‹, d. h. in ihrer Intensität abzuschwächen und zu lenken« (Datler 2004, 73, Hervorhebungen im Original).

Eine geglückte Ausbildung der Mentalisierungsfähigkeit ist im Erwachsenenalter beispielsweise daran zu erkennen, inwieweit auf Möglichkeiten zur Selbstreflexion zurückgegriffen werden kann. Letztere schließt auch eine Vorstellung über die inneren Vorgänge der Bezugspersonen ein (Dornes 2006, 169 ff.). Gelingt dies nicht, bleiben die Personen oft konkretistisch verhaftet oder werden von Zuschreibungen geleitet, die keinen Raum für unterschiedliche individuelle Erfahrungen der an der Interaktion beteiligten Menschen eröffnen (Gerspach 2018, 83 f.). So konnten in einem früheren Forschungsprojekt unterschiedliche Situationen beobachtet werden, die in diesen Kontext eingeordnet wurden und zu konflikthaften Situationen in Partnerschaften von Menschen mit geistiger Behinderung führten. Beispielsweise wollte eine Frau die Beziehung zu ihrem Partner beenden, da er von einer Kurbekanntschaft sprach und für sie nicht vorstellbar war, dass er sie damit nicht verletzen wollte, sondern für ihn die einzige Freundschaft, die er bislang in seinem Leben pflegte, ebenfalls von Bedeutung war (Bender 2012, 183). Wenngleich sich die beschriebenen Beziehungserfahrungen vor dem Hintergrund der Diagnose einer geistigen Behinderung hemmend auf die Ausbildung des Mentalisierens auswirken können (Datler 2004, 77), sei an dieser Stelle gleichermaßen hervorzuheben, dass sich die Fähigkeit im Verlauf des gesamten Lebens weiterentwickeln kann (Gingelmaier et al. 2021, 30), wodurch eine Unterstützung in allen Altersphasen sinnvoll erscheint (▸ Kap. 5.1). Einen Ausgangspunkt bildet dabei die folgende grundlegende Aussage von Sinason: »Behinderte Erwachsene und Kinder werden immer noch viel zu selten als Personen gesehen, die Worte und Gedanken von Wert in sich tragen‍[,] und allzu selten wird ihnen eine Möglichkeit geboten, sie zu übersetzen oder übersetzen zu lassen« (Sinason 2000, 12).

Darüber hinaus sind in eine psychodynamische Betrachtung des Phänomens der geistigen Behinderung etwaige Operationen und Krankenhausaufenthalte und damit einhergehende psychische Auswirkungen mit einzubeziehen. Auch kränkende Zurückweisungen oder fehlende Anerkennung in »einer auf optimale Leistungsfähigkeit getrimmten Gesellschaft« (Gerspach 2022a, 72) können sich negativ im Selbsterleben abbilden und ein Gefühl der Unzulänglichkeit begünstigen, welches Menschen mit geistiger Behinderung primär in sich selbst verorten und durch eine Anpassung an ihre Umwelt auszugleichen versuchen (de Groef 1997, 24).

Eine weitere Perspektive liefert der Blick auf Kinder mit starken Entwicklungsverzögerungen aufgrund psychosozialer Faktoren, die nicht selten die Diagnose einer geistigen Behinderung erhalten, insbesondere dann, wenn die Familie sozial benachteiligter Herkunft ist (Pforr 2022, 493). Auch hier möchte ich ein Beispiel aus meiner Arbeit in der Frühförderstelle anführen.

Der Mutter eines Jungen, der wenige Monate vor der Einschulung stand, wurde vom Kinderarzt und den Erzieherinnen im Kindergarten dringend empfohlen, Frühförderung für ihren Sohn in Anspruch zu nehmen. Der Erstkontakt gestaltete sich schwierig, da der Vater des Kindes derzeit inhaftiert war und zunächst kein Treffen in der elterlichen Wohnung stattfinden durfte. So verabredeten wir die ersten Termine im Kindergarten, den der Junge allerdings nur unregelmäßig besuchte. Ich erlebte ein durchaus aufgeschlossenes und neugieriges Kind, dem es jedoch schwerfiel, sich motorisch und sprachlich auszudrücken, Regelspielen zu folgen oder sich in Interaktion mit anderen Kindern zu begeben. Schnell beschlich auch mich die Idee einer Entwicklungsverzögerung, ich hatte jedoch ebenso wie die engagierten Fachkräfte vor Ort den Eindruck, dass das Kind bislang noch nicht alle seine Entwicklungspotenziale ausschöpfen konnte. Nach wenigen Wochen war schließlich ein erstes Gespräch mit der Mutter in ihrem Zuhause möglich. Auch sie wirkte aufgeschlossen und zugewandt auf mich und sie berichtete mir schnell, dass sie erst seit wenigen Monaten in Deutschland lebte und sich seit der kurz nach ihrer Ankunft erfolgten Inhaftierung ihres Mannes in einer Art Schockzustand befand, der es ihr bislang verunmöglichte, in ihrem neuen Zuhause anzukommen. Ich hatte das Gefühl, dass sie sehr einsam war und verstand ihre Offenheit als Möglichkeit, sich endlich ausdrücken zu können. Die beschriebenen Belastungen spiegelten sich auch im Zustand der Wohnung wider. Ihr Sohn hatte lediglich ein kleines Auto als Spielzeug und schlief in einem Gitterbett für Kleinkinder, das ihr von einer Nachbarin geschenkt wurde. Seine Explorations- und Entwicklungsmöglichkeiten schienen durch die besondere Familiensituation nachhaltig eingeschränkt. Es ist den feinfühligen Kita-Fachkräften zu verdanken, die nicht nur die Mutter nach Kräften unterstützen, sondern auch nicht eigenen Zuschreibungen unterlagen, die diesem Jungen leicht das Bild eines Kindes mit geistiger Behinderung hätten attestieren können. Der Glaube an seine Entwicklungschancen und die fortwährende Begleitung führten schließlich dazu, dass das Kind regelbeschult und die drohende Behinderung abgewendet werden konnte.

All diese unterschiedlichen Aspekte stellen zuweilen reale (Beziehungs-)‌Erfahrungen für Menschen mit geistiger Behinderung dar, die sich auf das Erleben von Partnerschaften im weiteren Verlauf des Lebens auswirken können. Bevor diese Sichtweise in Kapitel 3 (▸ Kap. 3) weiter ausdifferenziert wird, scheint es jedoch angemessen, grundsätzliche Überlegungen zur Thematik von Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung auf der Ebene des professionellen Handelns anzustellen.

Endnoten

3Der Ursprungsname »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e. V.« wurde im Jahr 1968 in »Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V.« umbenannt. Heute bezeichnet sich der Verein als »Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.«

4Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit.

5Im Modell des Mentalisierens verbinden sich psychodynamische und kognitionspsychologische Perspektiven. Die Fähigkeit des Mentalisierens bildet sich im Verlauf der Affektspiegelung über den Als-ob-Modus und den Äquivalenzmodus in der Playing-with-reality-Theorie hin zu einem reflektierenden Modus aus, der die vorangestellten Modi miteinander vereint, wodurch das Kind durch einen empathischen Eingang der Bezugspersonen lernt, seine Gedanken und die Realität voneinander zu unterscheiden (Dornes 2004, 180 ff.). Sichere Bindungserfahrungen wirken sich ebenfalls positiv auf das Mentalisieren aus (Fonagy 2009, 103).

2 Grundlegende Aspekte professionellen Handelns im Bereich von Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung

2.1 Einleitende Gedanken zum Bedarf eines »behinderungsspezifischen« Blickwinkels

Mit Blick auf ein professionelles Handeln im Bereich von Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung muss zunächst die Frage erlaubt sein, ob es überhaupt einer spezifischen Auseinandersetzung bedarf oder auf diese Weise vielmehr »die damit einhergehende ›Behinderung der Sexualität‹ reproduziert« (Trescher/Börner 2014, o. S., Hervorhebung im Original) wird? Können wir von einer Sexualpädagogik der Vielfalt (Sielert 2015) ausgehen oder gewährleistet erst ein expliziter Blick auf die dem Thema innewohnenden anhaltenden Herausforderungen und Chancen für Menschen mit Behinderung einen differenzierten fachlichen Umgang (Ortland 2020, 19 ff.)? Ortland argumentiert in dieser Frage wie folgt:

»Müssten viele Menschen mit Behinderungen nicht mit der Negierung ihrer Sexualität, der Tabuisierung sexueller Themen, mangelnder Sexualerziehung, segregierenden gesellschaftlichen Tendenzen sowie Stigmatisierungen im alltäglichen Lebenskontext und noch vielen weiteren Erschwernissen von Aktivität und Teilhabe leben, so bräuchten wir keine ›behinderungsspezifische‹ Sexualpädagogik« (ebd., 9, Hervorhebung im Original).

Kunz wiederum resümiert: »Die Fachliteratur formuliert übereinstimmend, dass es keine behinderungsspezifische Sexualität gibt bzw. geben kann« (Kunz 2022, 63), wodurch zu schlussfolgern wäre, dass auch eine behinderungsspezifische Unterstützung von Sexualität nicht angemessen erscheint.

Sicherlich läuft eine exklusive Betrachtung von Sexualität und Partnerschaft bei geistiger Behinderung Gefahr, die Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen nur vor dem Hintergrund determinierter und zugestandener Grenzen zu reflektieren (Trescher/Börner 2004, o. S.). Ein Bewusstsein über ebendiese kann allerdings nicht unter Bezugnahme auf ein »abstraktes Normalitätstheorem« (Ahrbeck 2011, 10) gelingen, sondern muss sich an den konkreten Lebensrealitäten orientieren (Brückner 2017, 39), die keine ausschließlich objektiv zu betrachtenden Bedingungen darstellen, sondern auch subjektive Empfindungen und Realitätskonstruktionen sowie soziale Normvorstellungen einbeziehen (Krüger 2009, 18). Dabei geht es keineswegs um eine defizitorientierte Sichtweise auf geistige Behinderung, sondern vielmehr darum, die Realität der Beeinträchtigung und deren mögliche Folgen nicht zu nivellieren, denn »[d]‌ie besonderen Einschränkungen, die behinderte Menschen erleben und die spezielle Form ihres Angewiesenseins auf andere erzeugen eine psychische Faktizität, die es anzuerkennen gilt« (Ahrbeck 2004, 190).

Darüber hinaus stellt sich mir in diesem Zusammenhang die Frage, wie eine behinderungsspezifische Sexualität zu definieren sei. Geht es um eine besondere Sexualität aufgrund der Behinderung, die grundsätzlich andere Zugänge und Betrachtungsweisen verlangt? Auf diese Frage ist aus meiner Sicht mit einem klaren »Nein« zu antworten. Wenn aber unter einer behinderungsspezifischen Sexualität die vielschichtigen Dimensionen in den Blick rücken, denen Menschen mit geistiger Behinderung, Fachkräfte sowie Eltern und Angehörige in Konfrontation mit der Thematik begegnen können, möchte ich mich klar für eine spezifische Thematisierung aussprechen. Denn nur in der Benennung und in dem Wissen um Zuschreibungen, Phantasien und einschränkenden Entwicklungsräumen liegt die Chance, diese reflexiv aufzulösen. Dabei geht es nicht um eine Verallgemeinerung von Menschen mit geistiger Behinderung und deren Lebensrealitäten, sondern um eine differenzierte Auseinandersetzung mit Partnerschaft und Sexualität ohne Verleugnung von möglichen Hemmnissen, aber eben auch nicht von individuellen Möglichkeiten, Stärken und Ressourcen sowie unterstützenden Bedingungen in Einrichtungen und im Elternhaus.

»Menschen mit oder ohne Handicap verdienen differenzierte, ihrer Individualität angemessene Begleitung – wenn sie der Begleitung bedürfen. [...] Ich habe zwangssterilisierte Menschen getroffen, die Sexualität für sich kaum denken konnten, oft noch nicht einmal fühlen. Ich habe selbstständige, lebensfrohe und lustvolle Paare erlebt, deren intellektuelle Beeinträchtigung ich als beträchtlich gefühlt habe, beziehungsfähige Menschen mit so genannter autistischer Störung, schwer mehrfach behinderte Menschen, die ein Ja und ein Nein zu Körperberührungsangeboten sehr differenziert ausdrücken konnten, obwohl sie über kaum mehr als die Augen als Kommunikationsträger verfügen konnten, ich habe ein 70jähriges Elternpaar kennen gelernt, das gegenüber Sexualassistenzangeboten für ihr Kind offen waren« (Herrath 2010, 5).

Mit einem solchen Spektrum können Fachkräfte in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung konfrontiert sein. Damit geht eine hohe Komplexität im fachlichen Alltag einher, die wiederum begünstigt, dass »eine intuitiv‐zufällige Art der Anwendung von Wissen, Know‐how, Handlungsidealen und Leitbildern praktiziert [wird – d. Verf.]. Das führt zur Verfestigung zufälliger Lösungen, zur Überbetonung von individuellen Erfahrungen« (Greving/Ondracek 2009, 36). Es gilt daher im Folgenden, grundlegende Merkmale und Bedingungen professionellen Handelns in der Heilpädagogik zu reflektieren.

2.2 Merkmale und Herausforderungen professionellen Handelns und Verstehens in der Heilpädagogik

Sich einem professionellen Handeln in der Heilpädagogik anzunähern, geht mit einigen Herausforderungen einher. So sind nicht nur unterschiedliche Begrifflichkeiten zu differenzieren, sondern es scheint auch unklar, inwieweit sich die Diskurse in Pädagogik, Heilpädagogik und Sozialer Arbeit voneinander unterscheiden. In den nachfolgenden Überlegungen steht das professionelle Handeln im Sinne einer heilpädagogischen Professionalität im Fokus, die es zunächst vom Terminus der Professionalisierung abzugrenzen gilt. Im Alltag finden sich zuweilen synonyme Verwendungen beider Begriffe vor, wenngleich die unterschiedlichen Konturierungen durchaus bedeutsam sind. Professionalisierung ist eng mit der Frage der Profession6 verbunden und lässt sich als prozesshafte Weiterentwicklung eines Berufs zur Profession verstehen, wenngleich zuletzt genannter Status nicht zwangsläufig erreicht werden muss. Professionalität bezieht sich auf das konkrete berufliche Handeln in der Praxis und kann einen wesentlichen Stellenwert im Prozess der Professionalisierung einnehmen, muss dort jedoch nicht vordergründig behandelt sein (Greving 2011, 17 ff.).

»Als Synonym für ›gekonnte Beruflichkeit‹ stellt Professionalität die nur schwer bestimmbare Schnittmenge aus Wissen und Können dar; sie markiert die widersprüchliche Einheit jener Kompetenzen und Wissensformen, die ihrerseits den Umgang mit beruflichen Wiedersprüchen, Paradoxien und Dilemmata erlaubt« (Nittel 2002 zit. n. Greving 2011, 19).

Dabei ist grundsätzlich ein Rückbezug auf Fachwissen erforderlich, um der hohen Komplexität im Berufsalltag begegnen zu können, die nicht mit reinem Alltagswissen und simplifizierten Problemlösestrategien beantwortet werden kann (Scherr 2018, 9).

Kommen wir zur zweiten Herausforderung: der Frage des Einbezugs von Diskursen zu Professionalität aus Pädagogik und Sozialer Arbeit, die Greving für eine umfassende Auseinandersetzung mit einem professionellen Handeln in der Heilpädagogik als bereichernd und notwendig ansieht (Greving 2011, 11). Auch Krebs und Eggert-Schmid Noerr gehen davon aus, dass (Heil-)‌Pädagogik und Soziale Arbeit Schnittmengen zueinander aufweisen, wenngleich mit ihnen jeweils unterschiedliche Entstehungszusammenhänge, Aufgabenfelder und Ausdifferenzierungen verbunden sind (Krebs/Eggert-Schmid Noerr 2012, 106). Meines Erachtens ist insbesondere mit Bezugnahme auf Inklusion, »[p]‌rofessionelles Handeln [...] nicht weiter ›unter dem Gesichtspunkt der Exklusivität der Zuständigkeit‹ bestimmter Fachdisziplinen für bestimmte Probleme [zu führen – d. Verf.], vielmehr wird die ›Qualität des Handelns‹ zum zentralen Punkt dieser Diskussionen« (Jonas 2013, 1, Hervorhebungen im Original). Nicht zuletzt finden sich in der Unterstützung von Menschen mit geistiger Behinderung unterschiedliche Ausbildungshintergründe bei den Fachkräften und Mitarbeitenden in Einrichtungen vor, die es noch einmal mehr erforderlich machen, sich im Folgenden weniger auf die Unterschiede der Fachrichtungen zu konzentrieren, sondern verbindende Aspekte professionellen Handelns herauszuarbeiten.

»Soziale Arbeit will verstehen, um aus dem Verstehen heraus zu erkennen, ob, wo und wie sie zu handeln hat, ob, wo und wie in gegebenen Notsituationen Unterstützungen und Hilfen notwendig und möglich sind. Dies klingt selbstverständlich, ist es aber [...] nicht« (Thiersch, 2018, 16). So scheint dieses Zitat von Thiersch durchaus relevant für die Unterstützung und Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung, denn es verweist auf die Notwendigkeit eines verstehenden Zugangs zu den Lebenswelten, Themen und Bedürfnissen der Adressat*innen und deutet gleichermaßen an, dass es verschiedener (Rahmen-)‌Bedingungen bedarf, um diesem Ansatz gerecht werden zu können.

Gemeinsam verweisen Soziale Arbeit, Pädagogik und Heilpädagogik darauf, dass insbesondere die Reflexion

der eigenen Berufsbiografie und deren Auswirkungen auf das professionelle Handeln,

der Beziehungsarbeit mit den Adressat*innen,

der zugrunde liegenden strukturellen Bedingungen sowie

der Dilemmata und Widersprüchlichkeiten

zentrale Herausforderungen in der professionellen Praxis darstellen (Greving 2011, 14), da »weder spezialisiertes Expertenwissen noch bewährte didaktisch-methodische Praktiken noch verläßliche Sozialtechniken [...] allein weiterhelfen« (Müller et al. 2002, 14). Eine Einbettung professionellen Handelns in rechtliche Bezüge und ökonomische Bedingungen dient der weiteren Ergänzung (ebd., 16). Gerade in diesen Überschneidungsbereichen scheint es legitim, verschiedene theoretische Positionen und Traditionen miteinander zu verknüpfen (ebd., 10).

Die angesprochenen Widersprüche und Dilemmata können sich beispielsweise zwischen Autonomie und Fürsorge (▸ Kap. 5.2), unmittelbar erforderlichen Handlungsentscheidungen und daran anschließenden Begründungen sowie Wissen und Nicht-Wissen vollziehen (Jonas 2013, 151). Die Verzahnung der genannten Dimensionen verweist auf die hohe Komplexität professionellen Handelns und es bedarf eines haltenden Rahmens, um sich fachlich angemessen zu Fragen, Zielen und Angeboten zu positionieren (Müller et al. 2002, 16). Ein solcher kann zunächst in Theoriebezügen und Leitlinien (▸ Kap. 5) gefunden werden, deren Rückbezug bestenfalls kontinuierliche Prozesse von Reflexion und Selbstreflexion erlaubt und Entwicklungschancen in der Beziehung zu den Adressat*innen anregt. Diese »Wertschätzung für eine theoriebezogene Praxis« (Wulff/Ruthemeier 2015, 95) ist mit einer Balance zwischen theoretischem Wissen und dem konkreten Fallverstehen in der Praxis verknüpft, in der zunächst die Bearbeitung und das Aushalten einer »prinzipielle‍[n] Ungewissheit« (Müller 2009, 160) im Vordergrund steht. Dörr und Müller sprechen hier von einem

»beruflichen Habitus der Professionellen, in welchem es ihnen möglich wird, die beiden widersprüchlichen Elemente der professionellen Orientierung – die jeweils relevante allgemeine Wissensbasis (Theorieverstehen) und ein kunstvoll beherrschtes Verfahren eines hermeneutischen Zugangs zum Fall – auch unter Handlungsdruck in Einklang zu bringen« (Dörr/Müller 2019, 16 f.).

Dabei trägt die Fachkraft stets auch zur Konstitution des Falls bei (ebd., 18) und bringt sich gleichermaßen mit ihren eigenen Vorstellungen von Normalität, Geschlecht, Familie etc., mitunter auf emotional verstrickte Weise, mit in die Beziehung zu den Adressat*innen ein (Böhnisch 2017, 313). Professionelles Handeln ist in diesem Verständnis als ein

»[...] hochgradig komplexes, antinomisch strukturiertes, kontingentes und ungewisses Handeln mit vielfältigen Risiken, nicht intendierten Wirkungen und eigensinnigen Verwendungen durch die Adressaten, bei zugleich hoher Verantwortlichkeit [und] einer starken Begründungspflicht bei mangelnder ›Technologie ›zu kennzeichnen'« (Helsper 2008, 163 f.).

Es ist ebenso mit der Fähigkeit verwoben, sich auf unklare und emotional gefärbte Beziehungen zu den Adressat*innen einzulassen und im steten Wechselspiel von Reflexion und Theoriebezügen wieder aus ihnen herauszutreten, um aus einer gewissen Distanz heraus fachliche Erkenntnisse zu gewinnen (Dörr 2019, 133 f.). Es geht also auch darum, »sich vom anderen berühren zu lassen, ohne in den ›sicheren Hafen‹ faktischen Wissens, scheinbar gesicherter Erkenntnisse und vorschnell gefundener Zielsetzungen zu flüchten« (Müller et al. 2002, 16, Hervorhebung im Original). Dies impliziert ein eigenes Zurückhalten im professionellen Alltag, um vordringlich den Klient*innen die Ausgestaltung des sich entfaltenden Beziehungsraumes zu überlassen und eher die Rolle einer Beobachterin oder eines Beobachters einzunehmen, die Wininger als »Fähigkeit zur wohlwollenden Zurückhaltung« (Wininger 2012, 74, Hervorhebung im Original) beschreibt.

Vor diesem Hintergrund rückt der Prozess des Verstehens in den Fokus, da er in diesem komplexen Gefüge und den damit einhergehenden Dynamiken die Grundlage für die Eröffnung eines potenziellen Entwicklungsraumes schafft (Heilmann 2022, 416), oder deutlicher ausgedrückt: »Wer nichts versteht, kann nichts verändern« (Günther et al. 2022, 9). Umso erstaunlicher scheint die Feststellung Hollsteins, dass es »[u]‌m die Pädagogik des Verstehens [...] in den letzten Jahren eigentümlich still geworden« (Hollstein 2011, 13) sei. Krüger spricht in diesem Zusammenhang von verstärkten Tendenzen der Kontrolle und objektiver Planbarkeit, durch die Beziehungsdimensionen eine zunehmende Entwertung erfahren (Krüger 2009, 13 ff.). Dabei ist klar festzuhalten:

»Je objekthaft-überprüfbarer, standardisierter, funktional ausgerichteter und direktiver Beziehungen [...] gestaltet [...] werden, desto krisenhafter, unverständlicher bzw. manipulativer oder verunsichernder werden subjektiv bedeutsame, emotionale Dimensionen in Interaktionen, begleitenden Unterstützungsangeboten und Beziehungsarbeit« (Domann et al. 2018, 175).

Wenngleich es paradox klingt, ist mit dem Anspruch des Verstehens zunächst eine Haltung des wissenden Nicht-Wissens bzw. Nicht-Verstehens verbunden. Dabei geht es insbesondere darum, das »scheinbare Immer-Schon-Bescheid-Wissen« (Müller 1994 zit. n. Gerspach 2021, 7) einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Allerdings sieht man sich als Fachkraft in der heilpädagogischen Praxis zumeist mit einem unmittelbaren Handlungszwang konfrontiert (ebd.), der auf den ersten Blick eine schnelle Lösung der jeweiligen Situation verlangt. In dieser »[...] Orientierung an Lösungen [liegt jedoch die – d. Verf.] Gefahr, die Eigensinnigkeit der Adressat_innen zu übergehen oder zu verkennen, also doch nur im paternalistischen Muster fürsorglicher Belagerung der Adressat_innen zu kolonialisieren« (Thiersch 2018, 19).