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Eine Familie, bei der mindestens ein Elternteil ein Kind aus einer früheren Beziehung miteingebracht hat, bezeichnet man als Patchworkfamilie. Das Patchwork – das Flickwerk – steht für die zufällige Anordnung von Beziehungen nach dem Bruch der elterlichen Partnerschaft. Die Trennung bringt ein Kaleidoskop an Veränderung mit sich: neue Bindungen zu biologischen Kindern, Stief- und Halbgeschwistern und hinzukommenden Partnern entstehen. Manche Eltern und Kinder bleiben allein. Wie kann nach der Trennung der übergang in die neue Lebenssituation für Erwachsene und Kinder beraterisch optimal begleitet werden? Die systemische Haltung, die eine zirkuläre Betrachtung von Kommunikation voraussetzt, ist besonders geeignet, um das Gelingen professionell zu unterstützen. Dafür muss der Gesamtkontext im Auge behalten werden. An der Konstruktion des gelingenden Patchworks sind die Ex-Partner, mögliche neue Partner und alle vorhandenen Kinder beteiligt. Auch die professionelle Umwelt (Jugendamt, Familiengericht, Schule, Mediation, Therapie) rahmt die problematische Kommunikation der Betroffenen. Die professionelle Haltung verlangt die emotionale Perspektivenübernahme für alle Mitglieder im Patchwork. Die gemeinsam erarbeiteten Veränderungsvorschläge werden auf ihre Machbarkeit überprüft. Pragmatisch optimiertes Vorgehen und die zähe Verhandlung von Alternativen sind der permanenten Einladung zur emotionalen Verstrickung mit Einzelnen entgegenzustellen. Das Patchwork funktioniert nur, wenn die Kränkung aus dem Bruch verarbeitet und gute Erinnerungen in ein neues Leben integriert wurden. Die dafür notwendige Zeit ist nicht für alle gleich. Therapeutinnen und Therapeuten helfen die Zeit angemessen zu verwalten.
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Seitenzahl: 87
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Leben.Lieben.Arbeiten
SYSTEMISCH BERATEN
Herausgegeben von
Jochen Schweitzer und
Arist von Schlippe
Corina Ahlers
Patchworkfamilien beraten
Mit 2 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,
Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlagabbildung: jokebird/photocase.com
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISSN 2625-6088
ISBN 978-3-647-90125-1
Inhalt
Zu dieser Buchreihe
Vorwort von Arist von Schlippe
IDer Kontext
Einführung
Begrifflichkeiten
Patchwork – emotionales Feuerwerk und Kollateralschäden
Scheidungsforschung
IIDie systemische Beratung
Systemisches Patchwork im professionellen Umfeld
Chronometrie der Trennung
Trennungskrise: Missgunst oder Wohlwollen
Coming out: Wie sage ich es den Kindern?
Streit im Paar – Streit bei den Eltern
Loyalität im Konflikt
Komplexität und Kontingenz in der Zusammensetzung neuer Beziehungen
Der Lebenslauf von Karl und seine Patchworks
Narration des Lebenslaufs von Karl
Kontingenz und Perspektive
Themen einer Reise des professionell begleiteten Problemsystems
Die kindliche Position
Die Position und die Sicht von Jugendlichen
Der erwachsene Rückblick
Blicke Hinzukommender im Zusammenspiel mit ihren Partnern
Life-Events im Patchwork: Besondere Ereignisse
Weihnachten – 24. Dezember im Patchwork
Geburt in neuer Verbundenheit: Halbgeschwister
Besondere Anlässe: Hochzeiten und Beerdigungen im Patchwork
Professionelle Haltung: Realisierbare Handlungen praktisch vermitteln
IIIAm Ende
Fazit
Literatur
Die Autorin
Zu dieser Buchreihe
Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewältigung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwer machen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) betreffen unsere intimen Beziehungen, deren Anfang und deren Ende, Liebe und Hass, Fürsorge und Vernachlässigung, Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten.
Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich geschrieben, allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick.
Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen Grundlagenwissen (1996/2012) und zum störungsspezifischen Wissen (2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das kontextspezifische Wissen der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind.
Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten.
Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe
Vorwort
Patchwork – der Begriff ist heute zu einem Modewort geworden, das die Lebenswirklichkeit vieler, vielleicht sogar der meisten Menschen in einer modernen Gesellschaft widerspiegelt. Ursprünglich bezeichnet es eine Flickendecke im Kontrast zum eleganten einfarbigen oder sanft gemusterten Plaid, das man sich an kühlen Abenden über die Beine legt. Die Patchworkdecke ist dagegen ungewöhnlicher, bunt, farbig und lebendig. Symbolisch gibt sie viel eher das wieder, wofür unser soziales Leben der Gegenwart steht, für die unendlich vielen Kombinationsmöglichkeiten, die sich ergeben, wenn Menschen zusammenkommen, ohne durch starre gesellschaftliche Regeln in die Korsette vorgegebener Strukturen des Zusammenlebens gezwungen zu werden.
Zugleich ergeben sich aus derartigen Konstellationen zahlreiche Fragestellungen für die beteiligten Akteure. Die meisten haben mit der Regulierung von Zugehörigkeit, mit der Dynamik von Inklusion und Exklusion zu tun. Anders als bei der gesellschaftlich klar vorgegebenen Folie der Kernfamilie, zu der man selbstverständlich gehört, gibt es in Patchworkstrukturen zahlreiche nicht immer klar entscheidbare Momente, wie Zugehörigkeit differenziert behandelt werden sollte: Wer ist bei welcher Begegnung dabei, wer nicht? Wie regeln wir das mit Weihnachten? Wo sitzt die geschiedene Mutter, wo der neu hinzugekommene Stiefvater bei der Hochzeit? Was machen wir bei sich überschneidenden Urlaubsplänen oder wenn die Schule Besorgnis über das Kind anmeldet, und was heißt es, wenn die halbwüchsige Tochter verkündet, sie wohne ab jetzt lieber beim Papa – wo man sich doch schon immer über dessen subtilen Formen der Beeinflussung der Kinder geärgert hatte?
Von Heinz von Foerster (der auch in diesem Buch mehrfach erwähnt wird) stammt das Bonmot: »Nur unentscheidbare Fragen kann man entscheiden!« Das leuchtet ein, denn wenn sie entscheidbar wären, wenn es ein Richtig oder Falsch gäbe, dann müsste man nicht entscheiden. Daher führt jede Entscheidung einen Moment von Willkür mit sich: es hätte auch anders (und aus einer anderen Sicht vielleicht auch besser) entschieden werden können – und damit ist die Tür offen für Auseinandersetzungen auf allen möglichen Ebenen.
Diese auf eine Weise zu moderieren, dass jeder sein Gesicht wahrt, dass die Bedürfnisse von jedem wahr- und ernstgenommen werden und auf dieser Basis gute Lösungen gefunden werden, ist wohl die schwierigste, immer wieder neu zu lösende Aufgabe in Patchworkkonstellationen. Das Buch von Corina Ahlers, selbst eine erfahrene »Patchworkerin«, zeigt, welch ein breites Instrumentarium systemische Praxis hier zu bieten hat. Es werden die vielen Problemstellungen, die sich ergeben, genauso deutlich, wie die vielfältigen Wege, über die nach Lösungen gesucht werden kann. Wer nach einfachen Antworten verlangt, wird sie hier nicht finden, wer dagegen offen für das Spiel mit dem Möglichkeitssinn ist, das zur Offenheit und zur kreativen Suche nach neuen Wegen einlädt, wird dieses Buch mit Gewinn lesen.
Arist von Schlippe
I
Der Kontext
Einführung
Meine Quellen zu diesem Buch sind breit gestreut. Durch meine Biografie bin ich patchworkgeübt: Heute bin ich Großmutter von sechs Stiefenkeln, Mutter von Kindern zweier Väter und lebensbegleitend für Erwachsene aus früheren Patchworkbeziehungen. 1998 bis 2002 arbeiteten mein Mann und ich zusammen an einem qualitativen Forschungsprojekt zum Thema Patchwork (Sieder u. Ahlers, 2002). 2005 gründete ich zusammen mit zwei Kolleginnen, den systemischen Therapeutinnen Marion Waldenmair und Claudia Renner, das »Kompetenzzentrum FamilieNeu«. Es verfolgt die Absicht, defizitorientierte Einstellungen aufzulösen, die bei der Trennung von Paaren und Patchworkfamilien auftreten können (vgl. Ahlers, 1998, 1999). Wir arbeiten an der Alltagskommunikation und finden mit den Betroffenen kreative Alternativen für das Zusammenleben. Bis heute kommen Menschen zu uns – hinzugekommen sind Johannes Gutman, Harald Steininger und Rosita Ernst –, die sich zeitgemäß und kompetent beraten lassen und die Beurteilungen von Trennung und Patchwork überwinden möchten. Mit ihnen zusammen suchen wir praktikable Wege für ihren Alltag.
Das systemische Prinzip, nach dem das Setting der Sitzungen zirkulär und perspektivisch geplant wird, um Reden und Zuhören in der Begegnung möglich zu machen (Ahlers, 1996), ist für die Arbeit mit Patchworkfamilien besonders geeignet. Die in diesem Buch geschilderten Fälle und meine Reflexionen dazu spiegeln diese Praxis wider.
Alle Fallbeispiele sind frei erfunden und meinen niemanden im Konkreten. Die Fallvignetten sind als verdichtete und kombinierte Beschreibungen meiner Erfahrungen mit zahlreichen Menschen und Patchworkkonstellationen zu lesen.
Begrifflichkeiten
Mit »Patchworkfamilien« werden mehr oder weniger zufällig angeordnete biologische und psychosoziale Beziehungen nach der Trennung von Eltern beschrieben (Sieder, 2008). Das Wort »Patchwork« – Flickwerk – wird im Englischen nicht auf Familien bezogen. Diese bezeichnet man als »blended families«, Familien, die »verschnitten, gemischt, vermengt« werden. Die spanischen Begriffe »familias reconstituidas« oder »familias recompuestas« fokussieren auf die Restabilisierung der Familienverhältnisse nach dem Bruch. Sichtbar wird, wie Begriffe, welche diese mittlerweile alltäglich gewordene Lebensform beschreiben, Ideologien vertreten.
Der »Familienmythos« (Sieder, 2010), der die lebenslang zusammenhaltende Kernfamilie priorisiert, ist noch heute überzeugend – und das, obwohl das Konzept der »Kernfamilie«, welche ihre Mitglieder nach dem Motto »Blut ist dicker als Wasser« bindet, in der westlichen Industriegesellschaft eine Überlebenschance von circa 50 Prozent hat. Das bürgerliche Familienmodell (Sieder, 2010), in dem Ehe nicht mehr klassen- bzw. milieuspezifisch arrangiert wird, sondern in dem sich Liebespartner frei wählen, führt häufig zum Bruch und damit zum Aufbau einer neuen Beziehung. Mittlerweile ist Patchwork zur gewöhnlichen Begleitung postmoderner Lebenswelten geworden. Es gibt keine Garantie für das lebenslange Zusammenbleiben eines Paares, einer Familie.
In der Alltagssprache ist der »Stiefvater« vergangener Generationen zum »psychosozialen Vater«, zum »väterlichen Kameraden« bzw. zum »aktuellen Freund der Mutter« oder »LAP« (Lebensabschnittspartner) geworden. Die »Stiefmutter« ist nicht mehr »die böse Stiefmutter« aus den Märchen, zur »Ersatzmutter« wird sie nicht. Gerne wird sie »Lebensgefährtin« bzw. »Freundin des Vaters« genannt und mit ihrem Vornamen angesprochen. Sie wird der biologischen Mutter nicht vorgezogen,1 aber man darf sie mögen.
Das Passagere der Beziehung in der Familie, die sich mal im Bruch und mal im Wiederaufbau befindet, wird im sperrigen Begriff der »Fortsetzungsfamilie« (Meulders-Klein u. Thery, 1998) am besten beschrieben. Jede Familie setzt sich nach der Trennung fort, verlassen/d, alleinerziehend, neu verliebt, mit den eigenen und/oder den fremden Kindern lebend und/oder mit der Aussicht auf zusätzliche gemeinsame Kinder in einer neuen Paarbeziehung. Das Wort »Fortsetzung« bewertet nicht. Beziehungen setzen sich fort, mit den gleichen oder mit anderen Partnern und Partnerinnen in neu gewählten Lebensräumen. Schnitzlers Stück »Der Reigen« (1920), in dem die Liebenden sich trennen und neu verpaaren, war bei seiner Uraufführung noch ein Theaterskandal und entspricht der heutigen Normalität. Der Reigen an Paarbeziehungen, die im Lebenslauf eines Menschen entstehen, wird auf Seite 46 illustriert. Im Patchworkgenogramm werden Beziehungskomplexität und temporäre Positionen sichtbar: ein spät gefundener Vater; verlassene Mütter, die mit ihrer Situation unterschiedlich umgehen; wiederentdeckte Halbgeschwister und isolierte leibliche Kinder.
Ob Professionelle in bzw. nach der Trennung aktiv werden, entscheidet die Kommunikation der Betroffenen: Wie wird die Trennungskrise bewältigt? Wie kompetent agiert das soziale und familiäre Netz? Stößt ein verlorenes Schulheft oder ein momentan aggressives Kind auf eine verständnisvolle oder auf eine überforderte Lehrerin? Kann eine Jugendamtssozialarbeiterin die krisengeschüttelten Eltern zur Vernunft bringen? Geht es den Kindern gut mit der ausgehandelten Besuchsregelung?