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Band 7 der Gesamtausgabe ist den zeit- und kulturkritischen Beiträgen vorbehalten, die Valéry vom ausgehenden 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verfasste. Die ersten beiden Essays, Eine methodische Eroberung (1897) sowie Krise des Geistes (1919), umklammern zeitlich wie thematisch die kriegstaumelnde Moderne: In ersterem verhandelt Valéry die Anwendung wissenschaftlicher Methodik auf die wirtschaftliche und kommerzielle Expansion von Staaten, deutschen Militarismus sowie zeitgenössische Entwicklungen in Japan und Italien; der zweite bezeugt im Nachhall des ersten Weltkriegs Valérys Bedenken hinsichtlich einer zu vergehen drohenden europäischen Kultur des Geistes und der Kunst. Es folgen die Sammlung Blicke auf die gegenwärtige Welt sowie weitere Texte zu eingeführten Themen und politischen Ereignissen.
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Seitenzahl: 841
PAUL VALÉRY WERKE
Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden
Herausgegeben von Jürgen Schmidt-Radefeldt
Suhrkamp
Band 7 Zur Zeitgeschichte und Politik
Herausgegeben von Jürgen Schmidt-Radefeldt
Die Originalausgabe erschien 1957 unter dem Titel Œuvres I sowie 1960 unter dem Titel Œuvres II bei Éditions Gallimard, Paris.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5220.
© 1995, Insel VerlagAnton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin
© Éditions Gallimard, 1957 und 1960
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Umschlaggestaltung: Brian Barth
eISBN 978-3-518-77149-5
www.suhrkamp.de
ZUR KRISE DES EUROPÄISCHEN GEISTES
Eine methodische Eroberung
Die Krise des Geistes
Uber die Krise der Intelligenz
Die Politik des Geistes
Bilanz der Intelligenz
Ist Geist ein Luxus? oder Die Notwendigkeit des Nutzlosen
BLICKE AUF DIE GEGENWÄRTIGE WELT
Vorwort
Yalu
Notizen über Größe und Niedergang Europas
Uber Geschichte
Bilder von Frankreich
Funktion der Stadt Paris
Bemerkungen über den Fortschritt
Frankreich arbeitet
Der ›Centre universitaire méditerranéem‹
Betrachtungen über die Diktatur
Die Idee der Diktatur
Funktion und Geheimnis der Académie française
Gegenwärtigkeit von Paris
Metier des Menschen
Unser Schicksal und die Literatur
Fluktuationen über die Freiheit
Aktuelle Erinnerung
Blick auf die französische Literatur
Amerika – Projektion des europäischen Geistes
Kunst und Geistesleben in Frankreich
Kriegswirtschaft des Geistes
Die Freiheit des Geistes
TEXTE ZUR ZEITGESCHICHTE, KULTUR UND POLITIK
Vermischte Gedanken
Hypothese
Parteien
Sind Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften grundverschieden?
Erwiderung auf die Rede von Marschall Pétain
Rede zur Geschichte
Für eine ›Société des Esprits‹. Brief an S. de Madariaga
Vorwort zu ›La lutte pour la paix
<
Mediterrane Eingebungen
Briefvorwort zu Graf Keyserling ›La révolution mondiale
<
Der Wunsch, ein anderer zu sein
Loblied auf das Wasser
Das Problem einer Ausstellung
Orientem Versus
Hundert Jahre Photographie
Freie Völker und Sklavenvolk
Mensch und Handlung
Frankreichs Mannigfaltigkeit
Bemerkungen zur Physiologie
Das Unvorhersehbare
Ein Nichts von Ereignis
Frei atmen
Vor der Zukunft
Ultima verba
ANHANG
Editorische Nachbemerkung
Verzeichnis der Abkürzungen
Anmerkungen
Danksagung
Zeittafel zu Leben und Werk Paul Valérys
Nachweise zu den einzelnen Texten
Namen- und Werkregister
Gegen 1895 begann England empfindlich zu werden für den Druck der deutschen Macht auf die wesentlichen Punkte seines Wirtschaftskörpers und seines Reiches.
Bis dahin war es sich nicht bewußt, in der Ausübung seiner Lebensfunktionen durch einen Konkurrenten der elften Stunde bedroht zu sein, der nach Ort wie Zeit sehr ungünstig lag Tarde venientibus ossa1, hätte es sich gesagt, falls es sich etwas gesagt hätte.
Aber es genügt nicht, eine Insel zu sein, Steinkohle zu haben, dazu Traditionen der Politik und Seefahrt, einen einfachen und unbezähmbaren Willen, eine ungeheure, direkt und indirekt abhängige Kundschaft, eine imponierende Sicherheit im Begehren und in den Zielen. Die Sicherheit hat eine Art Trägheit zur Folge. Der englische Geist verbessert stets ohne Zögern, was ihm schlecht erscheint, aber er widerstrebt lange, etwas an dem zu ändern, was gut war und ihn noch befriedigt. Dieser englische Wesenszug gründet vielleicht in der gewohnheitsmäßigen, bisher von der Geschichte bekräftigten Gewißheit, man werde Muße genug haben, um eine Gefahr zu gewahren und ihr zu begegnen, dank dem Meergraben und der ihn überwachenden Flotten.
Aber in einer ganz von den Wissenschaften durchwirkten Zeit beständiger technischer Umwälzung, wo nichts dem Neuerungswillen, dem Taumel der Steigerung von Genauigkeit und Macht entgeht, wo das höchste Gut Beständigkeit sich nur noch bei geschwächten Völkern findet, genügt es nicht, im Sein zu verharren.
Die Engländer vor dreißig Jahren realisierten nicht – wie sie sagen –, was alles Disziplin, Berechnung, peinliche und unbegrenzte Analyse und besser als die ihre angewandte Tatkraft ihnen auf sämtlichen Gebieten bereiten würden.
Die Offenbarung kam ihnen aus einer Artikelreihe, die 1895 in der New Review erschien, einer (seither eingegangenen) Zeitschrift, die der gute alte Dichter William Henley herausgab. Diese Artikel stammten von E. E. Williams, und der Titel, den er über die Sammlung setzte, schlug ein. Durch eine berühmte bill wurden die drei Worte Made in Germany gesetzlich festgelegt2; sie nisteten sich sogleich in den englischen Köpfen ein, wo sie ständig wirkten bis zum 11. November 1918.
Es gab Überraschung, Aufregung, Entrüstung, als Williams diese Sammlung sehr eingehender Studien herausgab, welche die verschiedenen Gebiete von Industrie und Handel untersuchten und auf jedem das Eindringen und den erschreckenden Fortschritt des Konkurrenten anschaulich machten.
Henley hatte den wunderlichen Einfall, einen sehr jungen, vorübergehend in London weilenden Franzosen, der ihm empfohlen war, zu ersuchen, in seiner New Review eine Art von »philosophischer« Schlußfolgerung3aus dem rein auf Beobachtung und Aufreihung bezeichnender Einzelheiten beruhenden Werk von Williams zu ziehen. Dieser junge Franzose, der bis dahin nur an ganz anderes gedacht hatte, fühlte sich recht verlegen vor einer Aufgabe, die anzunehmen ihm einige gute Gründe rieten, während die Vernunft allein verlangte, er solle sie lassen. Die Gründe hatten an Zahl das Übergewicht. Er improvisierte, was er vermochte und was hier vorliegt.
Im Lauf des letzten Krieges wurde dieser Essay im Mercure de France wieder abgedruckt (1915).
P. V .
Man hat sich aufgeregt, man hat es fast als Skandal aufgenommen. Ein beunruhigenderes Deutschland enthüllt sich. Die Engländer lesen Made in Germany von E. E. Williams; die Franzosen sollten Le danger allemand von Maurice Schwob4 lesen.
Vordem eine Festung und eine Schule: jetzt entdeckt man dort eine ungeheure Werkanlage, enorme Docks. Man ahnt auch, daß Festung, Fabrik, Schule untereinander verbunden sind und nur verschiedene Aspekte des gleichen, festgefügten Deutschlands ausmachen. Man erfährt, daß die militärischen Siege, durch die sich diese Nation gegründet hat, wenig sind, verglichen mit den wirtschaftlichen Siegen, die sie bereits erringt; schon sind ihr manche Märkte in der Welt enger zugehörig als die Gebiete, die sie ihrem Heer verdankt.
Sodann gewahrt man, daß die eine wie die andere Eroberung von ein und demselben System bewirkt wurden. Die donnernde und die leise überlagern sich. Man begreift, daß Deutschland sich auf Industrie und Handel verlegt hat wie vorher aufs Militär: besonnen und entschlossen. Man spürt, daß es kein Mittel ausließ. Will man sich diese neue und phantasielose Größe erklären, so stelle man sich vor: beständigen Fleiß; genaueste Untersuchung der Quellen des Reichtums und unermüdliche Herstellung der Mittel, ihn hervorzubringen; peinliche Topographie der begünstigten Plätze und günstigen Verbindungswege; und, vor allem, vollständigen Gehorsam, eine Unterordnung sämtlicher Momente unter irgendeinen einfachen, ausschließlichen, gewaltigen Gedanken – der strategisch ist durch seine Form, wirtschaftlich durch sein Ziel, wissenschaftlich durch seine tiefgreifende Vorbereitung und seinen Geltungsbereich. So wirkt die Gesamtheit der deutschen Unternehmungen auf uns ein. Wendet man sich dann zum Sichtbaren und Greifbaren, zu Akten, diplomatischen Berichten, amtlichen Statistiken, so kann man nach der Majestät der großen Linien bequem die Vollendung im einzelnen bewundern, kann man es genießen, zu wissen, auf welche Weise – als man alles, was zu kennen möglich war, kannte, alles Vorauszusehende voraussah, als der Wohlstand erzeugende Mechanismus bestimmt war – eine sanfte oder rohe, allgemeine, unablässige Einwirkung aller Punkte Deutschlands auf alle Punkte der Welt ausgriff, um das Höchstmaß von Reichtümern von allen Punkten der Welt nach allen Punkten Deutschlands zurückkommen zu lassen.
Dieses Wirken ist nicht wie bei uns eine Summe individueller, immer unabhängiger, oft entgegengesetzter Unternehmungen, die blind geschützt werden vom Staat, der seinen Einfluß unter sie verzettelt und nicht die eine unterstützen kann, ohne eine andere zu schwächen – es ist eine mächtige Gewalt, die wie die Gewässer bald mit Sturz und Stoß, bald mit unwiderstehlichem Einsickern vorgeht. Eine natürliche Disziplin eint das individuelle deutsche Wirken dem des ganzen Landes und ordnet die Sonderinteressen derart, daß sie sich zusammenfügen und gegenseitig verstärken, anstatt sich gegenseitig zu vermindern und zu behindern. Das geht bis zur Abschaffung jeder Konkurrenz unter Deutschen, sobald der Fremde – der Feind – zugegen ist.
Dann kommt es zu aufrichtiger Eintracht, zu gegenseitigen nützlichen Opfern, zu einem Wettkampf an Tatkraft und Geschicklichkeit um den gemeinsamen Sieg, was außer dem Sieg eine auffallende Verbundenheit unter den wetteifernden Industrien und den verschiedenen »Waffengattungen« der Wirtschaftsarmee des Vaterlands5 zur Folge hat. Wir kämpfen gegen diese Armee wie wilde Banden gegen eine organisierte Truppe.
Dieses Wirken geschieht nicht, wie bei uns, aufs Geratewohl. Es ist wissenschaftlich. Alle Wissenszweige müssen ihm dienen. Es wird von einer umsichtigen Psychologie gelenkt, und in der Folge setzt sie sich nicht nur durch, es gelingt ihr Besseres: sie macht sich unentbehrlich. Der Kunde Deutschlands soll den deutschen Händler, ja selbst die deutschen Wechsel segnen. Sogar ein Freund, ein Propagandist soll der Kunde werden – diese Berechnung ist von tiefer Eleganz. Man kennt diesen Kunden genau. Dieser Kunde, der sich frei glaubt und ganz harmlos lebt, wird durchforscht, ohne daß er es weiß, ohne daß man ihn berührt. Er wird eingeordnet, wird bestimmt im Rahmen seiner Stadt, seiner Provinz, seines Landes. Man weiß, was er ißt, was er trinkt, was er raucht und wie er zahlt. Man denkt über seine Wünsche nach. In Hamburg oder Nürnberg hat vielleicht irgendwer Kurven gezeichnet, welche die Nutzbarmachung seiner kleinsten Schrullen, seiner winzigsten Bedürfnisse darstellen. Er, der so persönlich, so traulich zu leben meint, er sähe sich dort untergegangen in der Zahl: inmitten von Tausenden anderer Persönlichkeiten, die denselben Likör, denselben Kleiderstoff vorziehen wie er. Denn man weiß dort mehr über sein eigenes Land als er. Man kennt den Mechanismus seines Daseins besser als er: was er zum Leben braucht und zu ein bißchen Erheiterung des Lebens. Man weiß um seine Eitelkeit und daß er von Luxusdingen träumt und sie zu teuer findet. Man wird also das Gewünschte herstellen, Champagner aus Äpfeln, Parfüms aus allem, was es gibt. Der Kunde ahnt nicht, wie viele Chemiker an ihn denken. Man wird ihm genau das herstellen, was zugleich seinem Geldbeutel, seinem Wunsch, seinen Gewohnheiten entgegenkommt; man wird für ihn etwas von mittlerer Vollkommenheit schaffen. Durch unterwürfige Erbötigkeit gegenüber seinem vielfältigen Verlangen wird man sich seiner bemächtigen.
Um dieses fabelhafte Produkt hervorzubringen, das zugleich billig und prachtvoll, leicht beschaffbar, der Tradition oder der Mode angepaßt ist, wimmelt ein ganzes Volk von Gelehrten in den zahllosen Abteilungen der Industrie. Kein Ding, wofür es nicht einen wohlfeileren Ersatz fände. Kein neuer Stoff, wofür es nicht Verwendung wüßte, keine Wissenschaft, für die es nicht die industrielle Nutzung entdeckte. In wenigen Jahren hat sich Deutschland mit Fabriken, Geleisen, Kanälen überzogen. Seine Flotte, die ebenfalls erst entstanden ist, hat sich bereits zum zweiten Rang erhoben. Sie hat wunderbare Schiffe, ständig belegte Werften, Docks, ungeheure Binnenhäfen. Sie hat erstaunliche Reisende, deren Nachrichten und Ausbeute der Diplomatie und der Wissenschaft würdig sind. Sie hat in allen Gegenden Agenturen, Handelsverbände, welche die Agenturen unterhalten, Vereinigungen von Transportgesellschaften, die den Handel der Kaufleute unterstützen.
Die Bücher, die ich anführte, enthalten die Einzelheiten dieses gigantischen Geschäfts. Sie führen uns in die Fabriken und auf die Märkte. Sie stellen Zahlen zusammen, die uns verwundern. In einem Zug rollen sie eine Folge von Jahren ab, und mittels dieser plötzlichen Aufhebung der Zeit zeigen sie mit einem Mal das phantastische Wachstum des deutschen Daseins ... Der Eindruck, den man erhält, ist so stark, daß er Mutmaßungen über die Zukunft nahelegt. Der Geist läßt sich nicht aufhalten beim letzten von Statistik und Rechenschaftsbericht erfaßten Jahr. Er sieht automatisch eine noch weitere Ausdehnung voraus – er stellt sich eine Folge vor, einen Stillstand, einen Sturz, einen Verfall ... Auch wenn ihn die Tatsachen im Stich lassen, geht er weiter und folgt irgendeinem Eigengesetz.
Hier beginnt nun die rein spekulative Forschung, die rein gedankliche Fragestellung. An dieser Stelle wird, wer sich den von mir erwähnten Untersuchungen zugewandt hat, nicht verfehlen, in jenen Erscheinungen der deutschen Expansion nach einem Anzeichen von Allgemeinerem zu suchen. Nun kommt der Augenblick für die Ideen, die Vergleiche, die Entwürfe von Theorien. All jene Anstrengungen, Listen, öffentlichen Arbeiten, jene Machenschaften, jene geduldig gelenkten Unternehmungen und ihre Ergebnisse müssen, scheint mir, in uns – neben unserer nationalen Bitterkeit – die besondere Bewunderung erwecken, die uns immer ein wirksamer Mechanismus, ein beabsichtigter und von Überlegung zu Überlegung auf dem sichersten Weg erreichter Erfolg abnötigt. Die Gewißheit einer Folge hat etwas Berauschendes – wenn diese als das Ergebnis eines durchdachten Handelns sich einstellt. Im vorliegenden Fall ist dieses Handeln etwas Allgemeines, das tiefer reicht als alle Mißgeschicke und vereinzelten Fehlrechnungen.
So sehe ich in dem deutschen Erfolg vor allem den einer Methode. Die Methodik, sie erregt meine Bewunderung. Nehmen wir an, ein gewöhnlicher Mensch mache sich an eine schwierige, bedeutende, aber mögliche Aufgabe. Setzen wir bei ihm keinerlei Genie, keinen unerwarteten Glücksfund, keinerlei Erleuchtung voraus – sondern nur ein unerschöpfliches Verlangen, ein beständiges Wollen, einen mittleren Verstand, aber ein unbegrenztes Vertrauen in den Verstand. Dieser Mensch wird das Notwendige tun. Er wird ohne Leidenschaft überlegen, er wird »so vollständige Zählungen, so ins Allgemeine reichende Untersuchungen« vornehmen, daß alle Sachen und Tatsachen ihm dienen können und schließlich in seine persönliche Berechnung eingehen. Es gibt nichts, was ihm nicht günstig oder ungünstig erschiene und was er nicht brauchen oder unwirksam machen könnte. Nichts Gleichgültiges. Er beobachtet auch den Lauf der Geschehnisse, ihr Gefälle. Er wird zählen, einordnen, dann setzt das Handeln ein. Dieselbe Umsicht. Dann der Sieg ... Aber dieser Mann hätte zuviel zu tun. Nun ein ganzes Volk. Jedes Einzelgebiet wird von Hunderten von Menschen bevölkert. Jeder Versuch wird von der gesamten Masse unterstützt – und diese Masse ist von Natur diszipliniert. Hier verschwindet das soziale Laster der Intelligenz: die Disziplinlosigkeit. Bleibt ein wunderbares Werkzeug: die disziplinierte Intelligenz. Und die ist nicht mehr bloß ein Werkzeug.
Ich habe als Beispiel einen gewöhnlichen Menschen genommen, um die fast unpersönliche Macht der methodischen Eroberung hervorzuheben und um die Würdigung der großen Weisheit zu empfehlen, die darin besteht, daß man nicht über das Seltene, den überraschenden Zufall grübelt.
Es gibt also endlich eine Nation, die auf dem Gebiet der Wirtschaft das Experiment der lückenlosen Vernünftigkeit, das heißt der Methodik machte, und das Experiment gelingt ihr nicht übel. Es zeigt, daß die wichtigsten Erscheinungen des Lebens als Grundlage und Stoff zu folgerechten Kombinationen dienen können. Sie stehen nicht über menschlicher Berechnung. Man kann sie erfassen. Nur Deutschland allein konnte dieses System einführen. Dort ist es nicht neu, nicht überraschend, sondern organisch. Es hat nur den Gegenstand gewechselt. Zuerst wurde Preußen methodisch geschaffen. Dann hat es das heutige Deutschland geschaffen. Das System war zunächst politisch und militärisch. Nachdem es seinen Zweck erfüllt hatte, wurde es ohne Schwierigkeit wirtschaftlich, rein durch Anwendung seiner selbst. Das moderne Deutschland bewahrt und vertieft dieses System, dem es die Entstehung verdankt.
Hat man Le danger allemand oder Made in Germany gelesen und wendet das noch heiße und erregte Denken zur militärischen Geschichte Preußens von Friedrich dem Großen bis Marschall von Moltke, so kann man sich dem Eindruck der Ähnlichkeit mit der Idee des von mir erwähnten Systems nicht entziehen. Man wird einsehen, wie wenig Übertreibung die voraufgehenden Ausführungen enthalten. Da wie dort wird man eine gleichartige Entwicklung finden: vollkommene Vorbereitungen, eine im allgemeinen genügende Ausführung – und immer Ergebnisse. Ich stelle fest, daß einzelne dieser Ergebnisse, die an sich ungünstig waren, sich schließlich zum Guten wandten, denn sie alle wurden in der Folge aufs peinlichste ausgewertet – und sogar eine Niederlage gab Erfahrung her als ein Mindestmaß von Gewinn. Dieses Vorgehen war die Regel, darum hebe ich es hervor.
Man dringe nun ins einzelne des preußischen Militärsystems ein, und man wird immer leichter die Hauptmerkmale der »Methode« erkennen. Im Vorwalten des strategischen Denkens muß man sie suchen. Die Taktik ist Sache der einzelnen; sie ist mit allen Wechselfällen des Krieges verbunden. Aber die Erforschung der Zukunft, die so weit als möglich gespannte Voraussicht, die wohlabgewogenen Wahrscheinlichkeiten, alles, was es braucht, um den Zufall zu schwächen, die Abenteuer auszuschalten: dies sind die beachtlichen Eigenschaften der militärischen Methode »Made in Germany«. Selbst der Krieg soll nicht mehr bloß nach dem Belieben der Ereignisse oder der Leidenschaften ausbrechen, aufhören, fortdauern. Er wird mittels der Vernunft geführt werden: um einen Konkurrenten kleinzumachen, um Häfen zu erlangen ... Es wird sich um eine Unternehmung der Großindustrie handeln, mit ihrer finanziellen Organisation, ihrem Kapital, ihrer Schuldentilgung, ihren Versicherungen – und vor allem mit ihren Aktionären, denn die Kriegsentschädigungen und die eroberten Milliarden werden über den ganzen deutschen Boden ausgeschüttet werden und mit ihnen neue Kanäle, neue Tunnels, neue Universitäten bezahlt: was bewirkt, daß man sich erholt und in weit größerem Stil wieder von vorn beginnt.
Im Kampfgebiet – sei der Kampf nun wirtschaftlich oder militärisch – beherrscht eine Art allgemeiner Lehrsatz das methodische, das heißt das deutsche Vorgehen. Dieser Grundsatz ist wahrlich einfach. Er ist ein armseliger logischer Schluß, also fast nichts. Er lautet: »In jedem Fall ist der Sieger stärker als der Besiegte.« Diese Tautologie soll die Liebhaber des Kampfes mit gleichen Waffen zum Nachdenken bewegen, denn man kann es auch so ausdrücken: »Es gibt niemals gleiche Waffen.« Die Gleichheit der Kämpfenden ist eine alte höhere Vorstellung, ein unverständlicher Aberglaube ... Aus dem erwähnten Grundsatz läßt sich sogleich die praktische Regel für alle Kämpfe ableiten: Es gilt, die Ungleichheit zu organisieren. Auf militärischem Gebiet wird man also die vollkommenste Armee, den schnellsten Marsch, das günstigste Gelände usw. anstreben – aber von all diesen Mitteln ist das sicherste, faßlichste die Zahl, das heißt die mathematisch erkennbare Ungleichheit, die tatsächlich unbesiegbar ist, wenn das Mehr ausreicht, wenn hinter einer Heeresspitze eine unerschöpfliche Tiefe von Reserven, von Landwehr und Landsturm6 besteht. Auf dem Gebiet der Wirtschaft wird die Ungleichheit auf Unterbietung beruhen. Das zu lösende – und in den meisten Fällen gelöste – Problem wird das sein: immer ein wohlfeileres Produkt herstellen zu können als das bekämpfte. Die Wissenschaft, Transportkombinationen, Fälschungen lassen sich dazu verwenden. Dort, wo die Feldherrnkunst mit vereinten Heeren schlüge, die Stärke der Bataillone in die Waagschale würfe, geht die Handelskunst mit dem kleinsten Preis vor, der wie die größte Zahl dort wirkt, den Widerstand bricht und den Gegner unfehlbar verjagt.
Die Organisation des militärischen Übergewichts ist das Werk des Großen Generalstabs. In der Schöpfung dieser berühmten Büros enthüllt sich das glanzvollste Beispiel der Methodik. Sie sind eigentliche Siegesfabriken. Dort findet man: die rationellste geistige Arbeitsteilung; die Aufmerksamkeit von Spezialisten beständig auf die Veränderung der geringsten nutzbaren Umstände gerichtet; die Ausdehnung dieser Forschung auf Gebiete, die den technischen Fächern zunächst scheinbar fernliegen:, die Ausweitung der Militärwissenschaft bis zur großen Politik – bis zur Wirtschaft –, denn »der Krieg wird auf allen Gebieten geführt«. Die Methode wird streng auf alle Länder angewandt. Jede Gegend wird von jeder Wissenschaft total durchforscht. Von der Geologie, welche die Natur des Bodens und dessen Schätze, den Anbau, die Verbindungswege, die natürlichen Verteidigungsmöglichkeiten feststellt, geht das bis zur Geschichte, welche die Grundlagen der psychologischen und politischen Kenntnis liefert, über die inneren Uneinigkeiten, die einheimische Gedankenwelt unterrichtet. Alle Länder werden solcherart klassifiziert, genau bestimmt. Sie werden zurückgeführt auf Gruppen von Abstraktionen, wie sie allen Berechnungen eignen; und diese großen Fetzen Erde, die so komplizierte Gesamtheiten sind, worauf so verschiedenartige Einzelwesen wimmeln, wo die Sitten derart unveränderlich scheinen, werden zu Gegenständen des Denkens, zu verwendbaren Größen, zu geeichten Gewichten, die man vergleichen kann, von denen man weiß, daß sie auf der Waage des Krieges schwerer oder leichter werden wiegen müssen. Jede Nation wird nun als eine Maschine betrachtet, die militärische Kraft erzeugt und nach Belieben der Kenner angeschlossen oder weggelassen werden kann oder sich ändert.
Dieselben so allgemeinen Ansichten beim wirtschaftlichen Generalstab. Verfolgen wir die Darlegung auf diesem Gebiet der Unternehmung. Die Parallele läßt sich aufrechterhalten.
Nach derselben Methode wurden Werkzeuge von unvergleichlicher Mächtigkeit und Genauigkeit geschaffen, ohne welche die Arbeit der Armee unfruchtbar wäre. So der Nachrichtendienst. Man denkt bisweilen, daß militärische und wirtschaftliche Nachrichten oft von denselben Agenturen stammen. Die Einheit der Methode legt diese Annahme nahe. Gerade weil Methode besteht, ist die wirtschaftliche Auskunft für die Militärs sehr wertvoll – ist auch bisweilen eine militärische Nachricht gewissen Industriellen von Wert. Von gleicher zwiefacher Wichtigkeit ist das Transportwesen. Die rasche Mobilisierung, die nötig ist, um das Vorhandensein der wirksamen Zahl auf dem Schlachtfeld sicherzustellen, erfordert genaueste Pläne für die Geschwindigkeit und Verteilung der Transporte. Die Bedingungen der Sicherheit, des Wetters, der Verpflegung werden in ihren geringsten Einzelheiten erwogen und erörtert. Auf ihnen beruht der künftige Feldzug.
Der deutsche Handel genießt, wie die Armee, den Dienst einer durchdachten Organisation des Verkehrswesens. Wie die Truppen möglichst zahlreich zur Stelle sein müssen, so die Gebrauchsgüter mit möglichst geringen Kosten. Tausend Sondervereinbarungen, Erleichterungen aller Art, wechselseitige Opfer gewährleisten diese wirtschaftliche Mobilisierung. Je näher man das Gesamt des vom Großen Generalstab errichteten strategischen Systems studiert, um so deutlicher gewahrt man in dem Produktions- und Transportsystem, das die deutsche Nation sich zulegte, eine andere Form des gleichen Bestrebens, und um so eher ist man geneigt, eine einheitliche Unternehmung anzunehmen, deren Mittel verschiedenartig sind, deren Erfolg regelmäßig eintritt, deren Ziel klar, einfach, gewaltig ist. Die rohe und selbstgewisse Macht schreitet vor, weil sie nichts ausläßt, weil sie alle Schwierigkeiten aufteilt, um dann ihr ganzes Gewicht gegen jedes Einzelteil wenden zu können. Sie erscheint im Frieden schrecklicher als im Krieg.
Marschall von Moltke verkörpert das System. Er war dessen Lenker und Beispiel 7 Es scheint, daß es seine tiefste Absicht war, nicht als Unentbehrlicher zu sterben. Das unterscheidet ihn von den früheren großen Generälen. Es ist das einzige, was er erfunden hat. Er war vor allem ein Mann, ein Mann des Vertrauens, der Ingenieur der deutschen Sicherheit und Stärke. Der absurde Hang zum Wunderbaren, der die gesamte Kriegsgeschichte verklärt, erfaßt ihn nicht. Er verdient eine besondere Art von Bewunderung. Die Elemente seines Erfolgs sind bei Friedrich, bei Napoleon und in dem an Neuem ergiebigen Sezessionskrieg. Überallher nimmt er das Seine, seine Methode nämlich, und er findet sie stets dort, wo der Sieg eine pünktlich reife Frucht scheint. In seinem Innersten ist eine kleine Zahl von beinahe grobschlächtigen Ideen, übersinnlichen, moralischen oder politischen – von jenen Ideen, durch die ihr Inhaber so gefährlich wird für die andern, so geschlossen und unfähig, Neues oder sublime Veränderungen in sich hervorzubringen. Aber er hatte sich über alles unterrichtet. An der Schwelle des Alters geht er zur Tat über, nachdem er ganz Europa gesehen, die Armeen beurteilt, als Liebhaber die Kriege seiner Zeit durchdacht hat – besser als jene sogar, die sie führten. Dieser Mann wird Stratege. Er macht reinen Tisch mit den militärischen Vorstellungen der Epoche. Einzig die wissenschaftlichen Ideen und die materiellen Fortschritte dieser Zeit verwendet er. Er verbindet sie mit dem Besten der älteren Strategie, das heißt mit dem überzeitlich Zweckmäßigen im Krieg. Im Gebrauch der Eisenbahnen sieht er die Steigerung der berühmten Schnellmärsche Napoleons. Er greift zurück und vervollkommnet die Ausnützung sämtlicher Ressourcen in Feindesland. Er macht Krieg, wo es nötig ist; er terrorisiert die Bewohner, um den Mut der Allgemeinheit zu brechen. Er vervielfacht die Informationsmittel, hört auf die Kundgebungen der öffentlichen Meinung, der Finanz, auf Gerüchte, Zeitungen, auf die Stimmung der Neutralen ... Er ist ohne Leidenschaft, ohne Genie, ganz in seinen Papieren. Das Schlachtfeld ist nicht sein Schlachtfeld: man muß ihn sich vorstellen, wie er in einem Zimmer einer eroberten kleinen Stadt mit seinem getreuen Generalstab arbeitet. Voller Fleiß behebt er die Rückschläge und die durch das Mißgeschick anderer verursachten Risse. Eine Gestalt ohne Mund und völlig verhalten ist er, eine Bastei. Einmal jedoch, 1870, wirft er seine trockene Perücke in die Luft, als er eine Depesche empfängt.
Dieses Einzelleben bietet eine umfassende Lehre. Sie entspricht genau dem, was wir vom heutigen Deutschland wissen: was an diesem Geist persönlich – das heißt systematisch – ist, läßt sich dort bis in die sozialistischen Organisationen hinein verfolgen. Für jenen eisigen Helden ist der eigentliche Feind der Zufall. Dem ist er auf den Fersen, seine Kraft beruht einzig in der Methodik. Das führt zu einer merkwürdigen Einsicht. Die Methode verlangt vom einzelnen echte Mittelmäßigkeit, oder vielmehr eine auf die elementarsten Gaben beschränkte Größe, auf Geduld und eine wahllose, begeisterungslose, allem zugewandte Aufmerksamkeit. Und gewaltige Arbeitskraft. Dies vorausgesetzt, erhält man ein Wesen, das mit jedem höheren Menschen jederzeit und unfehlbar fertig wird. Dieser letztere wird zunächst sehen, wie seine Gedanken triumphieren, dann mit ironischer Bestimmtheit eingeschränkt, dann umgemodelt und vervollkommnet werden, gemäß einer fehlerlosen, Glied an Glied kettenden Logik. Der Mensch zweiten Ranges zieht aus den Erfahrungen von Menschen wie Napoleon, Lee, Sherman die sichersten Regeln. Ihre Taten unterwirft er einer unerschütterlichen wissenschaftlichen Kritik. Er versagt es sich, auf sich selber abzustellen, was ihn stärker macht als die großen Erfinder. Methodisch weist er unvermutet auftauchende Hilfsmittel und regellose Glücksfälle zurück. Die Zeit, die alle Möglichkeiten verbraucht und das bedrohlich Überlegene entkräftet: die Zeit trägt ihn. Und schließlich: er stirbt nicht; nach ihm werden ganz sicher weitere Zweitrangige vorhanden sein, die seiner Laufbahn nachstreben, da sie ihnen am ehesten entspricht und sie am höchsten trägt. Nach seinem Abgang bleibt sich alles gleich – was eine große Kraft für die Nation bedeutet.
Diese Erwägungen können dazu dienen, die Verteilung der Menschen und ihrer Fähigkeiten in der modernen Nation zu erklären. Das gegenwärtige Deutschland zeigt Überlegenheit, was praktische Resultate und das Gesamte seiner Unternehmungen betrifft. Doch es scheint, der Einzelwert der Kräfte sei mittelmäßig, unveränderlich, übrigens dem Wachstum des Ganzen unbedingt forderlich. In dieser Hinsicht sind die heroischen Zeiten vorbei: man hat sie entschieden abgeschlossen. Gelegentlich dienen sie noch als Reklame und erscheinen in zweckbedachten Redewendungen, aber dadurch rücken sie noch ferner. Die großen Philosophen sind tot, große Gelehrte kommen nicht mehr vor.* An ihre Stelle trat eine Wissenschaft ohne Namen, die eilig, ohne Allgemeinkritik, ohne neue Theorien ist, aber fruchtbar an Erfinderpatenten. Von allem, was höhere Geister erschlossen, behält man bloß, was man nachahmen kann – und was in der Nachahmung die Hilfsmittel der mittelmäßigen Nachfolger vervielfacht.
Nun aber doch zu etwas Neuem! Die Nation handelt in genauem Zusammenspiel als ein Ganzes. Alle einander widerstrebenden Kräfte richten sich aus und wenden sich nach außen. Die Unternehmungen der Nation erfolgen sukzessiv, bei jeder hilft jeder nach besten Kräften. Die Gesellschaftsklassen, die verschiedenen Berufe rücken abwechselnd an die wichtigste Stelle. In der Geschichte dieses Jahrhunderts scheint Deutschland sich nach einem sorgfältig erwogenen Plan zu richten. Jeder Schritt erhöht seine Stellung. Ein ehrgeiziges Ziel nach dem andern erreichte das Land, indem es sich schuf; das Gleichmaß dieses Fortschritts verleiht jedem dieser Versuche einen Anschein von Künstlichkeit. Zum Beispiel macht es sich seinen Besitzstand mit genau treffenden Kriegsschlägen. Dann erlegt es Europa diesen bewaffneten Frieden auf, den alle andern Staaten für unnormal halten. Dann bringt es Industrie und Handel auf Kriegsstand. Dann baut es gleichzeitig die Kriegs- und die Handelsflotte. Dann tut es sich plötzlich um nach Kolonien ... Die bekannte Geschichte mit den Karolinen schien, wie manch andere deutsche Unternehmung, ein Blitzschlag. Dabei handelt es sich um eine Nebensache in einem großen Plan. In die gleiche Gattung gehört die staubaufwirbelnde Depesche des Kaisers an den Präsidenten Krüger. England und die Welt regen sich auf. Man gewahrt nun, daß Transvaal schon weitgehend germanisiert ist; man erinnert sich der Absichten des Barons von Marschall auf die Delagoa Bai und Beira: eine umfassend angelegte Arbeit tritt in Erscheinung.* Und die erwähnten Bücher haben ebenfalls schlagartig die gewaltige Entwicklung des Reichs enthüllt, die die erste Frucht ist des vorbedachten, gegen den Reichtum der ganzen Welt geführten Krieges.8
Man darf sich nicht verhehlen, daß für die alten, höheren Völker der Krieg immer schwieriger wird. Der Krieg ist heute solcher Art, daß gerade die Eigenschaften, die bei ihnen als ihrem Dasein wohlentsprechend galten und denen sie zur Hauptsache ihre Größe verdanken, zu Ursachen der Unterlegenheit werden. So werden zu Behinderungen im Kampf: die Gewohnheit, jedes Erzeugnis möglichst vollkommen zu schaffen, die Ermutigung des wirtschaftlichen Wettkampfes im Innern, die Verbesserung der Lage des Arbeiters ... Aber die Fragestellung reicht noch weiter.
Deutschland verdankt alles einer Sache, die gewissen Temperamenten das Widerwärtigste der Welt ist – namentlich den Engländern und Franzosen. Es ist die Disziplin. Man darf sie nicht geringschätzen. Übrigens hat sie einen andern Namen: im Geistigen nennt sie sich Methode, und mit diesem Namen habe ich sie schon oft bezeichnet. Ein Engländer oder ein Franzose kann eine Methode erfinden. Beide haben es bewiesen. Sie können sich einer Disziplin unterwerfen; das ist gleichfalls erwiesen. Aber stets werden sie etwas anderes vorziehen. Ihnen bedeutet sie einen Notbehelf für den Augenblick oder ein Opfer. Für einen Deutschen ist sie das Leben selbst. Es zeigt sich zudem, daß Deutschland als Nation ein Neugebilde ist. Alle Völker nun, die den Rang großer Nationen erreichen oder zu einer Zeit zurückgewinnen, wo schon ältere, ausgebildetere große Nationen ihre Stelle haben, neigen dazu, übereilt das nachzuahmen, was die älteren Nationen Jahrhunderte an Erfahrung kostete, und organisieren sich nach einer vorbedachten Methode durch – so wie ja auch jede planmäßig ausgedachte Stadt immer nach einem geometrischen Schema gebaut wird. Deutschland, Italien, Japan sind solche Nationen, deren Aufbau sehr spät wiederaufgenommen wurde, und zwar nach einem wissenschaftlichen Begriff, dessen Brauchbarkeit vom Stand der Analyse nachbarlichen Wohlstandes und der zeitgenössischen Fortschritte bestimmt wurde. Auch Rußland wäre ein Beispiel dafür, wenn die ungeheure Ausdehnung seines Gebietes nicht hinderlich wäre für die rasche Durchführung eines Gesamtplans.
In Deutschland findet man also einen Nationalcharakter, der von Natur aus geeignet ist zur Arbeitsplanung wie zur Arbeitsteilung, und einen neuen Staat, der die älteren einholen und dann überflügeln wollte. Im gesamten muß man zugeben, daß die an diese Aufgabe gewandte Energie und Folgerichtigkeit ungewöhnlich sind.
Ich habe versucht, die Anlage dieser großen Unternehmung aufzuzeigen, indem ich ihre militärische Seite mit der wirtschaftlichen verglich; zum selben Schluß aber wäre man mit Beispielen aus andern Gebieten gelangt. Ebensogut hätte ich die deutsche Wissenschaft anführen können. Auch bei ihr herrscht der Grundsatz der Aufteilung, der Einteilung, der den Gegenständen der Erkenntnis auferlegten Disziplin. Auch bei ihr vervielfachen wunderbare Hilfsmittel den Ertrag: Laboratorien, von denen eines spezialisierter ist als das andere, unabsehbare Literaturnachweise, Unterricht in omni re scibili9, Menschen, die für ihr ganzes Dasein in der Tiefe kaum noch wahrnehmbarer Probleme vergessen sind – das alles bildet eine nationale Wissenschaft, die mit dem sie großzügig unterhaltenden Land völlig solidarisch ist.
So können wir diese Frage der Methode auf abstrakte Weise betrachten. Wird dieser Begriff angeführt, so denkt jeder gleich an eine Art Rezept oder praktische Anleitung, um von einem gegebenen zu einem vorbestimmten andern Zustand zu gelangen. Jeder sieht darin das Ausklammern gewisser Versuchsweisen und das strikte Befolgen gewisser Vorschriften, die man ein für allemal durch einen grundlegenden, als hinreichend beurteilten Denkakt übernahm.10 Und es ist notwendig, daß jedermann von der Macht eines solchen Vorgangs durchdrungen sei. Es ist leicht zu zeigen, daß durch Verfahren dieser Art die Zufälle einer Unternehmung auf ein Mindestmaß eingeschränkt werden. Die Überraschungen sind vorausgesehen. Eine brauchbare Methode enthält eine Antwort auf jeden möglichen Fall, und diese Antwort wird sowenig wie möglich vom plötzlichen Auftreten eines Ereignisses oder Problems beeinflußt. Doch von all ihren Eigenschaften sind folgende die interessantesten: eine gutgebaute Methode verringert die Anstrengungen des Erfinders um vieles. Sie ermöglicht, daß die Forschungen sich vermehrend aneinanderschließen. Beispiel: Ein Industrieller will ein bestimmtes Land mit einem gewissen Erzeugnis beliefern. Statt die Form des Gegenstandes zu erfinden, erkundigt er sich. Diese Form wird ihm gegeben durch den Geschmack des künftigen Kunden. Er wendet sich darauf an Gelehrte, die er bezahlt, um wissenschaftlich die Entwicklungskosten herabzusetzen usw. Ist schließlich das Produkt hergestellt, befördert, verkauft, so wird man beobachten, wie es nacheinander fast alle menschlichen Wissensgebiete in Anspruch nahm und jedem das entlehnte, was nötig war, um die relative Befriedigung des Kunden wie die absolute des Fabrikanten zu erreichen. Nichts Einfacheres als dieses Vorgehen, das indessen fast nur in Deutschland uneingeschränkt und peinlich genau angewandt wird. Es geht, wie man sieht, darum, sich streng nach der Natur der Dinge zu richten und nichts auszulassen. Es ist eine Frage der Logik. Man muß das Notwendige tun; doch während der unmethodische Fabrikant in einen Trugschluß und ein trügerisches Geschäft gerät, wenn er, sagen wir, versichert, jede gute Ware müsse sich verkaufen, folglich ... usw ...., wird ein anderer, gewitzterer, Logik und Geschäft vereinen, indem er die Bestimmung, was ein wies Produkt sei, nicht der Ungewißheit und dem Zufall überläßt. Er wird hingehen und sie im Herzen des Kunden lesen.
In Deutschland sind übrigens diese so genauen Verfahren leichter anzuwenden als in jedem andern Land. Ich habe von Disziplin gesprochen. Sie ist dort angeboren, und es ist ihre Stärke, die Stellung der Menschen und ihren gesamten Wirkungskreis festzulegen. Im Heer wie anderswo handelt es sich darum, daß jeder alles, was er kann, tun könne. Das läßt sich nur durch Zwang erreichen, und die jedem a priori auferlegte Beschränkung wird im Hinblick auf die Höchstleistung des einzelnen bemessen. Muß ein Soldat im Glied bleiben, so darum, weil er vereinzelt weniger wirksam handelt. Eine Bande von tausend Mann ist weit weniger stark als ein Bataillon von fünfhundert. Die auffallendste Erscheinung in der so streng geordneten, bis ins einzelste durchdachten deutschen Armee ist die künstliche Züchtung der begrenzten Initiative. Der Soldat wie der Hauptmann müssen ausführen, was ihnen in diesem oder jenem Augenblick des Gefechts angezeigt scheint: es gibt da eine Art von überlegter Einschränkung der Freiheiten, die abgestuft jedem Grad zugemessen sind. Die Ergebnisse der Disziplin sind denen der Methode ähnlich. Sie vervielfacht die Einzelkräfte. Für jeden besondern Fall bietet sie eine einfache und sichere Lösung. Sie erlegt den unbedingten Zwang auf, an alles überhaupt Denkbare zu denken. Sie verlangt einzig Gehorsam und nie etwas Außerordentliches. Sie beschränkt die Rolle des Zufalls.
Der Leser hat mich vielleicht der Übertreibung bezichtigt. Darauf werde ich antworten: Wenn die Dinge, auch in Deutschland, sich nicht genau so verhalten, wie ich es dargestellt habe, so werden sie sich künftig so verhalten. Ich werde auch sagen, daß ich nur Allbekanntes miteinander verglich und Schlüsse zog. Der Leser wird vielleicht Verlegenheit und Unbehagen verspürt haben, wie er mich dieser für alle Phantasie unheilvollen, insgesamt so düsteren Methode eine zermalmende Übermacht zuschreiben sah. Dennoch werde ich ihm meine Meinung nicht vorenthalten. Ich glaube, daß wir erst am Anfang der Methodik stehen. Ich möchte deren mögliche, wenn man will mußmaßliche Rolle aufzeigen. Wir sahen sie triumphieren auf den Gebieten: Politik, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft ... Der Leser hat sich auf das Gebiet des Geistes geflüchtet. Gern stellt er sich vor, daß die Metaphysik, die Künste, die Literatur und die höchsten Gefilde der Wissenschaft unangetastet bleiben und gesichert durch die Außergewöhnlichkeit der Menschen, die sich dort Ruhm erwerben, und der Menschen, die sich davon betören lassen. Die wissenschaftliche Methodik zum Beispiel verbürgt dem Gelehrten noch nicht die Erfindung einer Theorie, die Schöpfung eines neuen Weltbildes. Zweifellos vermehrt sie seine Aussichten dazu. Sie begnügt sich mit der Verfügung über das bereits Gefündene. Eine Idee jedoch naht auf unerforschten Wegen und im Gefolge nichtgelenkter Geschehnisse. Aus vielen Erscheinungen hat man Theorien gezogen, aber es fehlt uns noch die Theorie der Theorie. In Literatur und Kunst finden wir denselben Anschein von Spontaneität, dasselbe Dunkel um den Ursprung, denselben Mangel an allgemeinen Verfahren. Die Gesetzlichkeiten der Auswahl, der Substitution, der Assoziation bleiben von der Erkenntnis geflissentlich ausgeschlossen. Trotzdem wette ich, daß im Innern all derer, die irgend etwas mit Ausdauer treiben, irgendeine Methode sich bildet und wächst. Alle großen Schöpfer von Ideen und Formen haben sich, scheint mir, eigener Methoden bedient. Damit will ich sagen, daß gerade ihre Stärke und ihre Meisterschaft bedingt sind von der Anwendung gewisser Gewohnheiten und gewisser Begriffe, die ihr ganzes Denken disziplinieren. Merkwürdig: gerade die Erscheinungen dieser inneren Methode nennen wir ihre Persönlichkeit. Es macht übrigens wenig aus, ob diese Methode bewußt sei oder nicht ... Da zeigt sich denn die Möglichkeit einer bedeutenden Untersuchung und eines Buches, das in Wirklichkeit noch nie geschrieben wurde: Die Kunst des Denkens. Die ersten Schöpfer der formalen Logik haben zweifellos dieses Ziel verfolgt, allein es gelang ihnen nur, ein Werkzeug zu entdecken, mit dem sich etwas wunderbar suchen, nicht aber finden ließ.11
Nehmen wir an, dieses Buch sei geschrieben. Und ich sehe keinen Grund, daß es nicht geschrieben werde. Nehmen wir an, so man will, daß mehrere der großen Geister, von denen ich sprach, nach der Anwendung ihnen vertrauter Methoden zum Bewußtsein derselben gelangten (das kam vor) und sie im Rahmen der Sprachmöglichkeiten mitteilten. Man sähe dann auf geistigem Gebiet dieselben Verfahren Platz greifen, die Deutschland auf das Leben der Gesellschaft anwendet. Man sähe in der Literatur methodisches Zusammenwirken mit Arbeitsteilung und allem übrigen. Balzac hat es versucht. Man sähe, wie der Künstler seine Arbeit unmittelbar auf jeden einzelnen Sinn, jede psychologische Notwendigkeit seines Publikums einstellt und den Menschen geradewegs aufs Korn nimmt. Wagner hat es getan.12
Aber durch ein solches Werk gelangte dieses wunderliche Gesetz zum Äußersten seiner Geltung, wonach das Genie für...die andern zur Welt kommt. Schön, genialist man nur für die andern. Japan muß denken, Europa sei für Japan gemacht worden. Und kraft einer von Deutschland bereits angestellten Überlegung sähe man zweifellos den endgültigen Triumph alles Mittelmäßigen auf Erden. Die auf alles ausgedehnte Methode würde zu einer gewaltigen Einsparung an höheren Menschen führen. Welch sonderbares Ergebnis, wenn die Ergebnisse dieser Neuordnung der Dinge in jeder Hinsicht vollkommener, ergiebiger, angenehmer wären als die heutigen.
Indessen – ich weiß nicht. Ich lasse nur einige Folgerungen abspulen.
[1896/1924)
* Dieser Satz ist zu streichen; Männer wie Einstein, Planck usw. erweisen seine Unrichtigkeit, d.h. Ungerechtigkeit (1925).
* Im Januar 1896 sang man am Kap: »Strange German faces passing to and fro What have you come for? We should like to know! Looking mysterious as you join the train, Say, now, you Ulans, shall we meet again?« [»Ihr fremden deutschen Gesichter, die ihr hier herumgeht, mit welcher Absicht kamt ihr? Das möchten wir wissen. Undurchdringlich ist euer Blick, wenn ihr in den Zug steigt; sagt nun, ihr Ulanen, werden wir uns wieder treffen?«]
ERSTER BRIEF
Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, daß wir sterblich sind.1
Wir hatten gehört von ganzen Welten, die verschwunden sind, von Reichen, plötzlich vom Abgrund verschlungen mit allen ihren Menschen und all ihren Werkzeugen; hinabgesunken bis auf den unerforschbaren Grund der Jahrhunderte, samt ihren Göttern und ihren Gesetzen, ihren Akademien und ihren reinen und angewandten Wissenschaften; samt ihren Grammatiken und Wörterbüchern; samt ihren Klassikern, Romantikern und Symbolisten; samt ihren Kritikern und deren Kritikern. Wohl wußten wir, daß der ganze Erdboden aus Asche ist, daß Asche etwas bedeutet. In den Tiefen der Geschichte gewahrten wir Phantome riesiger Schiffe, einst befrachtet mit Reichtum und Geist. Wir vermochten nicht, sie zu zählen. Aber diese Katastrophen kümmerten uns letzten Endes nicht.
Elam, Ninive, Babylon waren nur klangvolle Namen, und der völlige Untergang dieser Welten hatte für uns geradeso wenig Bedeutung wie ihr Dasein. Aber Frankreich, England, Rußland könnten ebenso klangvolle Namen sein. Auch Lusitania2 ist ein klangvolles Wort. Und wir sehen jetzt, daß der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle. Wir fühlen, daß eine Kultur genau so hinfällig ist wie ein einzelnes Leben. Die Umstände, welche die Werke von Keats und Baudelaire vernichten könnten gleich denen Menanders, sind nicht mehr ganz unfaßbar: sie sind das Tagesgespräch.
Damit nicht genug. Die bittere Erkenntnis ist noch umfassender. Nicht genug, daß unsere Generation durch eigene Erfahrung hat lernen müssen, wie das Schönste und das Ehrwürdigste, das Gewaltigste und das Bestgeordnete durch bloßen Zufalldem Untergang verfallen kann; sie hat gesehen, wie in der Welt des Denkens, des Gemeinverstandes und des Gefühls das Unerwartetste in Erscheinung tritt, wie das Widersinnigste sich jäh verwirklicht, das Gewisseste zuschanden wird.
Nur ein Beispiel: die großen Vorzüge der Deutschen haben mehr Unglück verschuldet, als je der Müßiggang Laster gezeugt hat. Wir haben gesehen, mit eigenen Augen gesehen, wie die gewissenhafteste Arbeit, die gründlichste Bildung, die ernsteste Zucht und Bemühung grauenvollen Zwecken dienen mußten.
Soviel Schreckliches wäre nicht möglich gewesen ohne so vorzügliche Eigenschaften. Es bedurfte zweifellos vielen Wissens, um in so kurzer Zeit so viele Menschen zu töten, so viele Güter zu verschwenden, so viele Städte zu vernichten; aber nicht weniger bedurfte es dazu moralischer Kräfte. Wissenschaft und Pflicht, seid auch ihr nun verdächtig?
So ist die Stadt des Geistes, Persepolis, nicht minder verheert als die des Reichtums, Susa. Nicht alles ist untergegangen, aber alles hat den Untergang gefühlt.
Ein Schauer ohnegleichen hat Europa bis ins Mark durchbebt. Es hat in allen seinen Nervenzentren empfunden, daß es sich nicht mehr erkennt, daß es aufgehört hat, sich selbst zu gleichen, daß es das Bewußtsein seiner selbst verliert – ein Bewußtsein, erworben in Jahrhunderten noch erträglicher Leiden, durch Tausende von Menschen hohen Ranges, durch zahllose Glücksfälle geographischer, ethnischer, geschichtlicher Art.
Aber in diesem Augenblick ist wie zu einer verzweifelten Verteidigung seines innersten Seins und Besitzes die Gesamtheit seiner Erinnerungen vor ihm noch einmal dunkel emporgestiegen. Seine großen Männer und seine großen Bücher tauchten wirr durcheinander vor ihm auf. Nie hat man so viel, nie so leidenschaftlich gelesen wie während des Krieges: fragt nur die Buchhändler. Nie hat man so viel, nie so innig gebetet: fragt nur die Priester. All die Retter, die Gründer, Schutzheiligen, Märtyrer, Helden wurden heraufbeschworen, die Patres patriae, die heiligen Heldinnen, die Nationaldichter ...
Und in dieser geistigen Verwirrung, unter dem Druck dieser Angst durchlebte das gebildete Europa fieberhaft seine zahllosen Gedanken noch einmal: die verschiedensten Dogmen, Philosophien, Ideale; die dreihundert Deutungen der Welt, die tausend Auffassungen des Christentums, Dutzende von Positivismen: das ganze Spektrum des geistigen Lichts entfaltete seine unvereinbaren Farben und beleuchtete mit einem seltsam widerspruchsvollen Schein den Todeskampf der europäischen Seele. Indes die Erfinder fieberhaft in ihren Mappen, in den Annalen früherer Kriege nach Mitteln suchten, um die Stacheldrähte zu zerreißen, die Unterseeboote zu überlisten oder den Flug der Luftschiffe zu lähmen, nahm die Seele gleichzeitig Zuflucht zu allen Zauberformeln, die sie nur wußte, erwog sie ernsthaft die seltsamsten Prophezeiungen; im gesamten Register der Erinnerungen, der Taten von einst, der urväterlichen Riten suchte sie nach Schutz oder Wahrzeichen oder Trost. Dies sind die bekannten Folgen von Angstzuständen, die wirren Anstrengungen des Gehirns, das vom Wirklichen zum Wahn, vom Wahn zurück zum Wirklichen getrieben wird, ratlos wie eine Ratte in der Falle ...
Die militärische Krise ist vielleicht zu Ende. Die wirtschaftliche Krise ist in voller Stärke sichtbar; aber die geistige Krise, die heimlicher ist und ihrem Wesen nach die täuschendsten Formen annimmt (spielt sie sich doch im eigensten Bereich der Täuschung ab), sie läßt nur schwer ihren wirklichen Grad, ihr Stadium erkennen.
Wer vermag zu sagen, was in Literatur, Philosophie, Ästhetik morgen noch lebendig sein wird? Noch weiß niemand, welche Gedanken und welche Worte man auf die Verlustliste setzen, was an Neuem man verkünden wird.
Noch bleibt freilich die Hoffnung und singt schüchtern:
Et cum vorandi vicerit libidinem,
Late triumphet imperator Spiritus.3
Doch die Hoffnung ist nichts als das Mißtrauen des Einzelwesens gegenüber der allzu bestimmten Voraussicht des Geistes. Sie legt uns nahe, daß jedes dem Leben feindliche Urteil notwendig ein Irrtum des Geistes sein müsse. Jedoch die Tatsachen sind eindeutig und unerbittlich. Tausende von jungen Schriftstellern und Künstlern sind tot. Der Glaube an eine europäische Kultur ist dahin; daß die Erkenntnis nichts, gar nichts zu retten vermag, ist erwiesen; die sittlichen Ansprüche der Wissenschaft sind tödlich getroffen, sie ist gleichsam entehrt durch die Grausamkeit ihrer praktischen Anwendung; der Idealismus, der nur mit Mühe gesiegt hat, ist tief verwundet und büßt für seine Träume; der Realismus enttäuscht, geschlagen, mit allen Verbrechen und Verfehlungen belastet; Begierde und Verzicht gleichermaßen zum Spott geworden; die Bekenntnisse nicht nach Lagern geschieden, Kreuz gegen Kreuz, Halbmond gegen Halbmond; und sogar die Skeptiker, aus aller Fassung gebracht durch so plötzliche, so heftige, so bestürzende Ereignisse, welche mit unsern Gedanken ihr Spiel treiben wie die Katze mit der Maus – die Skeptiker bezweifeln ihre eigenen Zweifel, verfallen ihnen von neuem, bezweifeln sie wieder, und sind nicht mehr imstande, sich der eigenen geistigen Kraft zu bedienen.
Das Schwanken des Schiffs war so stark, daß auch die am sichersten aufgehängten Lampen erloschen.
Was der Krise des Geistes ihre Tiefe und ihren Ernst gibt, das ist der Zustand, in dem sie den Kranken getroffen hat.
Ich habe weder die Zeit noch die Kraft, den geistigen Zustand des Europa von 1914 zu bestimmen. Und wer würde ein Bild dieses Zustands zu entwerfen wagen? Der Gegenstand ist ein ungeheurer; er erfordert umfassendstes Wissen, unendliche Kenntnisse. Übrigens ist angesichts eines so vielfältigen Ganzen die Schwierigkeit, sich auch die nächste Vergangenheit zu vergegenwärtigen, durchaus vergleichbar derjenigen, auch nur die nächste Zukunft vorauszubestimmen; es ist vielmehr genau dieselbe. Der Prophet ist hier in der gleichen Verlegenheit wie der Historiker. Überlassen wir sie ihrem Schicksal.
Aber ich brauche für den Augenblick nichts weiter als die ganz allgemeine Erinnerung an das, was vor Beginn des Kriegs die Köpfe beschäftigte, an die Forschungen, denen man nachging, die Werke, die man veröffentlichte.
Sehe ich also von allen Einzelheiten ab und beschränke mich auf einen raschen Eindruck und auf jene Gesamtwirkung, welche sich aus einer Augenblickswahrnehmung instinktiv ergibt, so sehe ich – nichts! – Freilich ein Nichts von unerschöpflichem Reichtum.
Die Physiker lehren uns, daß unser Auge in der Weißglut eines Schmelzofens, wenn es sie ertrüge – nichts sehen würde. Keinerlei ungleichartige Helligkeit bleibt und bezeichnet die Punkte des Raums. Diese gewaltige gefangene Kraft ergibt schließlich Unsichtbarkeit, unterschiedslose Gleichartigkeit. Doch eine Gleichartigkeit solcher Art ist nichts anderes als das völlige Chaos.
Und aus was allem ergab sich dieses Chaos unseres geistigen Europa? – Daraus, daß in allen gebildeten Köpfen die einander unähnlichsten Gedanken, die einander entgegengesetztesten Lebens- und Erkenntnisprinzipien ungehindert nebeneinander lebten. Das ist es, was ein modernes Zeitalter kennzeichnet.
Ich würde dazu neigen, den Begriff des Modernen allgemeiner zu fassen und dieses Wort auf eine bestimmte Lebensweise anzuwenden, es nicht bloß mit zeitgenössisch gleichzusetzen. Gibt es nicht in der Geschichte Orte und Zeiten, in die wir Modernen uns einfügen könnten, ohne den Einklang allzusehr zu stören und ohne als unendlich seltsame, unendlich auffällige Wesen, ohne als anstößig, fremd, anpassungsunfähig zu erscheinen? Wo unser Erscheinen am wenigsten Aufsehen erregen würde, dort sind wir wie zu Hause. Zweifellos, daß wir im Rom Trajans und im Alexandrien der Ptolemäer leichter untertauchen könnten als an so manchen anderen, zeitlich weniger fernen Stätten, die aber mehr auf eine einzige, einheitliche Sitte gestellt und auf eine einzige Rasse, eine einzige Kultur, ein einziges Lebenssystem eingeschworen sind.
Nun wohl, das Europa von 1914 war vielleicht bis an die Grenzen einer solchen Modernität gelangt. Jeder Kopf von Rang war ein Treffpunkt aller Weltanschauungen; jeder Denker eine Weltausstellung der Gedanken. Es gab Werke des Geistes, deren Reichtum an Gegensätzen und einander widersprechenden Impulsen an die wahnwitzigen Lichteffekte der Großstädte der Zeit denken ließ, welche die Augen quälen und ermüden. Wie vieler Dinge, wie vieler Werke, Berechnungen, geplünderter Jahrhunderte, welcher Summe verschiedenster Lebensäußerungen bedurfte es, damit dieser Taumel möglich und zum Ausdruck höchster Weisheit, zum Triumph der Menschheit erhoben wurde?
In manchen Büchern jener Zeit – und keineswegs in den mittelmäßigsten – findet man ganz mühelos: eine Einwirkung des russischen Balletts – ein wenig vom düstern Stil Pascals – viele Impressionen Goncourtscher Art – etwas von Nietzsche – etwas von Rimbaud – gewisse Effekte, die vom Umgang mit Malern herrühren – zuweilen etwas vom Ton wissenschaftlicher Werke – das Ganze irgendwie, schwer bestimmbar, britisch angehaucht! ... Stellen wir nebenbei fest, daß sich in jedem einzelnen Bestandteil dieser Mischung noch viele andere Körper finden ließen. Unnötig, nach ihnen zu forschen: das hieße wiederholen, was ich eben über die Moderne gesagt habe, und hieße die ganze Geistesgeschichte Europas schreiben.
Und jetzt – auf einem ungeheuren Erdwall4 von Helsingör, der von Basel bis Köln reicht, der an die Dünen von Nieuwpoort, an die Sümpfe der Somme, an die Kreidefelsen der Champagne und den Granit des Elsaß grenzt, erschaut der europäische Hamlet Millionen Gespenster.
Aber er ist ein sehr intellektueller Hamlet. Er meditiert über Sein und Nichtsein der Wahrheiten. Die Geister, die ihm erscheinen, sind – alle Probleme, um die wir streiten; unsere Ruhmestitel, für ihn sind sie Gewissensqualen; er erliegt unter der Last der Erfindungen, Kenntnisse, Methoden und Bücher, unfähig, darauf zu verzichten, außerstande, sich dieser grenzenlosen Tätigkeit neu hinzugeben. Er denkt des Verdrusses, das Vergangene wiederzubeginnen, des Wahns, immer wieder Neues zu wollen. Er schwankt zwischen beiden Abgründen, denn zwei Gefahren hören nicht auf, die Welt zu bedrohen: Ordnung und Chaos.
Greift er nach einem Schädel, so ist es ein erlauchter Schädel. – Whose was it? – Der da war Lionardo, der den fliegenden Menschen ersann. Ach, der fliegende Mensch hat nicht gerade den Absichten seines Erfinders gedient: In unsern Tagen hat der Mensch, der »auf dem Rücken seines großen Schwans« fliegt (il grande uccello sopra del dosso del suo magnio cecero)5, bekanntlich andere Aufgaben als die, Schnee von den Gipfeln der Berge zu holen, um ihn an Tagen der Hitze auf die Straßen der Städte zu streuen ... Und der da ist der Leibnizens, der vom Weltfrieden träumte. Und der da war Kant; Kant zeugte Hegel, dieser zeugte Marx, dieser zeugte – wen?
Hamlet ist sehr unschlüssig, was tun mit allen diesen Schädeln. Soll er sie preisgeben? ... Wird er dann nicht aufhören, er selbst zu sein? Sein unheimlich hellsichtiger Geist erwägt den Übergang vom Krieg zum Frieden. Dieser Übergang ist noch dunkler, noch gefahrvoller als der vom Frieden zum Krieg; alle Völker stehen ratlos davor. »Und ich«, spricht er zu sich, »ich, Europas Intellekt, was wird mein Schicksal sein? ... Und was ist der Friede? Der Friede ist vielleicht jener Stand der Dinge, in dem die angeborene Feindschaft der Menschen gegeneinander sich durch Schöpfungen kundgibt, statt sich durch Zerstörung zu äußern wie im Krieg. Er ist die Zeit schöpferischer Zusammenarbeit, kämpfenden Schaffens. Und ich selbst, bin ich nicht des Schaffens müde? Habe ich nicht meine Begierde nach kühnsten Versuchen erschöpft? Habe ich nicht mit den subtilsten Mischungen Mißbrauch getrieben? Gilt es, meinen schweren Pflichten und meinem transzendenten Streben zu entsagen? Soll ich mich der Strömung überlassen und handeln wie Polonius, der jetzt eine große Zeitung herausgibt? wie Laertes, der irgendwo Flieger ist? wie Rosenkrantz, der unter russischem Decknamen ich weiß nicht was treibt?
– Fahrt hin, Gespenster! Die Welt bedarf euer nicht mehr. Noch meiner. Die Welt, die ihrem Hang zu unseliger Verstandesschärfe den Namen ›Fortschritt‹ gibt, trachtet, die Güter des Lebens mit den Vorteilen des Todes zu verbinden. Noch herrscht in manchem Unsicherheit. Ein wenig Geduld, und alles wird sich aufklären; schließlich wird vor unseren Augen das Wunder einer Tiergesellschaft entstehen, ein vollkommener und endgültiger Ameisenhaufen.«
ZWEITER BRIEF
Ich sagte Ihnen letztes Mal, der Friede sei jene Art von Krieg, deren Verlauf Handlungen schöpferischer Liebe mit sich bringt: also ist er vielfältiger und dunkler als der eigentliche Krieg, wie das Leben tiefer und dunkler ist als der Tod.
Doch der Anfang und die Verwirklichung des Friedens sind dunkler als der Friede selbst, wie die Zeugung und der Ursprung des Lebens geheimnisvoller sind als das Sich-Betätigen des fertigen und lebensfähigen Geschöpfs.
Heute ist uns allen die Empfindung dieses Geheimnisses als unmittelbarste Erfahrung gegenwärtig; zweifellos fühlen einige Menschen, daß ihr eigenes Ich tatsächlich teilhat an diesem Geheimnis; vielleicht gibt es einen, dessen Empfinden so klar, so fein, so reich ist, daß er künftige Phasen unserer Entwicklung, die wir noch nicht erreicht haben, in sich wahrzunehmen vermag.
Ich ziele nicht so weit. Mich interessieren die Dinge dieser Welt nur vom Intellekt her; alles nur in bezug auf den Intellekt. Bacon würde sagen, dieser Intellekt sei ein Idol. Zugegeben, aber ich kenne kein besseres.6
Ich denke also an die Verwirklichung des Friedens, soweit sie den Intellekt und die Angelegenheiten des Intellekts betrifft. Dieser Gesichtspunkt ist falsch, da er den Geist von allen andern Tätigkeiten sondert; aber diese Abstraktion und diese Fälschung sind unvermeidlich: jeder Gesichtspunkt7 fälscht.
Eine erste Überlegung. Die Idee der Kultur, der Intelligenz, des Meisterwerks steht für uns in einem Zusammenhang – so alt, daß wir nur selten an ihn zurückdenken – mit der Idee Europa.
Die anderen Weltteile hatten wohl bewundernswerte Kulturen, Dichter hohen Ranges, Baumeister und auch Gelehrte. Aber kein anderer Teil der Erde besaß diese seltsame physische Eigenschaft: intensivste Ausstrahlungskraft verbunden mit intensivstem Absorptionsvermögen.
Alles kam nach Europa, und alles kam von Europa. Oder fast alles.8
Nun stellt der heutige Tag uns vor eine Frage von höchster Wichtigkeit: Wird Europa seinen Vorrang auf allen Gebieten behaupten?
Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlands?9
Oder aber wird Europa bleiben, was es scheinbar ist: der kostbarste Teil unserer Erde, die Krone unseres Planeten, das Gehirn eines umfänglichen Körpers?
Man erlaube mir, um die ganze Unerbittlichkeit dieser Alternative begreiflich zu machen, hier eine Art von grundlegendem Theorem zu entwickeln.
Man betrachte einen Globus und darauf die Gesamtheit der bewohnbaren Welt. Diese Gesamtheit zerfällt in Regionen, jede dieser Regionen weist eine bestimmte Bevölkerungsdichte auf, eine bestimmte Art Menschen. Jeder dieser Regionen entspricht ferner ein natürlicher Reichtum – das Land ist mehr oder weniger fruchtbar, der Boden birgt größere oder geringere Schätze, die Bewässerung ist ungleich, der Verkehr leicht oder schwer zu bewerkstelligen usw.
Alle diese Merkmale ermöglichen uns zu jeder Zeit, diese Regionen einzuordnen, so daß zu jeder Zeit die Beschaffenheit der belebten Erde als ein System von Verschiedenheiten zwischen den bewohnten Regionen ihrer Oberfläche dargestellt werden kann.
In jedem Augenblick wird die Geschichte des nächsten Augenblicks von dieser tatsächlichen Verschiedenheit bestimmt.
Untersuchen wir jetzt nicht diese theoretische Rangordnung, sondern jene, die noch gestern Wirklichkeit war. Wir sehen etwas höchst Merkwürdiges, das uns längst selbstverständlich geworden ist: Dieses kleine Europa nimmt seit Jahrhunderten die erste Stelle in dieser Rangordnung ein. Trotz seiner geringen Ausdehnung und obgleich der Reichtum seines Bodens kein außergewöhnlicher ist, beherrscht es das Gesamtbild. Durch welches Wunder? – Zweifellos muß das Wunder in der Art seiner Bevölkerung begründet sein. Diese Art muß die geringere Zahl der Menschen, der Quadratkilometer, der Erztonnen, die Europa zugeteilt sind, aufwiegen. Man lege in die eine Waagschale Indien, in die andere England. Und siehe: die Schale mit dem kleineren Gewicht sinkt!
Welch erstaunliche Störung des Gleichgewichts! Aber die weiteren Folgen sind noch erstaunlicher: sie lassen uns nämlich eine wachsende Veränderung im umgekehrten Sinne voraussehen.
Wir haben soeben angedeutet, daß die Art der Menschen bestimmend gewesen sein muß für den Vorrang Europas. Ich kann diese Art nicht im einzelnen analysieren; aber ein rascher Überblick ergibt, daß unersättlicher Tätigkeitsdrang, glühende und rein sachliche Neugier, die glückliche Verbindung von Phantasie und logischer Strenge, Skepsis ohne Pessimismus, Mystik ohne Resignation – die spezifisch wirksamen Kräfte der europäischen Psyche sind.
Ein einziges Beispiel dafür, doch ein Beispiel ersten Rangs und von allerhöchster Bedeutung: Griechenland – denn man muß die gesamten Ufer des Mittelmeers zu Europa rechnen: Smyrna und Alexandrien gehören ebenso dazu wie Athen und Marseille –, Griechenland hat die Geometrie begründet. Es war dies ein wahnwitziges Unternehmen: selbst die Möglichkeit dieser Tollkühnheit ist noch heute umstritten.
Was war erforderlich, um diese phantastische Schöpfung zu verwirklichen? – Man bedenke, daß sie weder Ägyptern noch Chinesen, weder Chaldäern noch Indern geglückt ist. Man bedenke, daß es ein höchst spannendes Abenteuer war, eine Eroberung, tausendmal wertvoller und unbedingt weit dichterischer als die des Goldenen Vlieses. Es gibt kein Widderfell, das dem goldenen Schenkel des Pythagoras an Wert gleichkäme.
Ein solches Unternehmen erforderte Gaben, die gemeinhin unvereinbar sind. Es verlangte Argonauten des Geistes, unerschrockene Piloten, die sich weder in ihre Gedanken verfingen noch durch Eindrücke ablenken ließen. Weder die Unsicherheit der Voraussetzungen, auf die sie sich stützten, noch die überfeinen oder unabsehbaren Folgerungen, denen sie nachgingen, vermochten sie zu beirren. Sie waren gleich weit entfernt vom ewig unbeständigen Neger wie vom in sich versunkenen Fakir. Sie haben die so schwierige, so unwahrscheinliche Anpassung der Alltagssprache an das reine Denken bewerkstelligt; die Analyse vielfach zusammengesetzter Bewegungs- und Sehvorgänge; die Übereinstimmung dieser Vorgänge mit Eigentümlichkeiten der Sprache und der Grammatik; sie stützten sich auf das Wort, damit es sie, die Sehend-Blinden, durch den Raum führe ... Und dieser Raum selbst wurde von Jahrhundert zu Jahrhundert eine immer reichere, immer erstaunlichere Schöpfung, in dem Maß, in dem das Denken seiner selbst Herr wurde, in dem es tiefer der wunderbaren Vernunft und dem ursprünglichen Scharfsinn vertraute, die es zuerst mit unvergleichlichen Werkzeugen versehen hatten: mit Definitionen, Axiomen, Hilfssätzen, Theoremen, Problemen, Porismen usw. ...
Man würde ein ganzes Buch brauchen, um nach Gebühr davon zu reden. Ich wollte nur mit wenigen Worten eine der eigensten Taten des europäischen Genius genauer bezeichnen. Das Beispiel führt mich von selbst zu meinem Hauptthema zurück.
Meine Behauptung war, daß jene Ungleichheit, die sich so lange zugunsten Europas ausgewirkt hat, kraft ihrer eigenen Weiterentwicklung zu einer Ungleichheit im entgegengesetzten Sinne werden müsse. Das war es, was ich mit dem anspruchsvollen Namen eines grundlegenden Theorems bezeichnete.
Wie läßt sich diese Behauptung begründen? – Ich bleibe beim gleichen Beispiel: bei der Geometrie der Griechen, und bitte den Leser, die Auswirkungen dieser Wissenschaft durch die Zeiten mit mir zu betrachten. Man sieht, wie sie nach und nach, so langsam wie sicher, solchen Einfluß gewinnt, daß alle Forschungen, alle erworbenen Erfahrungen sich unwiderstehlich ihrer strengen Haltung nähern, ihrer strengen Sparsamkeit im »Stofflichen«, ihrer schematischen Allgemeingültigkeit, ihren verfeinerten Methoden und jener unendlichen Vorsicht, die ihr vermessenste Kühnheiten erlaubt ... Die moderne Wissenschaft ist aus dieser Schule großen Stils hervorgegangen.
Aber da sie, einmal vorhanden, sich bewährt hatte und durch ihre technischen Anwendungen belohnt war, wurde die Wissenschaft zu einem Machtmittel, zu einem sehr realen Mittel der Herrschaft, zur Mehrerin des Reichtums, zu einem Werkzeug, alle Schätze des Planeten auszubeuten10 – und damit hört sie auf, »Selbstzweck« und künstlerische Tätigkeit zu sein. Das Wissen, das bisher ein Eigenwert war, wird zu einem Tauschwert. Die Nützlichkeit des Wissens macht es zur Ware, die nicht mehr für einige auserwählte Liebhaber, sondern für alle Welt begehrenswert ist.
Diese Ware wird in immer handlicheren oder genießbareren Formen hergestellt; sie findet immer zahlreichere Abnehmer; sie wird ein Handelsobjekt, kurz etwas, das sich so ziemlich überall nachahmen und erzeugen läßt.
Das Ergebnis: die Ungleichheit, die zwischen den Gebieten der Erde in bezug auf Technik, angewandte Wissenschaften, Werkzeuge von Krieg oder Frieden bestanden hat – eine Ungleichheit, auf der Europas Vorherrschaft beruhte –, wird nach und nach immer geringer.
Demnach verändert sich die Rangordnung der bewohnten Regionen unserer Erde insofern, als von jetzt ab die äußere Größe als solche, die statistischen Elemente, die zahlenmäßigen Werte – Bevölkerung, Oberfläche, Rohstoffe – schließlich allein ausschlaggebend werden für jene Einteilung der Weltzonen.
Ferner: Die Waage, die sich, obwohl wir scheinbar leichter wogen, auf unsere Seite neigte, beginnt mit uns unmerklich zu steigen – gleichsam als hätten wir törichterweise das geheimnisvolle Mehrgewicht, das bei uns lag, in die andere Schale hinübergleiten lassen. Durch unsere Unbesonnenheit sind die Kräfte den Massen proportional geworden!
Diese neuauftretende Erscheinung kann übrigens jener andern verglichen werden, die innerhalb jeder Nation zu beobachten ist und in der Ausbreitung der Bildung, in der Zulassung immer zahlreicherer Gruppen von Individuen zur Bildung besteht.
Wollte man den Versuch machen vorauszusehen, ob eine solche Ausbreitung notwendig eine Wertminderung zur Folge haben müsse oder nicht, so hieße das ein verlockend vielseitiges Problem der geistigen Physik in Angriff nehmen.
Der Reiz dieses Problems für einen spekulativen Geist liegt einerseits in seiner Ähnlichkeit mit der physikalischen Tatsaehe der Ausbreitung – andererseits im plötzlichen Umschlagen der Ähnlichkeit in einen tiefen Unterschied, der fühlbar wird, sobald man bedenkt, daß es sich nicht um Moleküle handelt, sondern um Menschen.
Fällt ein Tropfen Wein in Wasser, so färbt er es kaum; er wird zum rosigen Hauch und löst sich auf. Dies die physikalische Tatsache. Doch angenommen, man sähe kurz nach dieser Verflüchtigung und neuen Klärung, wie in diesem Gefäß, das scheinbar nur mehr reines Wasser enthielt, da und dort Tropfen von dunklem, reinem Wein sich bilden, wie würde man da erstaunen ...
Dieses Wunder von Kana ist in der geistigen und sozialen Physik nicht unmöglich. Es heißt Genie und steht in genauem Gegensatz zu jener Ausbreitung.