Pechmaries Rache - Carla Berling - E-Book
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Carla Berling

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Beschreibung

Ein alter westfälischer Hof. Drei Frauen, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Eine Pechmarie, die auf Rache sinnt ...

Auf dem Hellberger Hof regiert der Hass: Alle Familienmitglieder sind bis aufs Blut zerstritten - spätestens seit die dreijährige Angelina im Bach ertrunken ist, weil ihre Großmutter nicht richtig aufgepasst hat. Reporterin Ira Wittekind, die eigentlich mitten in den Hochzeitsvorbereitungen steckt und einen Artikel über den Hof schreiben will, hat von Anfang an ein merkwürdiges Gefühl. Dann sterben zwei weitere Menschen. Und als Ira gemeinsam mit Kommissar Brück recherchiert, stellt sich schnell heraus, dass die Ursachen für die Streitigkeiten auf dem Hof eine Grausamkeit besitzen, die sie sich niemals hätte vorstellen können...

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DAS BUCH

Auf dem Hellberger Hof regiert der Hass: Alle Familienmitglieder sind bis aufs Blut zerstritten – spätestens seit die dreijährige Angelina im Bach ertrunken ist, weil ihre Großmutter nicht richtig aufgepasst hat. Reporterin Ira Wittekind, die eigentlich mitten in den Hochzeitsvorbereitungen steckt und einen Artikel über den Hof schreiben will, hat von Anfang an ein merkwürdiges Gefühl. Dann sterben zwei weitere Menschen. Und als Ira gemeinsam mit Kommissar Brück recherchiert, stellt sich schnell heraus, dass die Ursachen für die Streitigkeiten auf dem Hof eine Grausamkeit besitzen, die sie sich niemals hätte vorstellen können …

DIE AUTORIN

Carla Berling, unverbesserliche Ostwestfälin mit rheinländischem Temperament, lebt in Köln, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Mit der Krimi-Reihe um Ira Wittekind landete sie auf Anhieb einen Erfolg als Selfpublisherin. Bevor sie Bücher schrieb, arbeitete Carla Berling jahrelang als Lokalreporterin und Pressefotografin. Sie tourt außerdem durch große und kleine Städte. Zuletzt erschien ihr Roman »Der Alte muss weg«.

LIEFERBARE TITEL

Mordkapelle

Sonntags Tod

Königstöchter

Tunnelspiel

Der Alte muss weg

Carla Berling

Pechmaries Rache

Kriminalroman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dieses Buch ist ein Roman. Die geschilderten Ereignisse haben nicht stattgefunden, ich habe sie mir ausgedacht, auch die Personen sind reine Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Carla Berling

Copyright © 2020 by Carla Berling

Copyright © 2020 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda

Umschlaggestaltung: Bürosüd unter Verwendung von Abbildungen von © mauritius images/Peter Schickert/Alamy

Satz: KompetenzCenter Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-22235-2V001

www.heyne.de

Prolog

Es war der perfekte Ort für ein Verbrechen.

Das knietiefe Wasser war eisig. Es wirbelte in schäumenden Strudeln über Kiesel und glitschige Baumwurzeln auf den Tunnel zu, der den Bach unter dem alten Gebäude hindurchleitete. Ein schwarzes Gitter mit fingerdicken Stäben fing Schmutz, Unrat und Äste ab, davor hatten sich Geröll und alte Ziegelsteine zu einem kleinen Wall aufgetürmt. Das Gitter war erst nach der entsetzlichen Tragödie angebracht worden, als könne es verhindern, dass so etwas je wieder geschah.

Welch ein Irrtum.

Die niedrige Böschung war dicht bewachsen, vor der Öffnung, die ins Dunkle führte, hingen Zweige eines ausladenden Gebüsches bis fast ins Wasser.

Im Gegenlicht des Mondes wirkte das Kreuz pechschwarz. Mannshoch ragte es in der fahlen Nacht auf. Es sollte für immer daran erinnern, wo es geschehen war.

In Wahrheit war es weiß. Weiß mit schwarzer Schrift. Der Name stand darauf, in großen Lettern, und das Todesdatum. Der Baum stand einige Armlängen dahinter, die Blätter der buschigen Krone bewegten sich sacht, fast unmerklich im Wind. Aus dieser Perspektive wirkten sie wie ein Kopf – ein Kopf auf einem schmalen Körper, dessen Arme weit ausgebreitet waren.

Es war der perfekte Ort für das Verbrechen.

1

Ira fuhr über eine holprige Einfahrt aus Kopfsteinpflaster, das im Regen schwarz glänzte und in dessen Fugen Gras, Disteln und Kamille wuchsen, auf das Gelände. Sie rangierte mit ihrem gelben Mini Cooper vorsichtig um ein Bobbycar, ein Kinderfahrrad ohne Sattel und einen Spielzeugeimer herum. Vor dem Sägewerk wendete sie den Wagen und parkte.

In diesem Augenblick begann es so heftig zu regnen, dass die Tropfen laut auf das Dach des Cabrios prasselten und von der Windschutzscheibe abprallten.

Sie zog den Reißverschluss ihrer roten Jacke zu und schlug den Kragen hoch, aber es schüttete jetzt so heftig, dass sie sich entschloss, noch im Auto sitzen zu bleiben. Sie schaltete die Zündung wieder ein und stellte den Scheibenwischer auf höchste Stufe, nahm ihre Nikon aus der Fototasche auf dem Beifahrersitz, beugte sich vor und machte ein paar Fotos. Sie würden nicht für die Zeitung taugen, der hektisch schwingende Scheibenwischer und die nasse Frontscheibe störten natürlich, aber sie würde die Location anhand der Bilder besser beschreiben können und konnte sich die Notizen sparen.

Die Gebäude waren um einen Platz gruppiert, der aus denselben schwarzen Pflastersteinen wie die Einfahrt bestand und dessen große Schlaglöcher teilweise mit Schotter ausgebessert worden waren. Auf einer Pfütze trieb ein schlapper gelber Ball. Eingesunkene, rostige Schienen führten von der Straße aus über den Hof und endeten in dem bestimmt vierzig Meter langen Sägewerk hinter ihr. Vielleicht waren sie früher mit der nahen Bahnlinie verbunden gewesen, um Baumstämme oder Bretter zu transportieren.

Linker Hand stand ein Fachwerkhäuschen mit weiß gestrichener Holztür, an der ein geschmückter Strohkranz hing. Ira blickte nach rechts: Die ehemalige Mühle lag ein Stück zurück und war ziemlich runtergekommen. Moos und Gräser wuchsen zwischen kaputten Dachziegeln, die Farbe an Tür und Fensterrahmen war abgeblättert, hinter den blinden Scheiben brannte aber Licht.

Daneben stand das umgebaute Backhaus. Es bestand aus hell getünchten Ziegelsteinen. Das Rot der Steine schimmerte an manchen Stellen durch den abgeplatzten Anstrich. Blumenkästen hingen vor kleinen Fenstern, es gab einen Vorgarten mit Rosenbögen, Beeten und Kübeln und einem hüfthohen Zaun aus Latten, die wie überdimensionale Buntstifte angemalt waren. Hübsch, fast schon pittoresk, fand Ira. Und ein ziemlicher Gegensatz zu den anderen Gebäuden.

Die Autoscheiben waren jetzt von innen beschlagen; sie drehte die Lüftung voll auf und wartete, bis sie das Haupthaus wieder sehen konnte. Es war ein dunkler Bau, an den Seiten Fachwerk, die Front mit Schieferschindeln verkleidet, die wie riesige Fischschuppen angeordnet waren. Fachwerkhaus mit Krüppelwalmdach, ganz untypisch für diese Gegend, dachte Ira. Sie hatte mal einen Artikel über charakteristische Bauweisen im ländlichen Raum geschrieben. Grüne Fensterläden rahmten Sprossenfenster ein, davor hingen leere, schief hängende Blumenkästen. Die Haustür befand sich im Hochparterre und war über eine Steintreppe zu erreichen. Unter einer Sitzbank entdeckte Ira einen vollen Müllsack und eine Getränkekiste.

Sie sah auf die Uhr. Vier Minuten zu früh. Ihre Verabredung mit Simon Heiland war erst um elf.

Drüben im Fachwerkhaus öffnete sich die Tür, ein Mann in Jeans, Kapuzenshirt und Gummistiefeln hielt einen Schirm in der Hand, kam auf den Mini Cooper zugelaufen und öffnete die Fahrertür. »Moin, Frau Wittekind! Kein Schirm, oder? Kommen Sie.«

Simon Heiland war Ende zwanzig, groß, schlank, von drahtigem Körperbau und hatte schulterlanges blondes Haar, das er sich am Hinterkopf zu einer Art Dutt zusammengefriemelt hatte. David Garrett hat mit dieser Frisur angefangen, aber dem steht sie wesentlich besser, dachte Ira.

Heiland führte sie in einen gemütlichen Wohnraum, in dem weiße Polster und jede Menge Kissen auf einem umlaufenden Holzpodest lagen. Er folgte Iras anerkennendem Blick. »Alles selbst gebaut, Sofas, Regale, Tisch, sogar die Bilderrahmen habe ich selbst entworfen. Genau genommen habe ich das ganze Haus neu gebaut. Gucken Sie mal, die Holztüren, sie sind ein paar Hundert Jahre alt und sehen aus wie neu, oder? Auch die Scharniere und die Griffe sind original.« Er machte eine Handbewegung. »Eigentlich stehen nur noch die Grundmauern. Wussten Sie, dass hier früher die Schmiede war?«

»Ich habe es mir gedacht, weil ich in den beiden anderen Gebäuden Mühle und Backhaus vermutet habe.«

»Ja, genau. Sie hätten das mal sehen sollen, bevor wir renoviert haben!«

Simon Heiland wirkte aufgedreht, wie die meisten Leute, die selten oder nie mit der Presse zu tun hatten. Ira setzte sich, nahm ihren Notizblock heraus, legte ihn auf ihre Knie. Sie begann das Gespräch mit einem freundlichen Lächeln. »Ich bin wirklich neugierig, was Sie mir über den Hellberger Hof und Ihre Pläne erzählen können.«

Er entspannte sich, nahm einen Stapel Papiere vom Tisch und gab Ira das oberste Blatt. »Ich habe da mal eine kleine Chronik zusammengestellt.«

Sie warf einen Blick darauf. »Darf ich Daten und Namen in meinem Artikel verwenden?«

»Klar, die sind extra für Sie.«

Sie begann, Simon zu befragen. Der Hof gehörte seiner Großmutter, Lilo Wolf. Sie lebte drüben im großen Haus, ebenso wie seine Schwester Sissy mit ihrem Mann und den drei Töchtern.

»Die frühere Bäckerei, wer wohnt da?«

»Meine Mutter. Sie wohnt im Backhaus und hat in der Mühle ihre Werkstatt, wir wollen das Sägewerk gemeinsam wieder in Schuss bringen. Vielleicht machen wir in der Scheune später auch noch ein Café auf.«

Jetzt taute Simon richtig auf, die Begeisterung für das Projekt war ihm anzumerken. Er erzählte, dass er Schreinermeister sei und dass er seit langer Zeit vom »Innovationszentrum Sägewerk« träumte. »Jetzt haben wir alles in trockenen Tüchern, meine Großmutter ist endlich einverstanden, die Finanzierung ist gesichert, das Konzept ist wasserdicht und der Businessplan auch.«

»Ihre Großmutter als Besitzerin des Hofes ist endlich einverstanden – heißt das, dass sie zuerst Bedenken hatte?«

Simon schluckte. »So könnte man das formulieren.« Er stand ziemlich abrupt auf. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt das Sägewerk.«

Es regnete immer noch wie aus Eimern, die Pfützen auf dem Hof wirkten jetzt wie eine trostlose Seenlandschaft in Miniaturausgabe. Der Wind trieb den Ball auf der großen Lache hin und her. Simon hielt seinen Schirm über Ira und ihre Kamera, während sie den langen, verwitterten Holzschuppen fotografierte, in dem das Sägewerk gewesen war.

Mit jedem Schritt, den sie dem Gebäude näher kamen, verstärkte sich ein Rauschen, das Ira schon die ganze Zeit im Hintergrund wahrgenommen hatte.

»Was ist das?«

»Der Borstenbach. Er fließt neben der Mühle in einen Kanal unter dem Schuppen und bleibt dann ein paar Hundert Meter unterirdisch. Mit dem Wasser wurde früher die Säge angetrieben.« Simon zeigte zum Himmel. »Wenn es weiter so schifft, hat der Bach bald ’ne ordentliche Strömung. Beim Pfingsthochwasser 97 zum Beispiel, da stand hier alles, aber wirklich alles unter Wasser. Erinnern Sie sich daran?«

Ira dachte an die Zeitungsberichte: Der Borstenbach hatte sogar die Weserstraße unterspült, in der Kurve an der Bachstraße hatte ein riesiges Loch geklafft, und das Wasser war wie in einem breiten Flussbett die abschüssige Hermann-Löns-Straße heruntergeschossen und hatte die Rehmer Keller überflutet.

»Ich war noch ein Kind«, sagte Simon. »Das war das erste Mal, dass ich richtig Angst hatte, weil man gegen diese Fluten nichts machen konnte.«

»Ich hätte gern ein Foto von der Stelle, an der das Wasser unter das Gebäude fließt.«

Simon packte plötzlich ihren Arm und hielt sie fest. Ira sah ihn überrascht an.

Er ließ sofort wieder los. »Sorry, das wollte ich nicht … Ich meine … da gibt es gar nichts zu sehen … Also, ich meine … nichts, was für Ihren Artikel wichtig wäre. Lassen Sie uns reingehen …« Er drückte ihr den Schirm in die Hand, öffnete das Vorhängeschloss und hielt die Tür des Sägewerks auf.

Ira folgte ihm.

Anhand eines Planes, den er aus der Gesäßtasche seiner Jeans zog, erklärte er, wie das Innovationszentrum einmal aussehen sollte. Ira fotografierte Räume, Maschinen und ein paar rostige Werkzeuge in einer alten Vitrine. Anschließend liefen sie hinüber zu dem Häuschen, das früher die Schmiede gewesen war.

Eine magere, große Frau in ausgebeulten Cordhosen und bunter Strickjacke saß auf einem Schemel vor einer abgeschliffenen Chippendale-Kommode und schraubte die Beschläge der Griffe ab. Sie hatte ihr hennarotes Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr fast bis zum Hintern reichte.

»Marilena, das ist Frau Wittekind von der Zeitung, sie schreibt den Artikel über uns. Frau Heiland, meine Mutter.«

Ira registrierte, dass er sie beim Vornamen nannte. Sie gab der nur wenige Jahre jüngeren Frau die Hand.

Um eine lockere Atmosphäre zu schaffen, zeigte Ira auf ein auffälliges Vertiko. »Haben Sie das gemacht? Ist ja genial!« Es gefiel ihr wirklich: Korpus und Seiten waren blau lackiert, eine Tür war diagonal schwarz und weiß gestreift, auf der anderen prangten handtellergroße Kreise in Blau auf schwarzem Grund. Füße und Zierleisten des Möbels schimmerten mattgold, ebenso wie die antiken Beschläge. Ira sah sich weiter um und entdeckte einen alten Stuhl, der sie von der Form her an die grässlichen Eichenstühle mit Gobelinbezug im Esszimmer ihrer Mutter erinnerte. Dieser hatte einen neuen Sitzbezug aus kirschrotem Lackleder, zwei schwarze und zwei rote Beine und eine Lehne, die mit Dschungelmuster bemalt war.

Marilena Heiland lächelte schüchtern, ihre Stimme klang sanft: »Ja, das ist mein Hobby.«

»Na komm, staple nicht wieder tief, das ist viel mehr, auch wenn es als Hobby angefangen hat!«, widersprach ihr Sohn. Er wandte sich an Ira. »Ihre Arbeiten sind erstklassig, sie ist immer besser geworden, und es gibt schon viele begeisterte Käufer. Und bald werden wir damit eine Menge Geld verdienen – ich baue und restauriere, und Marilena verschönert. Vielleicht richten wir auch das Café mit den bunten Möbeln ein.«

Ira unterhielt sich eine Weile mit beiden und ergänzte die Notizen auf ihrem Stenoblock. Sie fotografierte Mutter und Sohn vor einem überdimensionalen Holztisch, der mit vergilbten Zeitungen und fleckigen Lappen ausgelegt war und auf dem es kaum einen freien Zentimeter gab: Tiegel in verschiedenen Größen, farbverschmierte Sprühdosen, Lösungsmittel mit grellroten Totenköpfen darauf, Beizmittel, Schwämme, Pinsel, die in alten Büchsen steckten, Hobel, kleine Sägen und eine Schale mit Nägeln lagen kreuz und quer verstreut.

Simon und Marilena Heiland posierten steif und unbeholfen und lächelten ziemlich verkrampft in die Kamera, Ira schaffte es aber, ein paar gute Aufnahmen zu schießen, als sie Marilena bat, ihr die Utensilien auf dem Chaos-Tisch zu erklären. Sofort taute sie auf, die hochgezogenen Schultern fielen herunter, die Mundwinkel entspannten sich, und die Stimme wurde fester.

Anschließend zeigte Ira ihnen die Bilder auf dem Display der Kamera.

»Die sind schön, ja, die können Sie nehmen«, sagte Simon.

»Ich würde gern noch mit der Besitzerin des Hofes reden? Lilo Wolf, das ist Ihre Mutter, nicht wahr?«, wandte Ira sich an Marilena.

Deren Augen wurden plötzlich schmal, und sie presste die Lippen fest zusammen.

Simon antwortete für sie: »Nein! Sie ist leider krank, da können wir nicht hin.«

Ira wunderte sich über den Unterton, der seine Stimme plötzlich schrill klingen ließ. »Und Ihre Schwester Sissy? Kann sie was zum Artikel beitragen?«

»Nein!«, sagten beide im Chor.

»Ich habe Ihnen wirklich alles Wichtige erzählt«, fügte Simon rasch hinzu.

Ira spürte ein Kribbeln in der Magengegend. Irgendetwas war hier komisch. Sie sah die beiden an, aber niemand sagte mehr etwas. Das Gespräch war beendet.

Mit einem Blick auf die Uhr verabschiedete sie sich. Simon machte Anstalten, sie mit dem Schirm zum Auto zu begleiten, aber Ira wehrte ab. »Die paar Schritte im Regen halte ich aus, danke!«

Er und Marilena standen in der offenen Tür und sahen ihr mit ernsten Gesichtern nach, bis sie im Auto saß.

Sie legte die Kamera auf den Beifahrersitz und ließ den Motor an. Eine heftige Böe trieb den Ball in der Pfütze auf die Werkstatt zu, peitschte Regen auf Mutter und Sohn, sie traten zurück, die Tür wurde geschlossen.

Ira startete den Wagen, lenkte ihn aber nicht zur Einfahrt, sondern fuhr im Schritttempo hinter die Mühle. Sie ließ die Seitenscheibe runter. Sofort pladderte der Regen ins Auto, klatschte ihr ins Gesicht, durchnässte ihre Schulter, aber es war ihr egal. Warum hatte sie den Bach nicht fotografieren sollen? Simons Reaktion war unverhältnismäßig hektisch gewesen. Sie kniff die Augen zusammen und spähte durch den Regenvorhang hinüber. Und dann sah sie es.

Langsam nahm sie die Kamera hoch und drückte auf den Auslöser. Am Ufer des Borstenbaches, halb verdeckt durch die verwilderte Böschung, stand ein mannshohes weißes Holzkreuz mit schwarzer Schrift. Mit geschickten Handgriffen wechselte Ira das Objektiv und zoomte das Kreuz mit dem Tele heran.

Geliebter Sonnenschein

Angelina

2002 bis 2005

Ein Grabkreuz.Was hatte das zu bedeuten?

Als Ira langsam am Haupthaus vorbeifuhr, sah sie im Erdgeschoss eine Gardine zurückfallen und dahinter einen dunklen Schatten verschwinden.

2

Sie fuhr die Hermann-Löns-Straße hinunter, passierte die Bahnunterführung und erreichte Hof Eskendor nach wenigen Minuten. Ihr neues Zuhause lag nur knapp anderthalb Kilometer vom Hellberger Hof entfernt.

Das große Transparent zwischen den beiden Eschen am Tor – ihnen verdankte der Hof seinen plattdeutschen Namen »Eskendor« – flatterte heftig im Wind. »Hofladen« stand darauf, und ein Pfeil, der den Weg zu den Kundenparkplätzen wies. Die Fenster waren hell erleuchtet, Ira sah drinnen Leute hantieren. Der Bioladen lief inzwischen so gut, dass fast alle Familienmitglieder, sogar die Kinder und die beiden alten Tanten Sophie und Friedchen, helfen mussten.

Ira rannte den kurzen Weg vom Auto bis zur Wohnungstür, aber sie war trotzdem total durchnässt, als sie das Haus betrat. Tante Erna lag mitten in der Diele. Die Hündin rekelte sich verschlafen, begrüßte sie lässig schwanzwedelnd mit einem Gähnen, drehte sich auf den Rücken und hielt ihr den Bauch zum Kraulen hin.

Rasch zog Ira sich trockene Jeans und einen Pullover an, schlüpfte in den roten Regenmantel und die Gummistiefel, nahm den größten Schirm, den sie finden konnte, leinte den Hund an und schlug den Weg zur Weser ein. Es hatte sich eingeregnet, die Tropfen bildeten Blasen auf den Pfützen, nach Ansicht ihrer Mutter war das immer ein sicheres Zeichen für Dauerregen.

An der Werrekussbrücke, einer schmalen Fußgängerbrücke, die im geschwungenen Bogen kurz vor dessen Mündung in die Weser über den Fluss Werre führte, blieb sie stehen: Hier wollten sie und Andy getraut werden. Hoffentlich nicht bei solchem Sauwetter. Ira grinste, als sie an die vielen Auflagen dachte, die es zu beachten galt, um unter freiem Himmel heiraten zu können – und dann auch noch an einem Samstag. Die deutsche Bürokratie war in solchen Angelegenheiten eine regelrechte Wissenschaft.

Zuerst hatten sie an eine Trauung auf Hof Eskendor gedacht, aber das war gar nicht möglich. Die Worte ihrer Freundin Coco klangen ihr im Ohr, als sie den Brief der Verwaltung gelesen und zitiert hatte: »Während der Eheschließung muss der Standesbeamte Hausrecht haben … Es muss grundsätzlich zur Erfüllung des Gleichheitsgrundsatzes allen Paaren möglich sein, an diesem Ort zu heiraten.« Coco hatte das Schreiben auf den Tisch geworfen und geschimpft: »Das fehlte noch, dass ihr nicht nur euer Biozeug hier vertickt, sondern auf dem Hof auch noch Trauung to go anbietet! Obwohl … vielleicht ist das ’ne Marktlücke? Nee, mal ernsthaft: Die sind doch nicht ganz fit, kann denen doch piepegal sein, ob man in diesem piefigen Trauzimmer heiraten will oder draußen!«

Ira löste den Hund von der Leine und warf einen Stock, den Tante Erna eifrig apportierte, brav ablegte und sie mit gellendem Gebell aufforderte, das Spielchen zu wiederholen.

Sie dachte an den seitenlangen Wisch von der Stadt, an den Hinweis, dass die Trauung, im Behördendeutsch »Amtshandlung«, nicht durch mögliche Störungen gefährdet sein dürfe. Das war hier, auf der Rehmer Insel, wohl ausgeschlossen.

Jedenfalls hatten sie die Erlaubnis bekommen, vorausgesetzt, es stand ein »Ersatzraum für die Zeremonie« bereit, falls es regnen sollte. Auch das stand in den Richtlinien.

Ira hängte sich die Hundeleine um den Hals und marschierte an der Weser entlang. Der Regen machte ihr nichts aus; sie brauchte diese Stunden, in denen sie mit niemandem redete und nur ihren Gedanken nachhängen konnte. So oft war sie diesen Wegen am Fluss schon gefolgt, und so viele Erinnerungen riefen sie wach. Meilensteine. Sie dachte an den ersten Spaziergang mit Andy, damals, kurz nach der Beerdigung, bei der sie sich nach Jahren wiedergesehen hatten.

Genau hier waren sie nebeneinander hergegangen, in diesem schrecklichen Winter 2009. Nasskalt war es gewesen, grau und trostlos, und da vorn hatte das Kinderheim gestanden, das eine so grausame Rolle im Leben seiner Familie gespielt hatte. Inzwischen war das verfallene Gemäuer abgerissen worden, dünne, biegsame Birken, Brombeerbüsche und andere Pionierpflanzen bedeckten das Gelände. Ira fröstelte, wie immer, wenn sie an die entsetzlichen Geschehnisse dachte, ohne die sie und Andy jedoch nie zusammengekommen wären.

»Sieben Wochen«, murmelte sie vor sich hin. Bis dahin gab es noch so viel zu tun. Gott sei Dank hatte sie einen Mieter für ihre Wohnung in Bielefeld gefunden.

Sie ging bis zur Eisenbahnbrücke und warf einen Blick hinauf. Auch ein Meilenstein. In einem Mordfall, bei dem ein Mann aus Herford unter bizarren Umständen ums Leben gekommen war, hatte diese Brücke eine traurige Rolle gespielt. Ira schüttelte sich, als könne sie die dunklen Erinnerungen dadurch loswerden, und machte sich auf den Weg nach Hause.

Der Regen hörte einfach nicht auf, tief und grau hing der Himmel über dem Ort. Wären keine Blätter an den Bäumen gewesen, hätte man denken können, es wäre ein Nachmittag im November und nicht im April.

Ira saß bei einer Tasse Kaffee und einem Teller mit Andys leckeren Ingwerkeksen am Kopfende des langen Holztisches und überflog die Chronik, die Simon Heiland ihr gegeben hatte.

Ihr Handy klingelte, sie legte den Text beiseite.

Es war Coco. Sie hielt sich nie mit so etwas Banalem wie einer Begrüßung auf. »Käffchen?«, fragte sie ohne Einleitung. »Wann?«

»Jetzt. Hab in ’ner halben Stunde ’ne Fahrt nach Minden.«

Wenige Minuten später fuhr das Taxi auf den Hof, die Fahrertür knallte, und Coco stürmte ins Haus. Sie zog in der Diele ihre Schuhe aus. »So ein Dreckswetter, ich hab echt keine Lust mehr, mein Wagen sieht aus wie Sau, innen und außen.«

Sie lief auf Socken ins Wohnzimmer, ließ sich auf ihren Stammplatz fallen, wuschelte sich durch die kurzen blonden Haare und griff neugierig nach der Chronik, die auf Iras Papieren obenauf lag. »Schreibst du was über den Hellberger Hof?«

Ira drehte ihr Laptop in Cocos Richtung und zeigte ihr das Foto mit dem weißen Kreuz. Coco betrachtete es. »Oha. Ich erinnere mich noch genau, das war ein schrecklicher Unfall, ein kleines Mädchen ist im Bach ertrunken. Ganz schlimme Geschichte. Einer unserer Aushilfsfahrer war Sanitäter, und er war dabei, als das Kind geborgen wurde. Das hat der nie vergessen. Darüber schreibst du? Warum denn, das ist doch schon so lange her?«

»Ich schreibe über Simon Heiland und seine Mutter, die wollen den Hof neu nutzen. Aber ich hatte mich gewundert, warum ich an der Stelle unten am Bach keine Fotos machen sollte.«

»Na, jetzt weißt du es. Wegen Privatsphäre und Taktgefühl«, bemerkte Coco trocken.

Sie hatte natürlich recht, dennoch loggte Ira sich in das Zeitungsarchiv von Tag 7 ein und begann im Jahr 2005 zu suchen. Ja, da war es. Sie las den Text vor:

Dreijähriges Mädchen nach Sturz im Borstenbach gestorben

Angelina H. war leblos im Bach auf dem Grundstück der Familie gefunden worden und konnte nur noch tot geborgen werden. Laut Polizei gibt es noch keine Hinweise darauf, wie es zu dem Unfall kam. Sie versucht weiter zu rekonstruieren, was am Montagabend passiert ist. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld hat eine Obduktion angeordnet.

Mutter noch nicht vernommen

Die alleinerziehende Mutter des Kindes hat die Polizei nach eigenen Angaben noch nicht vernommen. Sie will damit bis nach der Beerdigung warten. Deshalb stehe auch noch nicht fest, ob ein Strafverfahren wegen Verletzung der Aufsichtspflicht oder fahrlässiger Tötung eingeleitet wird.

Die Großmutter des Mädchens bemerkte laut Polizei das Verschwinden der Enkelin gegen 16 Uhr. Kurz darauf habe sie ihren leblosen Körper im Bach entdeckt. Nach eigenen Angaben habe sie unmittelbar danach versucht, das Kind wiederzubeleben.

Ira atmete hörbar aus. Harter Tobak. Die Großmutter, das musste Marilena gewesen sein. Schrecklich. Sie dachte wieder mal daran, dass sie froh war, sich gegen Kinder entschieden zu haben. So was kann doch niemand aushalten, wenn das eigene Kind ertrinkt. Sie suchte mit verschiedenen Stichworten weiter, konnte aber nichts mehr zu diesem Unglück finden.

Coco hatte einen zweiten Stuhl herangezogen und ihre Füße daraufgelegt, sie hielt die Kaffeetasse in beiden Händen und schaute versonnen in deren Inhalt. »Manchmal möchte ich dein Leben haben. Du gehst ins Theater, in Konzerte, schreibst über das, was dir sowieso Spaß machst. Toller Job. Im Netz surfen, Familiengeheimnisse aufdecken und sogar ab und zu einen Mordfall lösen. Keinen Trubel von fünf Uhr morgens bis nachts, keine Hektik, keine besoffenen Fahrgäste, keine Enkelin mit Windpocken oder Enkel mit bekloppten Namen wie Achilles und Ferdinand. Und keine Sorge darüber, wer unseren Laden mal übernehmen soll.« Als »Laden« bezeichnete sie das Taxiunternehmen, das sie mit ihrem Mann Heiko vor dreißig Jahren eröffnet hatte. Sie schaute Ira mit schief gelegtem Kopf an. »Andererseits … vielleicht wäre mir das auch wieder zu langweilig …«

»Von Langeweile kann kaum die Rede sein. Solche Storys wie die im letzten Jahr, als der Apotheker verbrannt ist, bei uns die Gewächshäuser abgefackelt wurden und ich bei dem Unfall hätte draufgehen können, die brauche ich nicht jede Woche. Ich werde fünfundfünfzig, da mag ich es ein bisschen ruhiger.«

Als Coco weg war, schaute Ira auf die Uhr. Halb fünf. Ohne nachzudenken nahm sie ihr Handy und wählte eine Nummer.

Kommissar Brück meldete sich mit ostwestfälischem Charme: »Moin Wittekind, was gibt’s?«

»Moin. Kennen Sie den Hellberger Hof?«

»Sicher, Hermann-Löns-Straße, warum?«

»Kennen Sie auch die Familie Heiland?«

Brück lachte auf. »Gibt wohl keinen Kollegen auf der Wache, der die nicht kennt!«

»Wegen Angelina?«

»Wer?«

»Die Dreijährige, die im Borstenbach ertrunken ist.«

Brück schien nachzudenken. »Ach das … nee, das war ein Unfall. Tragisch, ganz tragisch.«

»Was meinten Sie dann?«

Er druckste ein bisschen. »Na ja, sagen wir so, ist kein Geheimnis, dass die untereinander im Clinch liegen und dass wir da schon etliche Einsätze gefahren haben.«

»Weswegen?«

Er lachte. Ira kannte ihn so gut – sie wusste genau, wie er jetzt guckte. »Vergessen Sie’s, Wittekind. Der Rest ist Datenschutz. Sonst noch was?«

»Nein.«

Sie legten auf.

Der Artikel Die Pläne des jungen Schreiners – Hellberger Hof wird Innovationszentrum erschien am 7. Mai im Lokalteil. Einige Tage zuvor hatte Ira den Entwurf wie vereinbart an Simon Heiland gemailt, aber keine Antwort erhalten. Offenbar hatte er nichts daran auszusetzen und war mit dem Text einverstanden.

Als sie beim gemeinsamen Frühstück durch die Seiten der Zeitung blätterte, fiel ihr plötzlich eine Todesanzeige auf.

»Ach herrje, Andy, hör dir das an … verstarb am 5. Mai unsere Mutter, Großmutter und Uroma Lilo Wolf. In stiller Trauer: Marilena Heiland, Simon Heiland und Nikola Growe, das ist vielleicht seine Freundin, Sissy und Enno Heiland mit Emily, Stella und Jule … Beisetzung … Friedhof Mooskamp … «

Sie ließ das Blatt sinken. Deswegen hatte Simon sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Die Oma war gestorben. Mit fünfundsiebzig, das war heutzutage doch eigentlich kein Alter. Ihre Mutter war genauso alt.

»Kanntest du die Frau?«, fragte Andy.

»Leider nicht, ich hätte neulich gerne mit ihr geredet, aber sie war krank. Schon bizarr, auf Seite drei steht der Satz, den ich aus der Chronik des Hofes übernommen habe … Schmiede wurde Anfang der Sechzigerjahre stillgelegt … Hubert Wolf heiratete 1987 die Witwe Lilo Meier aus Travemünde. 1992 starb Hubert, seine Ehefrau erbte den Besitz. Sie gab Landwirtschaft und Sägewerk auf, die Arbeit im Werk wurde eingestellt.« Ira sah Andy an. »Und auf der nächsten Seite steht ihre Todesanzeige.«

3

»Komm mir nich auf die Tour, Frieda, sonst fährste gleich auffe Stoßstange mit!«

»Gib nicht so an, das is’n Rollator und kein Porsche, du hast gar keine Stoßstange!«

»Das is kein Grund, sich über mich lustig zu machen! Warte mal ab, bis du in mein Alter kommst und Hüfte hast, dann biste aber ruhig.«

»Ich hab nur gesagt, dassde mit dem Dingen getz aussiehst wie Omma achtzig …«

Tante Sophie blieb stehen, die Augen hinter der übergroßen Brille funkelten ihre Schwester ärgerlich an. »Ich hab das wohl gehört, was du gesacht hast, ich hab’s nämlich anne Hüfte und nicht anne Ohrn.«

Ira stand in der offenen Tür und beobachtete die alten Tanten, die Schritt für Schritt auf sie zukamen. Vorsichtig schob Sophie ihren Rollator, den sie, wie sie immer wieder betonte, nur »für ’ne Zeit« brauchte. Frieda, die jüngere, schlurfte neben ihr her, sah Ira, grinste und winkte. »Keine Sorge, wir sind da, bevor es duster ist.«

Andy hatte Graupeneintopf mit Kartoffeln, Möhren, Sellerie und Rindfleisch gekocht, dazu gab es frisches Brot. Solange in ihrer Kate das Chaos regierte, kamen die Tanten abends zum Essen rüber. Andys Bruder Thomas hatte nämlich kurzerhand einen Maler bestellt, nachdem er drüben gewesen war, um den ersten frisch geernteten Rhabarber abzuliefern, aus dem die Tanten jedes Jahr köstliches Kompott kochten. Er hatte sich umgesehen und gepoltert: »Das ist hier keine Küche, sondern die reinste Räucherkammer. Könnt ihr eure ollen Zigarren nicht draußen paffen?«

»Nich in unserm Alter und nich bei dem Wetter!«, hatte Tante Sophie gekontert.

Thomas hatte trotzdem bestimmt, dass wenigstens die Wohnküche gestrichen werden sollte, und auf Tante Sophies Protest, das lohne sich doch nicht mehr, sie würde schließlich bald achtundachtzig, hatte Friedchen lässig reagiert: »Mach dir kein’ Kopp, du bist ’n zähes Luder und wirst hundert!«

Beim Ausräumen der Schränke hatte Tante Sophie sich böse verrenkt, ihr »Pöterhaken« – so nannte sie das Iliosakralgelenk – machte ihr seither zu schaffen, und bis die Krankengymnastik wirken würde, brauchte sie eben den Rollator.

Als Andy fragte: »Wollt ihr ein Bier zum Essen?«, fing Tante Friedchen laut an zu lachen. »Ich schon, sie nicht, die muss ja noch fahren!«

Iras Gedanken wanderten während des Essens immer wieder zum Hellberger Hof und zu dem Grabkreuz am Bach. Angelina. Eine Dreijährige, die von der eigenen Oma tot im Bach gefunden worden war … Sie sah eine solche Szene vor sich und bekam Gänsehaut.

Tante Friedchen riss sie aus ihren Gedanken: »Warum biste denn die ganze Zeit so stickum?«

»Sagt euch der Name Lilo Wolf was?«

»Die Hanseatin vom Hellberger Hof?«, sagte Sophie. »Jau, aber da brauchste nicht wieder hinfahren, die ist die Tage totgegangen, stand inner Zeitung, sach bloß, du liest deine eigene Zeitung nich?«

Ira schmunzelte. »Doch, daher weiß ich ja, dass sie gestorben ist. Hast du meine Geschichte über den Hof auch gelesen?«

»Jau, der Enkel will da umbauen. Frieda, das haste doch auch mitgekriecht, oder?« Frieda hatte sich grad einen Löffel voll Suppe in den Mund geschoben und schwieg, bis Sophie schnauzte: »Kauste wieder aufe Kiemen?« Dann zog sie ihre Oberlippe hoch und sagte: »Guck, ich hab meine Zähne drin!«

Ira und Andy sahen sich an und prusteten los, und man sah, dass auch Tante Sophie sich das Lachen über ihre eigenen Sprüche verkneifen musste.

»Warum nennst du sie Hanseatin?«, fragte Ira, als sie sich wieder beruhigt hatten. »Die kommt doch da oben wech, vonner Küste …« Frieda ergänzte: »Stimmt, und dann hatte sie hier eingeheiratet …«

Ihre Schwester fiel ihr ins Wort: »Und ’n gutes Geschäft gemacht! Die hatte nemmich selber nix anne Füße, als sie ankam, ihr erster Mann war wohl bloß Briefträger gewesen und ist früh gestorben, der hatte ihr nix hinterlassen. Und dann hat sie inner Kur den Hubert kennengelernt und sich den untern Nagel gerissen.«

Andy mischte sich ein: »Tante Sophie, sei doch nicht so giftig. Wo die Liebe eben hinfällt!«

Aber Tante Sophie blieb bei ihrer Meinung, dass Lilo den ewigen Junggesellen nur wegen des Geldes geheiratet hatte und dass es für sie ein Riesenglück gewesen sei, dass der schon nach ein paar Jahren »übern Jordan« gegangen war und ihr alles vermacht hatte. Sie schob ihren leeren Teller zurück. »Und was noch dafür spricht, dass ich recht habe: Hubert, der war noch nicht ganz unterer Erde, da hat sie ihre Tochter mit den lüttjen Kindern aufn Hof geholt, die sind getz erwachsen, aber die haste ja kennengelernt, steht jedenfalls so in dei’m Artikel.«

Ira erzählte, dass sie nur Simon und seine Mutter Marilena getroffen hatte. »Was ist das für ein Drama mit dem kleinen Mädchen, das im Bach ertrunken ist?«

Tante Friedchen rieb sich das Kinn, Tante Sophie kratzte sich an der Stirn, fast zeitgleich schüttelten sie den Kopf. »Nee, komm ich nicht mehr drauf, ist zu lange her. Aber seitdem ist da jedenfalls Kriech aufm Hof.«

»Woher weißt du das?«, fragte Andy.

Tante Sophie zuckte die Schultern. »Weiß doch jeder, der die kennt.« Sie grinste ihn frech an. »Musste auch mal nach Loles Frisierstübchen hingehen und dir ne schicke Wasserwelle machen lassen, da erfährste alles, was wichtig ist.«

»Mutter ruft an« stand auf dem Display. Ira drückte auf den Knopf der Freisprechanlage.

»Ira, weißt du, wer gestorben ist? Die Lilo vom Hellberger Hof! Mit fünfundsiebzig! So jung. Hermann und ich gehen morgen zur Beerdigung, Kaffeetrinken ist dann später im Dorfkrug. Hast du gewusst, dass es auf dem Mooskamp auch samstags Beerdigungen gibt? Also ich kann mich nicht erinnern, dass wir mal samstags ’ne Beerdigung hatten. Obwohl, sie ist am 5. gestorben, so stand es in der Anzeige, vier Tage später ist die Bestattung, das ist normal. Schon wieder eine aus meinem Jahrgang weniger … ach Mensch, die Einschläge kommen immer näher. Wenn ich mal gehe …«

Ira unterbrach sie. »Mutter, du bist kerngesund, mach dir keine Sorgen. Ich wusste gar nicht, dass du Lilo Wolf kanntest.«

»Wenn du dich öfter bei uns blicken lassen würdest, wüsstest du einiges mehr, aber dir sind ja die Leute in deiner Kommune wichtiger als die eigene Mutter. Na ja, wenn du jetzt beim Großbauern einheiratest, sind Hermann und ich wohl ganz abgeschrieben … «

Ira reagierte schon lange nicht mehr auf solche Sätze. Stattdessen wiederholte sie ihre Frage. »Woher kanntest du Lilo Wolf?«

»Na, sie war eine Kundin. Ich hab ihr auch später noch ab und zu Sachen geändert, als ich die Schneiderei schon zugemacht hatte.«

»Das ist ja ewig her, und du gehst trotzdem zur Beerdigung?«

»Ja, sicher. Das gehört sich so. Ich erzähle dir am Sonntag, wie es war. Du kommst doch zum Kaffee? Oder hast du sogar am Muttertag was Besseres vor?«

Ira stöhnte. Es gab einfach kein Gespräch, in dem ihre Mutter nicht mindestens eine fiese Bemerkung losließ. »Nein, Mutter, natürlich komme ich.«

»Denn ist ja gut. Warum interessierst du dich überhaupt für die Lilo?«

»Wenn du nicht nur die Todesanzeigen, das Horoskop und die Überschriften, sondern auch die Artikel in der Zeitung lesen würdest, wüsstest du, dass ich kürzlich über den Hellberger Hof geschrieben habe. Dabei habe ich auch das Grabkreuz am Bach gesehen. Schreckliche Tragödie …«

Christa Wittekind fiel ihr wieder ins Wort. »Abscheulicher Beruf, den du hast. Verdienst deinen Lebensunterhalt damit, dass du über das Unglück von anderen Leuten schreibst. Und dafür hab ich mich jahrelang krummgelegt, damit du studieren kannst. Lehrerin hättest du werden können …«

»Mutter? Hallo? Mutter, ich höre dich nicht mehr, ich glaub, ich bin in einem Funkloch.«

Ira legte einfach auf.

4

Ira parkte den Mini Cooper, griff nach Blumenstrauß und Geschenk und stieg aus. In ihrer Hosentasche vibrierte das Handy. Sie klemmte die Blumen unter den Arm und das Geschenk zwischen die Knie.

Es war Coco. »Wo bist du?«

»Bei meiner Mutter vor der Haustür, Muttertagsbesuch.« »Okay, dann bin ich jetzt deine Rettung. Es gibt Arbeit für dich: Auf dem Hellberger Hof ist irgendwas los, einer unserer Fahrer hat eben erzählt, dass da ein Riesenaufgebot an Bullen ist, samt Notarzt und Rettungswagen, und ein Leichenwagen ist auch da.«

Ira lief zurück zum Auto, warf Blumen und Geschenk auf den Rücksitz und fuhr mit quietschenden Reifen los.

Kurz hinter der Bahnunterführung sah sie schon die Schaulustigen, sie standen in einem Pulk vor der Einfahrt zum Hof, die durch zwei Polizisten versperrt wurde. Einige Leute hielten ihre Smartphones über die Köpfe und filmten die Uniformierten, dabei gab es außer ihnen gar nichts zu sehen. Der Bürgersteig der Hermann-Löns-Straße war in beiden Richtungen mit Autos und Fahrrädern zugeparkt, Ira musste ihren Wagen in der Königstraße abstellen und zu Fuß zurücklaufen.

Sie ignorierte das unmutige Gemurmel der Gaffer, als sie sich an ihnen vorbeidrängelte. Solche Situationen machten sie aggressiv; sie hasste Schaulustige und konnte sich kaum zusammenreißen, wenn sie ihr im Weg standen: dickfellige, sensationsgeile Leute, die sich gern gruselten oder sich an Blut und Tränen anderer berauschten und womöglich noch Rettungskräfte und Polizei behinderten. Was auch immer passierte, die Gaffer waren schneller da.

Schade, sie kannte keinen der beiden Polizisten, die sie genervt musterten, als sie den Presseausweis zückte: »Wittekind, Tageszeitung Tag 7, was ist hier los?«

Dabei versuchte sie, einen Blick auf den Hof zu erhaschen, aber außer einem Rettungswagen, der so geparkt war, dass er die Sicht komplett versperrte, konnte sie nichts sehen.

Der eine Polizist machte einen Schritt nach vorn und blaffte: »Sie dürfen hier nicht stehen und die Zufahrt blockieren, bitte gehen Sie!«

Ira ließ sich nicht einschüchtern. »Wenn jemand rein- oder rausmuss, gehe ich sofort einen Schritt zur Seite. Können Sie mir sagen, was passiert ist?«

»Kein Kommentar. Bitte behindern Sie die Bergungsarbeiten nicht!«

Was bist du denn für ein Spinner, dachte Ira, ich behindere von hier aus Bergungsarbeiten?!

Aber sie blieb freundlich: »Ach, Bergungsarbeiten? Wer wird geborgen? Es gibt einen Todesfall?«

Keine Antwort.

Sie ließ nicht locker. »Es wurde beobachtet, dass ein Leichenwagen auf das Gelände …«

»Jetzt ist aber Schluss!« Der größere der beiden mischte sich ein. »Bitte, wir tun unsere Arbeit, und Sie haben hier zu diesem Zeitpunkt nichts zu suchen. Sie machen das doch nicht erst seit gestern, Sie wissen ganz genau, wie das hier läuft!«

Ira drehte sich wortlos um. Was auch immer geschehen war, hier gab es eine Story, das hatte sie im Gefühl. Ein Unglück, ein Unfall, so wenige Tage nach dem Tod der Besitzerin? Sie brauchte unbedingt ein Foto, das sie sofort in die Redaktion schicken konnte, bevor die Konkurrenz hier auftauchte.

Plötzlich hörte sie Wortfetzen, etwas wie »Pressegeier« und »Paparazzi«. Wer hatte das gesagt? Sie schaute sich um, musterte die Schaulustigen, hob ihr Smartphone und fotografierte die Meute.

Jemand protestierte: »Hey, das dürfen Sie nicht, das ist Privatsphäre!«

Ira antwortete: »Irrtum. Sie stehen auf öffentlichem Raum.«

Ein Mann rief: »Ich habe das Recht am eigenen Bild, wenn Sie das veröffentlichen, lasse ich Sie abmahnen!«

Ira suchte Blickkontakt zu ihm, die anderen Leute beobachteten sie gespannt. »Wer bei Umzügen und Versammlungen in der Öffentlichkeit mitmacht, darf im Rahmen einer entsprechenden Versammlung abgebildet werden. Sie haben sich hier öffentlich zum Zwecke der Gafferei versammelt … « Ihr war klar, dass sie sich rechtlich mit diesem Zitat auf dünnem Eis bewegte, aber es war ihr egal. Sie war sauer, weil die Leute dastanden.

»Sie sind doch selber hier, Sie verdienen sogar Ihre Brötchen mit dem Leid anderer Menschen, pfuiTeufel!«,tönte es.

Nicht schon wieder, dachte Ira. Diesen Scheiß musste sie sich seit Jahren immer wieder nicht nur von ihrer Mutter anhören.

»Und Sie?«, konterte sie. »Sie sind zu Ihrem Vergnügen hier, ist das moralisch vertretbarer?«

Eine Frau sah sie feindselig an. »Ich kenne Sie, Sie sind von Tag 7. Also mich sind Sie als Abonnentin los.«

Mit drei Schritten war Ira neben der Frau und sagte leise, aber betont deutlich: »Schade, dabei wollte ich Sie gerade zum Sachverhalt interviewen.« Das war gelogen, aber sie wusste, dass Menschen sich gerne wichtig fühlen und dass ihre Eitelkeit meist stärker war als die Neugier.

Einige Sekunden genoss sie das enttäuschte Gesicht der Frau, dann ging sie zu ihrem Auto zurück, stieg ein und fuhr langsam los. Vor ihr parkte ein Bulli in zweiter Reihe, der Verkehr staute sich, sie musste warten.

Sie wählte die Nummer der Bielefelder Redaktion. Der Redakteur vom Dienst hieß Waldner. Ira sagte: »Ich hab noch was Aktuelles für die Montagsausgabe, ungeklärter Todesfall beim alten Sägewerk. Habt ihr Platz für hundert Zeilen und zwei Fotos?«

Sie hatte gerade aufgelegt, als ein Mann neben dem Auto auftauchte und ihr ein Zeichen machte, die Scheibe runterzulassen.

»Ja?«

Er wies auf das Presseschild hinter der Windschutzscheibe. »Sie sind von der Zeitung?«

»Von Tag 7, ja.«

»Sie ham gesagt, Sie wollten eben die Frau interviewen, was wollten Sie von der denn wissen?«

Ira schaltete sofort. »Haben Sie etwas Wichtiges beobachtet?«

»Das nicht, also ich meine, nicht heute, aber ich wohne da drüben, und ich könnte Ihnen was über die Familie erzählen, da ist nämlich ganz schön die Kacke am Dampfen …«

Plötzlich wich die Meute drüben zurSeite.Im Schritttempo kam erst der Rettungswagen vom Hof und fuhr sofort nach rechts, unmittelbar danach verließ ein Leichenwagen die Einfahrt und bog links ab.

Ira startete den Motor und legte den Gang ein. »Entschuldigung, ich muss los. Wie heißen Sie? Ich melde mich bei Ihnen!«

»Arno Knauer. Ich wohne da drüben«, wiederholte der Mann und zeigte auf ein Haus. »Nummer 7a!«, rief er. Ira sah im Rückspiegel, dass ein weißer Polo mit roter Schrift, den sie als Redaktionsfahrzeug der Konkurrenzzeitung erkannte, dicht hinter dem Leichenwagen herfuhr. Kurzentschlossen wendete sie mitten auf der Straße und hängte sich hinter den Rettungswagen. Das wusste sie nämlich aus etlichen solcher Einsätze: Manchmal gab es taktische Transporte von Leichen in Rettungswagen, um Angehörigen zu zeigen, dass man alles versucht oder weil die Umstehenden nicht wissen sollten, dass jemand tot war. Sie wusste natürlich nicht, ob es hier Tote oder Verletzte oder beides gab – sie reagierte aus dem Bauch heraus und verfolgte den Wagen. Als der tatsächlich auf die Bundesstraße 61 fuhr und den Weg nach Minden einschlug, rief sie »Ja!« und schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad.

»Siri, ruf Andy an!«, sagte sie laut. Über die Freisprechanlage hörte sie zweimal das Freizeichen, dann ging er ran.

»Na, bist du mit dem Besuch bei deiner Mutter fertig?«

»Oh je, die hab ich total vergessen … Nein, auf dem Hellberger Hof ist irgendwas passiert, ich verfolge den Rettungswagen auf dem Weg nach Minden, ich glaube, dass der ’ne Leiche an Bord hat.«

»Im Rettungswagen? Wieso? Das darf man doch gar nicht, soviel ich weiß.«

»Taktischer Transport, jede Wette. Die fahren mit dem leeren Leichenwagen zum Oeynhausener Krankenhaus, die Konkurrenz ist astrein drauf reingefallen. Und weil der RTW nach Minden fährt, geht’s mit Sicherheit zum Klinikum. Die haben da drin jemanden, der zur Obduktion abgeliefert werden soll, glaub mir.«

»Und was willst du da? Gibt es morgen die Schlagzeile: Ira Wittekind sprach zuerst mit der Leiche?«

Sie lachte auf. »Unsinn. Ich muss erst mal rausfinden, was überhaupt passiert ist. Zwei Tote in fünf Tagen, da werde ich natürlich hellhörig. Der Hof ist komplett abgesperrt, die lassen keinen rein. Aber so viel steht fest: Leichenwagen und Rettungswagen sind vorher schon ein paar Stunden da gewesen.«

»Woher willst du das wissen?«

»Andy, ich mach diesen Job seit über dreißig Jahren! Wenn bei der Polizei die Meldung ›Leiche‹ eingeht, schicken die ihre Leute los. Einsatzmittel nennen sie das. Gleichzeitig fordern sie RTW und Notarzt an, weil man sich nicht immer darauf verlassen kann, dass die Person auch wirklich tot ist. Und es dauert Stunden, bis sie wieder abrücken …« Sie stieg auf die Bremse, die Ampel war auf Rot gesprungen. »Scheiße, jetzt haut er mir ab!« Sie sah den Rücklichtern des Transporters hinterher, trommelte aufs Lenkrad. Verdammt, das hier war die Ampel mit der ewig langen Rotphase!

Andys Stimme klang aus dem Lautsprecher: »Ira, dreh um und komm nach Hause, es hat keinen Sinn, sich dranzuhängen. Selbst wenn die da eine Leiche drinhaben, wirst du weder ein Foto von der Blechkiste machen können noch von den Sanitätern oder sonst was Interessantem. Warum fragst du nicht einfach den Typen, diesen Heiland, mit dem du neulich das Interview hattest. Der wohnt doch auf dem Hellberger Hof?«

»Oh Mann, weil ich langsam alt werde und daran nicht gedacht habe. Andy, du bist der Beste.«

An der nächsten Kreuzung kehrte sie um, fuhr rechts ran und scrollte auf dem Bildschirm des Handys bis zur Nummer von Simon Heiland. Dann ließ sie das Telefon sinken. Nein, sie konnte ihn doch jetzt nicht einfach anrufen. Gerade war die Oma gestorben, und jetzt … wer weiß, vielleicht war ihm etwas passiert. Kurz entschlossen schrieb sie eine Nachricht. Was ist bei Ihnen los? Kann ich helfen? Ira Wittekind.

Natürlich war das eine rein rhetorische Frage – sie würde dort mit Sicherheit niemandem bei irgendwas helfen können. Sie kannte die Leute kaum, hatte nur ein paar Stunden auf dem Hof verbracht, wollte aber den Kontakt herstellen, um eine Information zu bekommen, und dafür nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.

Die Antwort von Simon Heiland kam etwa zehn Minuten später, als sie gerade Eskendor erreicht hatte. Nein. Sie können nicht helfen. Meine Mutter ist tot.

Obwohl sie Marilena Heiland nur einmal kurz begegnet war, war Ira schockiert. Tot? Das konnte nur ein Unfall gewesen sein, die Frau hatte jedenfalls überhaupt nicht krank gewirkt. Sie überlegte, ob sie Simon fragen konnte, was geschehen war, entschied sich aber dagegen. Das tut mir sehr leid. Ich wünsche Ihnen für die kommende Zeit alle Kraft, die Sie brauchen, schrieb sie zurück. Das Häkchen als Symbol für die Lesebestätigung erschien sofort neben ihrer Nachricht, aber Simon antwortete nicht mehr. Verständlich, der Mann hatte jetzt ganz andere Sorgen.

Sie rief Kommissar Brück an. Seine Stimme klang barsch: »Wittekind, ich weiß ganz genau, warum Sie mich jetzt anrufen. Können Sie wieder nicht warten, bis wir Fakten haben? Und woher wissen Sie, dass ich Dienst habe?«

»Wusste ich nicht. Wir müssen reden, es ist wichtig.«

»Ich höre.«

»Erstens: dass etwas auf dem Hellberger Hof passiert ist, hat das halbe Dorf mitgekriegt. Ich war vor ein paar Tagen da, hatte ein Interview mit dem Junior, Simon Heiland, und bei der Gelegenheit habe ich auch seine Mutter kennengelernt. Wir sprachen ja bereits darüber, als ich Sie wegen des toten Mädchens fragte. Heiland hat mir eben geschrieben, dass seine Mutter Marilena gestorben ist. Sie war nicht alt, ich vermute, krank war sie auch nicht. Es war ein Unfall, nehme ich an.«

Brück stieß ein lautes Schnauben aus. »Ich fasse es nicht. Dem Mann stirbt die Mutter, und er chattet mit der Presse?«

»Nein, so war das nicht! Ich habe ihn gefragt, ob ich helfen kann.«

»Wie mitfühlend von Ihnen. Und jetzt?«, schnauzte er.

»Jetzt will ich wissen, was ich darüber schreiben kann. Also: Ich habe aktuelle Fotos von den Gaffern, außerdem ein paar unveröffentlichte Bilder von Marilena Heiland, die ich beim Interview gemacht habe, und ein Foto vom Heck des RTW, der Richtung Minden gefahren ist und in dem ihre Leiche transportiert worden ist.«

»Tja, Wittekind, ich muss Sie leider enttäuschen, es gibt keine Story für Sie. Die Ermittlung läuft, aber – und das ist jetzt inoffiziell, und Sie schreiben kein einziges Wort darüber – augenscheinlich handelt es sich um Suizid.«