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Dieser bizarre Fall bringt Reporterin Ira Wittekind an ihre Grenzen
Im alten Schlachthof von Bad Oeynhausen wird der Verleger Lorenz Brenner aufgefunden. Er ist nackt, mit Handschellen an ein Gitter gefesselt – und tot. Reporterin Ira Wittekind findet etliche Verdächtige, die ihn gehasst haben, darunter aber niemanden, der diesen Mord hätte inszenieren können. Doch dann entdeckt sie einen ungeklärten Todesfall, der über dreißig Jahre zurück liegt, und einen unfassbaren Zusammenhang mit Brenners bizarrem Ende ...
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Seitenzahl: 307
ZUM BUCH
Im alten Schlachthof von Bad Oeynhausen wird der Verleger Lorenz Brenner aufgefunden. Er ist nackt, mit Handschellen an ein Gitter gefesselt – und tot. Reporterin Ira Wittekind findet etliche Verdächtige, die ihn gehasst haben, darunter aber niemanden, der diesen Mord hätte inszenieren können. Doch dann entdeckt sie einen ungeklärten Todesfall, der über dreißig Jahre zurück liegt, und stellt einen unfassbaren Zusammenhang mit Brenners bizarrem Ende her ...
ZUR AUTORIN
Carla Berling, unverbesserliche Ostwestfälin mit rheinländischem Temperament, lebt in Köln, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Mit der Krimi-Reihe um Ira Wittekind landete sie auf Anhieb einen Erfolg als Selfpublisherin. Bevor sie Bücher schrieb, arbeitete Carla Berling jahrelang als Lokalreporterin und Pressefotografin. Sie tourt außerdem regelmäßig mit ihrer Comedyreihe Jesses Maria durch große und kleine Städte.
Carla Berling
Tunnelspiel
Kriminalroman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Dieses Buch ist ein Roman. Die geschilderten Ereignisse haben nicht stattgefunden, ich habe sie mir ausgedacht, auch die Personen sind reine Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Carla Berling
Vollständige Erstausgabe 01/2019
Copyright © 2019 by Carla Berling
Copyright © 2019 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Bürosüd unter Verwendung
von Abbildungen von © Mauritius Images / Stockex / Alamy
Satz: KompetenzCenter Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-19471-0V001
www.heyne.de
Prolog
»In Paris? Meinst du wirklich?« Sie hatte schüchtern gelächelt, verschämt, mit fast geschlossenen Lippen, um die Zahnspange zu verstecken. Versonnen hatte sie den Kopf zur Seite geneigt und sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger gewickelt, wie immer, wenn sie über etwas nachdachte.
»Ja, in Paris. Und ich weiß auch schon, wo. Erinnerst du dich an den Place du Tertre? Ihr habt ihn doch besucht?«
Sie hatte genickt und sich an die Maler erinnert, die sie porträtieren wollten, aber die Eltern hatten es sich nicht leisten können.
»Aber wie …«
Ich hatte sie an mich gezogen, mein Gesicht an ihre Wange gedrückt und den Nivea-Duft ihrer Haut eingeatmet. Ich hatte mir jeden Satz zurechtgelegt, wusste genau, was ich ihr sagen wollte. Es war kein konkreter Plan gewesen, natürlich nicht, aber es war eine Idee, eine schöne, romantische Idee, falls wir uns eines Tages trennen mussten. Es bestand kein Anlass, über so etwas nachzudenken, wir würden uns nie trennen, nicht freiwillig, niemals. Wir gehörten ja zusammen, wir würden unser ganzes Leben zusammen verbringen. Nichts war so sicher wie diese Gewissheit.
Ich war mit den Lippen ganz nah an ihrem Ohr gewesen. »Ganz einfach: Wir treffen uns mittags um eins. Wer zuerst da ist, wartet auf den anderen, jeden Tag, egal, wie lange es dauert.«
Sie hatte den Kopf zurückgelegt, mich mit ihren schönen Augen angeschaut, verliebt und voller Vertrauen. »Und wo? Da sind immer so viele Menschen. Wie soll ich dich finden?«
Auch darüber hatte ich nachgedacht. »Da gibt es das Café la Bohème. Das ist unser Treffpunkt. Mittags um eins vor dem Café la Bohème auf dem Place du Tertre in Paris. So lange, bis wir wieder zusammen sind.«
Wir hatten lange dagesessen, nur sie und ich, und hatten denselben Traum geträumt. Stumm, innig, ohne Worte. Es gab nicht sie, nicht mich. Es gab nur uns. Und die Zukunft.
Diese Zukunft dauerte nur noch wenige Stunden.
Dann gab es nur noch die Vergangenheit.
1
Sie schlossen ihre Fahrräder ab, liefen hinüber und drängelten sich zwischen die Schaulustigen.
»Hey, wir waren zuerst da!«, zischte jemand, den Ira sanft beiseiteschob.
»Sorry, ich bin von der Presse, ich muss bitte mal vorbei …«, sagte sie und achtete nicht auf die Proteste. Es gab kein Durchkommen. Ira stellte sich auf die Zehenspitzen, aber etliche Köpfe und Rücken versperrten ihr die Sicht. »Kannst du irgendwas sehen?«
Andy überragte die meisten Umstehenden. Er reckte sich. »Rettungswagen, Notarzt und fünf, nein, sechs Polizeiwagen.«
»Okay, das ist dann der ganz große Aufmarsch. Den gibt es nicht wegen einer Kleinigkeit. Unsere Fahrradtour können wir jedenfalls vergessen, das hier sieht nach Arbeit aus.«
In diesem Moment erreichte ein Rüstwagen der Feuerwehr die Einfahrt des alten Schlachthofes; erst als das Martinshorn plötzlich mit ohrenbetäubendem Lärm losging, wich die Menge vor dem Tor wie ein Fischschwarm zur Seite und drückte sich an die Mauern rechts und links. Ira nutzte diesen Moment, um sich an den abgelenkten Gaffern vorbeizuzwängen. Keine Armlänge von ihr entfernt fuhr der Feuerwehrwagen im Schritttempo durch das sperrangelweit geöffnete Tor. Sie hielt instinktiv die Luft an, zog den Bauch ein, als könne sie dem Auto so mehr Platz verschaffen, und presste sich gegen einen Pfeiler. Unter den Reifen des Wagens knirschte der Schotter.
Das imposante Fahrzeug hinterließ eine Staubwolke, als es wendete und vor den Streifenwagen hielt, aus deren offenen Türen blecherne Wortfetzen des Polizeifunks schnarrten.
Doch dann versperrten drei uniformierte Polizisten der neugierigen Menge sofort wieder den Weg und schoben Ira und die anderen mit ausgebreiteten Armen zurück.
Sie wurde von hinten geschubst und angerempelt, dennoch rief sie: »Ira Wittekind von der Tageszeitung Tag 7, was ist denn hier los?«
Einer der Polizisten schüttelte den Kopf und wies sie mit einer abwehrenden Handbewegung zurück.
Ira gab nicht auf. »Hallo, hören Sie, ist Kommissar Brück hier? Er kennt mich, hat er Dienst?« Sie wartete die Antwort nicht ab, zog ihr Handy aus der Tasche, suchte die Nummer des Kommissars und wählte.
»Jetzt nicht, Wittekind!«, schnauzte seine Stimme in ihr Ohr.
Aufgelegt. Okay. Das klang nach Stress.
»Wissen Sie, was hier passiert ist?«, fragte Ira die Frau neben sich.
Die nickte eifrig und machte ein wichtiges Gesicht. »Da drinnen hängt ’ne Leiche!«
Ira sah hinüber zu dem halb verfallenen Gebäude. Der ehemalige Schlachthof stand seit einer Ewigkeit leer. Aus dem maroden Dach wuchsen vereinzelt junge Birken. Die Fenster waren mit Ytongsteinen zugemauert, auf deren hellen Flächen Graffiti und Schmierereien prangten. Eins der Nebengebäude war vor langer Zeit abgebrannt, zwischen den verkohlten Trümmern blühte Holunder. Die Luft über dem weitläufigen Schotterplatz flimmerte in der Mittagshitze, Feuerwehrleute, Sanitäter, Polizisten und Männer in Zivil wirkten konzentriert und geschäftig.
Ira wandte sich wieder der Frau zu. »Wie meinen Sie das, da hängt eine Leiche? Selbstmord? Hat sich jemand aufgehängt?«
Ein Mann mischte sich mit Gruseln in der Stimme eifrig ein: »Stellen Sie sich vor, da soll ein nackter Mann angekettet sein! Tot.« Er beugte sich vor: »Aber das war nicht bloß Selbstmord, nee nee, sondern ein echter Mord! Jugendliche haben ihn gefunden.«
Andy trat neben Ira; er hatte sich durch das Gewühl zu ihr nach vorn gekämpft und die letzten Worte der Frau gehört. Er sah Ira fragend an. Leise erklärte sie: »Ich weiß noch nichts, die Polizisten lassen mich natürlich nicht durch, und als ich Kommissar Brück angerufen habe, hat er gleich wieder aufgelegt.« Sie wies mit dem Kopf zum Rand des Geländes. »Da kommt die Spurensicherung. Verflixt noch mal, es muss doch rauszukriegen sein, was hier passiert ist!«
Vier Personen stiegen aus einem Polizeitransporter, der hinter dem Gebäude aufgetaucht war. Sie trugen weiße Schutzanzüge und eilten ins Haus. Offenbar führte eine weitere Zufahrt auf das Grundstück, denn aus nördlicher Richtung fuhr nun auch ein Leichenwagen auf den Hof.
Ira, die immer noch unmittelbar vor den Polizisten in der ersten Reihe stand, hörte einen von ihnen sagen: »Warum haben die denn den Rüstwagen angefordert?«
Ein anderer antwortete: »Weil sie den Toten vom Gitter schneiden müssen!«
Ira zog Andy am Arm. »Komm, wir sehen uns hinten um.«
Auf der rechten Seite der Straße befanden sich akkurate Vorgärten und gepflegte Einfamilienhäuser, glänzende Kleinwagen parkten in ordentlich gefegten Einfahrten oder Carports. Links ragte die Mauer aus Ziegelsteinen auf, die an vielen Stellen von Gestrüpp, Knöterich und stacheligen Ranken überwuchert war. Früher hatte es offenbar eine Mauerkrone aus Rundziegeln gegeben, aber die meisten waren längst zerbrochen, zerstört oder fehlten ganz. Aus bröselnden Fugen wuchsen zarte violette Blumen, auf dem schmalen Streifen neben der Straße blühten zwischen hohen Gräsern Disteln, Kamille und Klee. Vögel zwitscherten, Grillen zirpten, Bienen summten. Ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Kaum zu glauben, dass ein paar Meter hinter dieser Idylle etwas Schreckliches geschehen sein musste.
Ira und Andy versuchten noch einmal vergeblich, einen Blick über die Mauer zu erhaschen, aber selbst wenn sie hochsprangen, konnten sie durch das hochgewachsene Dickicht auf der anderen Seite nichts sehen. Sie fanden eine Stelle, an der das Gebüsch etwas lichter war. Vorsichtig trat Ira auf die Pflanzen und knickte sie zur Seite.
Vor der Mauer blieb sie stehen. »Halt mir mal bitte die Räuberleiter!«
Andy faltete seine Hände, machte die Arme lang, beugte sich leicht zu ihr herunter, Ira setzte einen Fuß in seine Hände, klammerte sich an seinem Hals fest und zog sich mit Schwung hoch. Zu schwungvoll, denn Andy verlor das Gleichgewicht und strauchelte.
Mit rudernden Armen und hüpfenden Schritten konnten sie beide im letzten Moment verhindern, ins Gestrüpp zu stürzen. Ira ratschte sich an einer dornigen Ranke die Haut an der Wade auf. Sie fluchte und murmelte: »Ich bin zu schwer, ich muss wirklich abnehmen …«
Langsam gingen sie weiter, Ira scannte dabei mit geübtem Reporterblick jeden Meter ihrer Umgebung.
Die Geräusche aus den Polizeiautos hörten sie hier nicht mehr, nur Summen und Gezwitscher und am wolkenlosen Himmel das tuckernde Brummen eines einzelnen Sportflugzeugs.
Sie befanden sich nun parallel zum Haupttor. Die schmale Straße verlief hier dicht neben einem Bach, der zurzeit jedoch eher ein schmales Rinnsal war. An der Rückseite des verlassenen Schlachthofes standen keine Häuser. Auch hier war die Mauer üppig bewachsen. Unter den überhängenden Büschen stand ein blauer Opel mit dem Herforder Kennzeichen HF.
»Wer parkt hier? Und warum? Hier ist doch nichts?«, sagte Ira mehr zu sich selbst als zu Andy.
»Vielleicht ein Spaziergänger oder jemand, der mit seinem Hund oben auf dem Hügel über die Felder geht?«
Sie spähte durch die schmutzigen Scheiben des Wagens. Auf dem Beifahrersitz lagen eine halb leere Colaflasche, Parkscheine, Tankbelege, Bonbonpapier, eine leere Verpackung von McDonalds, zerknüllte Papiertaschentücher, ein zerdrückter Trinkbecher und ein Abschleppseil. Im Fußraum entdeckte sie ein paar ausgelatschte Sneakers und einen Schirm. Eine blaue Männerstrickjacke hing über der Kopfstütze.
Ira sah sich erneut um. Kein Mensch. Kein Haus. Weit und breit kein Spaziergänger oder jemand mit einem Hund. Sie knetete nachdenklich ihr Kinn und starrte auf den Opel. »Dass jemand sein versifftes Auto irgendwo parkt, ist an sich nichts Besonderes … aber wenn ein paar Meter weiter eine Leiche gefunden wurde und von einem Gitter geschnitten werden muss … ich weiß nicht. Ich gehe lieber auf Nummer sicher.« Kurz entschlossen nahm sie ihr Smartphone und fotografierte zuerst das Nummernschild, dann das ganze Auto aus mehreren Blickwinkeln und schließlich das Wageninnere. Auf der Rückbank standen zwei Plastikkisten voller Bücher. Ira hielt das Handy direkt an die Scheibe und fotografierte auch die Kisten.
Wären sie aus der Richtung gekommen, in die sie jetzt gingen, hätten sie einen idyllischen Spazierweg im kühlen Schatten unter alten Straßenbäumen genossen und sich über das herrliche Wetter gefreut. Aber mit dem Wissen, dass auf dem Gelände hinter der maroden Mauer ein toter Mensch gefunden worden war, hatte dieser Weg etwas Bedrohliches, Geheimnisvolles. Vielleicht, weil Tod und Sonnenschein zusammen ziemlich grausam wirkten.
Ein dunkler BMW kam ihnen in hohem Tempo entgegen, bremste plötzlich und bog scharf rechts in die schmale, etwas zurückgesetzte Einfahrt, die sie wegen der Büsche erst sahen, als sie unmittelbar davorstanden. Das mannshohe Gittertor war von innen mit schwarzen Metallplatten verkleidet und versperrte normalerweise die Sicht auf diesen Teil des Schlachthofes, aber nun stand es offen. Das Auto bremste knapp hinter dem Tor, rutschte aber auf dem Schotter noch ein Stück weiter. Zwei Polizisten, die das Tor bewachten, ließen sich durch die heruntergelassene Scheibe einen Ausweis zeigen, winkten den Wagen durch und verscheuchten Ira und Andy fast zeitgleich mit rigoroser Geste und dem Ruf: »Hier gibt es nichts zu sehen, gehen Sie bitte weiter!«
Ira konnte einen kurzen Blick auf die Szenerie werfen: Sie kannte den Mann, der aus dem BMW ausstieg und mit schnellen Schritten auf eine Seitentür des Gebäudes zuging.
»Sieh an«, murmelte sie, »Kommissar Zander aus Bielefeld! Wenn der hier ist, gibt es eine Mordkommission, und wenn es eine MK gibt, ist da drin niemand an Altersschwäche gestorben.« In dem Moment sah sie die geöffnete Heckklappe des Leichenwagens. »Schade, das Motiv müsste ich eigentlich als Aufmacher für meinen Artikel haben, aber dann gibt’s hier Ärger«, flüsterte sie Andy zu und hakte sich harmlos lächelnd und nickend bei ihm ein, um vor den Polizisten den Eindruck zufällig vorbeikommender Spaziergänger zu erwecken.
Sie gingen zurück und erreichten wieder das Haupttor, vor dem sich noch immer etliche Gaffer drängelten. Ira fotografierte den Menschenauflauf.
»Willst du noch mal versuchen, mit jemandem von den Einsatzkräften zu sprechen?«, fragte Andy.
»Nein, das bringt jetzt nichts. Ich rufe in der Redaktion an.«
Während Andy die Fahrräder aufschloss, telefonierte sie mit Horstmann.
»Chef? Tut mir leid für Sie, aber das wird nix mit Ihrem ruhigen Wochenenddienst! Wir haben eine Leiche, die unter ziemlich dubiosen Umständen eine wurde.«
Sie fasste zusammen, was sie bisher wusste, hörte, was der Redaktionsleiter sagte, und antwortete kurz und zackig auf seine Fragen: »Alter Schlachthof. Nein, drinnen, im Gebäude. Zufall, mein Freund und ich wollten eine Radtour nach Löhne machen. Dann haben wir die Menschenmenge und das große Aufgebot an Polizei- und Rettungswagen gesehen. Aus den Polizisten ist nichts rauszukriegen, und Brück ist im Moment nicht zu sprechen. Aber ich habe eben gesehen, dass Zander aus Bielefeld angekommen ist. Wir haben also mit Sicherheit einen Mord.« Sie lauschte konzentriert. »Klar bleibe ich dran, was denken Sie denn!«, sagte sie.
Schade, dass ihr gemeinsames Wochenende mit Andy nun anders verlaufen würde als geplant, aber eine Leichensache ging natürlich vor.
Die Pressemeldung der Polizei kam gegen Abend per Mail, rechtzeitig, um sie nicht nur im Liveticker der Online-Ausgabe, sondern auch noch in der am Samstag erscheinenden Printausgabe unterbringen zu können:
Am Freitagmittag wurde durch Jugendliche der Fund einer männlichen Leiche in den Gebäuden des alten Schlachthofes an der Weserstraße in Bad Oeynhausen gemeldet. Die tote Person war in unbekleidetem Zustand an ein Gitter gekettet und musste mit technischen Hilfsmitteln geborgen werden.
Die bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass es sich um einen 47-jährigen Mann aus Herford handelt. Zur Todesursache liegen bisher noch keine Erkenntnisse vor. Es ist beabsichtigt, eine Obduktion durchführen zu lassen. Beim Vorliegen weiterer Ergebnisse wird zeitnah nachberichtet. Die Sachbearbeitung hat die Kriminalpolizei Bielefeld unter der Leitung von Kommissar Zander übernommen.
Ira belächelte die hölzerne Ausdrucksweise, in der solche Meldungen fast immer verfasst wurden.
Sie arbeitete an ihrem Lieblingsplatz, dem mächtigen alten Holztisch in Andys hypermoderner Küche. Während er sich um das Abendessen kümmerte, las sie ihm die Polizeimeldung vor. Plötzlich hielt sie inne. »Ein Mann aus Herford? Denkst du, was ich denke?«
Andy sah sie ratlos an. »Nein? Was meinst du?«
»Warte.«
Sie überspielte die Fotos, die sie mittags gemacht hatte, vom Handy auf ihr MacBook. Als Bild für den Zeitungsartikel markierte sie ein vierspaltiges Querformat, auf dem sowohl die Menschenmenge als auch die Gebäude des Schlachthofes gut getroffen waren. Dann klickte sie ein anderes Foto an. »Guck mal. Der Opel unter dem Gebüsch.«
»Was ist denn damit?«
»Auf dem Rücksitz standen Kisten mit Büchern, erinnerst du dich? Und der Wagen hatte ein Herforder Nummernschild.«
Das Kennzeichen war gut zu erkennen: HF-LB-66.
Ira vergrößerte den Ausschnitt, auf dem die Bücher zu sehen waren. Das Bild wurde zwar ziemlich pixelig, aber dennoch konnte sie das oberste Cover lesen: »Einsams letzte Ruh« hieß der Titel, Nandolf Kühn der Autor. Ira fand das Buch mit wenigen Klicks bei einem Onlinehändler: ein Roman, erschienen im Lob-Verlag, Herford.
Noch einmal betrachtete sie die Fotos. Von einem anderen Buch war nur das untere Stück zu sehen, aber das Logo war dasselbe wie auf »Einsams letzte Ruh«. Sie zoomte ein anderes Bild, das nur die kurze Seite eines rechteckigen Kartons zeigte, so weit heran, bis man fast nichts mehr erkennen konnte. Aber sie war sich sicher, dass es derselbe Schriftzug wie auf den Büchern war.
»Und jetzt?«, fragte Andy und wandte sich wieder der Salatsoße zu.
Sie starrte auf den Bildschirm. »Ein Herforder Wagen steht ziemlich versteckt unter Büschen an der Mauer eines Gebäudes, in dem laut Polizei ein Mann aus Herford tot an einem Gitter hängt. In dem Auto sind Bücher, die vermutlich alle in demselben Herforder Verlag erschienen sind. Hallo?!«
Er grinste. »Ich bin der Koch, und du bist die Reporterin. Herford hat um die sechzigtausend Einwohner. Wie willst du herausfinden, welchem von ihnen der Wagen gehört?«
»Wart’s mal ab.«
Ruckzuck hatte sie im Internet einiges über den Lob-Verlag gefunden. Als sie den ersten Satz der Suchergebnisse gelesen hatte, rief sie: »Na also, da haben wir ihn doch schon!« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Dann las sie vor: »Lob-Verlag mit Sitz in Herford, Inhaber Lorenz Brenner.«
»Na und?«
Ira schnaubte. »Lorenz Brenner. Klingelt nichts bei dir?«
»Kein bisschen!«
Ira verdrehte die Augen. »Was steht auf dem Nummernschild des Opels? HF-LB-66!«
Andy wirkte irritiert. »Du meinst, LB für Lorenz Brenner? Das wäre aber ein Zufall!«
»Und die 66? Ich habe auch IW und die 60 für mein Geburtsjahr als Kennzeichen am Mini Cooper. Der tote Mann ist laut Polizei siebenundvierzig Jahre alt, dann müsste er, wenn er in diesem Jahr noch nicht Geburtstag gehabt hat, 1966 geboren sein.«
Andy grinste. »Ich weiß schon, warum ich dich genommen habe: Ich mag schlaue Weiber.«
»Wer hier wen genommen hat, darüber können wir ja später noch diskutieren«, konterte Ira. Sie wandte sich wieder der Trefferliste zu und klickte den Wikipedia-Artikel über den Verlag an:
Als erstes Buch des LoB-Verlages erschienen Gedichte von Magnus Freiherr von Externstein unter dem Titel »Bein ohne Moment«, anschließend die gesammelten Briefe der Rocksängerin Christina Turnover. Danach publizierte Brenner die Sonette des Giacomo da Lentini in sadomaso-erotischer Variation. Der Schwerpunkt des Verlages ist heute ein belletristisches Programm mit Hochliteratur im Bereich Roman und Lyrik. Autoren des Verlages (Auswahl): Magnus Freiherr von Externstein, Josefa Jordan, Nelly Mooskamp-Rübenberg, Monka Diesterweg, Nandolf Kühn und andere.
Ira tippte nun den Namen Lorenz Brenner direkt in die Suchmaschine und wurde sofort fündig: Auf der Webseite von Brenner stand unter dem Button »Über mich« exakt derselbe Inhalt wie bei Wikipedia. »Wer hat denn da von wem abgeschrieben?«, murmelte sie vor sich hin. Sie las weiter.
Demnach war er am 20. September 1966 in Bielefeld geboren worden; sein Vater Justus, ein ehemaliger Springreiter, zählte in Ostwestfalen noch immer zur Prominenz. »Richtige Prominente, nicht diese Blocker oder Internet-Stars«, hätte ihre Mutter dazu gesagt.
Lorenz Brenner hatte zuerst Veterinärmedizin, dann Germanistik und Literaturgeschichte studiert, sein Studium aber abgebrochen und arbeitete … Ira stutzte. »Hör mal, das ist ’ne schräge Vita!« Sie las laut vor: »… arbeitete ab 1991 als freier Mitarbeiter bei der Hamburger Konzertagentur Pesch & Langel, zunächst als Kabelverleger, später in verantwortlicher Position im Bereich der Tourneeleitung. Ab 1996 schrieb Brenner Beiträge für Zeitschriften und Agenturen im Bereich Musik und Theater. 1996 nahm er Kontakt zu der Rocksängerin Christina Turnover auf und führte mit ihr einen erotischen Briefwechsel bis zu ihrem Tod im Jahre 1998. Von 1996 bis 2003 trug Brenner den Namen Magnus Freiherr von Externstein, den er nach Zahlung einer fünfstelligen Summe durch Adoption erwarb. Ein deutsches Gericht erklärte die Adoption 2003 jedoch für ungültig. Dennoch benutzte er den Namen später als Künstlernamen für eigene Lyrikpublikationen im LoB-Verlag.«
Andy lachte. »Der hat sich für Geld adoptieren lassen? Tante Sophie sagt immer: Wer angibt, hat’s nötig …«
Ira nickte zustimmend. Sie stand auf, reckte sich, machte ein Hohlkreuz, drückte ihre Daumen in den schmerzenden Rücken. Sie musste unbedingt zur Physiotherapie! In der letzten Zeit hatte sie viel zu lange am Schreibtisch gesessen und sich zu wenig bewegt. Sie dehnte ihre Hals- und Schultermuskeln. Nachdenklich sagte sie: »Wenn ich also nicht total danebenliege, ist der Tote im Schlachthof der Verleger Lorenz Brenner aus Herford und außerdem Halter des Wagens, der in der Nähe des Tatortes stand.«
Sie setzte sich wieder, legte eine Datei mit dem Namen »Schlachthofmord« an und speicherte ihre Informationen darin. Außerdem fand sie unter dem Verlagsnamen und unter dem Klarnamen Lorenz Brenner jeweils eine Facebookseite. Die dort veröffentlichten Fotos zeigten einen Mann mit blasser Haut und auffallend hellen Augen. Sein schwarzes Haar, das mit Gel hinter die Ohren gekämmt war, reichte bis über den Kragen und schien gefärbt zu sein, denn die buschigen Augenbrauen waren viel heller und eher rötlich. Der Ausdruck in seinem Gesicht erinnerte Ira an einen Fuchs.
»Fragst du bei der Polizei nach, ob Brenner der Tote im Schlachthof ist?«, wollte Andy wissen.
Ira klappte das MacBook zu.
»Nein, das sagen die mir sowieso nicht. Jetzt mache ich Feierabend und kümmere mich nach dem Essen um meinen Liebsten.«
Die Menschenschlange vor der einzigen Bäckerei des Ortes reichte bis an die Straße. Erst als Ira näher kam, verstand sie, dass die Leute nicht wegen des Brotes oder der Brötchen anstanden, sondern vor dem Geschäft in Grüppchen diskutierten. Der Leichenfund im Schlachthof war das Thema Nummer eins.
Ira betrat den kleinen Laden und stellte sich an. Auch hier drehte sich alles um dem Schlachthofmord. Aufmerksam belauschte sie das Geschnatter und Getuschel. Zwei Namen schnappte sie auf, weil sie mehrfach fielen: Kilian Ellenbröker und Robin Knobloch. Ira schaltete sofort. Als sie die Münzen an der Kasse abzählte, fragte sie bewusst beiläufig: »Ach, das waren Kilian und Robin? Die beiden haben den Toten gefunden?«
Die Verkäuferin nickte eifrig. »Ja, die haben sich wohl öfter da rumgetrieben, und dann standen sie plötzlich vor der nackten Leiche …« Sie schüttelte sich.
Ira bluffte: »Sind das die Knoblochs aus der Reuterstraße?«
Ein Mann war neben sie getreten und antwortete, bevor die Verkäuferin etwas sagen konnte: »Das wüsste ich aber. In der Reuterstraße leben die nicht, da wohne ich nämlich seit meiner Geburt und ich kenne jeden. Nee, die sind aus dem Rubensweg. Gegenüber von der Arztpraxis ist ein gelber, neuer Wohnblock, da kommen die wech.«
Ira zahlte, murmelte: »Tschüss!«, rannte die fünfhundert Meter bis zum Hof Eskendor, stürmte in die Küche, warf die Brötchentüte auf den Tisch, schnappte sich Brieftasche, Handy und Autoschlüssel und rief dem verdutzten Andy beim Rausgehen zu: »Ich muss noch mal kurz weg!«
Sie sprang in den Mini Cooper und verließ den Hof mit quietschenden Reifen.
Das Haus am Rubensweg fand sie sofort. Sie klingelte bei Knobloch; den Namen Ellenbröker entdeckte sie auf den Klingelschildern nicht.
»Ja?«, quäkte es aus der Gegensprechanlage.
»Guten Morgen, Ira Wittekind von der Tageszeitung Tag 7, dürfte ich bitte mit Robin sprechen?«
Der Summer ertönte sofort. Ira lief die Treppen hinauf. In der zweiten Etage stand eine magere Frau im Jogginganzug in der geöffneten Tür. Ihr freundliches Lächeln war schüchtern und neugierig zugleich. Ihr fehlten im Oberkiefer zwei Zähne.
Ira begrüßte sie und zog ihren Presseausweis aus der Brieftasche. Die Frau warf nur einen flüchtigen Blick darauf, strich sich den Pony aus dem Gesicht und trat einen Schritt zurück. »Kommen Sie rein. Ich bin aber noch nicht angezogen und hab auch noch nicht aufgeräumt …«
Ira unterbrach sie: »Es ist ja auch noch früh. Ich muss mich für meinen unangemeldeten Besuch entschuldigen, aber ich wollte mich unbedingt mit Robin unterhalten, bevor die Bildzeitung bei Ihnen auftaucht.«
Frau Knobloch machte große Augen. »Oh, sogar die Bildzeitung, sind Sie sicher?«
Ira nickte. »Es würde mich sehr wundern, wenn die nicht kämen. Immerhin hat Ihr Sohn eine schreckliche Entdeckung gemacht.«
Sie gingen in eine kleine, unaufgeräumte Küche. Auf dem Tisch standen ein Toaster, eine geöffnete Packung Toastbrot, ein Becher Margarine, Marmelade, eine Flasche Cola und ein voller Aschenbecher.
Frau Knobloch strich sich nervös durch die Haare und bot Ira Kaffee an, den sie dankend ablehnte.
»Ist Robin schon auf?«, fragte Ira.
In diesem Moment kam ein etwa fünfzehnjähriger, schlaksiger Bursche herein. Er schaute nur kurz von seinem Handy auf, auf dem er mit Fingern, deren Nägel bis aufs Fleisch abgekaut waren, herumtippte. Robin trug Boxershorts und ein Shirt mit orangefarbener Zwiebackreklame, seine blonden Haare standen ungekämmt in alle Richtungen ab.
Ira reichte ihm die Hand, er nahm sie schlaff, wich ihrem Blick aus, nickte knapp, als sie sich vorstellte. Sie wartete, bis er sich gesetzt hatte, und kam sofort zur Sache: »Du und Kilian, ihr habt also gestern den Toten im Schlachthof gefunden?«
Robin machte »hm« und tippte dabei weiter auf seinem Handy, das zwischendurch immer wieder brummend vibrierte.
Seine Mutter stand mit dem Rücken an der Spüle, hielt eine bauchige Tasse in der Hand, in deren dampfenden Inhalt sie unentwegt hineinpustete, und mahnte: »Robin, die Frau ist von der Zeitung, benimm dich!«
Er sah sie genervt an, und Ira bemerkte den Schlafsand in seinen Augenwinkeln.
Sie fragte: »WhatsApp?«
Robin brummte etwas Unverständliches.
»Mit deinem Freund Kilian?«
Der Junge nickte.
»Wohnt er auch hier? Der Name stand nicht an den Klingeln.«
»Die Mutter heißt jetzt anders, sie ist wieder verheiratet«, erklärte Frau Knobloch. »Die wohnen oben in der sechsten Etage.«
Ira bemühte sich um Geduld und wandte sich wieder an Robin: »Kannst du ihn bitten herunterzukommen, ich möchte mit euch beiden reden.«
Sie nahm demonstrativ einen Fünfziger aus der Brieftasche und legte ihn auf den Toaster. Robin sah ihn erstaunt an, schluckte, hackte etwas in sein Smartphone. Die Antwort war nach wenigen Sekunden da.
Kurz darauf klingelte es an der Wohnungstür, und Frau Knobloch ließ Kilian herein.
»Hey«, sagte der mit einem Kopfnicken in die Runde und hielt seinem Kumpel die locker geballte Faust hin. Robin machte dieselbe Geste, sie stießen ihre Fäuste zusammen, und Kilian sagte: »Hey, Alter, was geht?«
Es schien eine Floskel zu sein, denn: »Hey, was geht bei dir?«, war die Antwort. Kilian setzte sich, legte sein Smartphone auf den Tisch und sah zuerst den Schein auf dem Toaster und dann Ira erwartungsvoll an.
»Ich schreibe einen Artikel über den Toten …«, begann sie, wurde aber von einem hellen »Ping!« unterbrochen.
Kilian griff das Handy, las die angekommene Nachricht, tippte in Windeseile etwas und sah Ira wieder an. Zeitgleich vibrierte Robins Smartphone, auch er beantwortete die eingehende Nachricht direkt.
»Also, ich schreibe …«
»Ping!«
Derselbe Ablauf: Die Jungs sahen auf das Display, tippten, guckten Ira an.
»… über den Toten im Schlachthof einen Artikel für die Tageszeitung …«
»Ping!«
»… Tag 7 und möchte euch …«
»Ping!«
Ira musste tief durchatmen, um nicht laut zu werden. Robin und Kilian fiel das nicht auf, sie tippten in einer Geschwindigkeit, in der andere mit den Augen zwinkerten.
Ira sagte: »Die fünfzig Euro sind für euch, wenn ihr …«
»Ping!« Gucken, tippen, senden.
Plötzlich hatte Ira einen Verdacht. »Ihr habt die Leiche fotografiert, bevor die Polizei kam!«
Die beiden schauten sich erschrocken an.
Volltreffer.
Ihr schoss ein weiterer Gedanke durch den Kopf: »Und ihr habt die Bilder ins Internet gestellt!«
»Ping!«
Diesmal reagierten sie nicht darauf.
»Also habt ihr?«
»Ping!« Keine Reaktion, sie wechselten nur unsichere Blicke.
Ira nahm das Geld und wedelte damit herum. »Also noch mal: Den Fuffi, wenn ihr mir jetzt zuhört und die Wahrheit sagt. Und ich verspreche im Gegenzug, dass euch nichts passieren wird.«
»Was soll uns denn passieren?«, fragte Kilian, aber seine Stimme hörte sich längst nicht so selbstbewusst an, wie sie wahrscheinlich klingen sollte.
»Die Polizei ist nicht von gestern, die haben ruckzuck raus, wer die Bilder hochgeladen hat, dann beschlagnahmen sie eure Handys und eure Computer, und ihr bekommt eine Anzeige an den Hals, die sich gewaschen hat!«
Frau Knobloch rief: »Anzeige? Weswegen?«
Ira improvisierte gnadenlos und zählte, ungeachtet der Richtigkeit ihrer Behauptungen, auf, was ihr in den Sinn kam: »Verletzung der Privatsphäre, Störung der Totenruhe, Behinderung der Polizeiarbeit, Verletzung des Datenschutzes, unbefugtes Betreten eines Tatorts, Irreführung der Ermittlungsbehörden – da kommt schon ordentlich was zusammen!«
Das beeindruckte die Jungs offenbar, denen der Schreck über den Leichenfund merkwürdigerweise nicht anzumerken gewesen war. Der Gedanke an den Verlust der Handys schien viel schlimmer zu sein.
»Ja und jetzt?«, fragte Robin. Seine brüchige Stimme vibrierte.
»Wo habt ihr die Bilder hochgeladen? Facebook?«
»Nee, Instagram. Was ist denn jetzt?«, fragte Kilian.
»Ihr schickt mir die Fotos, und dann gehen wir an deinen Computer, Robin, und ich sehe dabei zu, wie ihr die Bilder aus dem Internet löscht.«
Ira war klar, dass die Fotos durch einfaches Löschen noch längst nicht aus dem Netz verschwunden waren, aber das konnte nicht ihre Sorge sein, sie musste jetzt alles einkassieren, was sie für ihren Artikel verwerten konnte.
Die Konkurrenz würde jedenfalls noch keine Bilder vom Tatort haben, dessen war sie sich sicher.
Iras Entsetzen über die Kaltblütigkeit der Jugendlichen war nichts im Vergleich zu dem Gefühl, das sie später überkam, als sie am Laptop die Fotos des Toten ansah.
Die meisten Bilder waren trotz des Halbdunkels gestochen scharf. Sie zeigten einen nackten Mann von hinten, der wie ein Ypsilon an einem Gitter hing. Seine ausgestreckten Arme waren ausgebreitet und mit Handschellen an einer Querstange fixiert. Die Füße standen eng zusammen und waren mit Kabelbindern an das Gitter befestigt. Der Mann wirkte mittelgroß, leicht untersetzt und hatte nackenlanges Haar. Sein Kopf hing zur Seite. Um den Kopf lag ein Riemen, der hinten mit einer Schnalle befestigt war. Auf seinem Rücken entdeckte Ira zwei senkrechte Reihen roter Punkte, wie mit Filzstift aufgemalt und dann wieder abgewischt. Sie zählte fünfzehn Punkte in jeder Reihe, exakt untereinander. Was hatte das zu bedeuten? Sie klickte auf das nächste Bild. Und dann stockte ihr der Atem.
Die Jungs hatten den Toten auch von vorn geknipst. Als Ira die Details vergrößerte, stöhnte sie.
Andy, der ihr gegenübersaß und gelesen hatte, stand auf, lief um den Tisch herum und starrte über ihre Schulter auf den Bildschirm. »Oh mein Gott!«
An den Genitalien des Mannes hingen an dünnen Schnüren zwei apfelsinengroße blanke Kugeln, die offenbar ziemlich schwer waren, denn die strangulierten Hoden waren bizarr angeschwollen und fast schwarz. Das Gesicht des Mannes glänzte dunkel. In seinem Mund steckte ein Ball als Knebel, dessen Riemen die feisten Wangen einquetschten. Ira betrachtete entsetzt die kräftigen Handgelenke und das rohe Fleisch unter den Handschellen. Er musste im Todeskampf mit übermenschlicher Kraft daran gerissen haben, denn seine Hände waren unnatürlich dick. Bevor sie aus dem Zimmer rannte, fiel ihr letzter Blick auf die Exkremente und die Urinlache auf dem Boden.
Keuchend lehnte sie sich draußen an die Hauswand. Sie hatte im Laufe ihres Reporterlebens schon viel gesehen, aber so etwas noch nicht. Langsam sackte sie herunter, blieb in der Hocke sitzen und versuchte, den aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken.
Andy war hinter ihr hergekommen. Er setzte sich neben sie auf den Boden, nahm ihre Hand und hielt sie fest.
2
Erst viel später war Ira imstande, die Horrorfotos mit den Bildern, die sie auf der Facebookseite des Lob-Verlages gefunden hatte, zu vergleichen.
Es gab keinen Zweifel. Der Tote im Schlachthof war der Verleger Lorenz Brenner.
Ihre Finger zitterten immer noch, als sie die Nummer von Kommissar Brück wählte. Ira wusste zwar, dass Zander den Fall leitete, aber zu ihm hatte sie keinen besonders guten Draht. Brück hingegen kannte sie seit vielen Jahren, sie hatten schon oft miteinander zu tun gehabt.
Ira kam sofort zur Sache: »Kennen Sie die Identität des Toten im Mordfall Schlachthof schon?«
»Sie meinen in der Todesermittlungssache«, verbesserte der Kommissar sie trocken.
»Ich rufe Sie nicht an, um mit Ihnen Erbsen zu zählen, sondern weil ich Ihnen sagen will, dass ich die Identität des Toten bereits herausgefunden habe und sie Ihnen selbstverständlich mitteilen werde, falls Sie noch nicht so weit sein sollten.« Dieser ostwestfälisch herzliche Ton war zwischen ihnen üblich.
»So?«
»Ja. Es handelt sich zweifelsfrei um den Verleger Lorenz Brenner aus Herford.«
»Zweifelsfrei.« Er ließ sich nicht anmerken, ob Ira ihm etwas Neues erzählte. Einige Sekunden lang sagte niemand etwas. Dann räusperte Brück sich. »Und wie kommen Sie darauf?«
»Hinter dem Gelände war ein Auto mit Herforder Kennzeichen geparkt. Ziemlich versteckt unter einem Gebüsch an der Mauer. Ich habe es fotografiert, weil es mir komisch vorkam, dass da überhaupt jemand parkte. Auf dem Rücksitz standen Kisten mit Büchern, die im Herforder Lob-Verlag erschienen sind.«
»Aber ich bitte Sie, ein Auto mit Büchern ist doch kein Beweis für die Identität eines Toten.«
»Nein, aber …« In letzter Sekunde verkniff Ira sich den Hinweis auf die Fotos vom Tatort. Sie hatte Robin und Kilian versprochen, sie nicht zu verraten.
»Nein, aber was? Möchten Sie mir noch etwas sagen, Wittekind?«
»Nein. Sie mir? Vielleicht etwas zu dem Auto? Sie haben es doch schon gefunden, oder etwa nicht?«
Brück lachte auf. »Sie sind ein Schlitzohr. Wenn wir uns nicht so lange kennen würden …«
»Eben, Sie wissen, dass ich zuverlässig bin. Ich kenne die Identität des Opfers. Und was tue ich? Richtig, ich melde mein Wissen sofort der Polizei.«
Brück ging nicht darauf ein. »Wieso sind Sie sich so sicher, dass der Tote Lorenz Brenner ist?«
»Sie müssen schon hinnehmen, dass ich es eben weiß.«
Ira gab ihre Informanten nicht preis. Die Fotos waren zwar nicht lange online gewesen, aber wer wusste schon, wie viele Menschen sie gesehen oder sogar gespeichert hatten. Die Polizei würde die beiden Jugendlichen sowieso noch ausgiebig befragen, und vielleicht würden sie dabei von selbst erzählen, dass sie Fotos vom Tatort und von der Leiche gemacht hatten. So nah, wie sie dem Opfer gekommen sein mussten, hatten sie zweifellos jede Menge Spuren hinterlassen.
Bevor er auflegte, wies Brück darauf hin, dass Ira abwarten müsse, bis die Pressestelle weitere Erklärungen veröffentlichte – aber das wusste sie auch schon, bevor er es sagte.
Ihr war klar, dass er und seine Kollegen nicht untätig gewesen sein konnten und das Auto untersucht, den Fundort gesichert und den Halter des Fahrzeugs längst ermittelt hatten.
Das Auto hätte allerdings jeder fahren können, es musste nicht zwangsläufig der Halter gewesen sein. Brück hatte recht, die Bücherkisten bewiesen erst mal gar nichts. Ein Mitarbeiter des Verlages hätte das Auto nutzen und dort abstellen können. Oder ein Verwandter des Fahrzeughalters. Vielleicht sogar der Mörder.
Plötzlich stutzte Ira. In der Pressemeldung hatte es geheißen: … 47-jähriger Mann aus Herford.
Wohnort und Geburtsdatum waren der Polizei folglich bekannt. Aber woher eigentlich? Der Tote war doch nackt gewesen, und sein Name stand ihm nicht auf der Stirn geschrieben!
Erneut öffnete Ira die Datei mit den Tatortfotos und vergrößerte jedes Detail. Sie hielt dabei die Luft an, als könne sie riechen, wie es in der Halle stank: nach Angstschweiß vielleicht, nach Kot und Urin.
In diesem Moment kam Andy zurück in die Küche, er war in der Zwischenzeit mit Tante Erna an der Werre spazieren gegangen. Die Hündin hatte im Wasser herumgetobt, ihr lockiges Fell war trotz der Hitze noch feucht.
»Kommst du voran?«, fragte er, während er sich die Hände wusch und Tante Erna dicht hinter ihm geduldig auf ihr Leckerchen wartete.
»Vor einer Viertelstunde habe ich mit Brück telefoniert. Er hat mir zwar nicht bestätigt, dass der Tote Lorenz Brenner ist, aber ich kann es anhand der Fotos von Robin und Kilian und den Bildern aus dem Internet belegen. Brenner hing da nackt, gefesselt, geknebelt und vollgeschissen. Und mit schweren Kugeln am Gemächt, die ihm seine Kronjuwelen fast abgerissen hätten. Ich zermartere mir das Hirn, wie der Mann in diese Jesus-am-Kreuz-Position gekommen sein kann. Entweder hat er freiwillig mitgemacht, als man ihn da aufgehängt hat, oder er wurde gezwungen.«
»Gezwungen? Einen kräftigen Mann in den besten Jahren? Wie soll das gehen? Höchstens mit vorgehaltener Waffe.«
»Vielleicht. Aber von wem? Ich denke, er ist mit diesem Opel angekommen – und so dreckig, wie der Wagen war, hat er da hundertprozentig allein dringesessen. Es war nämlich gar kein Platz für eine weitere Person, weil auf dem Beifahrersitz und auf der Rückbank alles voller Zeug war, du hast es ja selber gesehen. Also muss er freiwillig zum Schlachthof gefahren sein und den versteckten Parkplatz bewusst gewählt haben. Meinst du, dass ihn dort jemand mit gezückter Knarre empfangen und in seine Todeszelle gebracht hat?«
Andy schaute sie ratlos an. Er ließ sie weiter laut nachdenken, er wusste, dass sie ihre Gedanken und Überlegungen so am besten sortieren konnte, bevor sie Schlussfolgerungen zog.
»Nein, das können wir wohl ausschließen«, fuhr Ira fort. »Ich vermute etwas ganz anderes! Guck dir doch mal an, wie er da hängt: Handschellen, Ballknebel, Kabelbinder und Christbaumkugeln an den Eiern. Auf solche Utensilien kommt ein normaler Mensch doch überhaupt nicht.« Sie sah Andys skeptisches Gesicht und winkte ab, bevor er antworten konnte: »Okay, okay, ein Mörder ist eh kein ganz normaler Mensch, aber das ist eine andere Geschichte. Ich kann mir in diesem Fall vorstellen, dass da vielleicht ein Sadomaso-Treffen schiefgegangen ist.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Andy.