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Fünfzig Jahre nachdem der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, ist eine neue Epoche der Menschheit angebrochen. Die Solare Union steuert den Aufbruch ins All. Die Menschen haben Kolonien nicht nur auf dem Mond und Mars, sondern auch in fernen Sonnensystemen errichtet. Mit ihren Raumschiffen erforschen sie die Milchstraße und pflegen Kontakte zu fremden Zivilisationen. Wie in der Vergangenheit sehen sich die wagemutigen Pioniere nicht nur mit den kosmischen Gefahren von lebensfeindlichen Umwelten konfrontiert, sondern auch mit Bedrohungen von innen wie außen. Ende des Jahres 2088 wird unter ungeklärten Umständen eine chinesische Kolonie ausgelöscht. Es gibt nur einen Überlebenden. Der merkwürdige Mann wird zum Saturnmond Mimas gebracht. Kurz darauf kommt es dort zu seltsamen Ereignissen – Perry Rhodan ist vor Ort und leitet die MISSION AUF MIMAS ...
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Seitenzahl: 230
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Band 201
Mission auf Mimas
Michelle Stern / Lucy Guth
Cover
Vorspann
Gedankensplitter: Iratio Hondro
1. Winterschlaf – Ras Tschubai
Gedankensplitter: Iratio Hondro
2. Alte Narben – Sud
Gedankensplitter: Iratio Hondro
3. Mehr als ein Traum – Ras Tschubai
Gedankensplitter: Iratio Hondro
4. Hirnfunktionen
Gedankensplitter: Iratio Hondro
5. Überraschung
Gedankensplitter: Iratio Hondro
6. Wach geküsst
Gedankensplitter: Iratio Hondro
7. Suchlauf
Gedankensplitter: Iratio Hondro
8. Atemlos – Sud
Gedankensplitter: Iratio Hondro
9. Atempause – Ras Tschubai
Gedankensplitter: Iratio Hondro
10. Gartenarbeit – Sud
Gedankensplitter: Iratio Hondro
11. Mausefalle
Gedankensplitter: Iratio Hondro
12. Außer Kontrolle
Gedankensplitter: Iratio Hondro
13. Alte Straßen – Ras Tschubai
Gedankensplitter: Iratio Hondro
14. Der Auftrag – Perry Rhodan
Gedankensplitter: Iratio Hondro
15. Überraschungsgast
Gedankensplitter: Iratio Hondro
16. NATHALIE im Einsatz – Thomas Rhodan da Zoltral
Gedankensplitter: Iratio Hondro
17. Im Schmelztiegel – Thomas Rhodan da Zoltral
Gedankensplitter: Iratio Hondro
18. Todesschwelle
Impressum
Fünfzig Jahre nachdem der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, ist eine neue Epoche der Menschheit angebrochen. Die Solare Union steuert den Aufbruch ins All.
Die Menschen haben Kolonien nicht nur auf dem Mond und Mars, sondern auch in fernen Sonnensystemen errichtet. Mit ihren Raumschiffen erforschen sie die Milchstraße und pflegen Kontakte zu fremden Zivilisationen.
Wie in der Vergangenheit sehen sich die wagemutigen Pioniere nicht nur mit den kosmischen Gefahren von lebensfeindlichen Umwelten konfrontiert, sondern auch mit Bedrohungen von innen wie außen.
Ende des Jahres 2088 wird unter ungeklärten Umständen eine chinesische Kolonie ausgelöscht. Es gibt nur einen Überlebenden. Der merkwürdige Mann wird zum Saturnmond Mimas gebracht. Kurz darauf kommt es dort zu seltsamen Ereignissen – Perry Rhodan ist vor Ort und leitet die MISSION AUF MIMAS ...
Sie haben mich auf der Denebkolonie überrascht, diese beiden Rhodans. Es wird der Tag kommen, an dem sie das bereuen. Vielleicht schon bald.
Ich weiß, wo ich bin, und ich weiß, was ich nicht bin: Ich schlafe schon lange nicht mehr, bewege mich auf einer mentalen Ebene, die meinen Wächtern entgeht. Ich kann denken und planen, und vor allem kann ich meine neue Gabe erkunden.
Da sind so viele, die willig sind, mir zu helfen, die sich freudig zu Instrumenten machen lassen, und da ist ... er. Wie wundervoll er sich anfühlt. Wie aufregend! Welches Potenzial! Ich glaube, wir werden gute Freunde werden, er und ich.
1.
Winterschlaf
Ras Tschubai
»Komm zu mir!«
Die geflüsterten Worte weckten Ras Tschubai. Er öffnete die Augen. Sein Blick fiel auf die gewölbte Fensterfront, auf die sein Bett ausgerichtet war. Karges, vereistes Gestein erstreckte sich unter einem schwarzen Himmel: eine Landschaft fremd und kalt wie der Mond ...
Nicht der Mond. Ein Mond.
Mimas. Saturn.
Die Gedanken stießen Erinnerungen an, die einen weiteren Namen hervorbrachten: MHC – Mimas Health Center.
An diesen Ort hatte man Ras gebracht. Er war im Winterschlaf gewesen.
Winterschlaf. Was für ein romantisches Wort, um den Zustand zu beschreiben, in dem sich Ras dank des speziellen, von den Meistern der Insel entwickelten Zellaktivators befand. Er brauchte lange Erholungsphasen, verbrachte sie in Stasis wie die sogenannten Sternenkinder. Eigentlich glich sein Zustand eher einem künstlichen Koma als echtem Schlaf. Jedenfalls war das eben noch so gewesen. Nun war er aufgewacht.
»Sud? Julian?«
Sie antworteten nicht. Das Zimmer war leer. Es war klein, bot gerade genug Raum für das Bett, einige Geräte und zwei entfaltbare Besucherstühle, die an das Bett geschoben werden konnten. Die Farben des Bodenbelags waren warm, die wenigen Möbelstücke modern und geschmackvoll. Insgesamt glich dieser Ort eher einem Hotelzimmer als der Spezialabteilung einer Klinik. An den Wänden hingen Bilder beeindruckender Eisformationen, wie man sie außerhalb des Klinikgeländes am Rand des Kraters fand. Eins zeigte den Mime benannten Zentralberg des Herschelkraters, der wie ein Gigant über der Umgebung aufragte.
»Komm zu mir!«, forderte die Stimme erneut. »Wach auf!«
Wach auf ... Was sollte das bedeuten? War er denn nicht wach?
Ras Tschubai hob die Hand, bewegte die dunklen Finger vor den Augen – sie verschwammen. Also doch: Er schlief. Das Verschwimmen der Finger war ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass er träumte. Besonders am Anfang, als Ras in den Winterschlaf gegangen war, war ihm das häufig passiert. Mittlerweile musste es aber lange her sein, dass er einen Klartraum in dieser Intensität gehabt hatte. Was mochte ihn auslösen? War er vielleicht kurz davor, aufzuwachen? Womöglich war die Schlafphase vorüber, und es würde wieder eine Zeit kommen, in der er aktiv sein konnte.
Wie viele Jahre mochten vergangen sein, seit er in Stasis gefallen war? Was, wenn es Jahrzehnte oder Jahrhunderte waren? Wenn niemand mehr lebte, den er kannte? Gab es Perry Rhodan noch? Thora, Sud, Julian und all die anderen?
»Hörst du mich?«
Wieder diese Stimme. Sie klang wie ein eigener Gedanke, doch sie fühlte sich anders an.
Der helle Raum kam Ras mit einem Mal nicht mehr sicher vor. Hinter der Tür, die auf den Gang hinausführte, schien etwas zu lauern. Vielleicht eine Raubkatze wie die, vor der er geflohen war, damals, als er aus Angst seine erste Teleportation gemacht hatte und einfach an einen anderen Ort gesprungen war.
Vorübergehend hatte Ras diese Gabe verloren, war stattdessen ein Mensch mit einem unglaublich sensiblen Gehör gewesen – doch jene Psi-Kraft war so gut wie abgeklungen. Nachdem sämtliche Verbindungen zwischen Creaversum und Einsteinraum verschlossen waren, hatte Ras Tschubai erneut eine Veränderung durchgemacht. Inzwischen war er wieder zu teleportieren imstande, und in diesem Augenblick wünschte Ras, genau das zu tun: Er wollte fort!
Die unbekannte Stimme war eine Bedrohung, war bösartig, wie Mascardit, der Große Schwarze, ein Gott, der zwar die Fruchtbarkeit brachte, aber auch jede Menge Übel.
Mascardit.
Wie lange hatte Ras diesen Namen aus der Kindheit nicht mehr gedacht?
Unvermittelt wechselte das Bild. Er stand als Junge in seinem Dorf im Südsudan, hielt ein Zeburind am Strick. Die gebogenen Hörner des Tiers waren länger als er, und Ras fragte sich, was sein Dorf für ein Ort sein musste, wenn selbst Rinder solche Hörner brauchten, um dort zu überleben.
»Ich träume«, sagte er laut. »Ich liege in meinem Bett auf Mimas.«
Das Rind verblasste, wich dem Ausblick aus dem Fenster auf die Eiswüste. Der Wunsch, zu fliehen und sich zu verstecken, blieb dagegen. Ras wollte sich in sein Tukul zurückziehen, im Rundhaus der Familie Schutz suchen – doch seine Familie war tot.
Was war das bloß für ein verrückter Traum? Was wollte er Ras sagen? Womöglich steckte darin eine Botschaft, die sich ihm entzog.
Seine Instinkte warnten Ras. Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung. So harmlos das Zimmer um ihn wirkte – es gab eine Gefahr, tödlicher als eine Raubkatze. Sie war lautlos eingedrungen, hatte keine Form. Der einzige Ausdruck, den sie sich gab, war der einer rätselhaften, flüsternden Stimme, die nicht Ras' Stimme sein konnte.
»Komm ...«
Ihr glaubt, dass ich schlafe. Ja, glaubt das nur, während ich meine mentalen Fühler ausstrecke, die Fähigkeiten erkunde, die selbst mich überraschen. Das Dunkle in mir will, dass ich denke. Denke und handle. Doch warum einfach handeln wie ein Getriebener? Es geht viel kunstvoller, ist ein Spiel, das meine Meisterschaft offenbaren wird. Ich werde ein Theater aufführen, in dem ihr die Puppen seid.
2.
Alte Narben
Sud
Die tiefschwarzen Linien verästelten sich wie ein Blitz. Der Anblick hatte eine besondere Form der Ästhetik. Wären es keine Narben gewesen, hätte es ein Kunstwerk sein können.
In dem ausgezehrten Gesicht stachen die schwarzen Narben heraus wie seltsame Stammestätowierungen. Sud legte den Kopf schief und musste sich beherrschen, sich nicht noch dichter über den Patienten zu beugen. Sie wusste, wie gefährlich der schlanke, aber athletische Mann war, der dort vor ihr in einem Krankenhausbett einer streng isolierten Forschungsabteilung lag. Tatsächlich gab es im ganzen Komplex des Mimas Medical Research Centers, kurz MIMERC genannt, kein Lebewesen, das so genau beobachtet wurde wie Iratio Hondro.
Sud atmete tief durch und streckte sich.
»Du solltest dich ein wenig ausruhen«, kam es prompt über den Lautsprecher. Sud warf der Panzerglasscheibe, die zum Labor führte, einen bösen Blick zu. Dahinter stand Julian Tifflor und betrachtete sie besorgt.
»Mir geht es gut, alter Mann«, beteuerte Sud. »Du solltest dich lieber selbst ausruhen.«
In Wahrheit konnte sie kaum glauben, dass die CREST II erst vor wenigen Stunden auf Mimas gelandet war und ihnen diesen seltsamen Patienten gebracht hatte. Sud kam es vor, als wären Tage vergangen, so intensiv hatte sie sich mit Hondro beschäftigt. Natürlich hatte er die ganze Zeit im künstlichen Koma gelegen. Nach dem, was Thomas und Farouq Rhodan da Zoltral berichtet hatten, konnten die Ärzte des MIMERC nicht riskieren, Hondro aufzuwecken – obwohl das viele Untersuchungen erleichtert hätte.
Doch laut den beiden Einsatzspezialisten war Hondro in der Lage, andere Menschen geistig unter seine Gewalt zu bringen. Er hatte eine Ermittlerin der Chinesen, die mit den Rhodans unterwegs gewesen war, fast dazu gebracht, sich selbst zu töten – eine Handlung, die nicht einmal unter Hypnose möglich sein sollte. Dass sich Thomas und Farouq dem unheilvollen Einfluss hatten entziehen können, war mehr als Glück – wahrscheinlich war es ihrer Ausbildung als Emotionauten geschuldet.
So eine Ausbildung hatte das Krankenhauspersonal des MIMERC selbstredend nicht. Das war der Hauptgrund, warum Hondro seinen Aufenthalt auf Mimas bislang schlafend verbrachte. Und auch einer der Gründe, aus denen nur Sud Zugang zu dem Patienten hatte. Sie wagte sich als Einzige nah an den Mann heran. Als Parabegabte und Mentamalgam – einer Verschmelzung der Persönlichkeiten von den beiden Mutanten Sue Mirafiore und Sid González – hoffte sie, auf mögliche geistige Angriffe vorbereitet zu sein.
Es war ein erfreulicher Zufall, dass Julian Tifflor derzeit auf Mimas war – kaum ein anderer Mediziner verfügte über seine Fachkompetenz und seine langjährige Erfahrung. Er war einer der Pioniere auf dem Gebiet der Genom-Anpassung. Eigentlich war Julian mit seinen mittlerweile 73 Jahren im Ruhestand, aber hin und wieder schaute er an seiner alten Wirkungsstätte vorbei. Ihn nun als Berater an ihrer Seite zu haben, beruhigte Sud ungemein. Julian vermied es ihrer Absprache gemäß, Hondro zu nahe zu kommen. Er betrat dessen Patientenzimmer so selten wie möglich und nutzte zwei Roboter für detailliertere Untersuchungen. Stattdessen behielt er Hondro vom angrenzenden Labor aus im Auge – und so, wie es aussah, auch Sud.
»Wenn du zu erschöpft bist, kannst du dich vielleicht gegen eine geistige Attacke nicht wehren«, warnte Julian. »Mach lieber eine Pause.«
Wäre es nicht Julian gewesen, der ihr diesen Ratschlag gab, hätte Sud ihn in den Wind geschlagen. Aber Julian Tifflor war nicht nur ein ausgezeichneter Arzt, der sie besser kannte als jeder andere – er war auch einer ihrer besten Freunde. Sud seufzte. »Vielleicht hast du recht«, sagte sie. Aber sie konnte sich nicht vom Anblick der schwarzen Narben lösen.
Die menschliche Haut hatte Sud schon immer fasziniert. Nicht nur, weil sie das größte und vielseitigste Organ des menschlichen Körpers war, sondern weil ihr Heilungsprozess auf oft sehr kreative Art erfolgte. Die Narben im Gesicht von Iratio Hondro waren alt, das erkannte Sud als erfahrene Medizinerin auf den ersten Blick. Wahrscheinlich trug er sie seit der frühen Jugend mit sich, und Sud wunderte sich etwas, dass er sie nie hatte entfernen lassen. Dass die Narben eine pechschwarze Farbe angenommen hatten, war indes definitiv noch nicht lange her.
Um sicherzugehen, hatte Sud sich Aufnahmen aus der Zeit zeigen lassen, als Hondro erstmals im MIMERC Patient gewesen war und sich für das »Variable Genome Project« einer Genom-Anpassung unterzogen hatte.
»Vor zwölf Jahren hatte Hondro diese Narben in seinem Gesicht bereits«, sagte Sud. Sie wusste nicht recht, ob sie diese Worte an Julian richtete oder aus alter Gewohnheit mit sich selbst sprach. »Allerdings waren die Narben zu dieser Zeit nicht schwarz, sondern sahen aus wie ganz normale Fibrosen.«
»Ich erinnere mich«, bestätigte Julian. »Ich habe Hondro damals ein paarmal gesehen, als ich am Variable Genome Project gearbeitet habe. Ich habe ihn gefragt, ob wir die Narben entfernen sollen, aber er wollte nicht. Die billigen Silikonimplantate, mit denen er sie hatte behandeln lassen, reichten ihm. Er sagte, er wolle sie als Erinnerung behalten. Aber schwarz waren sie nicht, das stimmt.«
Ein weiteres Rätsel, das Hondro ihnen stellte. Eins von vielen.
»Kanntest du Hondro näher?«, fragte Sud und wandte sich zum Gehen. Sie sah, dass der Schrank, in dem die Patienten normalerweise ihre persönlichen Gegenstände aufbewahrten, einen Spalt offen stand. Sie runzelte die Stirn und ging darauf zu.
»Wie gesagt, ich habe ihn nur ein paarmal bei Untersuchungen gesehen«, antwortete Julian. »Er schien ein motivierter junger Mann zu sein, der sich für die Kolonie viel vorgenommen hatte. Kannst du mir bitte eine Probe des Narbengewebes mitbringen? Dann sehe ich mir das mal näher an.«
Sud machte kehrt und blickte zu dem stationären Medoroboter neben dem Krankenbett. Sie wies ihn an, dem Patienten eine entsprechende Probe zu entnehmen. Sie beobachtete den präzisen Eingriff des Maschinenarms und erhielt die Hautzellen schließlich in einem kleinen Glasröhrchen entgegengestreckt.
»Und jetzt komm da raus und hol dir endlich einen K'amana«, sagte Julian auffordernd.
»Ich bevorzuge nach wie vor guten alten Kaffee«, entgegnete Sud grinsend und trat durch die medizinische Schleuse ins benachbarte Labor. Sie reichte Julian das Glasröhrchen. »Viel Spaß damit. Soll ich dir etwas mitbringen?«
»Ein Espresso wäre großartig.«
»Oh, oh – verträgt dein altes Herz denn so viel Koffein?«
Julian boxte spielerisch nach ihr. »Ich bin in Topform. Es kann ja nicht jeder ohne Zellaktivator so jung und knackig bleiben wie du.«
Sud lachte und verließ das Labor durch die Tür, die in den Hauptgang der Forschungsabteilung führte. Während sie an den beiden Wachleuten vorbeiging, die vor dem Zimmer von Hondro Dienst schoben, dachte sie über Tifflors Worte nach. Sie fühlte sich tatsächlich noch immer sehr fit, und wenn sie ihrem Spiegelbild glauben durfte, hatte sie sich gut gehalten. Es war seltsam, dass die meisten ihrer Freunde in den vergangenen Jahren graue und weiße Haare und zahlreiche Falten bekommen hatten, während sie selbst sich kaum verändert hatte. Und das, wie Julian angemerkt hatte, ganz ohne Zellaktivator.
Wahrscheinlich hatte sie das ihrer Paragabe zu verdanken. Ihre Selbstheilungskräfte hielten sie jung, während ihre Heilkräfte sie zu einer besseren Ärztin machten. Sud sagte sich immer wieder, dass sie auch ohne diese Parakräfte eine Ärztin geworden wäre – aber wer wusste das schon?
Sud passierte eine Sicherheitsschleuse, die den isolierten Teil der Forschungsabteilung von jenem Bereich trennte, zu dem die Öffentlichkeit Zutritt hatte – zumindest ein sorgsam ausgewähltes Publikum, Gäste, Besucher. Auch dort saß ein Wachmann, der gerade dabei war, einen Schokoriegel zu verzehren. Als er Sud sah, ließ er die Schokolade schnell in seiner Brusttasche verschwinden. Während des Dienstes war Essen und Trinken für die Sicherheitsleute streng verboten.
Sud verkniff sich ein Grinsen. »Hallo, Sam!« Sie erwiderte sein Nicken und ging zum Kaffeeautomaten hinüber.
Sie musste nirgendwo ihren Sicherheitsausweis vorzeigen. Dank ihres Intarsiums, einem metallischen Einschluss in ihrer linken Gesichtshälfte, war sie, um es salopp auszudrücken, bekannt wie ein bunter Hund – selbst bei Personal, das eigentlich nicht in diesem Bereich eingesetzt wurde. Diesen Wachmann allerdings kannte sie schon lange – ebenso wie Sams Vorliebe für Naschereien.
Sud studierte sorgsam das breit gefächerte Angebot an Heißgetränken. Der moderne Automat war in der Lage, über hundert verschiedene Flüssigkeiten zu produzieren, darunter beileibe nicht nur irdische. Ein falscher Knopfdruck, und statt leckerem, heißem Kaffee musste man sich mit Girrkamblütentee abfinden. Und das war nun wirklich das Widerlichste, was sich Sud vorstellen konnte.
Sie hatte gerade ihre Wahl getroffen und hielt bereits einen dampfenden Becher Kaffee in der Hand, als sie die energische Stimme des Wachmanns vernahm.
»Es tut mir wirklich leid, aber ich kann Sie nicht durchlassen. Ich habe Ihnen doch bereits erklärt, dass dieser Bereich des MIMERC nicht für Besucher zugänglich ist.« Sam sprach höflich, aber ein gereizter Unterton war nicht zu überhören.
Neugierig drehte sich Sud um. Der Wachmann hatte sich erhoben und versperrte einer ungewöhnlichen Gestalt den Weg. Sie war etwa zwei Meter groß und fast so durchsichtig wie Glas. Fasziniert beobachtete Sud die inneren Organe, die in dem Körper zu schweben schienen, und die langen Arme, die nun im Gespräch mit dem Wachmann zu gestikulieren begannen.
»Ich möchte den Passagier ansehen, der auf dem Raumschiff von Perry Rhodan war. Es interessiert mich sehr, was die Ärzte herausgefunden haben«, sagte der Fremde mit einer volltönenden, dunklen Stimme, die aus einem rüsselartigen Mundfortsatz in seinem Gesicht kam. Es war dieser Merkosh, der zusammen mit den Rhodans auf der CREST II nach Mimas gekommen war. Sud hatte ihn kurz gesehen, als sie Hondro übernommen hatten. Sie hatte bereits mitbekommen, dass der Fremde die Erlaubnis erbeten hatte, sich in der Klinik umzusehen.
»Es tut mir leid«, sagte Sud und ging zu dem Wachmann und dem ungewöhnlichen Gast hinüber. »Aber selbst wenn Sie den Bereich betreten könnten, würden Sie wohl wenig Neues erfahren.«
Der Fremde wandte sich ihr langsam zu, so als könne er seine Aufmerksamkeit nur schwer von dem Wachmann lösen. Seine großen, grünen Augen blinzelten und fokussierten sich auf den Kaffeebecher in Suds Hand.
»Ich bin Sud, die behandelnde Ärztin von Iratio Hondro«, stellte sich Sud vor. »Wir haben uns vor ein paar Stunden kurz kennengelernt.«
»Ich erinnere mich«, sagte Merkosh, ohne den Blick von dem Kaffeebecher zu nehmen.
Das irritierte Sud zwar, doch sie hatte ausreichend Erfahrung mit außerirdischen Intelligenzen gesammelt, um ein dieserart seltsames Verhalten zu ignorieren.
»Sie interessieren sich also für unseren neuesten Fall?«, fragte sie.
Anstelle von Merkosh antwortete Sam. »Dieser ... Herr war schon mehrfach hier und wollte zu dem neuen Patienten vorgelassen werden, aber ich habe strikte Vorgaben, wie Sie wissen. Ich habe ihm gesagt, dass niemand hineindarf, vom Fachpersonal einmal abgesehen.«
»Sie haben korrekt gehandelt, Sam«, versicherte ihm Sud und blickte dann wieder Merkosh an. »Wie wir erfahren haben, geht von Hondro eine Gefahr aus, die wir nicht einschätzen können. Deswegen steht er unter Quarantäne.«
»Aber Sie dürfen zu ihm?«, fragte Merkosh. Er griff nach dem Kaffeebecher und nahm ihn Sud aus der Hand. Er hob das Trinkgefäß und goss sich den Kaffee auf die Brust. Konsterniert sahen Sud und der Wachmann dabei zu.
»Ja natürlich, ich bin seine Ärztin«, wiederholte Sud und beobachtete, wie der Kaffee an Merkoshs gläserner Haut hinunterlief und auf den Boden tropfte, zu einem größeren Teil allerdings vorher absorbiert wurde. Faszinierend, dachte sie. Ich weiß zwar nicht, was er da macht, aber es ist hochinteressant. Wenn ich nicht mit Hondro beschäftigt wäre, würde ich mir diesen Merkosh gern näher ansehen.
»Und Sie haben bislang nichts herausgefunden?«, hakte Merkosh nach, als ob gar nichts passiert wäre. Er ließ den Pappbecher fallen und richtete seinen Blick auf Sud.
»Leider nein«, gab Sud Antwort. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass seine Vitalwerte stabil sind.«
Ganz korrekt war das nicht – sie hatten tatsächlich ein paar sehr beunruhigende Dinge festgestellt. Zum Beispiel zeigten die Zellproben, die sie Hondro mithilfe eines Medoroboters entnommen hatten, einen seltsamen Effekt: Unter dem Mikroskop sahen sie aus, als koche ihre Oberfläche. Und sie wurden irgendwie ... verdunkelt. Als ob sie jemand schwarz einfärben würde. Doch diese Schwärze war unheimlich. Sie waberte wie ein lebendiges Wesen.
»Und gibt es sonst Auffälligkeiten? Etwa bei den Hirnströmen? Oder der Zellkernstrahlung?«, fragte Merkosh interessiert.
»Tut mir leid, über solche Details darf ich keine Auskunft geben«, wehrte Sud ab, wunderte sich jedoch.
Merkosh schien medizinisches Hintergrundwissen zu besitzen. Seine Fragen waren genau die, die sie auch gestellt hätte. Und sie zielten in die richtige Richtung: Neben der normalen Zellkernstrahlung hatten sie zusätzliche Emissionen angemessen, die sich in die vorhandenen Frequenzen »einkopierten« und diese verfälschten.
Merkosh wirkte unzufrieden, denn er verengte auf eigentlich typisch menschliche Art die Augen. Das konnte bei dieser fremdartigen Lebensform natürlich auch etwas ganz anderes bedeuten.
»Ich muss gestehen, dass ich mit diesen Umgangsformen der Menschen etwas überfordert bin«, sagte Merkosh und stieß ein tiefes Brummen aus. »In meiner Kultur ist es üblich, sich über Forschungsergebnisse auszutauschen – nicht, sie geheim zu halten. Und nach dem, was ich auf dem Raumschiff des Protektors über diesen Patienten gehört habe, scheint es ein wirklich interessanter Fall zu sein. Gibt es in Ihrer medizinischen Forschungsgeschichte denn etwas Vergleichbares?«
»Meine Kollegen und ich stehen vor einem Rätsel«, wich Sud aus. Das war nicht gelogen. Sie hatten keine Ahnung, was es mit Hondros seltsamer Erkrankung auf sich hatte.
Aber die richtige Antwort auf Merkoshs Frage wäre: Ja, ich habe so etwas schon einmal gesehen, dachte Sud. Es war über dreißig Jahre her, doch Sud erinnerte sich an das Erlebte, als wäre es gerade erst passiert. Sie hatte damals im Kriiyrsystem genau das gleiche Phänomen in der Medosektion der MAGELLAN beobachtet. Eine seltsame, schwarze Substanz hatte ein paar Zellproben befallen und sich immer weiter ausgebreitet.
Sud schauderte, als sie daran dachte – vor allem, weil sie sich an die unglaubliche Gier erinnerte, die sie damals gespürt hatte, als sie sich der Substanz mit ihren Paragaben entgegengestellt und sie dadurch aufgehalten hatte. Dieser ungebändigte Drang, zu wachsen, alles zu überwuchern, er war geradezu übermächtig, entsann sie sich. Bislang hatte sie diese Gefühle bei Hondros Untersuchung nicht erneut gespürt, und sie war froh darüber.
»Wie gesagt, leider gibt es derzeit absolut nichts Neues zu erfahren, und Sie können wirklich nicht zu dem Patienten vorgelassen werden«, sprach Sud wieder zu Merkosh. »Wenn Sie unsere Fortschritte jedoch so sehr interessieren, werde ich mit dem Protektor reden, inwieweit wir Sie in die Untersuchungen mit einbeziehen können.«
»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, gab Merkosh zurück.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach Sud. »Bis dahin muss ich Sie aber bitten, zu gehen, damit unser Sicherheitspersonal seiner Aufgabe nachkommen kann.«
Merkosh sah von Sud zu dem Wachmann. Sein Blick blieb an der Brusttasche von Sam hängen, aus der das Ende des Schokoriegels herausragte. Sam legte schützend seine Hand auf die Leckerei.
»Ich verstehe«, sagte Merkosh. »Ich danke Ihnen.« Er drehte sich um und ging mit jenen leicht wiegenden Schritten davon, die viele hochgewachsenen Kreaturen gemeinsam hatten.
»Na, das ist ja mal ein seltsamer Geselle!«, kommentierte der Wachmann, nachdem Merkosh außer Hörweite war.
Er ist widerspenstig. Entzieht sich mir, weicht aus wie Wasser einer sich schließenden Faust. Wenn ich ihn erst habe, wird er sich nicht mehr widersetzen. Er wird mir die Informationen geben, die ich brauche, wird mir dienen und die Freiheit wiedergeben.
Wenn ich als Kind gewusst hätte, dass dieser Tag kommen würde: der Tag, an dem ich, Iratio Hondro, den berühmten Ras Tschubai mental in die Knie zwinge – einen der ältesten Begleiter und Freunde Perry Rhodans; dass ich, Iratio Hondro, solche Kräfte haben würde ...
Was hätte ich als Kind darum gegeben.
Sie berauschen mich, diese Kräfte, dieses schwarze Pulsieren, das mein Denken ausfüllt. Ich will sie erkunden, weiter gehen, immer weiter, über alle Grenzen hinaus. Da ist eine Gier in mir, die keine Wand, keine Schranke und keinen Graben akzeptiert. Sie breitet sich aus, verschlingt mein Sein, wächst über sich hinaus ... Weiter, immer weiter, zu den Sternen ...
3.
Mehr als ein Traum
Ras Tschubai
»Du musst fort«, flüsterte die Stimme. »Es gibt etwas zu tun.«
Ras Tschubai hob eine Hand. Wieder verschwammen seine Finger. Er träumte und war sich bewusst, dass er es tat. Gleichzeitig spürte Ras, dass hinter dem Zustand viel mehr steckte. Irgendwer versuchte, mit ihm auf telepathische Weise Kontakt aufzunehmen. Vielleicht ein anderer Mutant? Jemand, der seine Hilfe brauchte?
»Wer ist da?«, fragte Ras.
»Tu, was ich will!« Die Stimme klang nach seiner eigenen. Wie auch immer es funktionierte – der Fremde sprach nicht wirklich zu Ras, wie es bei Telepathie üblich war. Er manipulierte ihn auf andere Weise, doch dabei verfügte er offensichtlich über die Gabe, sich Ras mitzuteilen.
In Ras wuchs der Wunsch zu fliehen an – wie eine Welle, die sich Meter für Meter nach oben schob. Er wollte sein Krankenzimmer im MHC verlassen. Das Ziel war plötzlich da, lag klar und grell vor ihm, von Neonlicht angestrahlt: der große Raumhafen außerhalb des Kraters! Dahin sollte er, um etwas herauszufinden. Es war von immenser Wichtigkeit. Ein fremder Wille drängte ihn, schob ihn auf das Bild des Raumhafens zu. Wurde er manipuliert?
Es ist bloß ein Traum, beruhigte er sich. Ich kann gar nichts wirklich machen. Mein Körper wird in diesem Bett bleiben, ganz egal was ich tue.
Was sollte es schon schaden, dem fremden Drängen nachzugeben? Vielleicht kam die Stimme ja doch aus ihm selbst.
»Spring zum Raumhafen! Sofort!«
Ras meinte, der Raum sei plötzlich dunkler, als läge schwarzer Nebel darin. Das war merkwürdig, sogar für einen Traum. Er blinzelte. Vielleicht war es besser, wenn er sich wehrte. Wohin sollte es führen, wenn er fremden Impulsen nachgab?
Das Schwarz verdichtete sich, legte sich auf seinen Körper. »Tu es!«
Die Anweisung war wie eine Metallpresse, quetschte so stark, dass sie Ras' Widerstand zerdrückte. Gegen seinen Willen sprang er. Dabei spürte Ras deutlich, dass er seinen Körper nicht mitnahm. Dennoch konnte er den Raum erkennen, in den er teleportiert war. Irgendwie war es ihm möglich, diesen Widersinn zu vollbringen. Vielleicht weil der andere ebenfalls ein Mutant war und nun ihre Kräfte gemeinsam wirkten.
Ras Tschubai erinnerte sich an ein Gespräch mit Sud und Julian Tifflor vor seinem Winterschlaf. Ras hatte befürchtet, er würde womöglich im Traum aus dem Krankenbett springen – so wie andere schlafwandelten. Sud und Julian hatten ihn beruhigt und ihm versichert, dass sie aufgrund der Analyse seiner Paragabe nicht glaubten, dass etwas in dieser Art passieren könnte. An die Möglichkeit, dass lediglich sein Geist sprang, hatte niemand gedacht.
Verwirrt von neuen Empfindungen, blinzelte Ras. Er stand aufrecht inmitten eines zehn Meter hohen Gangs, dessen Wände und Decke transparent geschaltet waren. Weit über ihm erstreckte sich ein schwarzer Himmel, an dem er den Titan erkennen konnte, den größten Mond des Saturns. Auf Bodenniveau erhob sich in der Ferne der Mime. Der Zentralberg des Herschelkraters war derart unglaublich hoch, dass man meinte, ihn innerhalb kürzester Zeit erreichen zu können, doch er lag weit im Süden der Einschlagsenke. Der Krater hatte sich tief in das Innere von Mimas hineingebohrt. Einzig der Zentralberg ragte wie eine Insel aus seiner Mitte, bereit, mit der Spitze die Sterne aufzuschlitzen.
Menschen gingen an Ras vorbei, ohne auf ihn zu achten. Sie schienen ihn nicht zu sehen. Ganz in der Nähe listete eine holografische Anzeige die abfliegenden Raumfahrzeuge auf.
»Schau hin!«, befahl die Stimme.
Ras gehorchte, doch er war nicht recht bei der Sache. Die fremde Umgebung irritierte ihn, obwohl er wusste, wo er war: im großen Raumhafen außerhalb des Kraters. Es herrschte mäßiger Betrieb. Nur wenige Menschen flogen Mimas an. Insgesamt lebten auf dem ganzen Saturnmond kaum mehr Personen als in einer Stadt auf der Erde.
»Die Abflüge!«, drängte die Stimme.
Doch Ras fand etwas viel Interessanteres, was ihn ablenkte: einen Mann und eine Frau, die ein Stück entfernt standen und ihm vertraut vorkamen.
Er hatte das Gefühl, die Gewalt der Befehle ließe nach. Als hätte die Stimme mit dem mentalen Sprung zum Raumhafen eine Menge Energie verbraucht. Gleichzeitig war da die Befürchtung, dass derjenige, der hinter der Stimme steckte, sich rasch erholen würde – viel rascher, als es Ras lieb sein konnte.