Perry Rhodan Neo 81: Callibsos Schatten - Michelle Stern - E-Book + Hörbuch

Perry Rhodan Neo 81: Callibsos Schatten E-Book und Hörbuch

Michelle Stern

4,0

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Beschreibung

Eineinhalb Jahre sind vergangen, seit der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond auf ein havariertes Raumschiff der Arkoniden gestoßen ist. Im Dezember 2037 ist die Erde kaum wiederzuerkennen. Die Erkenntnis, dass die Menschheit nur eine von unzähligen intelligenten Spezies ist, hat ein neues Bewusstsein geschaffen. Die Spaltung in Nationen ist überwunden, ferne Welten sind in greifbare Nähe gerückt. Eine beispiellose Ära des Friedens und Wohlstands scheint bevorzustehen. Doch sie kommt zu einem jähen Ende - das muss Perry Rhodan feststellen, als er von einer beinahe einjährigen Odyssee zwischen den Sternen zurückkehrt. Das Große Imperium hat das irdische Sonnensystem annektiert, die Erde ist zu einem Protektorat Arkons geworden. Perry Rhodan geht in den Untergrund und macht sich auf die Suche nach den merkwürdigen Puppen, die ein mächtiges Wesen namens Callibso auf die Erde geschickt hat. Diese Geschöpfe, das muss Rhodan erkennen, sind der eigentliche Schlüssel für das Überleben der Menschheit - nicht die so mächtig erscheinenden Arkoniden ...

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Sprecher:Hanno Dinger
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Band 81

Callibsos Schatten

von Michelle Stern

Eineinhalb Jahre sind vergangen, seit der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond auf ein havariertes Raumschiff der Arkoniden gestoßen ist. Im Dezember 2037 ist die Erde kaum wiederzuerkennen.

Die Erkenntnis, dass die Menschheit nur eine von unzähligen intelligenten Spezies ist, hat ein neues Bewusstsein geschaffen. Die Spaltung in Nationen ist überwunden, ferne Welten sind in greifbare Nähe gerückt. Eine beispiellose Ära des Friedens und Wohlstands scheint bevorzustehen.

Doch sie kommt zu einem jähen Ende – das muss Perry Rhodan feststellen, als er von einer beinahe einjährigen Odyssee zwischen den Sternen zurückkehrt. Das Große Imperium hat das irdische Sonnensystem annektiert, die Erde ist zu einem Protektorat Arkons geworden.

Perry Rhodan geht in den Untergrund und macht sich auf die Suche nach den merkwürdigen Puppen, die ein mächtiges Wesen namens Callibso auf die Erde geschickt hat. Diese Geschöpfe, das muss Rhodan erkennen, sind der eigentliche Schlüssel für das Überleben der Menschheit – nicht die so mächtig erscheinenden Arkoniden ...

»Das ... das gibt es nicht! Es ist unmöglich! Perry, sag mir, dass ich träume! Sag mir, dass mit dem Luftgemisch in meinem Anzug etwas nicht stimmt! Oder wenigstens, dass ich den Verstand verloren habe! Irgendwas, Perry!«

Reginald Bull

1.

Im Labyrinth

Reginald Bull starrte auf den wuchtigen, in Mahagoniholz eingefassten Röhrenfernseher. Ein Emerson-Gerät, Baujahr 1958. Auf dem schwarz-weißen Bildschirm streckte eine attraktive Frau in knielangem Kleid mit aufgebauschtem Rock und Petticoat ihm mit strahlendem Werbelächeln eine Flasche entgegen, die einem mit Absinth gefüllten Flachmann glich. »UBIK« stand fett in aufdringlichen Großbuchstaben über die gesamte Breite des knallgelben Labels geschrieben.

Die grauen Lippen der Werbegöttin öffneten sich. »Sind Sie müde und ausgelaugt? Fühlen Sie sich, als wären Sie zum Mond geflogen und dort unverhofft auf einen Kugelraumer der Arkoniden gestoßen? War das einfach nicht Ihr Tag? Kein Problem! Nehmen Sie Ubik! Dreihundert Milliliter genügen, und Sie fühlen sich wie neugeboren! Ubik. Die Nummer eins von allem.«

Bull rieb sich mit den Fingerknöcheln die Stirn. In seinen Schläfen pochte es wie nach einer durchzechten Nacht. Während seiner Ausbildung bei der NASA hatte es solche Nächte gelegentlich gegeben, doch nie hatte er sich danach derart desorientiert gefühlt. Selbst dann nicht, wenn ihm der Name seiner Bettbekanntschaft entfallen war. »Was zum Teufel ...? Welches Fossil benutzt heutzutage noch einen Röhrenbildschirm?«

»Kein Grund, beleidigend zu werden, Junge!«, sagte eine aufgeräumte Frauenstimme.

Überrascht drehte Bull sich zu der Sprecherin um. Sie saß mit zwei klappernden Stricknadeln in der Hand in einem geblümten Sessel von undefinierbarer Grundfarbe. Vermutlich war der Stoff einmal beige gewesen, doch inzwischen war er zu einem schlammigen Braun abgestumpft, eine Farbe, die an unschöne Hinterlassenschaften von Hunden erinnerte. Über der Frau hing ein Bild, das eine kleine, von Eis und Schnee bedeckte Kirche zeigte, deren Kreuz wie ein Fanal in den winterlichen Himmel stach.

»In God We Trust«, prangte in altertümlichen Buchstaben mitten im Weiß: »Auf Gott vertrauen wir«.

An der gegenüberliegenden Wand standen zwei erdrückende Teakholzkleiderschränke, die mit der Raumdecke abschlossen und leicht nach vorn geneigt waren, als wollten sie sich auf die Bewohner stürzen. In der Raummitte ragte ein rechteckiger Tisch in die Höhe, auf dessen Platte in einer goldenen Schale zwei Mandarinen und drei Äpfel lagen. Ihr Geruch war unangenehm intensiv, als lägen sie dort schon zu lang.

So fremd und unwirklich Bull das Zimmer, das christliche Bild und die Stricknadeln anmuteten, so vertraut waren ihm die Züge der Frau, die grauen Augen und die Nase. Auch die Linie um den Mund tippte etwas in seinem Gedächtnis an, obwohl er sicher war, der Frau nie zuvor begegnet zu sein. Er kannte sie von einem Foto, das ihm Perry gezeigt hatte.

»Mrs. Rhodan? Aber ... Sie ...« Er verstummte und verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. »Sie sind tot«, hatte er sagen wollen, »tot und eine Puppe Callibsos.« Immerhin wusste er, dass Perry seine Mutter erst vor wenigen Tagen exhumiert hatte. Bull selbst hatte ihn zum Friedhof in Manchester, Connecticut, seinem Heimatort, gefahren.

Diese Frau hatten Thora und sein Freund dort ausgegraben wie Leichenfledderer. Sie hatten es tun müssen, weil Perry eine Antwort gebraucht hatte. Wie der alte Rhodanos ihm gesagt hatte, hatten sich die Puppen Callibsos sein ganzes Leben stets in Perrys Nähe aufgehalten. Und eine davon war Mrs. Rhodan gewesen. Irgendwann in Perrys früher Kindheit hatte ein Seelensplitter Callibsos den eigenen Körper aufgegeben, sich den von Mrs. Rhodan angeeignet und die Persönlichkeit der Frau vollständig vernichtet.

»Ach bitte, Reg, nenn mich Mary. Du gehörst doch quasi zur Familie.«

»Was ist das hier? Ein Traum? Ein Drogenrausch? Hat mir jemand was in den Drink gemixt?«

Mary antwortete nicht. Sie konzentrierte sich ganz auf die Stricknadeln und den bunten Winterschal, der mit jeder Bewegung ein Stückchen mehr an Form gewann.

In Bull arbeitete es.

Ubik. Er kannte den Begriff und die Werbespots. Nicht diesen, aber andere. Sie gehörten zu einem der Bücher, die er verbotenerweise gelesen hatte. Seine Schwester Madison war damals eine zuverlässige Lieferantin für die Art von Literatur gewesen, die seine Eltern ihm untersagt hatten, weil er zu jung gewesen war.

»Ubik«. Es war der Titel eines Romans von Philip K. Dick, einem der Altmeister der Science Fiction, der seiner Zeit weit voraus gewesen war.

In »Ubik« ging es um eine Gruppe von Antimutanten, die glaubten, einen Anschlag überstanden zu haben. In Wirklichkeit aber lagen sie alle im Halbleben, einem Zustand, in dem man über Geräte in der Lage war, nach dem Tod Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen.

Einige Tage blieben einem, die man dadurch in die Länge ziehen konnte, dass man sich nur gelegentlich aktivieren ließ, um als Gesprächspartner zu dienen. Auf diese Weise war es möglich, den skurrilen Zustand des Halblebens über mehrere Jahre aufrechtzuerhalten.

Die Verstorbenen – jedoch nicht ganz Toten – lagen gefangen in ihrem Restuniversum, in dem keine physikalischen Gesetze mehr galten. Träumende, die immer tiefer in die Vergangenheit gerieten, je näher sie dem endgültigen Tod kamen.

War er im Halbleben? Lag er im Koma in einer Art Kryotank oder einer Kälteschlafliege der Arkoniden, und Perry und Thora versuchten ihn zu erreichen, um ihm letzte, vielleicht alles entscheidende Informationen zu entlocken?

Die Vorstellung war so abstrakt, dass sie im ersten Moment nicht einmal Angst in Bull auslöste. Es war unmöglich.

Oder?

Irgendetwas war geschehen ... Etwas, das alles verändert hatte. Es war in Los Angeles passiert.

Der Druck in seinem Schädel verstärkte sich. Er trat einen Schritt auf Mrs. Rhodan zu.

»Mary, was ist mit mir los? Du weißt es, oder?«

»Warum siehst du nicht in den Fernseher, Junge? Du wolltest ihn unbedingt haben.«

Bull konnte sich nicht entsinnen, einen Fernseher haben zu wollen. Ebenso wenig verstand er, warum die Frau, die kaum älter als vierzig sein konnte, ihn Junge nannte. Er wusste überhaupt zu wenig.

Dunkel erinnerte sich Bull an das Enteron und an einen Kampf gegen ... Wie hieß der Kerl noch?

Er schloss die Augen, öffnete sie wieder. Langsam wandte er den Kopf zu dem wuchtigen Gerät. Fand er dort Antworten?

Bull setzte sich auf den ausgeblichenen Teppich vor dem Apparat und drehte den Ton hoch, der kratzig aus dem Lautsprecher klang. Verblüfft erkannte er den Song. Es war ein modernes Liebeslied, »Winter Star«, aufgenommen 2036. Wie passte das zusammen?

Ein schwarzer Wagen fuhr über eine kaum befahrene Landstraße. Er kam von der Interstate 91, das Tal des Connecticut River hinauf, das die Städte verband, die den Fluss säumten. Bull wusste, dass es ein Mietwagen war. Ein Ford Stardust, Baujahr 2034. Erinnerungsfetzen sammelten sich in seinem Verstand wie verstümmelte Schmetterlinge in einem Netz.

Sie hatten sich einen Mietwagen genommen, um zur Farm von Karl Rhodan zu fahren, Perrys verstorbenem Onkel. Er, Perry, Thora und der im Stealthfeld getarnte Tai'Targ.

Das Bild wechselte und zeigte das Wageninnere. Bull schaute Perry und Thora auf die Hinterköpfe. Beide hatten ihre arkonidischen Kampfanzüge abgelegt und trugen gewöhnliche Winterkleidung. Die Helligkeit von Thoras blond gefärbten Haaren war so grell, dass es blendete. Sie umgab die Arkonidin wie einen Heiligenschein. Hinter Thora, auf der mit Kunstleder bespannten Sitzlehne, lag eine Hand.

Es war seine Hand. Die Narbe, die unter dem kleinen Finger noch nicht ganz verheilt war, verriet es ebenso wie der Anblick der vertrauten Form. Was Bull im Fernseher erkannte, war die Sicht eines Kameramanns. Und er war dieser Kameramann.

In Bulls Kopf pulsierte es. Irgendwo bohrte sich eine Nadel durch mehrere Gehirnareale.

Nein, er war nicht tot. Er lebte. Aber etwas war passiert, das ihm erklären konnte, warum er in diesem skurrilen Raum saß, der aussah, als hätte seine Urgroßmutter darin gewohnt, und auf einen vorsintflutlichen Bildschirm starrte, der genau das zeigte, was er eigentlich mit seinen Augen hätte sehen sollen!

Da war der Kampf gewesen. Das Enteron. Vince Tortino – Tin Can! Dieser Verrückte war auf ihn übergesprungen! Die Puppe hatte auf den hochgestellten Arkoniden Moset da Derem überspringen wollen, den sie entführt hatte. Aber als er sie zusammen mit Rhodan und Thora überrascht hatte, war es zum Kampf gekommen und Tin Can hatte einen neuen Körper an sich gerissen: Bulls Körper. Er war zu Gast im eigenen Leib.

Die Finger der Hand bewegten sich, obwohl Bull still hielt. Hinter ihm klapperten die Stricknadeln.

»Nein!«

Tin Can. Dieser elende Dreckskerl! Es waren seine, Bulls Finger, doch Tin Can steuerte sie. Er war derjenige, der Bull zu einer Puppe gemacht hatte. Und er war ganz dicht an Perry, konnte ihm von hinten in die Arme greifen, ihm das Lenkrad verreißen, dafür sorgen, dass sein bester Freund von der Straße abkam und einen tödlichen Unfall erlitt.

»Perry, Mensch, das bin nicht ich! Halt an! Schmeiß den Kerl raus!«

Perry fuhr unbeirrt weiter. Bull stöhnte auf. Er war machtlos. Seine Freunde waren Tin Can ausgeliefert, und er konnte nichts dagegen unternehmen. Wütend schlug er mit der flachen Hand auf den Emerson.

Thoras Stimme drang in den Raum. »Erklär mir noch mal, warum wir aufgehört haben, dieser Ärztin mit den gefälschten Totenscheinen nachzujagen, und stattdessen zur Farm deines Onkels fahren.« Thora betonte das Wort »Farm« ähnlich wie andere das Wort »Unrat«. Die Arkonidin schien nicht verstehen zu können, warum Lebewesen freiwillig in unstrukturierter Natur lebten statt in einem Khasurn, umgeben von gepflegter Parklandschaft mit glucksenden Wasserspielen.

Perry reagierte prompt auf ihre Betonung. »Es ist keine Farm im eigentlichen Sinn. Es ... ach, du wirst es sehen. Was Annabel Bentey, die Ärztin, betrifft – unsere Spuren verlaufen im Sand. Womöglich lebt Jenny Whitman, aber wir wissen nicht, wo. Bentey weiß nicht mehr, als sie uns schon gesagt hat. Die Farm dagegen bietet eine echte Chance. Besonders mit Tai'Targ an unserer Seite.«

»Inwiefern?«

»Was, wenn Karl mehr war als mein Onkel? Mehr als ein gewöhnlicher Mensch?«

»Wie kommst du darauf?«

»Es gibt Indizien. Als ich ein Kind war, hat mich Tin Can provoziert. Er wollte, dass ich mit dem Mountainbike über eine Felskante springe. Der Sprung war riskant. Er hätte mich töten oder schwer verletzen können. Womöglich wäre ich mein Leben lang behindert gewesen und hätte nie Astronaut werden können. Doch ehe ich eine Dummheit begehen konnte, tauchte Karl auf. Und das, obwohl er über siebzig Kilometer entfernt auf der Farm hätte sein müssen und nicht hat wissen können, was geschah.«

Mit einer unwirschen Bewegung drehte Thora die Musik leiser. Dabei fasste sie den Drehknopf mit spitzen Fingern an, wie jemand, der sich vor Bakterien fürchtete. »Ein Zufall?«

»Nein. Ich sage dir auch, wieso: der Testflug des Interplanetary Shuttle 2032. Ich wurde dafür als zweiter Pilot ausgewählt, an der Seite von Helen Sedgwick, der vielleicht erfahrensten Astronautin der NASA. Sedgwick muss eine Puppe gewesen sein. Sie versuchte, das Shuttle zum Absturz zu bringen. Ich wollte sie aufhalten, aber ich hätte keine Chance gehabt, wenn mein Onkel Karl nicht aus dem Nichts erschienen wäre, im Shuttle. Eigentlich unmöglich.« Perry hob seine Hand zur Brust. »Aber nach der Notlandung habe ich die Leiche von Helen Sedgwick gefunden, In der Hand hielt sie Karls Halskette. Kurz darauf, auf der abgebrannten Farm, habe ich den dazugehörigen Anhänger entdeckt. Wer oder was immer Karl Rhodan gewesen sein mag – er arbeitete gegen die Puppen. Und als Karl mich im Shuttle rettete, rächten sich Callibsos Kreaturen. Sie brannten seine Farm nieder und brachten ihn um.«

»Das klingt sehr ...«

»Plausibel«, unterbrach Tin Can Thora ungerührt.

Bull schluckte. Es war erschreckend, die eigene Stimme zu hören, ohne zu sprechen. Noch erschreckender war es, die gleichgültige Kälte darin wahrzunehmen, obwohl Perry über ein Thema sprach, das ihm nach wie vor zusetzte. Der Tod seines Onkels hatte den Freund damals hart getroffen. Eine Linke Gottes, wie Bull es sarkastisch genannt hatte. Sie hatten in den Tagen danach mehrere Schnapsflaschen geleert.

Tin Can berührte Bulls Gesicht, und obwohl Bull ihn nicht sehen konnte, war er überzeugt, dass der Dreckskerl lächelte.

Er hat es getan. Tin Can und die anderen Puppen haben Karl Rhodan ermordet. Als Nächstes nimmt er sich Perry vor. Besser spät als nie ...

Etwas irritierte Bull und lenkte ihn von seiner Angst um Perry ab: die Stille. Das Klappern der Stricknadeln fehlte. Er drehte sich um. »Mrs. Rhodan?«

Sie war fort. Verschwunden, als wäre sie teleportiert.

Ohne sie wirkte das Zimmer erdrückend und leer zugleich. Die schweren Möbel schienen näher zu rücken, den letzten Freiraum zu verschlingen. Der Sessel war verlassen wie eine Lichtung in einem abgestorbenen Wald.

Bull stand auf. Hinter ihm sprachen Perry und Thora weiter miteinander. Ihre Stimmen wurden zu einem Klanggewebe, das mehr und mehr zerfranste.

»Mary?«

Ein rosafarbener Wollfaden lag am Fußende des Sessels. Er führte über den zerschlissenen Teppich, hin zu einem der beiden wuchtigen Kleiderschränke.

Eine Ahnung stieg in Bull auf. »Nein ...«

Da war dieser Geruch, der sich in den von überreifem Obst hineinmischte. Kein Moder, keine Fäulnis, aber alt und trocken. Wie ein Stück Rind, das man nach Jahren aus einem Gefrierfach holte. Eigentlich sollte man nur den Hauch der Einschweißfolie wahrnehmen, doch da war mehr.

Seine Hand umschloss den Knauf. Sollte er den Schrank öffnen? Er konnte ihn auch geschlossen lassen und ... Nein. Unmöglich. Er musste herausfinden, was vor sich ging. Wenn das sein persönliches Restuniversum war, der Ort, an den Tin Can ihn in seinem eigenen Unterbewusstsein verbannt hatte, brauchte er so viele Informationen wie möglich.

Mit einem Ruck öffnete er die Tür. Spärliches Deckenlicht flutete in den Schrank, auf die ausgemergelte Leiche. Sie hockte im Schneidersitz da, das Strickzeug noch in der Hand, den Schal vor den Füßen. Während er auf den Fernseher geachtet hatte, musste Mrs. Rhodan aufgestanden und hierhergekommen sein, um still und leise zu sterben.

Der trockene Fleischgeruch würgte Bull. Das Ding vor ihm wog höchstens ein Drittel von dem, was Mrs. Rhodan gewogen haben mochte. Eine Mumie.

Auf der Stirn von Mrs. Rhodan erschien mit roter Farbe eine Inschrift, wie von einem unsichtbaren Kind, das mit Wachsstiften krakelte. Die einzelnen Buchstaben waren klein, standen in einer Reihe schief gegeneinander. Bull musste sich vorbeugen, um sie entziffern zu können: »Kämpf oder stirb!«

Die flaue Übelkeit drohte in Panik umzuschlagen. Bulls Verstand weigerte sich zu glauben, was da geschah und was es bedeutete.

Doch er war nicht umsonst zum Mond geflogen, hatte nicht vergeblich die Spur seines Freundes Perry aufgenommen, um ihm über die Milchstraße hinaus ins Arkonsystem zu folgen. Er schloss die Finger zu Fäusten, atmete drei Mal tief durch und zwang sich, die nötigen Schlüsse zu ziehen.

Was Bull gerade erlebte, war eine Warnung seines Unterbewusstseins.

»Ich starre Mum an. Sie ist so kalt. Wie etwas, das aus dem All kommt. Ein Alien, das vorgibt, meine Mutter zu sein. Ihre Liebe ist mechanisch, programmiert. Und immer sieht sie zu Perry. Als ob sie nur ein Kind hätte und ich ein Unfall wäre.«

Deborah Rhodan, Tagebuch

2.

Die Reste von gestern

South Hadley, Connecticut, 10. Dezember 2037

Deborah. Er musste an Deborah denken. Es verwunderte ihn, denn der Ort, den Perry Rhodan zusammen mit Reg, Thora und Tai'Targ aufgesucht hatte, war einer der vielen, die er nicht mit seiner Schwester geteilt hatte.

Zumindest damals, als er noch ein Ort der Zuflucht gewesen war und keine von Staub und Schmutz bedeckte Ruine, in der leere Bierflaschen, weggeworfene Kondome und die zerfetzten Reste von Absperrbändern davon zeugten, dass sich hier manchmal Jugendliche herumtrieben, um Party zu machen. Dicht neben der Stelle, an der man den Leichnam seines Onkels in der niedergebrannten Scheune gefunden hatte, ragten die verkohlten Holzstümpfe eines Lagerfeuers auf, umkreist von Steinen und Plastikmüll.

Der Anblick erregte Abscheu in Rhodan. Die Farm, wie er sie wegen der Kühe genannt hatte, war ihm einst heilig gewesen wie eine Kirche. Ein Platz, an dem er willkommen gewesen war und sich hatte entfalten dürfen. Nun war das Gelände verstümmelt und entweiht. Sogar das Wetter war entartet, denn um diese Jahreszeit sollte der Boden von Schnee und Eis bedeckt sein, die eine gnädige Decke über die Verwüstung legten. Stattdessen war es so warm, dass Rhodan in seiner Winterjacke schwitzte.

Wind pfiff durch die Schatten- und Birnbäume am Rand des Geländes und strich über die Überreste der Grundmauern von Scheune und Stall. Ein paar ausgebrannte Wracks waren übrig geblieben, Skelette von Wagen, verrostet und geschwärzt. Dort war der Schrottplatz gewesen, da das Mobile Home, auf der anderen Seite der Standplatz für den sperrigen, hölzernen Trog, aus dem die Kühe getrunken hatten. Perry konnte das alles ganz deutlich vor sich sehen; eingebrannt in sein Gedächtnis wie das Lächeln seines Onkels unter dem Cowboyhut und das trotzige Gesicht von Deb.

Deborah hatte es vorgezogen, zu Hause zu bleiben, wenn er Onkel Karl besucht hatte, den einzigen Menschen, der ihn damals so hatte sein lassen, wie er war. Auch die Ausflüge und Camping-Wochenenden mit Karl hatte Deb gemieden.

Womöglich war genau das der Grund, warum ihr hageres, bleiches Gesicht mit den dunkelblonden Haaren ihm deutlich vor Augen stand. Rhodan hatte sie stets gehabt, seine Rückzugsorte, seine Geheimnisse. Deborah dagegen war wie ein immer präsentes, offenes Buch gewesen, in dem keiner die Verzweiflung hatte lesen wollen, obwohl sie jede Seite füllte.

Ob Tin Can Deborah die ersten Drogen gegeben hatte? Eigentlich hatte sein Onkel Tin Can vertrieben und ihm den Umgang mit Rhodan verboten, aber Rhodan hatte lange Zeit vermutet, dass Deb sich heimlich weiter mit Tin Can traf.

Rhodan erinnerte sich an den süßlichen Geruch, den er als Junge an der Kleidung seiner Schwester wahrgenommen hatte. Damals hatte er nicht gewusst, dass er von Marihuana kam. Zuerst war Deborah ruhiger geworden. Dann war sie ihm mehr und mehr entglitten, bis zu ihrem Tod durch Meth. Als hätte der Drogenkonsum ihre Seele Stück für Stück mitgenommen, nachdem sie erst auf härtere Sachen umgestiegen war.

Ein Schatten fiel neben ihn.

»Was ist los? Du machst ein Gesicht, als wärst du verdonnert, hier aufzuräumen. Ist es wegen Karl?«

Rhodan rang sich ein Grinsen ab. Es war typisch für Reg, dass er versuchte, ihn mit einem seiner oft derben Scherze aufzuheitern. »Auch, aber nicht nur. Ich dachte an Tin Can und Deborah. Ob er ihr bewusst schaden wollte, um mich zu treffen.«

Ob er sie in den Drogenmord getrieben hatte. Das sagte Rhodan nicht. Es war Unsinn. Tin Can musste Besseres zu tun gehabt haben, als sich über Deborah an ihm zu rächen. Zumal Rhodan damals den Zusammenhang zwischen Tin Can und Callibso nicht gekannt hatte; das kosmische Spiel, in dessen Mittelpunkt er immer wieder rückte. Ihm war es zuzuschreiben, dass Rhodan mitten in Connecticut stand, an einem Ort, den er lieber in seinem Herzen verwahrt hätte, statt ihn erneut geschändet zu sehen. Er musste herausfinden, was es mit dem Ringen auf sich hatte und was mit Callibso und seinen Puppen. Nur wenn er die Teile dieses Puzzles zusammensetzte, würde er erkennen können, wie die Menschheit und er selbst in das Bild passten.

Callibso war ein Einzelspieler im Ringen. Einer, der seine Puppen auf die Erde geschickt hatte, um Rhodan zu beeinflussen, und der wie ein Marionettenspieler hinter dem Rampenlicht das Holzkreuz mit den unsichtbaren Fäden bewegte. Rhodan steckte mittendrin, ob er wollte oder nicht. Er hing an den Strippen, und das konnte und wollte er nicht hinnehmen. Erst wenn er Callibsos Tun durchschaute, würde er die Verbindungen zerschneiden können.

Seit Rhodan auf der Elysischen Welt gewesen war, waren die Fragen noch größer und drängender geworden. Was wollte ES? Warum hatte ES – falls es ES gewesen war – auf der Elysischen Welt eine Art Schablone von ihm angefertigt, mit der es möglich war, ihn zu duplizieren?

Rhodanos hatte ihn aufgefordert, zur Elysischen Welt zurückzukehren, um zu verhindern, dass man – wer?, fragte sich Rhodan unwillkürlich – die Schablone benutzte, um Duplikate herzustellen. Perfekte Kopien Rhodans, auf die eine qualvolle Existenz wartete – so Rhodanos.

Rhodan, der eben erst von der Elysischen Welt zurückgekehrt war, verspürte nur eine geringe Neigung, an diesen Ort zurückzukehren. Aber das Flehen seines gequälten und inzwischen verstorbenen Bruders hatte ihn tief berührt.

Was trieb Callibso an, ihn aufhalten zu wollen? Callibso hatte vermutlich jede Menge Informationen über das Ringen und die kosmischen Hintergründe. Wenn Rhodan ihn oder seine Handlanger fand, erhielt er Antworten. Nicht zuletzt auf die Frage, warum sein Onkel hatte sterben müssen, denn inzwischen glaubte Rhodan nicht mehr an einen Unfall.

Reg stellte sich an seine Seite und starrte auf die niedergebrannte Ruine. Seine Nähe tat gut.

»Vergiss Tin Can! Der Irre ist tot. Vom Winde verweht. Das Enteron hat ihm den Rest gegeben.«

»Ja.«

Das Enteron. Noch ein Thema, das mehr Fragen heraufbeschwor, als es Antworten gab.

Rhodan berührte die Jacke auf der Höhe seiner Nierengegend. Das Enteron floss wie ein bewegliches Pflaster über seinen Körper. Mal befand es sich zwischen den Schulterblättern, dann weiter unten, über dem Steißbein. Aber was genau war es? Ein nützliches Werkzeug, das er noch nicht richtig steuern konnte? Ein Symbiont mit eigenem Willen, dem es Spaß machte, zu töten?

In Los Angeles hatte Rhodan Tin Can überwältigen wollen und das Enteron auf ihn gehetzt – und das hatte die Puppe umgebracht. Mit Tin Can waren zahlreiche Antworten gestorben. Rhodan hatte sich deswegen entschieden, das Enteron vorerst in der Hinterhand zu halten. Er wusste zu wenig über diese Waffe und wollte kein weiteres Desaster wie das mit Tin Can heraufbeschwören.

Dankbar sah Rhodan zu Thora hinüber, die mit erhobenem Haupt bei dem getarnten Tai'Targ stand, als wollte sie den unsichtbaren Roboter beaufsichtigen. Von dem Zeitpunkt an, als sie die Farm erreicht hatten und die Erinnerungen über ihn hereingebrochen waren, hielt Thora Abstand und ließ Rhodan Freiraum. Oder wollte sie sich von Reg fernhalten? Die beiden gerieten immer wieder aneinander, seitdem Thora und er zusammengekommen waren. Reg führte sich auf wie eine bärbeißige Übermutter, und Thora reagierte nach wie vor empfindlich, wenn man ihren arkonidischen Stolz angriff.

Regs Hand umschloss seine Schulter. Der Griff war eine Spur zu fest. Perry zuckte kaum merklich zusammen. Als Kind war er ein guter Beobachter gewesen. Deb hatte ihn manchmal scherzhaft Sherly Holmes genannt, um ihn zu ärgern. Unwillkürlich fragte sich Rhodan, was der Junge von damals bei diesem Griff eines Freundes empfunden hätte.

Mit Reg stimmte etwas nicht. Ob er aufgrund von Rhodans Worten an seine eigene Schwester dachte? An Madison? Auch sie war durch Drogen umgekommen, genau wie Deborah. Es gab keinen anderen Punkt in ihrer gemeinsamen Vergangenheit, der ihn und Reg mehr zusammenschweißte als der Verlust ihrer Schwestern. Auch wenn sie nichts hatten tun können und für die Entscheidungen der beiden unverantwortlich waren, blieben der schale Geschmack des Versagens und das Gefühl, etwas unendlich Wertvolles für immer verloren zu haben.

Reg lockerte den Griff. »Lass uns rübergehen. Vielleicht hat Tai'Targ erste Ergebnisse.«

»Einverstanden.« Rhodan zwang sich zu einem Lächeln. »Es ist gut, dass du da bist. Gemeinsam finden wir heraus, was es mit Callibso und dem Ringen auf sich hat.«

Das Lächeln, das Reg ihm schenkte, war angespannt. »Ganz sicher.«

Thora kam ihnen entgegen. Sie hielt den Arm hoch und zog ein Armbandgerät unter der Jacke hervor. Sie schaute sich um, ehe sie es durch ein Fingertippen aktivierte. »Tai'Targ hat erste Rekonstruktionen vorgenommen und mir überspielt. Es handelt sich um potenzielle Bewegungen auf diesem Territorium, die etwa ein Jahr zurückreichen und die er anhand von Spuren und Bodenverletzungen ermittelt hat.«

Über Thoras Arm schwebte ein Holo in der Luft, das einen weiten Ausschnitt des Geländes zeigte. Im Zeitraffer bewegten sich schemenhafte Figuren rückwärts. Meistens waren es Tiere: streunende Katzen, Waschbären und mehrere Vögel. Aber auch Kinder waren zu sehen, die sich am Rand des Geländes die Taschen mit Birnen vollstopften. Dann ein paar Jugendliche, die Flaschen leerten und wegwarfen. Erstaunt las Rhodan den Kommentar zu einem schematisch dargestellten Joint, den einer der Besucher fallen ließ: »Vermutlich eine illegale Substanz, die Rauschzustände hervorruft.«

Thora beschleunigte den Bildablauf. »Bisher sind keine Hinweise darauf zu finden, dass sich jemand Verdächtiges hier aufgehalten hat. Lediglich ein paar Jugendliche. Wobei ich sagen muss, dass ihr eure Nachkommen wenig unter Kontrolle habt. Und Stil haben sie auch keinen. Wenn sie ihre Triebe schon nicht beherrschen können, warum suchen sie sich dann keinen ästhetischeren Ort?«

Bull hob eine Braue. »Immerhin verheizen wir sie nicht im Spiel der Kelche.«

Fasziniert starrte Rhodan auf die Schemen, deren Konturen beängstigend genau waren. Bis auf die Gesichter unterschieden sie sich. Tai'Targ hatte exakt rekonstruiert, wie schwer oder leicht die einzelnen Personen gewesen waren, ob sie lange oder kurze Haare hatten. Anhand winziger Spuren wie Hautschuppen schien er außerdem genau ersehen zu können, wer männlich und wer weiblich war.

Unwillkürlich warf Rhodan einen Blick in die Richtung, in der er Tai'Targ vermutete, als müsse er sich davon überzeugen, dass der Roboter wirklich unsichtbar war. Obwohl er selbst den Jägerroboter erneut angefordert hatte. Sie hatten es Tai'Targ zu verdanken, dass er und Reg es überhaupt auf die Erde geschafft hatten und in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft unbemerkt auf ihr hatten operieren können. Anschließend hatte der Roboter bei Operation Greyout mitgeholfen. In der ersten Phase ihre Suche nach Callibsos Puppen hatte Rhodan auf seine Hilfe verzichtet. Tai'Targ war ihr Joker. Aber zog man einen Joker zu oft, verlor er seine Wirkung. Bislang waren die Arkoniden noch nicht auf den Roboter aufmerksam geworden. Doch das konnte sich jederzeit ändern – und dann konnte ihr Joker sich zu ihrer Schwäche verwandeln, ihre Verfolger direkt zu ihnen führen.

Rhodans Bedenken waren nicht von der Hand zu weisen. Doch noch schwerer wog, dass sie auf den Roboter angewiesen waren. Tai'Targ gelang es vielleicht, Licht in das Dunkel um den Tod Karls zu bringen.

»Tai'Targ?« Rhodan hatte eine Idee.

Der Roboter desaktivierte das Feld um seinen wuchtigen Leib und wurde sichtbar. Rhodan musste den Kopf leicht anheben, um ihm ins Gesicht zu schauen. Tai'Targ stand auf zwei Tonnenbeinen, die er abtrennen und als autonome Einheiten operieren lassen konnte. Auch die vier Arme mit den Schaufelhänden konnte er von sich lösen und ihnen eigene Aufträge erteilen. Im Moment waren zwei davon unterwegs, um weitere Spuren zu sichern. Als Jäger gab es keine andere Aufgabe, bei der Tai'Targ derart in seinem Element war, wenn man vom Zerteilen und Verschlingen feindlicher Einheiten absah.