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Eine Insel außerhalb der Zeit Die Pfaueninsel in der Havel ist ein künstliches Paradies. In seinem opulenten, kundigen und anrührenden Roman erzählt Thomas Hettche von dessen Blüte, Reife und Verfall aus der Perspektive des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie, in deren Lebenslauf sich die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts verdichtet.Es mutet an wie ein modernes Märchen, denn es beginnt mit einer Königin, die einen Zwerg trifft und sich fürchterlich erschrickt. Kaum acht Wochen nach dieser Begegnung auf der Pfaueninsel, am 19. Juli 1810, ist die junge Königin Luise tot – und der kleinwüchsige Christian und seine Schwester Marie leben fortan weiter mit dem entsetzten Ausruf der Königin: »Monster!« Damit ist die Dimension dieser Geschichte eröffnet. Am Beispiel von Marie, die zwischen den Befreiungskriegen und der Restauration,zwischen Palmenhaus und Menagerie, Gartenkunst und philosophischen Gesprächen aufwächst und der königlichen Familie bei deren Besuchen zur Hand geht, erzählt Thomas Hettche von der Zurichtung der Natur, der Würde des Menschen, dem Wesen der Zeit und der Empfindsamkeit der Seele und des Leibes.Dabei geht es um die Gestaltung dieses preußischen Arkadiens durch den Gartenkünstler Lenné und um all das, was es bevölkerte: Palmen, Kängurus und Löwen, Hofgärtner, Prinzen, Südseeinsulaner, Riesen, Zwerge und Mohren – und es geht um die Liebe in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen.Thomas Hettche ist das Kunststück gelungen, mit dem historisch verbürgten Personal seiner Geschichte von uns Heutigen zu erzählen. Atmosphärisch, detailgetreu und voller Lust an der phantasievollen Ausschmückung.
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Thomas Hettche
Roman
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Thomas Hettche, 1964 am Rand des Vogelsbergs geboren, lebt in Berlin und in Leuk in der Schweiz. Sein Romandebüt »Ludwig muß sterben« wurde 1989 als Geniestreich gefeiert. 1995 erschien »Nox«, ein Roman über die Nacht des Mauerfalls in Berlin, 2001 »Der Fall Arbogast«, ein Bestseller, der in zwölf Sprachen übersetzt worden ist. Der USA-Roman »Woraus wir gemacht sind« stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2010 veröffentlichte Hettche den hochgelobten Roman »Die Liebe der Väter«, 2012 den autobiographischen Essayband »Totenberg«. Der Autor erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Düsseldorfer Literaturpreis 2013.
www.hettche.de
www.pfaueninsel-roman.de
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Die Pfaueninsel in der Havel bei Potsdam war ein künstliches Paradies. Von dessen Blüte, Reife und Verfall erzählt Thomas Hettche aus der Perspektive des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie, in deren Leben sich die Geschichte des 19. Jahrhunderts verdichtet. Es geht um die Gestaltung dieses preußischen Arkadiens durch den Gartenkünstler Lenné und um all das, was es bevölkerte: Palmen, Känguruhs und Löwen, Hofgärtner, Prinzen, Südseeinsulaner, Riesen, Zwerge und Mohren. Thomas Hettche Thomas Hettche gelingt es dabei, mit dem historisch verbürgten Personal seiner Geschichte die Fragen der Vergangenheit an unsere Gegenwart zu stellen: Nach der Zurichtung der Natur, der Würde des Menschen, und danach, was wir als schön und was als häßlich finden, nach dem Wesen der Zeit und der Empfindsamkeit der Seele und des Leibes. Atmosphärisch, detailgetreu und voller Lust an der phantasievollen Ausschmückung erzählt dieser Roman aber vor allem von einer großen Liebe.
Karte
Widmung
Motto
Erstes Kapitel - Das Wort der toten Königin
Zweites Kapitel - Ein rotes Glas
Drittes Kapitel - Die Schönheit der Pfauen
Viertes Kapitel - Lenné
Fünftes Kapitel - Die Menagerie
Sechstes Kapitel - Pelze und Stacheln
Siebtes Kapitel - Halkyonische Tage
Achtes Kapitel - Maries Kind
Neuntes Kapitel - Zeit vergeht
Zehntes Kapitel - Feuerland
Elftes Kapitel - Wollen wir jetzt rauchen?
Dank
Für Lenore
Das Zukünftige nimmt ab, das Vergangene wächst an, bis die Zukunft verbraucht und das Ganze vergangen ist.
AUGUSTINUS
Die junge Königin stand einen Moment lang einfach da und wartete, daß ihre Augen sich an das Halbdunkel des Waldes gewöhnten. Gerade eben noch hatte sie auf der sonnigen Wiese Ball gespielt, jenes englische Spiel mit den hölzernen Hämmerchen, das dem König so sehr gefiel. Auch die Tapeten für ihr Schloß in Paretz stammten von einem Engländer, er hatte seine Manufaktur im Scheunenviertel, und das Billard in Paretz war direkt aus London geliefert worden. Und sie glaubte auch zu wissen, weshalb der König alles adorierte, was von der englischen Insel kam: weil er sich nicht eingestehen konnte, wie sehr er diese Insel hier liebte. Diese Insel, die auf Karten einem Fisch gleicht, einem flossenschlagenden, sich wild aufbäumenden Wal, aus welchen Gründen auch immer an gerade dieser Stelle der hier besonders träge mäandernden, sich weitenden und wieder verengenden Havel gestrandet, an der man wohl vergißt, daß jeder Fluß eine Quelle hat und eine Mündung. Als ob die Zeit selbst hier ihre Richtung verlöre, umstrudelt sie die Insel, es vermischen Vergangenheit und Zukunft sich hier auf besondere Weise, denn zwar verbindet die Havel die Auen des Spreewalds mit denen der Elbe, gerade hier aber scheint ihr Wasser stillzustehen in einer Kette dunkler Seen und sich unter den schattig verhangenen Blätterdächern von Traubeneichen, Flatterulmen und Rotbuchen zu verlieren, in Auenwäldern, feuchten Erlenbrüchen, unter Grauweiden.
Im Frühjahr blühen hier Scharbockskraut und Sumpfdotterblume, später im Jahr Sumpfcalla, Wasserschwertlilie und Blutweiderich. An den flachen Ufern breite, undurchdringliche Röhrichtgürtel, in denen unzählige Vögel brüten. Eiszeitliche Bildungen all das, Endmoränen, Urstromtal. Nichts auf der Pfaueninsel steht sicher in seiner Zeit. Jede Geschichte beginnt lange, bevor sie anfängt. Die Königin atmete tief durch. Wo war der Ball?
Die kleine Hofgesellschaft, die heute zum ersten Mal nach dem Exil wieder hergekommen war, umfaßte außer den Kindern mit ihren Gouvernanten nur zwei Hofdamen, die Gräfinnen Tauentzien und Truchseß-Waldenburg, den Prinzenerzieher Ancillon und Wrangel, den Flügeladjutanten seiner Majestät. Von Hardenberg, dem es noch immer verboten war, sich bei Hofe aufzuhalten, wurde morgen zu einem geheimen Treffen erwartet, um Napoleons Forderung nach einer Abtretung Schlesiens zu besprechen, die er jüngst erhoben hatte, weil Preußen die Reparationszahlungen von fast einhundert Millionen Francs nicht aufbringen konnte. Heute aber genoß man den Frühling, flanierte, unterhielt sich und war wegen der für einen Maitag ungewöhnlichen Hitze damit beschäftigt, die Silberbecher mit geeister Citronenlimonade nachzufüllen. Niemand hatte bemerkt, wie die Lederkugel, von der kaum siebenjährigen Prinzessin Alexandrine mit einem Jauchzer weggeschlagen, im Unterholz verschwand. Und so schlüpfte die Königin selbst, bevor noch jemand sich anerboten hatte, den Ball zu suchen, lachend vom hellen Rasenplatz unter die schattigen Bäume.
Als wäre sie durch einen Vorhang in eine andere Welt getreten, war es plötzlich still um sie her bis auf das leise Summen müder Insekten. Überrascht spürte sie, wie sehr ihre Haut von der Anstrengung des Spiels und der Sonne brannte. Gleichwohl zog die Königin den Shawl über der Brust zusammen, der aus derselben dünnen, fast durchsichtigen Gaze wie ihr Kleid war, ganz weiß war das Kleid, kurzärmelig, mit weitem Dekolleté und nur mit einem blauen Seidenband unter dem Busen gegürtet.
Eine Königin? Was ist das? Eine Märchengestalt, denken wir, und doch: dieser hier pulste das Leben am Hals und flackerte über die Wangen, hier, in der schwülen Enge der Bäume, eng um die junge Frau herumgelegt wie jenes Wort sie zu bezeichnen. Spricht man es aus, ist es, als zerginge die Person in ihm ebenso wie ihre Gestalt in den dunklen Schatten dieses Hains. Dabei sind wir es, die sie mit allem, was uns jenes Wort durch den Kopf jagt, anhauchen, während wir sie betrachten, und das Wort dabei tonlos vor uns hin murmeln. Eine Königin, eine Königin. Gar nicht verschämt glotzen wir, und ebenso indiskret betastet unsere Phantasie ihre Gestalt. Eine Königin, was ist das? Wohin bringt uns dieses Wort? Wir glauben es ganz genau zu wissen, und wenn wir nur einen Moment nachdenken, wissen wir gar nichts. Wußte man damals mehr? War denn tatsächlich damals jenes Wort eines wie Soldat oder Arzt? Wir können es nicht wissen. Alles ist Märchen oder nichts. Wenn wir Heutigen auch noch nicht einmal zu sagen vermöchten, was denn ein Märchen, ernsthaft gesprochen, überhaupt sei. Alles ist Märchen oder nichts. Eine Königin, ein Schloß, eine Insel. Ein Ball. Und noch ein Wort wird gleich nötig sein, ebenso märchenhaft wie dieses, dabei aber abstoßend und ekelhaft und doch ebenso unumgänglich wie jenes für die junge Frau dort. Die Frage wird sein, wohin es uns führt.
Sie hat es an diesem schwülen Frühsommertag ins Dämmerlicht geführt, und der süße Geruch warmer, fleischiger Blätter, die im Unterholz vermoderten, stach ihr in die Nase. Sie begann sich nach dem Ball umzusehen, entdeckte ihn auch gleich, weiß leuchtend am Stamm einer alten Eiche, halb im knorrigen Wurzelwerk gefangen, halb von einem Farn verborgen. Doch als sie sich bückte und schon nach ihm greifen wollte, kam aus dem Schatten des Stammes plötzlich die Gestalt eines kleinen Jungen hervor, der, ganz dicht vor ihr, sie anstarrte, und an dem irgend etwas, wie sie sofort wußte, nicht stimmte.
Erschrocken rief die Königin den Kleinen an, wer er sei und was er hier wolle, wie immer, wenn sie aufgeregt war, im weichen Singsang ihrer südhessischen Heimat, der nie wirklich scharf klang, und es gab das Kind, das sie auf vielleicht vier oder fünf Jahre schätzte, ihr auch ganz unbefangen Auskunft. Doch kaum hatte es den Mund aufgetan, stieß die Königin, von dem, was sie da hörte, nun in wirklichem Abscheu erfaßt, einen nur mühsam unterdrückten Schrei aus und wich zurück. Kam doch aus dem Körper des Kindes, unpassend wie bei einem Bauchredner, eine ganz erwachsene, sehr tiefe Stimme, die so höflich wie schauerlich einen Namen nannte, den die Königin indes überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Denn nun bemerkte sie auch, was an der Gestalt sie vom ersten Anblick an irritiert hatte. Diese breite, irgendwie eingesunkene, tierhafte Nase. Die mächtig gewölbte Stirn, die nur auf den ersten Blick an ein Kleinkind denken ließ. Dazu kurze, irgendwie maulwurfshafte Hände, die neben dem gedrungenen Leib pendelten. Darüber erschauderte die Königin so sehr, daß sie, um dieses Geisterwesen zum Verstummen zu bringen, ihm ein Wort entgegenschleuderte, bei dem sie sich selbst entsetzte und die Hand vor den Mund schlug.
Als der Junge merkte, wie sehr die Antwort, die er freundlich und gutwillig seiner Königin zu geben versucht hatte, diese erschreckte, und wie angeekelt ihre Blicke über ihn hintasteten, stieß er ein furchtbares Geheul aus, drehte sich um und verschwand im Unterholz. Keine Minute später, die Königin starrte dem Jungen mit pochendem Herzen noch nach, brach die Schar ihrer Kinder lachend durch die Büsche. Der vierzehnjährige Fritz in Uniform vorweg, dicht gefolgt von Wilhelm und Charlotte, dahinter Prinz Carl, der wiederum Alexandrine an der Hand hatte, jene Prinzessin, die den unglücklichen Schlag getan. Aber es war der kleine Ferdinand, der, während die Großen von der Mutter wissen wollten, wo sie denn bleibe und ob etwas geschehen sei, den ledernen Ball als erster entdeckte. Jubelnd drängelte er sich zwischen den Beinen seiner Geschwister hindurch, hob ihn lachend auf und lief, ihn triumphierend über dem Kopf schwenkend, zurück auf die Wiese zum Vater.
Was denn mit ihr sei, fragte Charlotte leise, der es vorkam, als sähe ihre Mutter plötzlich krank aus, ganz bleich und kraftlos. Es rufen Orte in uns ganz dieselben Gefühle hervor wie Menschen, man vertraut einer Landschaft wie einem Freund, ein Gesicht, das man zum ersten Mal sieht, behagt einem, oder eben auch nicht. An bestimmten Orten empfinden wir Mißtrauen und Furcht als schwer erträgliche körperliche Nähe, ohne daß diese Nähe Augen hätte und ein Gesicht. Diese Insel war der Königin von ganzem Herzen zuwider. Und obwohl ihre Kinder sie umstanden und unsicher musterten, konnte sie den Blick nicht von dem schattigen Dunkel losmachen, in dem das Wesen verschwunden war, auf das sie, wie einen Pfeil, jenes eine Wort abgeschossen und das getroffen hatte und noch immer dabei war zu treffen. Mit einer müden, resignierten Handbewegung trieb sie ihre Kinder hinaus in das helle warme Sonnenlicht der Pfaueninsel, auf der sie an diesem Tag zum letzten Mal in ihrem Leben war. Kaum acht Wochen später, am 19. Juli 1810, war die Königin Luise tot.
Der Zwerg aber rannte. Ja, ein Zwerg. Es muß auch dieses Wort jetzt ausgesprochen werden, auf die Gefahr hin, daß es sich beruhigend wie alle Wörter vor unseren Blick schiebt, was aber ganz falsch wäre. Denn vor nichts anderem als einem Wort rannte der Zwerg davon, und das eigene Geheul folgte ihm und darin ebenjenes Wort der Königin, dem zu entkommen ihm nicht gelang. Dabei kannte er die Insel besser als irgend jemand sonst, besser als der Hofgärtner Fintelmann und besser selbst als Kriepe, der Jäger, der ihn mit seinem Hund hin und wieder im Dickicht aufscheuchte. Im Südwesten das Schloß, darumher die Schloßwiese mit der Kegelbahn und den Schaukeln. An der Anlegestelle das Haus des Kastellans. In der Inselmitte ein lichter Wald aus uralten Eichen und Hainbuchen, in dessen Wildnis man sich verlieren konnte. Ein Gutshaus darin und im Nordosten eine als gotische Ruine gebaute Meierei. Wiesen für die Kühe, ein Karpfenteich, Felder mit Roggen, Kartoffeln, Hafer und Klee. Unzählige Wege führten durch das Unterholz, und Christian Friedrich Strakon, wie der Zwerg hieß, paßte mit seinem kleinen Körper überall hindurch.
Er rannte am Ufer entlang bis zum Parschenkessel, der großen Bucht am äußersten Ende der Insel, und irgendwann hörte das Geheul dabei auf, aus seinem Mund herauszulaufen wie aus einer Wunde. Doch das Wort blieb in ihm drin. In jener Bucht gab es eine kleine Kuhle im sandigen Boden und darüber ein Dach aus Grassoden, das er im letzten Jahr als Versteck für sich und Marie gebaut hatte, seine kleine Schwester, die jetzt dort darauf wartete, daß er ihr von der Königin berichte. Maria Dorothea Strakon, die alle Marie nannten und die, seit sie vor vier Jahren auf die Insel gekommen waren, den Titel eines Schloßfräuleins trug und sich für diesen Tag nichts sehnlicher gewünscht hatte, als der Königin endlich aufwarten zu dürfen.
Während der Hof im Exil gewesen war, hatte es dazu keine Gelegenheit gegeben, und um so größer war ihre Enttäuschung, heute nicht ins Schloß bestellt worden zu sein. Christian blieb stehen und schöpfte Luft. Es dauerte eine Weile, bis er wieder zu Atem kam. Das Schilf, noch grau vom Winter, stand wispernd ins Wasser hinaus, die Kolben schwarz und vertrocknet, ein paar Enten dazwischen. Er sah einem Schwan zu, der gleichmütig heranschwamm und begann, sein Gefieder mit sorgfältigen wischenden Bewegungen des Schnabels zu pflegen. Dann bückte sich der Zwerg und schlüpfte unter das Grassodendach.
»Und? Ist sie so schön, wie alle sagen? Und der König? Christian, erzähl’ schon! Was machen sie? Erzähl’ mir, wie ihr Kleid aussieht!«
Marie, geboren mit dem Jahrhundert, sah den Bruder mit großen Augen an. Sie trug ihr schönstes Kleid, das sie vor Tagen schon für diesen Anlaß ausgebürstet und geplättet hatte. Nun, inmitten der Blätter und Wurzeln hier am Seeufer, sah sie darin, wie sie wohl wußte, ebenso traurig wie unpassend aus. Christian kauerte sich zu ihr und strich ihr das schwarze Haar aus dem Gesicht, das sie am Morgen so lange gekämmt hatte wie noch nie.
Gewiß, er sah dasselbe wie alle anderen auch, wenn sie seine kleine Schwester betrachteten, die Makel des Zwergwuchses, der ihren Kinderkopf im Laufe der Jahre immer weiter verformte, so daß ihre Stirn sich hoch aufwölbte unter dem Haaransatz, und darunter die breite, wie zerdrückte Sattelnase mit der aufgestülpten Spitze, die so gar nichts von einem Kindernäschen hatte. Er wußte, wie sie watschelte beim Laufen, weil ihre Beine sich schon zu verkrümmen begannen. Kannte ihre ganze Gestalt so gut wie seine eigene. Doch er sah in Maries Augen unter den schwer lastenden Brauenbögen auch, wie neugierig und zärtlich sie alles betrachtete, was ihr begegnete. Er kannte ihren Mund, der so gern lachte. Wie vorsichtig und liebevoll ihre Stummelfinger alles betasteten. Wie klug sie für ihr Alter war. Für ihn war sie schön.
Geduldig beschrieb er ihr die Kleider der Damen und vor allem dasjenige der Königin und die Uniform des Königs und jenes seltsame Spiel, das die Hofgesellschaft auf der Wiese beim Schloß gespielt hatte. Und erzählte ihr schließlich auch von seiner Begegnung, und weil er es nicht übers Herz brachte, sie zu belügen, wiederholte er auch, was die Königin gesagt hatte. Und so traf schließlich ihr Wort auch Marie noch, der fernwirkende Pfeil, der es war und der so lange nachwirken sollte, lange über den Tod der Königin hinaus und das ganze Leben des kleinen Mädchens hindurch.
Monster. Mit einem jämmerlichen Wimmern wie ein geschlagenes Tier befreite Marie sich aus der Umarmung des Bruders. Das Wort tat ihr weh wie nichts, was jemals jemand zu ihr gesagt hatte. Hilflos sah sie zu, wie die Sonne am anderen Ufer der Havel in ihrem langsamen Fall den Horizont über Sacrow entzündete. Christian küßte und streichelte sie, und sie ließ es geschehen. Ein Monster. Sie versuchte das Wort abzuschütteln, wie man ein Insekt abschüttelt, aber es wollte ihr nicht gelingen. Monster. Monster. Monster. Deshalb also hatte man sie nicht rufen lassen.
Daß man sie Schloßfräulein nannte, war nichts als ein Maskenspiel in der Spielzeugwelt der Pfaueninsel, wie alles andere hier auch, wie der Gutshof, bei dem es ganz gleichgültig war, wieviel Milch die Kühe gaben, wieviel Wolle die Schafe, alles nur Maskerade, Kulisse wie die Mauern des Schlosses, die nicht aus Steinen, sondern aus bemalten Brettern bestanden. Schloßfräulein, dachte Marie, und begann zu weinen, war sie nur in dieser Welt der Lüge, in der wirklichen aber ein Monster. Und sie hatte es ja immer gewußt. Die Jahre auf der Insel hatten dieses Wissen nur beruhigt, hatten es einschlafen lassen und ihr das Gefühl gegeben, es könnte doch gut sein, wie sie nun einmal war.
Nie hatte auf der Insel jemand gewollt, daß sie und ihr Bruder wuchsen, und niemand hatte sie je gemessen. Früher, als sie noch in Rixdorf zu Hause gewesen waren, hatte zuerst der Vater und dann, als der Vater nicht mehr heimgekommen war, die Großmutter sie beide beinahe jeden Tag gemessen. Sie sah die Kerben im Türstock noch vor sich, zu denen irgendwann keine neuen mehr hinzukamen. Weil sie klein blieben. Und weil der Vater tot war. Manchmal hatte Christian morgens im Bett ihre Beine an den Knöcheln genommen und daran gezogen, zum Scherz nur, gewiß, doch Marie hatte immer gespürt, daß sie beide hätten anders sein sollen, und sie erinnerte sich nicht, damals nicht traurig gewesen zu sein.
All das hatte sich mit einem Morgen geändert, der in einem strahlend hellen Raum in Potsdam und mit einer großen Aufregung begann, mit Kniehosen und den weißen Seidenstrümpfen der Hoftracht. Die Großmutter, beide Hände auf ihren Schultern, hatte sie nach vorn geschoben. Der Vater Soldat. Gefallen? Marie hatte gespürt, wie die Großmutter nickte. Die Mutter? Von einer Mutter wisse man nichts. Die Großmutter hatte ihr einen kleinen Schubs gegeben und der König ihr über den Kopf gestrichen. Ob sie auch wirklich so klein bleibe? Aber gewiß, der Bruder sei ja ebenso. Marie erinnerte sich noch an den Kragen einer Uniform, der hoch und fest wie ein Zylinder auf den Schultern stand. Ein Kopf hatte darauf gelegen, der redete, als man sie an der Hand nahm und wegzog. An der anderen hielt sie ihren Bruder. Sie verlor die Großmutter aus dem Blick und sah sie nie wieder.
Schnell ging es durch Flure und Zimmer, dann durch einen feuchten Gang, man griff sie um die Taille und hob sie in ein schwankendes Boot, und der Mittag brach mit so viel Licht über sie beide herein. Die Ruderer hatten sich schweigend ins Zeug gelegt, Aalfischer, die in ihren Booten standen, sich nach ihnen umgesehen. Christian hatte ihr einen Kormoran gezeigt. Der Himmel über dem Jungfernsee flirrte an den Ufern, und die hohen Bäume, deren Grün so satt war, daß es von ihnen abzutropfen schien, neigten sich tief über den Grund und kamen immer näher, als die Havel sich verengte. Und dann hatte sie die Insel gesehen, zum allerersten Mal. Hochgeschmückt mit ihren Bäumen kam sie selbst wie ein masthohes Schiff heran, weiß der Ausguck der beiden Türme des Schlosses. Ihr Herz schlug wie wild, so glücklich war sie in jenem Moment, denn sie war sich sofort völlig sicher, daß sie, so, wie sie war, nur hierhergehören konnte. Und hatte im selben Moment, zum ersten Mal in ihrem Leben, den Schrei eines Pfaus gehört.
Marie war sechs Jahre alt, es war der erste Morgen nach ihrer ersten Nacht auf der Pfaueninsel, und die sanfte leise Stimme war die des kleinen Jungen, der in seinem Kinderstuhl neben ihr saß: »In der Geschichte, die Mama mir immer vorliest, reist der heilige Brandaen bis über den Rand der Welt hinaus!«
Alle Bewohner des Kastellanshauses hatten sich um den großen Tisch im Eßzimmer versammelt, der Hofgärtner Ferdinand Fintelmann und seine Schwägerin Luise Philippine, geborene Rabe, die mit ihren drei Söhnen seit ihrer Scheidung hier lebte, der Gartengehülfe Albert Niedler, der bei Fintelmann in die Lehre ging, und Mahlke, der Hauslehrer, den Fintelmann für die Kinder engagiert hatte. Und nun, als königliche Pfleglinge, Christian Friedrich und Maria Dorothea Strakon. Maries Blick ging aufgeregt von einem zum andern und vor allem immer wieder zu der Mutter der drei Jungen, die sie staunend dabei beobachtete, wie sie ihren Kindern das Brot schnitt, die Münder abwischte, die Tassen zurechtstellte, wenn sie drohten, herunterzufallen, und wie sie aufstand, um den Kleinsten, noch einen Säugling, auf den Arm zu nehmen, als er zu weinen begann. Und wieder hörte sie die sanfte helle Stimme direkt neben sich.
»Da begegnet ihm einer, der ist nur daumenlang und so klein, daß der in einem Blatt schwimmt. In einer Hand hat er ein Näpfchen und in der anderen einen Griffel. Den steckt er immer wieder ins Meer und läßt davon Wasser in den Napf triefen. Und wenn der Topf voll ist, gießt er ihn aus und fängt wieder von vorn an.«
Die Mutter drehte sich erzürnt um, und ihre hellen Wangen flackerten rot vor Scham.
»Gustav! Sei still!«
Überrascht hörte Marie sich selbst trotzig antworten: »Und? Was soll da schon dabei sein?«
»Der Däumling«, erzählte der Kleine weiter, »erklärt dem heiligen Brandaen, ihm sei vom lieben Gott auferlegt, das Meer zu messen bis zum Jüngsten Tag.«
»Gustav!« sagte die Mutter noch einmal, kam an den Tisch und legte Marie entschuldigend eine Hand auf den Scheitel. Dieses Wort hatte sie noch nie gehört. Was ist das: ein Däumling? Bin ich das: eine Däumlingin vom Ende der Welt? Es dauerte sehr lange, bis sie sich getraute, den Jungen anzusehen, und immer, wenn sie später an jenen Moment zurückdachte, erinnerte sie sich daran, wie freundlich Gustav sie angelächelt hatte.
»Kannst du schon lesen?« fragte er neugierig.
Überrascht von dieser Frage, ja entsetzt, daß sie nicht genüge, schüttelte sie heftig den Kopf. Alles war verloren. Trotz der Freundlichkeit des Jungen. Sie konnte noch nicht lesen. Und das erfüllte sie im selben Moment mit panischer Angst, denn sie spürte, wie dankbar sie ihm war. So, als hätte er sie an einer Stelle berührt, die berührt werden wollte. Und er hatte es sanft getan. Nie mehr, dachte sie, wird er mit mir sprechen, weil ich nicht lesen kann. Sie wartete, ob er vielleicht noch etwas sage, aber es blieb still, und ihre Angst wurde immer größer. Doch dann, plötzlich, breitete sich wie ein warmer Tropfen, den man, woher auch immer, in sie hineinpipettierte, die sanfte Gewißheit in ihr aus, daß das nichts mache.
Als die hochbetagte Gräfin Voß, seit Jahrzehnten Oberhofmeisterin, Marie endlich rufen ließ, war diese schon seit fünf Jahren auf der Pfaueninsel. Einer der Diener in Livree kam über die Wiese zum Kastellanshaus und holte sie. Die königliche Familie wurde erst für den Nachmittag erwartet, die Oberhofmeisterin war mit den Köchen und dem Personal vorgereist, und als man ihr Marie brachte, saß sie in jenem Zimmer des Schlosses direkt an der Eingangshalle, das ihr allein vorbehalten war, in ihrem Lehnstuhl mit dem Rücken zum Fenster und vor der geblümten Tapete. Sie trug ein Kleid aus verschossenem bleufarbenem Seidendamast mit weißem Blumenmuster, das sich über dem altertümlichen Reifrock weit um den Sessel herum ausbreitete und dessen Ärmel, die die Unterarme frei ließen, ebenso wie das recht große Dekolleté mit weißer Spitze gefaßt waren. Weiß auch die Haut der alten Frau. Marie sah, wie das lose Fleisch zitterte, als sie mit einer energischen Geste herangewinkt wurde.
Am meisten aber beeindruckte sie die Perücke der Gräfin, die diese wohl als einzige bei Hofe noch trug, obwohl die Oberhofmeisterin mit Wehmut hatte erleben müssen, wie der junge König seinen Zopf abgeschnitten und ihn Luise geschenkt hatte. Marie, die derlei nicht kannte, wußte nicht, wie sie sich diese hochaufgetürmte graue und offenbar gepuderte Haarpracht erklären sollte, deren feine Löckchen so sehr mit der papiernen Haut der alten Frau harmonierten. Lange nahm sie in ihrem Staunen den trüben Blick der Oberhofmeisterin gar nicht wahr, die sie, unter dem Ticken der Stutzuhr auf der Kommode, ihrerseits musterte. Schließlich aber, als ihr die Stille im Raum bewußt wurde und sie darüber erschrak, fragte sie die Oberhofmeisterin, was eigentlich eine Däumlingin sei, denn sie hatte Gustavs Geschichte nicht vergessen können, vor allem jenes Wort nicht, weil es so viel freundlicher als jenes andere war, das ihr noch immer in der Seele brannte.
»Approche-toi!«
Marie folgte mit Bangen. Und tatsächlich schien ihre Frage die alte Frau zu erbosen, denn eine weiße altersfleckige Hand schloß sich so fest um ihren Oberarm, daß Marie das Gesicht vor Schmerz verzog.
»Sag mir deinen Namen.«
»Ich heiße Maria Dorothea Strakon, Madame.«
»On t’apprend le français?«
»Oui, nous l’apprenons chez Monsieur Mahlke.«
»Quel âge as-tu?«
»J’ai onze ans, Madame.«
»Und du bist das Schloßfräulein der Pfaueninsel?«
Marie nickte stolz.
Der Blick der Gräfin Voß, die als junge Frau sehr unter den Nachstellungen des letzten Königs zu leiden gehabt hatte und dann von Kindheit an die engste Vertraute seines Sohnes Friedrich Wilhelm III. war, musterte Marie lange. Die Augen der Alten waren trüb, wie von Milch überzogen, ihr einst fein gezeichneter, nun eingefallener Mund zuckte mümmelnd dabei, als kaute sie auf etwas herum. Armes Ding, dachte die Oberhofmeisterin und empfand dabei keinen Ekel, sondern Mitleid mit dem Mädchen. Es erinnerte sie an Zeiten, als Gestalten wie diese Zwergin am Hof nichts Ungewöhnliches gewesen waren, im Gegenteil, man hatte sich gebrüstet mit ihnen. Doch heutzutage? Was wollte der junge König nur mit diesem Kind?
Während sie sich das fragte, wurde der Oberhofmeisterin bewußt, wieviel sich verändert hatte in ihrem langen Leben, seit den Zeiten des letzten Königs und des Königs davor, und der Gedanke, wieviel verschwunden war und fast schon vergessen, schmerzte sie, wie immer, wenn sie daran dachte, dabei den Blick nicht von dem jungen Ding lassend, das hier so einsam stand, als wäre es das letzte Exemplar einer Gattung, die es eigentlich schon gar nicht mehr gab. So wie ich selbst, dachte die Gräfin bitter. Und sie sah: Es würde eine richtige Zwergin werden, so, wie man sie früher geschätzt hatte, und ihr fiel wieder ein, was man einst mit ihresgleichen angestellt hatte, die Zwergenhochzeiten etwa, die man in Rußland so gerne veranstaltet und von denen man sich auch am preußischen Hof erzählt hatte. Der Zar war besessen von dem Ehrgeiz gewesen, ein Geschlecht von Kleinwüchsigen zu züchten, und es hieß, er habe der Hochzeitsnacht der kleinen Paare mit seinem ganzen Hof beigewohnt und die Zwerge großzügig für ihr Bemühen belohnt. Das aber stets erfolglos geblieben war.
Es kostete die alte Gräfin Mühe, derlei Gedanken zu vertreiben, aber schließlich tat sie es, ließ den Arm des Mädchens los und lächelte sie dabei sogar an, wobei ihre Lippen für einige Momente aufhörten zu zucken. Wie zur Besänftigung Maries, die gar nicht verstand, worum es ging, sagte sie: »Mußt du dir nichts daraus machen. Hier auf der Insel ist ein guter Platz für dich.«
Marie nickte nur. Das wußte sie ja. Doch nun wollte sie lernen, was sie als Schloßfräulein können mußte, denn deshalb, dachte sie, hatte man sie doch gerufen.
»Du willst also wissen, was ein Däumling ist?« fragte die Oberhofmeisterin statt dessen.
»Nein, eine Däumlingin!«
Bei dieser Antwort lachte die Oberhofmeisterin tief und hohl und sah das Mädchen zufrieden an. Sie verstehe. Ob es schon einmal von der Bataille bei Groß-Beeren gehört habe?
Marie schüttelte den Kopf. Die Gräfin seufzte und forderte sie auf, sich zu setzen. Schnell hockte Marie sich auf den Boden, an den äußersten Rand der weißen Blumen, die den Seidendamast schmückten.
»Groß-Beeren gehört dem alten Geschlecht der Beeren oder Berne seit über vier Jahrhunderten, und in der Familie erzählt man seit alters her folgende Geschichte: Einmal, als eine Frau von Beeren gerade eines Kindleins glücklich genesen war und, neben sich die Wiege, am späten Abend im Bette lag und die Schatten in dem spärlich erleuchteten Zimmer verfolgte, wurde es mit einem Mal unter dem Kachelofen hell, der auf vier eisernen Füßen stand. Und überrascht sah sie, wie ein Teil der Diele wie eine kleine Kellertür aufgehoben ward. Heraus stiegen allerhand zwergenhafte Gestalten, von denen die vordersten kleine Lichtchen trugen, während andere artig die Honneurs machten und die nach ihnen Kommenden willkommen hießen. Tu sais déjà, comment on le fait? Kleines Schloßfräulein?«
Marie nickte schüchtern.
»Dann mach.«
Als Marie aufgestanden war und ihren Hofknicks vorgeführt hatte, betrachtete die Oberhofmeisterin sie eine Weile, ohne etwas zu sagen, so, als verwunderte sie sich noch immer über ihre Gestalt. Dann gab sie sich einen Ruck und erzählte weiter.
»Ehe noch die Wöchnerin sich von ihrem Staunen erholte, formierte sich ein Zug zu ihrem Bett, und die beiden vordersten Kleinen frugen um Erlaubnis, ein Familienfest feiern zu dürfen, zu dem sie sich unter dem Ofen versammelt hätten. Frau von Beeren, eine liebenswürdige Natur, nickte bejahend, und schon wurden aus der Kelleröffnung Tischchen herausgereicht, man deckte weiße Tücher darüber, Lichterchen wurden aufgestellt, und bald saßen die Kleinen an ihren Tischen und ließen es sich schmecken. Frau von Beeren konnte die Züge nicht unterscheiden, aber sie sah, daß alle sehr heiter waren. Nach dem Essen wurde getanzt, eine leise Musik, als würden Violinen im Traum gespielt, klang durch das Zimmer. Hast du schon mal Violinen gehört, mein Kind?«
Marie schüttelte den Kopf.
»Tu le feras!«
Nachdem die alte Gräfin lange ebendieser Möglichkeit nachzusinnen schien, raffte sie sich schließlich auf und sprach weiter. »Am Ende des Festes ordneten sich alle wieder zu einem Zuge und erschienen abermals vor dem Bett der Wöchnerin und dankten für die freundliche Aufnahme. Zugleich legten sie ein Angebinde nieder und baten die Mutter, des Geschenkes wohl zu achten: die Familie werde blühen, solange man es in Ehren halte, werde aber vergehen, sobald man es mißachte. Dann kehrten sie unter den Ofen zurück, die Lichterchen verloschen, und alles war dunkel und still. Unsicher, ob sie gewacht oder geträumt habe, sah Frau von Beeren sich nach dem Angebinde um, und tatsächlich lag es auf der Wiege des Kindes. Eine kleine Bernsteinpuppe, etwa zwei Zoll lang, mit menschenähnlichem Kopf und einem Fischschwanz.«
»Iiih, ein Fischschwanz!« platzte es aus Marie heraus, die sich sofort für diesen Ausbruch schämte. Doch die Oberhofmeisterin lächelte.
»Oui, mais la poupée, que les petits lui ont donnée, a porté bonheur.«
»Und das waren Däumlinge?«
»Oui.«
Das Püppchen habe sich vom Vater auf den Sohn vererbt und werde noch heute ängstlich in der Familie bewahrt und gehütet, das wisse sie mit Bestimmtheit, sagte die alte Gräfin Voß, die damals schon hinfällig war und in jenem Winter drei Jahre später, als man in Wien um Europa feilschte, in ihrer Wohnung im Kronprinzenpalais Unter den Linden starb.
Es gehörte zu den Eigentümlichkeiten der preußischen Hofgärtner, daß ihr Amt nicht selten über Generationen in der Familie blieb und Dynastien entstanden wie die der Lennés, der Sellos und der Nietners. Das lag wohl ebenso an den Besonderheiten dieses Berufes wie an der besonderen Stellung der Gärtner bei Hofe. Es gab achtzehn preußische Hofgärtner, die in ihren Gartenrevieren, in denen sie immer auch lebten, ob in Sanssouci oder im Schloß Charlottenburg, im Neuen Garten oder in Rheinsberg, im Schatullgut Paretz, in Babelsberg, Glienicke oder eben auch auf der Pfaueninsel, für die Bewohner verantwortlich waren, sie anzuleiten und auf Sitte und Anstand zu achten hatten. Ihrerseits empfingen sie, wie alle Hofbeamten, ihre Weisungen nur vom König direkt. Diese Verbundenheit mit dem Boden wie mit dem Regenten brachte jene besondere Vorstellung von Adel hervor, die für alle Hofgärtner Preußens bezeichnend war und so auch für die Fintelmanns. Ferdinand Fintelmann, ein bedächtiger Mann mit den wasserblauen Augen der Mark, hatte bei dem aus Wörlitz nach Potsdam berufenen Johann August Eyserbeck die Lustgärtner-Kunst erlernt und danach für den Fürsten Radziwill in Polen gearbeitet. Seit 1804 war er der Hofgärtner auf der Pfaueninsel.
Die einzige Stelle, an der die Insel, ansonsten überall von einem Steilufer umgeben, sich sanft zur Havel hin öffnet, ist von alters her der Ort, wo man anlandet. Hier hatte man seinerzeit, zusammen mit einem Steg und zwei Pappeln, die den Weg zur Anlegestelle markierten, ein Kastellanshaus mit tief herabgezogenem Walmdach errichtet, seit dem Tod des alten Schloßkastellans vom Hofgärtner mit seiner Familie bewohnt. Es stand so dicht an die Böschung geschmiegt, daß man auf seiner Rückseite im ersten Stock über eine kleine Brücke in den Garten gelangen konnte. Drei Stuben und eine Küche im Erdgeschoß und ebensolche Räume im ersten Stock, ausgehend vom zentralen Vestibül mit der Treppe, dazu noch zwei winzige Kammern unter dem spitzen Dach. Die größte Stube diente dem Hofgärtner als Dienstzimmer, dazu ein fensterloses Nebengelaß, in dem er seine Samenkästen und die Akten des Gartenreviers archivierte.
Ferdinand Fintelmann sah dabei zu, wie seine drei Neffen vor dem Fenster des Arbeitszimmers durch die Pfützen sprangen. Vor sich auf dem Schreibtisch hatte er die Akten des Jahres, das zu Ende ging. Die Insel ersoff im Regen. Die Kinder störte das nicht. Ludwig, der Jüngste, war jetzt fünf und rutschte immer wieder aus, seine Mutter würde schimpfen, wenn sie die Hosen sah. Julius, eigentlich Carl Julius Theodor, war ein Jahr und Gustav zwei Jahre älter. Vielleicht, weil Gustav der stillste von den dreien war, lag er dem Hofgärtner besonders am Herzen. Als seine Schwägerin, die aus der Oberlausitz stammte und zu den Herrnhutern gehörte, seinen Bruder, einen Bankerotteur, verließ, war es keine Frage gewesen, daß er, der Unverheiratete, die vier aufnahm. Ob Gustav wohl einmal sein Nachfolger werden würde? Fintelmann war sich nicht sicher. Wie der sanfte Knabe sich immer wieder die Mütze auf dem Kopf zurechtrückte, und sie wollte nicht halten. Wie er immer wieder für Momente erlahmte und einfach in sich versunken dastand.
Es waren die Gärten nun einmal nichts für Schöngeister, sondern vor allem Wirtschaftsbetriebe, die den Hof mit Obst und Gemüse zu versorgen hatten. Wichtiger als die Planteure, die sich mit den Bäumen beschäftigten, mit den Hecken, Alleen und Bosketten, waren Gärtner, die Kenntnisse der Pomologie vorzuweisen hatten und sich auf Spalier und Gewächshaus verstanden. Der Anspruch des Hofes war groß in einer Zeit, in der das Wissen um das, was in anderen Weltregionen heimisch war, beständig wuchs. Die Gartenreviere hatten sich daher spezialisiert, und der Pfaueninsel oblag insbesondere die Blumenzucht, aber auch Kirschen wurden hier gezogen und Erdbeeren, frei und unter Glas. Auch eine Baumschule hatte man angelegt, in der junge Bäume oculiert, gepfropft, copuliert und für die anderen Gärten recrutiert wurden. Jeden Samstag hatte Fintelmann zu rapportieren, was an die Hofküche geliefert werden konnte.
Schon zu Zeiten Friedrichs des Großen hatte man in Potsdam im Winter in den Gewächshäusern Trauben und Pfirsiche geerntet, Pflaumen, Feigen, Orangen und Ananas. Auch Bananen, von denen der König sich eine Linderung seiner Gicht erhofft hatte. An Gemüse ganzjährig Blumenkohl, Gurken, Kartoffeln, Kohlrabi, Möhren, Radieschen, Salat, Wirsing und Spargel. All das war zum Erliegen gekommen, als der Hof nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt ins Exil ging.
Der König hat eine Bataille verloren, hatte man in der Hauptstadt plakatiert, jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Die Franzosen besetzten die Stadt, der Hof floh nach Memel, Löhne wurden nicht mehr bezahlt, in den Gärten die Parkwächter entlassen. In Berlin wurden die Nahrungsmittel so knapp, daß der Gartenintendant den privaten Anbau auf königlichem Boden gestattete.
Ihren Bewohnern war die Pfaueninsel da wie ein Schiff erschienen, das in einer vergessenen Bucht vor den Toren der Welt ankerte und abwartete. Weil Fintelmann den Umbau der Insel forciert, bei der Meierei etwa einen Rinderstall und eine Scheune errichtet und von den dreihundertfünfundachtzig Morgen der Insel zweiundsiebzig gerodet und in Felder verwandelt hatte, konnte man sich nun weitgehend selbst versorgen. Wobei man die alten Eichen inmitten der Felder belassen hatte, so die schöne, in Freiheit gestaltete Natur mit den Notwendigkeiten des Landbaus verbindend. Klaglos richtete man sich in den neuen Verhältnissen ein und war in den unruhigen Zeiten eher froh, daß weder Potsdam noch Berlin sich sonderlich um die Insel kümmerten.
Dem Hofgärtner aber hatte es in der Seele weh getan, dabei zusehen zu müssen, wie alles verkam, weil kein Geld da war, um die Leute zu bezahlen. Und so schrieb er sofort nach der Rückkehr der königlichen Familie dem Hofmarschall von Massow, er wünsche deshalb sehr, Euer Excelenz hätten die Gnade und Liebe für die Pfauen Insel und ertheilten mir die Erlaubnis, die seit 3 Jahren unbearbeitet gelegenen Gänge wieder in Ordnung bringen zu dürfen und überhaupt die Gärtnerey wieder so instand setzen zu können, als die Allerhöchsten Herrschaften selbige vor 3 1/2 Jahren verließen.
Fintelmann zupfte den Briefwechsel aus der Akte und mußte lächeln, als er das Responsum des Hofmarschalls noch einmal las: Es kann nicht alles auf einmal geschehen. Fintelmanns Antwort datierte nur zwei Wochen später. Die Königlichen Majestäten sind vorgestern mit Familie auf der Insel gewesen, haben die Promenade um die ganze Insel gemacht, auf der Meyerey mehrere Gläser süße Milch getrunken und sich nachher noch über eine Stunde beym Thee verweilt. Ihre Königlichen Hoheiten der Kronprinz und Prinzeß Charlotte waren den Tag vorher schon hier und kamen denselben Tag wieder und versprachen, weil es höchst ihnen hierselbst sehr gefiel, diesen Sommer recht oft zu kommen. Auch wollen Seine Majestät bald hier wohnen, und noch in dieser Woche erwarte ich die Allerhöchsten Herrschaften zum Mittag hierselbst. Unstreitig ein Zeichen, daß Allerhöchst Ihnen die Pfauen Insel noch ebenso wie ehedem gefällt.
Man bewilligte, was er verlangte. Und so begann er am Schloß mit einer Saumpflanzung von Himbeeren und Feigen, die es im Winter sorgsam einzuhausen galt, ließ dann die Ufer an der Überfahrt mit Feldsteinen sichern und Pestwurz pflanzen, um mit ihren Blättern zu prunken. Dahinter Eselsdistel und Rittersporn. Und an manchen Stellen der Insel die Lieblingsblumen der Königin, die teuren, erst vor wenigen Jahren entdeckten Hortensien, die er von Georg Steiner in Charlottenburg zu sechzehn guten Groschen das Stück bezog.
Daß Gustav ihn plötzlich anzusehen schien, holte den Hofgärtner aus seinen Gedanken. Dabei hatte er es doch trotz der Dämmerung versäumt, die Lampe anzuzünden. Aber er begriff schnell, daß der Junge nicht ihn, sondern jemanden ansah, der auf der Treppe vor der Haustür stehen mußte, und dann kam Gustav auch schon angelaufen und verschwand ins Haus, ohne noch einen Blick für seine Brüder zu haben.
Der Hofgärtner wußte natürlich, wer einzig seine Aufmerksamkeit so plötzlich auf sich gezogen haben konnte, es war Marie, die Zwergin, an der Gustav, seit ihrem ersten Tag auf der Insel, einen Narren gefressen hatte. Fintelmann war dies nicht recht. Dabei mochte er das Mädchen. Aber er war Gärtner, und als solcher wünschte er sich, ihr Riemen unter die Achseln zu schieben und sie wie Spalierobst aufzubinden, damit sie gerade wachse. Er wollte sie düngen, in ein Treibhaus setzen, ihre Füße mit guter Gartenerde behäufeln, damit sie wachse. Endlich wachse. Er hörte Gustavs aufgeregte Stimme im Flur, ihr Lachen, die Haustür, die ins Schloß fiel, und wie die beiden die Treppe hinaufstürmten, hinauf, wie er wußte, in Maries winzige Kammer unter dem Dach.
Nicht, daß sie ihn angewidert hätte, ganz im Gegenteil. Auch auf der Insel kümmerte er sich um jene Pflanzen, die nicht gerieten, mehr als um die makellosen, und er tat das gern, und es tat ihm jedesmal leid, wenn ihm schließlich nichts anderes blieb, als sie auszureißen und auf den Kompost zu werfen. Auch Marie betrachtete er so, mit aller Aufmerksamkeit, ja Liebe, doch er wußte auch um die Gelenkschmerzen, die sie später haben würde, um die Ohrenentzündungen, die bei ihresgleichen oftmals zur Taubheit führten, sah ihre gespreizten Stummelfinger beim Essen und daß sie die Ellbogen nicht gerade bekam. All das verlangte geradezu nach einer Korrektur, und es machte ihn unruhig und wütend, daß es diese Korrektur nicht gab. Es verspottete dieser Leib die Ebenmäßigkeit des Gesunden, wie ein krummer Baum um die Schönheit jammert. Doch Fintelmanns Kunst konnte in diesem Fall nichts erreichen. Er war nicht Gott. Und Marie war keine Pflanze. Aber was war sie dann?
Der Hofgärtner starrte hinaus in den Regen. Wozu hatte Gott sie so gemacht? Ist dem Schöpfer die Schönheit seiner eigenen Schöpfung ganz gleichgültig? Er schüttelte den Kopf über solche Gedanken. Auch die beiden anderen Jungen waren jetzt verschwunden. Er hatte sie nicht ins Haus kommen gehört, aber das Klappern der Teller nebenan verriet ihm, daß zum Nachtessen gedeckt wurde. Das Dunkel stieg aus der Havel herauf und kroch zwischen die Bäume. Zwerge gelten als scheu, aber als gute Arbeiter. Manchmal helfen sie den Menschen. Sie lieben das Gold. Sie sind diebisch. Sie heißen auch das schweigende Volk. Man sagt, es sei ihnen zuwider, wenn Kirchen gebaut werden, auch Glockengeläute störe sie. Sie meiden die Sonne und haben in ihren Höhlen anderes Licht und eine andere Zeit als die Menschen. Gern entwenden sie wohlgestaltete Kinder aus den Wiegen und legen ihre eigenen häßlichen oder gar sich selbst hinein. Wechselbälge nennt man diese. Eine Frau, das hatte ihm seine Mutter erzählt, schnitt einmal Korn an einem Berg, zur Seite lag ihr Säugling. Eine Zwergin kam geschlichen, nahm das Menschenkind und legte ihr eigenes an die Stelle. Als die Frau nach ihrem Säugling sah, gaffte ihr der Wechselbalg in die Augen, und sie schrie so heftig Zeter, daß die Diebin endlich wiederkam mit dem Kinde. Aber nicht eher gab sie es zurück, bis die Frau den Zwergenbalg an ihre Brust gelegt und einmal mit edler Menschenmilch gesäugt hatte.
Drüben vom anderen Ufer, das nun schon ganz versunken war in der Dunkelheit, kam ein einzelnes Licht herüber, flackernd und dünn über das Wasser hin, vom Haus des Königlichen Büchsenspanners Brandes, der an der Überfahrt wohnte und tagsüber Besucher auf die Insel zu bringen hatte. In der Nacht, dachte Fintelmann, waren sie ganz allein hier, und waren es wohl, bei Licht besehen, eigentlich immer. Denn etwas von der alten Zeit hatte sich hier bewahrt, das wußte er wohl.
Er erinnerte sich noch gut daran, wie er zum ersten Mal dort draußen an der Anlegestelle gestanden hatte. Auch damals hatte es geregnet. Vom ersten Moment an hatte ihm all die Kunstfertigkeit mißfallen, die er dem Schloß und der Meierei und dem Garten durchaus konzedierte, all das Tändelnde und Metaphorische, diese letzte Ausstülpung des Rokoko an einem Ort, der für pudriges Apricot doch viel zu naß war und zu karg. Alles Glänzende verwies hier auf das Graue, das darunter lag, alles Ironische auf einen Ernst, der um so bedrohlicher schien, als er unsichtbar blieb. Alle Sehnsucht duckte sich. Ja, es war ihm damals tatsächlich so vorgekommen, als wucherte in all den Quasten und Beschlägen geradezu etwas Böses, Dunkles. Gewiß hatten Marie und ihr Bruder damit nichts zu tun, ebensowenig wie mit den Zwergen der Märchen. Doch auch in die neue Zeit gehörten sie nicht, die nichts mehr wissen wollte von Bandelwerk und Rocaillen. Und in der Zwerginnen keine Schloßfräulein mehr wurden.
Einen Moment noch starrte Fintelmann zu dem flackernden Licht hinüber, dann nahm er den Stapel mit der Korrespondenz und den Rechnungen vom Tisch und legte ihn, bevor er hinüberging, in der Kammer zu den anderen Akten des Jahres 1810.
Wir sagen: Die Zeit vergeht. Dabei sind wir es, die verschwinden. Und sie? Ist vielleicht nur so etwas wie eine Temperatur der Dinge, eine Färbung, die alles durchdringt, ein Schleier, der alles bedeckt, alles, von dem man sagt, daß es einmal war. Und in Wirklichkeit ist alles noch da, und auch wir sind alle noch da, nur nicht im Jetzt, sondern zugedeckt von ihr, der Zeit, im Setzkasten der Ewigkeit. Denn zwar stirbt alles, doch es bleibt etwas dort, wo etwas war. Zunächst sind es die Orte, die länger bleiben als wir. Was tut die Zeit mit ihnen?
Niemand, der die Flossenschläge des Inselfisches in der Havel gehört hätte. Dann aber Klingen und Abschläge aus Feuerstein, Überbleibsel mesolithischer Jäger, die hier rasten, zum ersten Mal der Geruch von Feuer. Jemand, der die Erde aufreißt, mit Händen und Hacke, eilig, schon zur Flucht gewendet, und bronzene Ringe und Armspiralen in einem groben Topf aus Ton vergräbt, kaum einen halben Meter tief im Boden. In der Bronzezeit dann erstmals ein Netz von Siedlungen im ganzen Berliner Raum, Scherben und weitere Bronzeringe, ein Ringopfer, wie überall in Norddeutschland von den Germanen praktiziert, dann wieder Stille. Tausend Jahre Stille. Dann die kärglichen Reste einer Siedlung der Heveller. Immer ist es das Feuer, das sich in die Erde gräbt und in ihr seine Zeichen hinterläßt, feindlich den Pflanzen, die es erst verdorrt und dann verzehrt.
Marie stand auf der Schloßwiese und drehte sich im Kreis, immer schneller und immer schneller, und trommelte mit ihren neuen Stiefelchen dabei immer heftiger auf den gefrorenen Boden, bis ihr die kalte Winterluft in der Nase stach. Ihr wurde schwindelig. Sie ließ die Arme herabsinken, wurde langsamer, blieb, außer Atem, stehen. Peitschenkreisel, Triesel, Tanzknopfmarie, dachte sie. Vor einigen Tagen hatte sie zum ersten Mal geblutet und war weinend zur Tante gelaufen. Doch alles war gut. Sie horchte auf die Rufe der Pfauen, die ganz so klangen wie kleine Kinder.
Der König schloß die Augen und lehnte die Stirn an die kalte Scheibe. In allem das Gegenteil seines Vaters, schmal und groß, die Augen klein und wäßrig, helle Wimpern, die man kaum sah, schienen die dünnen Haare an seinem langen Schädel zu kleben, der Mund zu karpfenhaftem Schweigen geschürzt. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er nach dem Tod des Vaters im Winter 1797 hier, an diesem Fenster des gerade fertiggestellten Schlößchens, gestanden und auf den Park hinabgesehen hatte. Fast anderthalb Jahrzehnte war das jetzt her, er war noch keine dreißig gewesen, und für einen Moment hatte er damals tatsächlich geglaubt, die Geisterstimme Alexanders zu hören, seines Bruders, des toten Bastards, den sein Vater mit der Konkubine gehabt hatte, die er der Mutter vorzog.
Der Vater hatte die verwilderte Insel als junger Mann entdeckt und sich mit der zu Beginn erst dreizehnjährigen Wilhelmine Encke, Tochter eines Hornisten im Königlichen Orchester, oft hierher übersetzen lassen. Kaum war er König, ließ er die Pfaueninsel dem Waisenhaus abkaufen, dem sie gehörte, und veranstaltete romantische Feste auf ihr. Mit Gondeln ruderte man herüber, orientalische Zelte, kostbare Geschenke des Sultans, wurden ausgespannt, es gab Musik und Tanz, und erst mit der untergehenden Sonne kehrte man ins Marmorpalais nach Potsdam zurück. Wilhelmine war fünfzehn, als sie das erste Mal Mutter wurde. Es heißt, sie sei hier sehr glücklich gewesen. Eine Scheinheirat machte sie erst zu Madame Ritz und der König sie schließlich zur Gräfin Lichtenau. Kaum war das Schloß fertig, das er ihr hier bauen ließ, starb er.
Die Frau von der Insel zu jagen, die in den Stunden seines Todes beim Vater gewesen war und mit einem Tuch die Ströme des Blutes aufgefangen hatte, das er kotzte bis zuletzt, war beinahe das erste, was Friedrich Wilhelm III. tat, als er seinerseits König geworden war. Er ließ ihr den Prozeß machen und ihr Vermögen konfiszieren, und es sollte zehn Jahre dauern, bis Napoleon die schöne Wilhelmine, wie die Berliner sie nannten, rehabilitierte. Sie heiratete dann noch einmal, den viel jüngeren Theaterdichter Franz Ignaz Holbein von Holbeinsberg, doch die Ehe hielt nicht lange, die Gräfin blieb allein, starb 1820 und wurde in einer Gruft in der Hedwigskirche beigesetzt, ganz in der Nähe ihres Wohnhauses. 1943 räumte man die Gruft leer, um sie als Luftschutzkeller zu nutzen, und bettete ihre Überreste in einem schlichten Sarg auf den Hedwigskirchhof um. 1961 wurde sie dort wiederum exhumiert, weil ihr Grab nun im Todesstreifen der Mauer lag. Damit verliert sich die Spur ihres Körpers.
Der aber, der sie von der Insel vertrieben hatte, kehrte nur selten dorthin zurück. Meist, wie auch heute, am Todestag seiner Frau. Als er hörte, wie man die Flügeltüren des Saals öffnete und jemanden hereinließ, straffte er sich und blinzelte auf die neblige Havel hinunter. Der Hofgärtner Fintelmann hatte ihn bei seiner Ankunft darauf hingewiesen, eine Zwergin, die er selbst vor Jahren als königlichen Pflegling hierhergesetzt habe, bekleide nun formal das Amt eines Schloßfräuleins, und er hatte sich tatsächlich an das Kind erinnert, das ihm seinerzeit vorgeführt worden war, der Vater wohl im Felde gefallen, und befohlen, es solle ihm Gesellschaft leisten. Schritte trippelten über das Parkett heran, er drehte sich um, und Marie fiel in einen tadellosen Hofknicks. Der König nickte ihr zu, setzte sich in einen Sessel, den man ihm an eines der großen Fenster gerückt hatte, und starrte, ohne noch ein Wort an sie zu richten, hinaus in den Nebel.
Ein Ritual, das sich von nun an jedes Jahr wiederholen sollte. Außer, daß er ihr in seiner abgehackten Diktion, über die man sich allenthalben lustig machte, weil sie keine vollständigen Sätze kannte, kaum Verben und beinahe niemals ein Ich, hin und wieder eine Frage über die Insel stellte, wußte er nichts mit ihr anzufangen bei dem erstarrten Brüten, in das er in diesem Schloß unweigerlich verfiel. Nur, daß er sie gern im Blick hatte.
Er war schnell mit sich selbst dahingehend übereingekommen, bei seinen Besuchen hier auf der Insel handle es sich um seine Art der Trauer um Luise, die er so sehr geliebt hatte. Aber tatsächlich war es eher ein Warten. So, wie die Zwergin vor ihm neben dem Fenster stand und wartete, daß er etwas von ihr wolle, so wartete er selbst, und deshalb wohl auch mochte er, auf seine Weise, die kleine Person, von der er nichts wußte und auch nichts wissen wollte. Selbst den Gedanken, daß sie kleinwüchsig war, machte er sich nicht. Nur gelegentlich, wenn er sich an etwas erinnerte, was er nicht vergessen konnte, erzählte er Marie von seiner Königin.
»Zuletzt«, begann er etwa einmal, das war im zweiten Sommer nach ihrem Tod, »hatte meine Frau einen höchst seltsamen Traum. Glaubte mit mir auf einer angenehmen Wiese zu spazieren. Dann sich am Ufer eines Flusses zu befinden. Dann Friedrich II. in einem kleinen Boot zu bemerken. Auf sie zugesteuert gekommen und sie freundlich gewinkt. Aber totenbleich gewesen. Als sie darauf in den Nachen gestiegen, dieser so schnell vom Ufer abgestoßen, daß ich nicht mehr hinein hätte können. Habe mich immerzu gewunken, ihr nach zu kommen. Sei aber nicht möglich gewesen. Habe mir ihr Lebewohl gewinkt. Ihr sei immer leichter und wohler geworden, und endlich sei sie mit dem Nachen untergegangen.«
Marie sagte nichts.
»Meine Frau nichts weniger als abergläubisch. Und ließ doch zum Scherz sich Träume deuten. Des andern Morgens also zur Gräfin Tauentzien, weil diese die Reputation hatte, allerlei Mystisches auszulegen. Da nun aber dieser Traum nichts Gutes und jener dies wohl anzumerken war, fiel meine Frau gleich ihr in die Rede. Still, still, wenn es was Übles ist.«
Der König nickte, und so ihre Einlassung noch nachträglich gutheißend schwieg er wieder, als gälte ihre Aufforderung über das Grab hinweg nun ihm selbst. Was es wohl war, was er verschwieg? Ob er es selbst wußte? Zumeist saß er einfach da, und sein Blick glitt, ohne sich festzuhaken, über Marie hinweg nach draußen, während die Parkettböden des Schlößchens unter den Schritten derer knarrten, die vor der Tür unruhig antichambrierten und darauf warteten, daß ihr Herr endlich zurückfinde in die Wirklichkeit. Doch es war, als säße der König blind und taub im Parkettknarren seiner Diener und vergäße alles um sich her, und Marie, die Hände vor der Schnürung ihres Kleides gefaltet, stand geduldig bei ihm an der glänzenden Holztäfelung neben dem hohen Fenster.
Niemand hatte sie jemals auf diese Weise betrachtet. Der König sah sie an, ohne daß sein Blick irgend etwas an ihr zu finden schien, und als sie das bemerkte, spürte sie im selben Augenblick, wie sehr sie es genoß. Als könnte sie sich unter dem völlig gleichgültigen Blick selbst vergessen. Irgendwann wagte sie es, die Augen zu schließen, um diesem Gefühl nachzuspüren, dem Honigfluß dieses seltsamen Triumphes, der wohl darin bestand, dem König zu gehören. Der Rücken tat ihr weh, und ihre Füße, eingeschnürt in den ungewohnten Seidenschühchen, begannen erst zu kribbeln und dann zu pulsieren vor Schmerz, doch auch der Schmerz ließ sie triumphieren. Und obwohl ja nichts Unsittliches darin lag, flatterten ihr doch die Augenlider vor Erregung. Wie ein Tierchen war sie. Nein, wie etwas noch viel Geduldigeres. Noch viel Nachgiebigeres. Noch viel Stummeres. Stand mit zitternden Lidern vor dem König und spürte lächelnd auf der eigenen Haut, wie sein Vergessen sie zu einem Ding werden ließ.
Als sie sich das mit Herzklopfen zum ersten Mal eingestand, mußte sie einen Moment ihre Schenkel gegeneinanderdrücken, um die Spannung zu verringern. Sie war ein Ding. Ein Ding, das man benutzte, selbst dann, wenn man es vergaß. Denn auch dann war es da. Sie gehörte ihrem König wie die Insel, auf der sie waren, und die ebenso stumm blieb wie sie, was auch immer geschah. Und die immer da war. Hierher, wußte Marie, gehörte sie. Hier konnte ihr nichts geschehen. Hier war sie schön. Ich bin kein Monster, dachte sie. Und spürte, wie das Vergessenwerden ihr Fleisch mit seinem sehnenden, lustvollen Schmerz mazerierte. Sie triumphierte unter ihren geschlossenen, wenn auch zitternden Lidern, und ein Lächeln zuckte um ihre Lippen. Sie zwang sich, ganz flach zu atmen, und stand still, ganz still.
Der Schnee wollte lange nicht schmelzen im fahlen Licht des kalten Frühjahrs, das auf den Winter 1812 folgte, doch als das struppige Pferd seine Hufe zögerlich auf das Eis des Ufersaums setzte, zerbrach es mit lautem Krachen. Marie blieb überrascht stehen, im Arm das Bündel Reisig, das zu holen Fintelmann ihr und ihrem Bruder aufgetragen hatte. Christian war in diesem Moment viel zu weit weg, als daß er hören konnte, was sie hörte, und dennoch sah sie sich aufgeregt nach ihm um, während das Pferd durch das nun aufspritzende Wasser auf sie zustampfte.
Soldaten! War es nur einer, oder waren es mehrere? Marie rührte sich nicht, sie war ja so klein, vielleicht übersah man sie. Ein Kind, was sollte man auch damit? Verstohlen musterte sie die Uniform dessen, der da auf sie zukam. Wenn sie auch hier auf der Insel weit weg vom Krieg lebten, kannte sie doch wie alle die Uniformen der Franzosen, aber eine solche Aufmachung hatte Marie noch nie gesehen: eine schwarze Schafsfellmütze und ein weiter brauner Filzmantel, dessen Schöße über das Hinterteil des wirklich sehr struppigen