Pfingstopfer - Ulrich Woelk - E-Book

Pfingstopfer E-Book

Ulrich Woelk

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Beschreibung

Mit welcher Wahrheit können wir leben? Über die Freiheit des Willens und religiösen Fundamentalismus Ein bizarrer Mord: Im Garten eines freikirchlichen Gemeindehauses wird die Leiche einer Prostituierten gefunden. In ihrem Schädel findet sich ein Zettel mit einer religiösen Botschaft: »Die Wahrheit wird euch frei machen.« Als der Kriminalbeamte Anton Glauberg vom Tatort nach Hause kommt, sitzt überraschendseine ehemalige Kollegin Paula Reinhardt vor der Tür. Reinhardt war vor Jahren selbst wegen Mordes verurteilt worden – jetzt ist sie auf Bewährung wieder frei. Glauberg nimmt Paula mit auf seine Ermittlungen, die ihn bald zu einem Forscher am Max-Planck-Institut für Neurobiologie führen.Dieser hatte aus wissenschaftlicher Perspektive Gott für tot erklärt – und damit die Vertreter der Freikirche gegen sich aufgebracht. 

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Seitenzahl: 420

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Ulrich Woelk

Pfingstopfer

Kriminalroman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Als der Pfingsttag anbrach, waren wieder alle am selben Ort zusammen. Plötzlich entstand vom Himmel her ein Brausen. Es klang wie das Tosen eines heftigen Sturms und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Sie sahen etwas, das wie Feuerzungen aussah, sich zerteilte und sich auf jeden Einzelnen von ihnen setzte. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und fingen plötzlich an, in fremden Sprachen zu reden, so wie es ihnen der Geist eingab.

 

Sie waren bestürzt. »Was ist das nur?«, fragte einer den anderen ratlos und erstaunt. Einige allerdings sagten spöttisch: »Die haben nur zu viel vom süßen Wein getrunken.« Da trat Petrus mit den anderen elf Aposteln vor die Menge und rief mit Begeisterung: »Ihr Männer von Juda und ihr alle in Jerusalem! Ich will euch erklären, was hier geschieht! Hört mir zu! Diese Männer hier sind nicht betrunken, wie ihr denkt, es ist ja erst um neun Uhr früh. Nein, hier erfüllt sich, was Gott durch den Propheten Joël gesagt hat: ›In den letzten Tagen werde ich meinen Geist auf alle Menschen ausgießen, spricht Gott. Eure Söhne und Töchter werden prophetisch reden, eure jungen Männer werden Visionen sehen und eure Ältesten Traumgesichte haben. Sogar auf die Sklaven und Sklavinnen, die mir dienen, werde ich dann meinen Geist ausgießen, und auch sie werden prophetisch reden. Oben am Himmel werde ich Wunder tun und Zeichen unten auf der Erde: Blut, Feuer und Rauchwolken; die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut …‹«

DIE APOSTELGESCHICHTE DES LUKAS, 2. KAPITEL

Sonntag

1

Die Gemeinde hieß: Sein Wille geschehe. Das Gemeindehaus, ein hellroter eingeschossiger Backsteinbau mit weißen Fensterrahmen, der noch recht neu wirkte, lag an einer geschwungenen Landstraße. Zu Pfingsten vor ungefähr einem Jahr hatte die Gemeinde das Gebäude eingeweiht und bezogen, und seitdem fanden die Gottesdienste dort statt. Ein kleiner Park mit Kieswegen und getrimmten Buchsbäumen umgab das Haus. In dem Park ragte auf einem weißen, fünf bis sechs Meter hohen Turm ein großes Bronzekreuz in den Himmel.

Der Gemeindevorsteher ließ den Wagen an den Straßenrand rollen und schaltete den Motor ab. Der Kies auf dem Boden dampfte. In der Nacht war ein schwerer Regen niedergegangen, doch jetzt zogen die Wolken ab. Die Straße und das flach geneigte, mit Bitumenschindeln gedeckte Dach des Gemeindehauses glänzten. Von unten sah es so aus, als hätte das in den Himmel ragende Kreuz auf dem Turm die abziehenden Wolken vertrieben. Die Landschaft leuchtete im hellen Sonnenlicht auf, und der Gemeindevorsteher dachte an einen Satz aus der Bibel: Und Gott sah, dass es gut war.

Er stieg aus dem Wagen. Wie jeden Sonntag traf er etwa anderthalb Stunden vor dem Gottesdienst beim Gemeindehaus ein, um alles vorzubereiten. Er ging um den Wagen herum auf das Gartentor zu. Das Tor war normalerweise verschlossen, daher irritierte es ihn einen Moment, dass es nur angelehnt war. Das Tor zu schließen war wichtig, um den Park vor Wildschäden zu schützen. Die Gemeindemitglieder wussten das und waren in dem Punkt zuverlässig. Jemand musste es beim Verlassen des Geländes eilig gehabt haben. Wahrscheinlich war das Unwetter in der Nacht der Grund dafür gewesen.

Der Gemeindevorsteher öffnete das Tor. Die ersten Gottesdienstbesucher würden in etwa einer Stunde eintreffen. Der Turm mit dem Bronzekreuz war an drei Seiten von einer Ligusterhecke umgeben. Auf dem Weg dorthin lagen Blätter und kleine Zweige herum, die der Sturm von den Bäumen gerissen hatte.

Hinter der Ligusterhecke verkündete eine bronzene Relieftafel auf einem hüfthohen Granitpult den Gemeindenamen. Die Inschrift war vor dem ersten Gottesdienst feierlich enthüllt worden. Als Erstes wollte der Gemeindevorsteher die Tafel von herabgewehtem Laub befreien. Er erreichte die Hecke und wendete sich nach rechts. Dann blieb er stehen, und ihm stockte der Atem. Er verstand zuerst nicht, was er dort sah.

Das Erschütterndste, was er je zu Gesicht bekommen hatte, war das hilflose Verenden eines jungen Rehs gewesen, das er vor ein paar Jahren in dichtem Nebel überfahren hatte. Heftig und stoßweise atmend war das zitternde Tier auf dem Asphalt verblutet. Es hatte lange gedauert, bis sein Blick aus den schönen großen dunklen Augen schließlich erloschen war. Doch mit dem schockierenden Anblick, der sich ihm jetzt bot, war das traurige und qualvolle Ende der sterbenden Kreatur nicht zu vergleichen.

Auf dem Pult mit der Bronzetafel lag eine Frau. Sie war nackt. Ihr Rücken war ins Hohlkreuz gebogen. Ihre Arme, die zu beiden Seiten des Pults herabhingen, waren ausgebreitet wie am Kreuz. Die Beine der Frau waren gespreizt, sodass sich ihr Geschlecht jedem, der sich ihr von dieser Seite aus näherte (und es gab keine andere Seite, von der aus man sich ihr als Kirchenbesucher hätte nähern können), offen darbot.

Die Finger- und Zehennägel der Frau waren lackiert. Von ihrem Bauchnabel ausgehend, wand sich das Tattoo einer Schlange mit weit aufgerissenem Maul bis hinunter zu ihrer rasierten Scham. Auf einmal spürte der Gemeindevorsteher, dass sich hinter dem Erschrecken über das, was er sah, eine andere, ebenso erschreckende Empfindung verbarg. Hinter dem Grauen lauerte die Erregung, denn die Frau war jung und schön.

Er wendete seinen Blick ab. Er konnte nicht untätig stehen bleiben und das Eintreffen der Gottesdienstbesucher abwarten. Durfte er den Zustand der Frau verändern? Durfte er wenigstens ihre Blöße bedecken? Wahrscheinlich nicht. Er konnte nur die Polizei verständigen und neben der Leiche ausharren. Er musste bezeugen können, dass er alles exakt so, wie es jetzt war, vorgefunden hatte. Ihm wurde die Verantwortung bewusst, die auf jedem seiner nächsten Schritte lag, denn was auch immer er tun würde, betraf nicht nur ihn, sondern die ganze Gemeinde.

Den Abstand beibehaltend, ging er um die Tote herum. Ihr Kopf hing hinter dem Podest im Nacken. Ihre Augen waren aufgerissen, die Lippen farblos, die Haut fahl und bläulich. Ihrem Gesicht war der Tod deutlicher anzusehen als ihrem Körper. Ihr Schädel war kahlrasiert und nicht nur das. Eine Wunde war darauf zu sehen, und unter ihrem herabhängenden Kopf lehnte ein Gegenstand am Fuß des Pults. Die Tote lag im grellen Sonnenlicht da, und ihre erloschenen Augen starrten in den Himmel. Und die Form der Wunde und der Gegenstand am Fuß des Pults sagten: Nur einer konnte diese Frau getötet und auf das steinerne Podest mit der Inschrift Sein Wille geschehe gelegt haben – der Teufel.

2

Es war noch kühl in der Küche, die Heizung hatte gerade erst begonnen zu arbeiten. Luxuriös war das achtzig oder neunzig Jahre alte Haus nicht gerade. Der Boden bestand aus grau gewordenen Holzdielen, und die Fenster waren für heutige Verhältnisse zu klein. Glauberg schaltete das Licht ein. Er füllte die Kaffeemaschine und sah hinaus in den trüben verregneten Morgen. Der Deich hinter der Straße verlor sich in der kargen nordfriesischen Landschaft. Das Haus war von Wiesen umgeben, die ein paar Mal im Jahr Besuch von Schafherden bekamen. Ansonsten war in der Gegend, abgesehen von einem jährlichen Deichlauf und dem beständigen Sprießen neuer Windräder, nicht viel los.

Eine Katze strich um Glaubergs Beine. Er kraulte sie und sagte: »Na, Jeannie.« Den Schwanz aufgerichtet wie eine Antenne, rieb sie ihren Kopf an seiner Hose. Dann zog sie weiter und setzte sich mit erwartungsvoll angehobenem Blick vor den Kühlschrank. Glauberg füllte Futter in ihren Napf und sah dabei zu, wie sie sich niederließ, um das Futter zunächst skeptisch zu beschnuppern, bevor sie zu fressen begann.

Sah man von Jeannie ab, wohnte Glauberg allein in dem alten Bauernhaus. Es wäre für eine Familie auch zu klein gewesen. Glauberg hatte Familie: eine Frau, Sylvia, und einen Sohn, Felix. Aber er lebte mit beiden nicht zusammen. Er hatte sich vor zehn Jahren von Sylvia getrennt, allerdings hatten sie sich nie scheiden lassen. Vor dem Gesetz waren sie immer noch Mann und Frau.

Ihre Ehe und Nicht-Ehe war nicht gerade eine Erfolgsgeschichte. Sylvia war nach der Trennung zunehmend depressiv geworden. Wahrscheinlich war sie es auch vorher schon gewesen. Aber nachdem Glauberg aus ihrem ehemals gemeinsamen Haus ausgezogen war, kam es immer häufiger vor, dass sie mittags noch im Morgenmantel war und müde und ungepflegt und gleichgültig aussah, wenn sie die Tür öffnete. Irgendwann ließ sie Glauberg nicht mehr hinein, wenn er Felix abholen wollte, sondern schickte den Jungen mit seinen Sachen wortlos auf die Straße.

Glauberg sprach Felix darauf an, bekam aber immer nur ausweichende Antworten. Erst als das Kind einmal mit einer nur notdürftig verbundenen Hand an der Straße stand und Glauberg wissen wollte, was geschehen war, konnte der Junge die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er hatte sich bei dem Versuch, eine Raviolidose zu öffnen, am Dosendeckel geschnitten.

Gefragt, warum er das Öffnen der Dose nicht seiner Mutter überlassen habe, antwortete er, dass sie das nicht mache, dass sie gar nichts mehr mache, überhaupt nichts, und er habe doch Hunger gehabt! Glauberg öffnete den Verband. Die Wunde war noch frisch und lief quer über die Innenhand. Er fuhr mit Felix ins Krankenhaus, der Schnitt konnte noch genäht werden.

Bei Sylvia wurde ein psychovegetatives Erschöpfungssyndrom ohne organisch bestimmbare Ursache diagnostiziert. Natürlich, so hieß es, könne Stress, auch seelischer Stress, dabei eine Rolle spielen, wie Stress ganz allgemein ein Nährboden für depressive Erkrankungen sei. Aber meistens gebe es noch andere auslösende Faktoren, die in dem Zusammenhang berücksichtigt werden müssten – genetische, hormonelle oder umweltbedingte.

Sylvia war bereit, sich therapieren zu lassen, und konnte nach ein paar Wochen in einer psychiatrischen Einrichtung in ihr Leben als Mutter und Buchhändlerin zurückkehren. Seither war sie phasenweise – manchmal über Monate oder fast ein Jahr – psychisch relativ stabil. Doch dann brach die Krankheit wieder durch und lähmte sie, wobei die depressiven Schübe mal stärker, mal schwächer waren.

Natürlich fragte Glauberg sich nach ihrer Trennung häufig, ob die Ursachen für Sylvias Probleme nicht auch in ihrer glücklosen Ehe lagen. Doch andererseits gab es viele Ehen, die scheiterten, ohne dass es bei einem der Partner gleich zur Ausbildung einer behandlungsbedürftigen Depression kam. Sollte er sich also schuldig fühlen? Er wusste es nicht, aber die Frage war ihm nicht gleichgültig. Er konnte nicht viel tun, außer sich damit abzufinden, wie es war. Deswegen betrieb er auch die Scheidung nicht. Doch als vor drei Wochen, an einem gewöhnlichen Mittwochnachmittag sein Telefon klingelte und sich Brunner meldete, Sylvias behandelnder Psychiater, ahnte Glauberg, dass der Anruf nichts Gutes bedeutete. Und so war es. Brunner teilte ihm mit, dass Sylvia einen Suizidversuch unternommen hatte.

Ein rhythmisches Geräusch, eine Art Schnaufen oder Pumpen, riss Glauberg aus seinen Gedanken. Jeannie saß zusammengekauert und mit vorgestrecktem Kopf neben der Küchentür und würgte. Dann öffnete sie ihr Maul und entließ daraus einen sehr unansehnlichen Brei. Glauberg stand auf und spulte ein paar Blätter Küchenpapier von der Rolle. Jeannie gab einen kläglichen Laut von sich und drückte sich in eine Ecke unter dem Tisch. Von dort aus sah sie Glauberg dabei zu, wie er das Erbrochene aufwischte und die Küchentücher in den Müll warf. Danach ging er zum Telefon und wählte die Nummer von Kroll, dem Tierarzt. Nach dem fünften oder sechsten Klingeln wurde abgehoben. Glauberg entschuldigte sich für den Anruf am Sonntagmorgen und sagte: »Seit vorgestern übergibt sich Jeannie nach jeder Mahlzeit. Ich hätte dich damit gerne in Ruhe gelassen, aber jetzt bin ich doch beunruhigt.«

»Schon gut«, sagte Kroll. »Schaffst du’s bis zehn?«

»Ja«, sagte Glauberg. »Ich fahre gleich los.«

Mit etwas Geduld gelang es ihm, Jeannie aus der Ecke zu locken, in die sie sich verkrochen hatte. Er schob sie in den Transportkorb. Draußen regnete es. Er beugte sich schützend über den Korb und eilte zum Wagen. Er hatte etwa fünfzehn Kilometer zu fahren, eine übliche Entfernung für die dünn besiedelte Gegend hier. Es gab weitere Wege. Während der Fahrt ließ der Regen nach. Als Glauberg das Haus Krolls erreichte, brach die Sonne durch die Wolken. Das Haus war Teil einer losen Reihe von ähnlichen Backsteingebäuden. Der Tierarzt wohnte darin, und es war zugleich seine Praxis. Die Säulen der Pappeln am Straßenrand flammten in Sonnenlicht auf.

Glauberg ging mit dem Tierkäfig durch das Gartentor. Kroll erschien in der Haustür. Im Gegensatz zu Glauberg hatte Kroll noch volle Haare, die, gescheitelt nach links, seinen Kopf glatt und gleichmäßig bedeckten. Seine Figur, einstmals schlank, war in den mehr als zwanzig Jahren, die sie sich jetzt kannten, korpulent geworden. Sie gaben sich die Hand.

Kroll trug einen Anzug und war ausgehfertig. »Viel Zeit habe ich nicht«, sagte er. »Eine Viertelstunde.«

»Es tut mir wirklich leid«, entschuldigte sich Glauberg. »Aber das geht jetzt schon zwei Tage so. Sie frisst, und dann, ein paar Minuten später, übergibt sie sich.«

Von einem breiten Flur zweigte rechts der Warteraum ab, der jetzt leer war. Im Behandlungszimmer stellte Glauberg den Käfig auf den Tisch und öffnete das Klappgitter. Jeannie kauerte sich zusammen. So wenig sie in den Käfig hineingewollt hatte, so wenig wollte sie jetzt heraus.

»Ein Infekt, nehme ich an«, sagte Kroll. Er streckte seinen Arm in den Käfig, um die Katze herauszuziehen. »Wahrscheinlich ist sie zur Zeit viel draußen, oder?«

»Ich weiß nicht. Ich bin wenig zu Hause. Du weißt ja, dass die Dinge im Moment ein wenig …«, er suchte nach dem angemessenen Wort, »… schwierig sind.«

Kroll nickte. »Wie geht es Sylvia denn?« Er kannte Sylvia länger als Glauberg, die beiden verband eine Sandkastenfreundschaft. Als Glauberg und Sylvia geheiratet hatten, war Kroll Trauzeuge gewesen. Viel genutzt hatte das nicht, wofür man aber wohl kaum Kroll verantwortlich machen konnte, auch wenn er nie Glück mit den Frauen gehabt und selbst nie geheiratet hatte. Er packte Jeannie am Genick und zog sie aus dem Käfig. Sie leistete kaum Widerstand. Jedem anderen hätte sie die Hand ruiniert, aber bei dem Tierarzt kuschte sie.

»Den Umständen entsprechend«, sagte Glauberg. »Wenn wir miteinander reden, ist es mal so mal so. Vielleicht besuchst du Sylvia mal. Sie würde sich sicher freuen.«

»Wenn du meinst. Ich mach das gern.« Kroll presste Jeannie auf den Tisch und führte ihr ein Fieberthermometer ein. Die Katze fügte sich in ihr Schicksal und leistete keinen Widerstand mehr.

Glauberg sah aus dem Fenster. Die Sonne hatte sich durchgesetzt und ließ die Landschaft dampfen. »Wir haben alles versucht. Wir haben zusammengelebt, uns getrennt, sind noch mal zusammengezogen, haben uns wieder getrennt … Es geht einfach nicht.«

Kroll kniff die Augen zusammen und betrachtete die Anzeige des Fieberthermometers. »Achtunddreißig-fünf – viel für eine Katze. Ich spritze ihr ein Antibiotikum, dann müsste sie schnell wieder auf die Beine kommen.«

»Aber ich habe Sylvia bis heute nicht das Gefühl gegeben, dass sie mir gleichgültig ist«, sagte Glauberg. »Den Vorwurf brauche ich mir nicht zu machen.«

Kroll ließ Jeannie los und ging zu einem weißen Wandschrank mit vielen Schubladen. Anstatt ihre plötzliche Freiheit zu nutzen und vom Tisch zu springen, kauerte die Katze weiter mit eingezogenem Kopf vor dem Käfig. Sie verfolgte Krolls Handlungen, als habe sie sich ihm unterworfen wie einem allmächtigen Gott. Kroll nahm die Spritze mit dem Medikament aus der Verpackung und sagte: »Was ist mit Felix? Kommt er zurecht?«

»Er verhungert nicht, und er geht zur Schule – da habe ich mich erkundigt. Soweit ist alles in Ordnung. Ich kann ihn mit siebzehn nicht zwingen, bei mir zu wohnen. Das würde auch nichts bringen. Er hängt vorm Computer und spielt oder chattet, was weiß ich – das tun sie ja alle … Ich schaue ab und an bei ihm vorbei und frage ihn, ob er klarkommt. Aber ich glaube, er ist immer froh, wenn ich wieder weg bin.«

Kroll hielt Jeannie fest, als er ihr die Injektion verabreichte. Sie zuckte beim Einstich zusammen und maunzte einmal auf, ohne wirklich aufzubegehren. Kroll legte die Spritze beiseite. »Achte darauf, dass sie Sylvia in der Psychiatrie nicht zu sehr mit Medikamenten ruhigstellen. Ohne Psychopharmaka wird es in ihrem Fall nicht gehen, aber die Kunst liegt darin, das richtige Maß zu finden.«

»Der Chef der Psychiatrie heißt Brunner. Kennst du ihn?«

»Dem Namen nach. Du bist ein geübter Beobachter. Frag ihn nach allem, was dir auffällt. Lass dich nicht abfertigen.«

Kroll drehte Jeannie zum Käfig, und sie huschte hinein. Als Glauberg das Klappgitter schloss, klingelte sein Telefon. Es war Spiller, sein Kollege. »Wo steckst du?«, sagte er.

»Beim Tierarzt. Eine Art Notfall.«

»Haben wir hier auch.«

»Was gibt’s.«

»Kennst du das neue freikirchliche Gemeindehaus an der L28 zwischen Norstedt und Drelsdorf?«

»Ja, ich glaube.«

»Du solltest herkommen. Eine Leiche.«

»Ich bin unterwegs.« Glauberg trennte die Verbindung.

»Ist was passiert?«, erkundigte sich Kroll.

Glauberg vertraute ihm. Kroll würde nicht als Nächstes die Presse informieren, aber es war doch besser, ihm keinen Anlass für Spekulationen zu geben. »Könntest du Jeannie dabehalten?«

Kroll zog die Augenbrauen hoch. »Doch nichts mit Sylvia?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich erkläre dir die Sache später. Tust du mir den Gefallen?«

»Hm, na ja …«

»Ich gebe einen aus«, sagte er. »Ich hole Jeannie ab, sobald die Angelegenheit geklärt ist.«

»Schon gut. Sie braucht sowieso Ruhe.«

»Ich danke dir.« Glauberg hatte das Bedürfnis, noch eine private Bemerkung hinzuzufügen, damit sein Aufbruch nicht ganz so überstürzt wirkte. »Siehst du Gnaatz gleich?«

Kroll nickte. »Beim Kaffee, ja.«

»Kannst du ihn von mir grüßen und ihm ausrichten, dass es morgen mit dem Joggen eng werden könnte? Ich rufe ihn an.«

»Richte ich ihm aus«, sagte Kroll.

»Nochmal, danke!«

Glauberg verließ das Haus ohne Hast. Er dachte: Eine Leiche an einem Sonntagmorgen. Nicht gerade das, was man sich wünscht. Wobei ihm der Tag eigentlich egal war. Er war nicht religiös. Die feuchten Büsche und Bäume hatten im Sonnenlicht dunstige Aureolen.

3

Auf der Straße vor dem umzäunten Gemeindehaus bei Drelsdorf bahnte sich Glauberg einen Weg durch die Menge. Der Zaun war mit einem blau-weißen Absperrband gesichert. Polizisten bemühten sich, die Gottesdienstbesucher vom Eingangstor fernzuhalten. Glauberg schätzte, dass es an die Hundert waren. Die Unterhaltungen waren gedämpft. Manche blickten verstohlen zum Kirchturm, um in Erfahrung zu bringen, was dort vor sich ging. Die in helle Laborüberzüge gehüllten Beamten der Spurensicherung erregten die Aufmerksamkeit der Gemeindemitglieder. Kinder drängten sich neugierig gegen den Zaun und betrachteten sie wie Astronauten. Auch das noch, dachte Glauberg: Kinder am Tatort.

Das rhythmisch gepulste Brummen eines Helikopters erfüllte die Luft. Die Polizei in Schleswig-Holstein verfügte über keine Hubschrauberstaffel, also konnte das Geräusch nichts Gutes bedeuten. Wahrscheinlich hatte ein regionaler Fernsehsender bereits von der Sache Wind bekommen.

Der Helikopter stand mit laufendem Rotor in dreißig Metern Entfernung auf einer Wiese. Von dort aus bahnte sich eine rothaarige Journalistin mit Kurzhaarschnitt und energischem Gang, einen blutjungen Kameramann im Gefolge, einen Weg durch die Menge. Sie erreichte das Tor des Gemeindegeländes und baute sich mit ihrem Mikrofon vor dem wachhabenden Beamten auf. Glauberg kannte den Beamten und nickte ihm zu, als er durch das Tor gehen wollte. Doch die Journalistin hielt ihn auf.

»Stimmt es«, fragte sie, »dass eine junge Frau gefunden wurde, die das Opfer einer brutalen Vergewaltigung geworden ist?«

Glauberg fragte sich eine Sekunde lang, woher sie ihre Spekulationen hatte. Von hier aus war nicht zu erkennen, was auf dem Gelände vorgefallen sein konnte. Aus was für rudimentären Informationen bildeten sich derartige Gerüchte? Oder war es einfach nur journalistische Routine, irgendeine drastische Behauptung in den Raum zu stellen, um durch die Reaktion darauf – ein halbherziges Dementi – weitere Schlüsse ziehen zu können?

»Kein Kommentar«, sagte Glauberg und ließ sie stehen.

»Dann kann ich davon ausgehen, dass es stimmt?«, rief sie ihm nach. Er reagierte nicht darauf und bog hinter dem Eingangstor in den Garten. Um den Hauptweg, den der Täter vermutlich genommen hatte, zu meiden, war eine Nebentrasse durch die Beete freigelegt worden. Wenn hier alles vorbei sein würde, schlug die Stunde der Gärtner.

Glauberg ging auf das Gemeindehaus zu. Vor einem weißen Zeltpavillon mit der Aufschrift Polizei am Fuß des Kirchturms stand Spiller. Er sah nicht besonders gut aus, aber das musste mit dem, was unter dem Zelt zu sehen sein würde, nichts zu tun haben. Seine Frau hatte Krebs und litt unter den Nebenwirkungen der Chemotherapie, wie Glauberg wusste.

»Keine schöne Sache«, sagte Spiller. »Eine Frau Anfang zwanzig. Wir haben sie noch nicht identifiziert.«

»Hätte Jansen das nicht übernehmen können?«, sagte Glauberg.

»Er ist übers Wochenende irgendwo in Süddeutschland und erst heute Abend wieder zurück.«

»Tut mir leid … Kein Pass oder irgendwelche Papiere?«

»Sie hat gar nichts bei sich. Sie ist nackt.«

»Eine Vergewaltigung?«

»Wissen wir noch nicht. Sieht eher nach einem Ritualmord aus. Du musst dir das selbst ansehen. Wir haben ihre Kleider hier nirgendwo finden können. Der Täter hat die Leiche offensichtlich ganz bewusst hier abgelegt – ist für ihn vielleicht irgendeine Botschaft. Das Ganze ist ein ziemlich krankes Arrangement.«

Glauberg betrat den Schutzpavillon. Als er die Tote sah, gab er Spiller recht: ein krankes Arrangement. Die junge Frau lag mit dem Rücken auf einem etwa hüfthohen Podest. Als Erstes – ob man wollte oder nicht – fiel der Blick auf ihre Scham und ein Schlangentattoo unterhalb ihres Bauchnabels. Ihre herabhängenden Füße berührten den Kiesboden. Die Arme waren ausgebreitet wie am Kreuz. Diese Assoziation musste sich hier am Fuß eines Kirchturms wohl einstellen. Die Luft im Zelt war stickig.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, erkundigte sich Glauberg.

»Der Gemeindevorsteher. Der scheint hier so ’ne Art Mädchen für alles zu sein. Das Gebäude gehört irgendeiner Freikirche, von der ich noch nie was gehört habe, also keine Scientologen oder Zeugen Jehovas, oder was es da so gibt. Der Vorsteher wollte die Kirche aufschließen und alles für den Gottesdienst vorbereiten.«

Der Kopf der Toten hing tief im Nacken und war kahlrasiert. Glauberg verdrängte, was der Anblick für Spiller bedeuten musste. Bei seiner letzten Begegnung mit Spillers Frau hatte sie auch praktisch keine Haare mehr gehabt. Jetzt eine kahlrasierte Tote zu sehen, musste für ihn schwer zu verkraften sein. Aber er ließ sich nichts anmerken.

Glauberg ging um die Leiche herum.

»Was ist das?«

»Ich würde sagen, der Täter hat aus dem Podest hier eine Art Altar gemacht«, sagte Spiller.

Unter dem Kopf der Toten lehnte ein vierzig oder fünfzig Zentimeter hohes Holzkreuz am Granitsockel. Am Querbalken des Kreuzes hing das spitze Horn einer Ziege oder eines Schafs. Es war mit einem dünnen Lederband am Kreuz befestigt. Glauberg hatte keine Ahnung, was es mit dem Horn auf sich haben könnte. Er ging in die Hocke. Auf dem Schädel der Toten war eine Wunde zu erkennen, aber um sie genauer in Augenschein zu nehmen, musste er den Kopf der Toten anheben. Spiller reichte ihm zwei Gummihandschuhe. Er zog sie über und berührte vorsichtig den Nacken der Leiche. Die Haut war kalt. Glauberg hob den Kopf an, sodass er die Wunde schließlich aus der Nähe betrachten konnte. Er hatte so etwas noch nicht gesehen – nicht im Zusammenhang mit einem Verbrechen und auch sonst nicht, zum Beispiel in der Pathologie oder in einem Krankenhaus. Es handelte sich um zwei senkrecht zueinander stehende Operationsnähte auf der Schädeldecke der Toten. Offenbar war die Kopfhaut dort kreuzförmig eingeschnitten, aufgeklappt und anschließend wieder mit Nadel und Faden verschlossen worden.

»Gibt es noch andere Verletzungen?«

»Sie ist geschlagen worden. Am deutlichsten sichtbar ist der blaue Fleck unter dem rechten Auge und ein paar Hämatome am linken Oberarm und an der Schulter. Den Rücken haben wir noch nicht untersucht, aber die Spurensicherung ist mittlerweile mit ihr fertig und wir können sie vom Podest heben.«

Glauberg ließ den Kopf der Toten zurück in den Nacken sinken und richtete sich auf. Sein Blick fiel auf ihren rechten Arm. In der Armbeuge erkannte man die Einstichstelle einer Injektion.

»In Hamburg«, sagte er, »würde man sie spontan für eine Prostituierte vom Drogenstrich halten, aber hier zwischen Norstedt und Drelsdorf …«

»Sie könnte trotzdem aus Hamburg sein.«

»Wir schicken den Kollegen dort ein Bild von ihr. Haben wir sonst irgendwelche Spuren?«

»Sieht schlecht aus. Sie lag stundenlang im Regen. Ich glaube nicht, dass wir viel Verwertbares finden.«

»Vor allem müssen wir klären, woran sie überhaupt gestorben ist.« Glauberg winkte zwei Beamte in Laboranzügen heran. »Ihr könnt sie jetzt runternehmen.«

»Der Täter hat ihr die Kopfhaut kreuzförmig aufgeschlitzt, aber das ist nicht tödlich«, überlegte Spiller.

»Wir müssen herausbekommen, was das sollte. Ohne die Pathologie kommen wir da nicht weiter.«

Die Beamten der Spurensicherung breiteten eine dunkle Folie neben dem Podest aus. Sie hoben die Leiche vorsichtig an und legten sie darauf. Dadurch wurde auf dem Podest die Bronzeplatte mit dem Gemeindenamen sichtbar: Sein Wille geschehe. Glauberg dachte, dass das ein sehr zynischer Kommentar zu den Ereignissen war.

»Ich frage mich, was es mit dem Kreuz und dem Horn auf sich hat«, sagte Spiller und fügte hinzu: »Wann hören die Leute endlich auf, an diesen finsteren religiösen Scheiß zu glauben.«

Glauberg schwieg. Die Bemerkung war ein Hinweis darauf, wie es in Spiller aussah, wie sehr seine persönliche Situation ihm zusetzte. Er liebte seine Frau, die vielleicht sterben würde. Dann stand er mit seinen beiden Kindern alleine da. Wenn es einen Gott gibt, hatte er kürzlich bei irgendeiner Gelegenheit gesagt, dann ist er ein Arschloch.

»Vielleicht kann uns der Gemeindevorsteher in dem Punkt weiterhelfen«, sagte Glauberg. »Er sollte sich mit religiösen Symbolen auskennen. Wie heißt er?«

»Sven Pohlsen, Steuerberater aus Ostenfeld. Ich habe ihm gesagt, er soll im Gemeindehaus warten.«

»Hast du eine Ahnung von Freikirchen?«

Spiller schüttelte den Kopf. »Vielleicht sind die so was wie Baptisten oder Mormonen. Ich mache mich mal kundig. Vor Kurzem habe ich einen Bericht über Freikirchen in Südamerika gesehen. Der Papst ist ja Argentinier. Offenbar sind die da äußerst erfolgreich und machen der katholischen Kirche ernsthaft Konkurrenz.«

Sie verließen das Zelt. Das Dröhnen des Helikopters lag wieder in der Luft und wurde lauter. Glauberg sah auf. Der Hubschrauber hob ab und schwebte ein paar Sekunden über der Wiese. Dann drehte er bei und kam langsam näher. Der junge Kameramann saß in der offenen Tür – ein Adrenalinkick, wie er zwischen Norstedt und Drelsdorf sicher nicht häufig zu haben war. Die Planen des provisorischen Zelts begannen in den Luftwirbeln zu knattern. Es war, als wollte der Hubschrauber das Zelt fortreißen, um endlich zu sehen zu bekommen, was sich darunter verbarg.

Glauberg drehte sich noch einmal zur Leiche um. Wer auch immer die junge Frau war, sie hatte wohl kaum ein glückliches Leben gehabt. Alles, was man jetzt noch für sie tun konnte, war, sie vor den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit zu schützen. Er nickte den beiden Männern von der Spurensicherung zu, und sie schlossen die Öffnung des provisorischen Zelts.

4

Hinter der Eingangstür des Gemeindehauses befand sich ein bestuhlter Saal. Der Boden war mit grauem Teppich belegt. Die Stühle hatten dünne verchromte Beine, die Sitzschalen aus Holz waren mit dünnen blassroten Polstern bezogen. Glauberg musste eher an einen Konferenz- oder Vortragsraum denken als an eine Kirche. Aber an der weiß getünchten Backsteinwand hinter der Bühne hing ein großes Kreuz.

Sven Pohlsen, der Gemeindevorsteher, saß in der vordersten Reihe. Er starrte auf das Kreuz. Als er Glauberg kommen hörte, drehte er sich um und stand auf. Er trug einen grauen Anzug, und die Knöpfe seines Jacketts waren geschlossen. Das wirkte förmlich und offiziell. Glauberg trug die dunkelblaue gefütterte Regenjacke, die er angezogen hatte, als er mit Jeannie aus dem Haus gegangen war. Jetzt schien die Sonne, und er brauchte sie eigentlich nicht mehr. Gegenüber Pohlsen war seine Statur, erst recht mit der gefütterten Jacke, groß und wuchtig. Er stellte sich vor und sagte mit Blick auf die vielen Gläubigen auf der Straße: »Ich glaube nicht, dass Sie heute noch zu Ihrem Gottesdienst kommen werden.«

»Vielleicht wäre es das beste«, sagte Pohlsen leise und tonlos, »wenn wir alle miteinander beten würden.« Die Fenster auf der linken Seite reichten bis zum Boden. Der Gemeindevorsteher sah hinaus in den zertretenen Garten.

»Was machen Sie hier normalerweise vor den Gottesdiensten?«, fragte Glauberg. »Gibt es viel zu tun?«

Pohlsen drehte sich um. »Ich öffne die Tür, regle die Heizung hoch, verteile Gesangszettel, stelle die Lautsprecheranlage an. Heute wollte ich den Garten und die Wege nach dem Sturm säubern. Als ich angekommen bin, brach die Sonne durch die Wolken … Auf einmal wurde es schön …«

Glauberg überlegte, ob er sich hinsetzen sollte, entschied sich aber dagegen. »Ist Ihnen bereits auf der Straße etwas aufgefallen?«

»Das Gartentor war nicht zugezogen. Das war ungewöhnlich.«

»Es war jemand vor Ihnen da, der einen Schlüssel hatte?«

»Einen Schlüssel braucht man nicht. Wir sind eine offene Gemeinde. So offen wie möglich – das Gebäude ist natürlich verschlossen. Aber wer sich einen äußeren Eindruck von unserer Kirche verschaffen möchte, soll das tun können. Jemand muss es beim Verlassen des Gartens eilig gehabt haben. Wegen des Unwetters, habe ich gedacht. Was hätte ich sonst denken sollen …?«

Glauberg ließ die Frage offen. »Und dann?«

»Ich wollte die Kirche aufschließen. Und als ich an der Hecke vorbeiging, habe ich …« Er brach ab und fügte dann hinzu: »Sie wissen ja, was ich gesehen habe.«

»Wie soll ich das wissen?«

»Ich habe nichts verändert.«

»War Ihnen denn gleich klar, dass die Frau tot war? Sie hätten erste Hilfe leisten können, einen Krankenwagen rufen.«

Pohlsen hob die Schultern. »Ich stehe nicht so routiniert wie Sie vor Leichen. Ich habe noch nie ein Mordopfer gesehen.«

»Sie wissen schon, dass es Mord war? Wir noch nicht.«

Pohlsen fühlte sich in die Enge gedrängt. Es irritierte ihn, dass er aus Sicht der Polizei offenbar als Täter infrage kam. Das begriff er erst jetzt. Es war für Glauberg nicht schwer gewesen, ihn unter Druck zu setzen, und wahrscheinlich sagte er die Wahrheit. Trotzdem blieb Glauberg vorsichtig. Pohlsen war religiös. Dass Menschen gläubig waren, war ihm nicht sehr vertraut.

»Es stimmt, dass ich nicht daran gedacht habe, einen Krankenwagen zu rufen«, sagte Pohlsen. »Ich weiß nicht, warum. Ich bin in einem weiten Bogen um die Tote herumgegangen. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich konnte nicht denken, ich habe wie in Trance gehandelt. Und dann habe ich dieses … Arrangement unter dem herabhängenden Kopf der Toten gesehen …«

Glauberg blieb vor dem Rednerpult stehen und blickte in den leeren Saal, in dem Pohlsen verloren herumstand. »Was denken Sie darüber? Können Sie mit diesen Symbolen etwas anfangen? Was bedeutet das Horn?«

Pohlsen schwieg lange, dann sagte er: »Mir ging spontan etwas durch den Kopf, aber Sie werden damit nichts anfangen können. Ich habe gedacht: Es war Satan. Der Teufel.«

Glauberg legte seine Hände auf das Rednerpult und sagte: »Sie haben recht: Damit kann ich tatsächlich nichts anfangen. Ich sehe es anders: Ich glaube, dass es ein Mensch war.«

»Das bedeutet nichts. Satan kann durch Menschen wirken. Er wirkt sogar meistens durch Menschen. Und er hinterlässt dabei nicht immer eindeutige Zeichen, sodass nur wenige seine Taten erkennen. Aber in diesem Fall hat er Zeichen hinterlassen. Kennen Sie sich in der Bibel aus?«

»Nein«, sagte Glauberg.

»Ich will dir sagen das Geheimnis von dem Weibe und von dem Tier, das sie trägt und das hat sieben Häupter und zehn Hörner … Die Offenbarung des Johannes, die Apokalypse. Das Tier mit den sieben Häuptern und zehn Hörnern, von dem dort die Rede ist, ist Satan.«

»Sie denken, dass der, der die Frau dort hingelegt hat, uns mitteilen wollte, dass er auf Geheiß des Teufels gehandelt hat?«

»Nein, das denke ich nicht. Ich denke, dass der, der es getan hat, in diesem Moment Satan war. Sein willenloses Werkzeug. Das ist ein Unterschied. Satan ist real. So real wie Sie und ich.«

Glauberg hatte kein Interesse daran, eine theologische Diskussion über die Existenz des Teufels zu führen, und sagte: »Die Antworten, nach denen ich suche, stehen nicht in der Bibel. Und konkret heißt das: Ich brauche eine Aufstellung Ihrer Gemeindemitglieder. Namen, Adressen, Telefonnummern …«

Vor den Fenstern streiften die Kollegen von der Spurensicherung mit ihren weißen Anzügen durch den Park. Weiß wie Engel, dachte Glauberg. Aber es waren doch sehr sonderbare Engel. Der Vergleich war wohl unpassend.

»Wir sind Christen«, sagte Pohlsen. »Die Bibel ist für uns eine Anleitung dafür, wie wir leben, was wir tun und was wir glauben sollen. Niemand aus der Gemeinde würde jemals dem göttlichen Tötungsverbot zuwiderhandeln und so ein Verbrechen begehen.«

»Vielleicht gibt es ja ein schwarzes Schaf in Ihrer Herde«, sagte Glauberg und fragte sich, ob es sich dabei nicht womöglich um eine biblische Metapher handelte. Irgendwie klang die Redewendung danach. Mit Tieren hatte es die Bibel doch. Mit Opfertieren. Jedenfalls glaubte er das, aber vielleicht stimmte das ja nicht. Er kannte die Bibel wirklich nicht.

»Natürlich schauen bei den Gottesdiensten auch immer mal wieder Fremde rein, deren Gesichter man nicht kennt und die sich irgendwann nicht mehr blicken lassen«, sagte Pohlsen. »Wie schon gesagt: Wir sind eine offene Gemeinde, und jeder kann zu uns kommen. Wir schotten uns nicht ab. Wir glauben daran, dass Gott jeden willkommen heißt.«

Das Rednerpult, an dem Glauberg immer noch stand, war aus Acrylglas. Rechts und links der Bühne standen Lautsprecherboxen auf Stativen, und an der Decke darüber hingen ein paar Halogenstrahler, die auf das Rednerpult gerichtet waren. Glauberg ließ den Blick über die leeren Stuhlreihen wandern. Einen Moment lang fragte er sich, wie es wohl wäre, hier zu stehen und zu predigen. Aber er wäre kein guter Prediger. Er hatte zu wenig Überzeugungen.

»Müsste nicht ein Geistlicher hier sein? Ich nehme an, es hätte bei dem Gottesdienst eine Predigt gegeben.«

Pohlsen antwortete nicht gleich. Dann sagte er: »Ich selbst hätte heute gesprochen.«

Glauberg trat vom Rednerpult zurück.

»Ich dachte, sie wären Steuerberater.«

»In aller Demut glaube ich dennoch, einen bescheidenen Beitrag zur Verkündigung des Evangeliums leisten zu können. Im Gegensatz zur Amtskirche glauben wir, dass man auch ohne langjährige theologische Ausbildung ein lebendiges Zeugnis für Jesus ablegen kann. Als Gemeinde stützen wir uns auf viele Evangelisten, die uns das Wort Gottes nahebringen und erläutern. Wenn Sie sich dafür interessieren, können Sie das auf unserer Internetseite nachlesen. Oder Sie kommen zu einem unserer Gottesdienste.«

Glauberg ging auf das Angebot nicht ein. Er war nur noch selten in einer Kirche. Als Felix klein gewesen war, hatte er mit Sylvia und dem Jungen ein paar Jahre lang den üblichen Weihnachtsgottesdienst besucht. Und vor vier Jahren war Felix von Gnaatz, dem Gemeindepfarrer, in einer festlichen Zeremonie konfirmiert worden. Aber danach hatte der Junge sich nicht mehr für die Kirche interessiert. Glauberg war ihm in dem Punkt wirklich kein Vorbild.

Inzwischen ging er nicht mehr nur zu Weihnachten oder bei Hochzeiten in die Kirche, sondern zu Beerdigungen. Und es waren nicht nur die Eltern, die starben, sondern auch schon erste Weggefährten oder deren Freunde. Sie hatten Unfälle oder Krebs. Und einen Moment lang dachte Glauberg an die Beerdigung seines Halbbruders Hans vor etwas mehr als zehn Jahren. Gnaatz hatte ihn an einem kühlen und regnerischen Tag zu Grabe getragen. Aber Hans hatte keinen Unfall gehabt oder Krebs. Hans war Terrorist gewesen. Und er war ermordet worden.

5

Glauberg bog von der L28 in den Riddorfer Ring und folgte dem geschwungenen Straßenverlauf ein paar hundert Meter. Die Sonne hatte sich jetzt bis auf wenige hell leuchtende Wolken durchgesetzt und den Asphalt getrocknet. Nachdem er noch zweimal abgebogen war, ließ Glauberg den Wagen auf den Parkplatz des Klinikums rollen.

Die zweigeschossigen Gebäude verteilten sich auf einem Campus mit Rasen, Büschen und Backsteinwegen. Wie er zur psychiatrischen Abteilung kam, wusste Glauberg seit Langem. Beim Empfang dort lockerten Topfpflanzen und ein deckenhoher Ficus die zweckmäßige Atmosphäre mit dem blauen Linoleumboden etwas auf. Glauberg meldete sich an. Kurz darauf holte ihn ein Krankenpfleger ab und führte ihn durch einen langen Korridor in den geschützten Flügel. Das war ein gut gemeinter Euphemismus dafür, dass die Patienten den Bereich nicht verlassen durften.

Es gab dort, im geschützten Flügel, aber einen kleinen Park, in dem die Patienten, wenn ihr Zustand es erlaubte, spazieren gehen konnten. In diesen Park brachte der Pfleger Glauberg. Sie folgten einem gepflasterten Weg, der um ein paar Ziersträucher herumführte. Dahinter näherten sie sich einer Bank. Dort saß Sylvia. Glauberg ging zu ihr. Der Pfleger blieb zurück und kehrte schließlich um.

»Entschuldige, dass ich erst so spät komme«, sagte Glauberg und setzte sich neben sie.

Sylvia reagierte nicht. Sie war in die Betrachtung irgendeines Parkdetails vertieft. Sie wendete ihren Blick – worauf auch immer er gerade ruhte – nicht davon ab, als sie sagte: »Du bist da. Immerhin.«

Sie trug Alltagskleidung: Jeans, graue Bluse und darüber eine blassgrüne Strickjacke. Sie hatte in den vergangenen Wochen abgenommen, sodass Arme und Beine die Kleidungsstücke nicht ausfüllten. Die Stoffe warfen Falten. Ihre Haare waren länger als sonst und am Hinterkopf zusammengesteckt. Wenn es ihr seelisch gut ging, färbte sie sie – jetzt waren sie an den Schläfen und im Nacken mit grauen Strähnen durchsetzt. Sylvia war sechsundvierzig, sechs Jahre jünger als Glauberg.

»Gut, dass es aufgehört hat zu regnen und man wieder draußen sein kann«, sagte er.

»Für mich bleibt es ein Käfig.«

»So solltest du es nicht sehen.«

»Ich sehe es, wie es ist.« Sie starrte weiter in den Park. Und in dem resignierten, unterschwellig vorwurfsvollen Ton, den er aus der Zeit, als sie noch zusammengelebt hatten, so gut kannte, fügte sie hinzu: »Dafür müsstest du Verständnis haben. Du sagst immer, man soll die Dinge so sehen, wie sie sind.«

Sie hatte recht, das sagte er häufig. Und er dachte es auch. Aber waren die Dinge so? Reduzierte sich Sylvias Leben im Moment auf die Tatsache, dass sie sich in einem Käfig befand? Ihr wurde geholfen. Zumindest versuchte man es. Er fragte sich, warum sie es nur negativ sehen konnte. Aber auch das war ja ein Symptom. Er sagte: »Müsstest du nicht auch sehen, dass es Menschen gibt, denen etwas daran liegt, dass es dir besser geht? So ist es nämlich auch.«

Sie gab keine Antwort. Eine leichter Wind ging durch die Blätter der Büsche. Ihr Grün war noch frisch und weich und flimmerte in der Brise. »Ich freue mich, dass du gekommen bist«, sagte sie schließlich. »Danke … Aber es ist nicht leicht, sich damit abzufinden, dass ich Medikamente brauche, um so zu empfinden …« Endlich löste sie sich aus der Starre. »Lass uns nicht darüber reden … Nicht über mich. Das soll ich hier ständig … aber wozu? Wozu soll ich über mein Leben reden, das macht mich erst recht depressiv … Sag mir, wie geht es Felix? Kommt er zurecht? Ich mache mir Sorgen.«

Glauberg schüttelte den Kopf. »Das musst du nicht. Ich gehe regelmäßig bei im vorbei. Er hat die Situation im Griff.«

»Geht er zur Schule?«

Er nickte. »Du musst dir keine Gedanken darüber machen.«

»Ich bin seine Mutter.«

»So meine ich das nicht.«

»Ich habe ein Recht darauf, alles zu erfahren, was ihn betrifft. Vielleicht willst du mich schonen …«

»Du musst ihm vertrauen. Er kommt klar.«

»Und wenn es nicht so wäre, würde ich es nicht erfahren«, sagte sie vorwurfsvoll. »Du hältst mich ja für krank … Warum bist du so spät gekommen?«

»Das hatte mit Felix nichts zu tun«, sagte er.

Sie schwieg lange. »Es ist schrecklich, so isoliert zu sein. Nur noch die Hälfte der Wahrheit gesagt zu bekommen. Oder noch weniger. Weil alle es ja gut mit einem meinen. Ist dir klar, was es bedeutet, unter lauter Verrückten zu leben? Menschen, die teilnahmslos vor sich hin starren oder sich fortwährend die Haare ausreißen oder aus dem Nichts Schreikrämpfe bekommen und um sich schlagen. Du hast keine Ahnung. Ich gehöre hier nicht hin, auch wenn alle das Gegenteil denken. Du auch. Alle denken das. Deswegen pumpen sie mich hier mit Chemie voll. Aber ich habe nur eine Dummheit gemacht, und jetzt bin ich wieder vollkommen klar im Kopf. Ich habe ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Sag mir, was los ist! Wieso muss ich an einem Sonntagmorgen so lange auf dich warten?«

Glauberg begriff, wie nervös und instabil sie noch war. Aber schließlich sagte er: »Ich bin zu spät gekommen, weil ich … Es ist etwas passiert, und ich musste als Polizist dorthin.«

»Was ist passiert?«

»Das ist nicht wichtig.«

»Dann ist es etwas Furchtbares«, sagte sie.

»Du musst das nicht wissen.«

»Siehst du.«

»Es hat mit dir nichts zu tun.«

»Hast du Angst, dass ich mich dann umbringe?«

Ihr plötzlicher Sarkasmus erschreckte ihn. Sie hatte früher ein unbeschwertes, wenig aufrührerisches Wesen gehabt. Doch irgendwann hatte sie begonnen, die Unzulänglichkeiten der Welt mit zunehmender Bitterkeit anzuklagen. Und mit der Zeit, unmerklich, hatte sich diese Bitterkeit immer mehr gegen sie selbst gerichtet.

»Eine junge Frau ist tot aufgefunden worden«, sagte er schließlich, weil er wusste, dass sie nicht lockerlassen würde. »Wir kennen die Hintergründe noch nicht und wissen nicht, was genau geschehen ist. Sie lag auf dem Gelände einer freikirchlichen Gemeinde. Offenbar ist ihre Leiche bewusst, vielleicht als Botschaft, dort abgelegt worden, aber auch das ist nur eine Spekulation.«

»Was für einer Gemeinde?«, fragte sie.

»Sie hat ihr Haus zwischen Drelsdorf und Norstedt«, sagte er.

Sylvia wendete den Kopf ab und richtete den Blick wieder auf den Punkt im Park, den sie zu Beginn des Gesprächs angestarrt hatte. Glauberg betrachtete sie eine Weile, und als sie immer noch nichts sagte, fragte er irgendwann: »Kennst du die?«

Ihre Hände lagen kraftlos in ihrem Schoß. Glaubergs Blick fiel auf die frischen, noch geröteten Narben, die sich quer über ihre Pulsadern zogen. Es war Felix gewesen, der Sylvia gefunden hatte. Sie hatte bewusstlos in der Badewanne gelegen, deren Wasser rot war vom Blut. Sie hatte gedacht, niemand würde kommen, bis es vorbei wäre, aber an diesem Tag waren zwei Schulstunden ausgefallen, sodass Felix früher nach Hause gekommen war.

»Ich war ein paarmal dort«, sagte sie schließlich. »Ich habe nach einem Halt gesucht, und jemand hatte mich mitgenommen … Die Gemeinde ist offen für jeden. Die Gottesdienste waren schön. Ich fühlte mich gut und habe die Gemeinsamkeit gespürt … Manchmal predigen Gemeindemitglieder über ihre alltäglichen Sorgen und darüber, wie ihnen der Glaube Kraft gegeben hat … Dass sie gespürt haben, dass Jesus ihnen geholfen hat … Aber dann …« Sie brach ab und fuhr erst nach einer Weile fort: »Ich habe die Kraft Jesu nicht gespürt. Nicht einmal das kriege ich hin.«

»Wenn da jemand Schuld hat, dann doch wohl Jesus«, sagte er hart und nicht bereit, die Religion gelten zu lassen. Er war der Meinung, dass man ihr hier half, während man in der Gemeinde versucht hatte, sie zu manipulieren.

»Die Krankheit, haben sie gesagt, ist ein Dämon.«

»Es gibt keine Dämonen.«

»So kann man über religiöse Erfahrungen nicht sprechen«, sagte sie leise. »Du weißt nicht, wie das ist, wenn du nichts mehr tun kannst. Wenn irgendetwas dir alle Lebensenergie raubt. Es ist dämonisch. Wenn du das Gefühl hast, eine leere fremdbestimmte Hülle zu sein, ohne jede Kraft, ohne alles, was das Leben lebenswert macht …«

Sie brach ab, und Glauberg schwieg ebenfalls. Sie hatte recht – er wusste es nicht. Er war nicht unbedingt glücklich, oder was auch immer man im Leben anstrebte, aber depressiv war er nicht.

»Auf einmal bist du eine andere Person«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Dich, so wie du dich kennst, gibt es nicht mehr. Irgendetwas hat sich in deinem Kopf festgesetzt und dort eingenistet, gegen das du keine Chance hast. Was ist das? Was geschieht da in dir? Ist das alles nur Chemie? Das wäre doch hoffnungslos …« Sie schwieg, und Glauberg beließ es dabei. Er wollte nicht mit ihr streiten. Schließlich sagte sie: »Diese junge Frau, wer war sie?«

»Das wissen wir noch nicht.«

»Ich nehme an, ich werde dich nicht mehr sehen, bist du herausgefunden hast, wer sie getötet hat.«

»Ich werde abends kommen. Immer wenn es möglich ist. Soll ich dir beim nächsten Mal etwas mitbringen? Brauchst du was?«

»Was brauchen Tote schon?«, sagte sie.

Aber sie war nicht tot. Die junge Frau war es. Nach Sylvias Suizidversuch hatte Glauberg versucht, mit Felix über den Schock zu reden. Er musste den Anblick seiner bewusstlos in der Badewanne liegenden, fast verbluteten Mutter irgendwie verarbeiten. Aber Felix und er hatten noch nie miteinander reden können. Deshalb hatte er mit dem kaum noch wirksamen Rest seiner Autorität als Vater darauf bestanden, dass der Junge sich einem Psychologen anvertraute. Doch auch zu dem war Felix nur ein einziges Mal gegangen, um anschließend zu erklären, er brauche keinen Seelenklempner, um mit dem Scheiß klarzukommen, den seine Mutter immer wieder baue.

6

Die wenigen Parkplätze vor dem rechtsmedizinischen Institut des Universitätsklinikums Kiel waren am Sonntagnachmittag größtenteils frei. Glauberg stieg aus dem Wagen und betrat ein paar Minuten später den Sektionssaal der pathologischen Abteilung. Wände und Fußboden waren weiß gekachelt, und drei lang gezogene Batterien von Neonröhren unter der Decke tauchten den Saal in ein gleichmäßiges, konturloses Licht.

Spiller stand neben Klinkhammer, dem diensthabenden Pathologen, am Seziertisch. Glauberg entschuldigte sich für die Verspätung. Die Leiche der jungen Frau bot in dem künstlichen Licht einen trostlosen Anblick. Das große Schlangentattoo zwischen Bauchnabel und Scham war starr und blass. Vielleicht hatte die Schlange Wehrhaftigkeit zum Ausdruck bringen sollen. Die starke Symbolkraft des Tieres hatte die Frau nicht schützen können.

»Wie lange ist sie tot?«, fragte Glauberg.

»Keine vierundzwanzig Stunden«, sagte Klinkhammer. »Der genaue Zeitpunkt ist schwer zu bestimmen. Wir wissen nicht, wie lange sie draußen gelegen hat und durch den Regen ausgekühlt ist. Der Tod dürfte gestern Abend zwischen zwanzig Uhr und, sagen wir, ein oder zwei Uhr morgens eingetreten sein.«

»Haben wir inzwischen einen Hinweis darauf, wer sie war?«

Spiller schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht als vermisst gemeldet. Wir haben ihr Foto an alle Polizeidienststellen bis nach Hamburg geschickt.«

»Sie könnte auch aus Dänemark stammen.«

»Haben wir auch in die Wege geleitet«, nickte Spiller.

»Sie war vermutlich eine Prostituierte«, sagte Klinkhammer. »In ihrer Vagina haben wir sowohl Spuren von Sperma als auch von Spermiziden gefunden, wie sie bei Kondomen verwendet werden. Sie hat es wohl mit und ohne gemacht, je nachdem, wie viel bezahlt wurde. Bei diesem Spermacocktail werden uns Genanalysen nicht weit bringen. Dafür hatte sie vor ihrem Tod zu viele Männerkontakte.«

»Drogen?«, sagte Glauberg.

»Kokain und Amphetamine, kein Heroin. Das meiste hat sie geraucht oder geschluckt. Gespritzt hat sie nur selten und wenn, dann ist sie dabei sehr sorgfältig vorgegangen. Es gibt keine Vernarbungen von schlechten Einstichen. Vielleicht war sie ja mal Krankenschwester. Alles schon da gewesen.«

»Und die hier?« Glauberg wies auf das kleine Pünktchen in der rechten Armbeuge, das ihm beim Gemeindehaus aufgefallen war.

»Das ist eine frische Einstichstelle«, nickte Klinkhammer. »Die Injektion wurde sehr professionell gesetzt, die Stelle ist vorher desinfiziert und nach dem Einstich gut abgedrückt worden. Die Vene wurde gut getroffen, keine Blutung, kein Hämatom.«

»Sie hat sich kurz vor ihrem Tod noch einen Schuss gesetzt?«

»Möglich, aber ich glaube, es war doch anders. Eine Substanz, die wir bei dem Drogenscreening gefunden haben, war ziemlich ungewöhnlich. Propofol.«

»Propofol?«

»Propofol ist ein Narkosemittel und wird für intravenöse Anästhesien eingesetzt, meistens zusammen mit einem Analgetikum wie Remifentanil, von dem wir ebenfalls Reste gefunden haben.«

»Das heißt, diese Substanzen stammen aus irgendeinem Medizinschrank?«

»Anzunehmen. Junkies benutzen das eigentlich nicht. Der berühmteste Fall ist Michael Jackson. Den hat das umgebracht, Atemdepression. Ich schätze, der wollte davon nicht high werden, sondern wieder runterkommen. Aber die Dosis hat nicht gestimmt.«

Glauberg betrachtete die rechte Hand der Toten. Ihre Fingerkuppen waren nikotingelb verfärbt. »Sie konsumiert eine ziemlich ungewöhnliche Substanz und wird ein paar Stunden danach tot aufgefunden. Da muss es doch einen Zusammenhang geben.«

»Vielleicht hat ein Kunde sie in Naturalien bezahlt«, überlegte Spiller. »Ein Arzt oder Krankenpfleger. Sie bekommt den Stoff und setzt sich einen Schuss.«

Glauberg schüttelte den Kopf. »Sie hat sich die Injektion nicht selbst verabreicht. Der Einstich befindet sich in der rechten Armbeuge. Sie müsste sich also mit links gespritzt haben.«

»Dann war sie Linkshänderin«, sagte Spiller.

Glauberg wies auf die gelben Finger der rechten Hand. »Sie hat mit rechts geraucht. Man raucht meistens mit der dominanten Hand.« Er betrachtete das bläulich blasse Gesicht der jungen Frau. Sie war höchstens fünf oder sechs Jahre älter als sein Sohn Felix – vielleicht war der Altersunterschied sogar geringer. Nahm Felix Drogen? Es wäre naiv gewesen, anzunehmen, dass er mit seinen siebzehn Jahren noch keine Erfahrungen mit Hasch oder Gras gemacht hatte. Aber wie war es mit härteren Sachen? Oder mit Designerdrogen, mit Ecstasy, Speed oder Meth. Glauberg wusste es nicht. So wie er fast nichts über Felix wusste.

»Was ist mit der Wunde am Kopf?«, sagte er.

»Dazu komme ich jetzt«, sagte Klinkhammer und ging um den Seziertisch herum. Die kreuzförmige Naht im Schädel der Frau war aufgetrennt und die Kopfhaut zur Seite geklappt worden. Dort, wo die einzelnen Hautlappen einander berührt hatten, klaffte ein kreisrundes Loch in der darunterliegenden Knochenschale. Das Gehirn darunter war ausgehöhlt worden. Die Hirnmasse an den Rändern war nicht weiß, sondern rötlich braun.

»Wir haben es mit einer alles in allem professionell ausgeführten Schädelöffnung zu tun«, fuhr Klinkhammer fort. »Jemand hat mit einem Kraniotom, einer speziellen Knochensäge, eine runde Platte aus dem Schädelknochen herausgetrennt und abgenommen. Dann hat er einen kreuzförmigen Einschnitt in die Dura, die Hirnhaut, gemacht, diese ebenfalls zur Seite geklappt und das darunterliegende Gehirn freigelegt.« Er wies mit dem Zeigefinger auf das Loch im Schädel. »Allerdings verläuft in diesem zentralen Bereich des Gehirns zwischen den beiden zerebralen Hemisphären der Sinus sagittalis superior – die Hauptvene, durch die das Blut aus dem Gehirn abfließt, und zwar einige hundert Milliliter pro Minute. Wenn man diese Vene bei einer Operation verletzt, muss man schnell sein, sonst verblutet einem der Patient im Nullkommanichts auf dem OP-Tisch. Und so, wie es aussieht«, fuhr Klinkhammer mit seinem Vortrag fort, und das jetzt durchaus mit einem gewissen fachlichen Enthusiasmus, »ist die Sache genau an der Stelle schiefgegangen, was wiederum sonderbar ist. Jedem, der ein Gehirn mit einem Kraniotom säuberlich zu öffnen weiß, sollte eigentlich klar sein, dass mit dem Sinus nicht zu spaßen ist. Es gibt jedenfalls weitaus unkritischere Stellen, an denen man die Schädeldecke öffnen kann, wenn man das denn unbedingt möchte.«

»Und was bedeutet das?«, sagte Glauberg. »Sollte sie womöglich gar nicht getötet werden?«

»Kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist durchaus möglich, Hirnmasse zu entnehmen, ohne den Patienten – oder wie auch immer sie das Opfer in dem Fall nennen wollen – dabei zu töten. Eine Öffnung des Schädels rechts oder links der Mitte wäre dafür aber weniger gefährlich gewesen. Sollte der Mörder, was ich annehme, über ein gewisses anatomisches Wissen verfügen und sich trotzdem für eine zenitale Schädelöffnung entschieden haben, dann hat er die Gefahr einer Verletzung der Sinusvene bewusst in Kauf genommen, warum auch immer. Jedenfalls – und das ist es ja, was sie von mir wissen möchten – war das die Todesursache: Das Opfer ist bei der Operation verblutet.«

»Sie meinen, das Ganze war eine Art Kunstfehler bei der Entnahme von Hirnmasse?«, sagte Glauberg.

»Das muss nicht so sein. Die Venenverletzung könnte vom Täter auch vorsätzlich herbeigeführt worden sein. Das lässt sich im Nachhinein nicht feststellen.«

»Kein schöner Tod«, überlegte Spiller. »Aber wenigstens hat sie nichts davon mitbekommen.«

»Auch das ist nicht sicher«, korrigierte ihn Klinkhammer.

»Ich dachte, sie hätte unter Narkose gestanden.«

»Sie können bei Propofol die Dauer der Narkose recht genau einstellen. Es dauert nicht so lange, einen Schädel aufzusägen, eine Viertelstunde vielleicht, je nachdem, wie viel Übung man hat. Und danach können sie genau genommen auch ohne Nar