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Bereits seit Jahren wurde auf Probleme im Bereich der Pflege hingewiesen, doch erst durch die COVID-19-Pandemie rückten die Brisanz des bestehenden Pflegenotstandes in Deutschland und das mögliche Ausmaß seiner Folgen in die öffentliche Aufmerksamkeit und die Presseberichterstattung. Obwohl das Thema Pflege und Pflegenotstand gesellschaftlich und politisch bereits seit Jahrzehnten regelmäßig mediale Aufmerksamkeit erfährt, liefert die Kommunikationswissenschaft bisher kaum Studien dazu. Justina Bülow leistet mit ihrer vorliegenden Studie einen wertvollen Beitrag dazu, diese Forschungslücke zu schließen. Wie wird das Thema Pflege / Pflegenotstand in der Presseberichterstattung dargestellt? Welche Medien-Frames prägen die Berichterstattung? Um hierauf Antworten geben zu können, führte Bülow eine detaillierte Inhaltsanalyse von Hunderten von Zeitungsartikeln durch auf Basis des Framing-Ansatzes. Einleitend gibt sie zudem einen Überblick über das Image der Pflege sowie die Entwicklung des Pflegenotstandes.
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Seitenzahl: 166
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Pflege(notstand)
2.1 Pflege(notstand): Definitionen und Einordnung
2.2 Berufsimage
2.3 Forschungsstand zur Pflege in den Medien
3. Medienberichterstattung und Framing-Ansatz
3.1 Der Framing-Ansatz
3.1.1 Kommunikationswissenschaftlicher Framing-Ansatz
3.1.2 Frames in der Medienberichterstattung
3.2 Qualitäts- und Boulevardmedien
4. Forschungsfragen
5. Methode
5.1 Überblick Untersuchungsanlage
5.2 Untersuchungszeitraum, Untersuchungsmaterial und Selektionskriterien
5.3 Operationalisierung: Kategoriensystem
5.4 Operationalisierung der Medien-Frames
5.5 Optimierung und Reliabilitätstest
6. Auswertung und Interpretation der Ergebnisse
6.1 Häufigkeit, Themen und Akteure in der Berichterstattung
6.2 Medien-Frames in der Berichterstattung
6.3 Unterschiede zwischen Qualitäts- und Boulevardmedien
6.4 Zusammenfassung der Befunde
7. Kritische Reflektion und Ausblick
8. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
ibidem-Verlag, Stuttgart
Abbildung 1: Faktoren des Pflegenotstandes
Abbildung 2: Modell zum Image der Pflegeberufe: Einflussfaktoren, Zuschreibungen und Konsequenzen
Abbildung 3: Anzahl publizierter Artikel pro Monat
Abbildung 4:Häufigkeit der Hauptthemen im ersten und zweiten Untersuchungszeitraum
Abbildung 5: Bewertungstendenz der Presseberichterstattung zum Thema Pflege(notstand)
Abbildung 6: Häufigkeit der Anzahl von Akteuren pro Artikel
Abbildung 7: Darstellung der Berufsgruppe Pflege
Abbildung 8: Häufigkeitsverteilung: Anzahl der Frames
Abbildung 9: Dynamische Veränderungen der Medien-Frames. Häufigkeit des Auftretens der Frames vor und nach Beginn der Corona-Pandemie
Abbildung 10: Häufigkeit episodischer und thematischer Frames
Abbildung 11: Anzahl publizierter Artikel pro Monat im Vergleich zwischen SZ und BILD
Abbildung 12:Häufigkeit der Akteure im Vergleich zwischen SZ und BILD
Tabelle 1: Übersicht des Kategoriensystems
Tabelle 2: Ergebnisse des Reliabilitätstests nach Holsti
Tabelle 3: Häufigkeit der Themen
Tabelle 4: Anzahl der Mehrfachnennungen einzelner Akteursgruppen
Tabelle 5: Häufigkeit der Artikel, in denen die Akteursgruppe mindestens einmal genannt wird
Tabelle 6: Häufigkeit direkt oder indirekt zitierter Akteure gesamt und in Zeitraum 1 und 2
Tabelle 7: Erwähnung Berufsgruppe Pflege (links) und Art der Zitate (rechts)
Tabelle 8: Anzahl und Häufigkeit der Artikel, die den jeweiligen Medien-Frame enthalten
Tabelle 9: Korrelationen zwischen den Medien-Frames
Tabelle 10: Hauptthemen im Vergleich zwischen SZ und BILD
Tabelle 11: Darstellung Berufsgruppe Pflege im Vergleich zwischen SZ und BILD
Tabelle 12: Anteil der Artikel, in denen der jeweilige Medien-Frame auftritt
Tabelle 13: Häufigkeit der identifizierten Akteure in SZ und BILD
bzgl. bezüglich
bzw. beziehungsweise
CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands
COVID Coronavirus Disease
DBfK Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe
et al. et alii (unter anderem)
ICN International Council of Nurses, International Council of Nurses
NI Nursing Image
SZ Süddeutsche Zeitung
WHO World Health Organisation/Weltgesundheitsorganisation
„International Year of the nurses and the midwives“ – unter dieses Motto stellte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Jahr 2020, als hätte sie geahnt, dass die Pflege in diesem Jahr eine besonders relevante Rolle einnehmen würde. Anfang des Jahres 2020 traten die ersten COVID-19-Fälle in Deutschland und damit die Frage auf: Kommt Deutschland trotz eines seit Jahrzehnten besprochenen Pflegenotstandes durch die Pandemie oder droht das System zu kollabieren?
Die Menschen traten auf ihre Balkone und applaudierten für die Pflegenden, die inflationär als ‚systemrelevant‘ betitelt wurden. Die Politik wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, zu lange weggeschaut zu haben, obwohl die Probleme in der Pflege schon lange offenkundig waren. Selten waren die Themen Pflege und Pflegenotstand in Deutschland so relevant wie aktuell, denn die Zahl der Pflegebedürftigen steigt weiter an, während der Fachkräftemangel in den Pflegeberufen immer größer wird (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2020; Statistisches Bundesamt, 2020).
Die schwierige Situation in der Pflege ist jedoch nicht neu. Dies zeigt sich auch in der medialen Berichterstattung. Hier ist die Pflege seit Jahren ein viel diskutiertes Thema, wobei in einem Punkt trotz unterschiedlicher Sichtweisen Einigkeit besteht: Wenn sich nicht grundlegend etwas verändert, wird sich die Situation für Pflegende und Pflegebedürftige stetig verschlechtern. DIE ZEIT fragte sich bereits 2010, „wie das Pflegeproblem gelöst werden soll“ (Steffen, 2010), in der Süddeutschen Zeitung (SZ) hieß es 2013, „Pflegenotstand verletzt systematisch das Grundgesetz“ (Prantl, 2013) und zu Beginn des Jahres 2020 titelte der Spiegel: „Pflegenotstand im neuen Jahr Spahns größte Baustelle“ (Hassenkamp, 2020) – und das war vor Beginn der Corona-Pandemie. Durch die Corona-Pandemie wurden die Wichtigkeit und auch die Dringlichkeit des Themas noch einmal deutlicher. Miller et al. (2020) konnten anhand einer Studie einen deutlichen Anstieg der negativen Berichterstattung über den Notstand in Pflegeeinrichtungen während der Corona-Pandemie in den USA feststellen. Für die deutsche Presseberichterstattung existieren hierzu bisher keine Untersuchungen, jedoch ist hier eine ähnliche Entwicklung zu vermuten.
Die Massenmedien übernehmen bei diesem gesellschaftspolitisch brisanten Thema eine tragende Rolle: Sie agieren als Vermittler und schaffen die Öffentlichkeit für ein Thema, das sich dem Erfahrungshorizont vieler Menschen entzieht. Denn obwohl das Thema Pflege potenziell die gesamte Gesellschaft betrifft, haben viele Menschen bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie selbst oder Angehörige aus ihrem persönlichen Umfeld pflegebedürftig werden bzw. ein Krankenhausaufenthalt notwendig wird, keinen Bezug zu diesem Thema – abgesehen von den monatlichen Beiträgen zur Pflege- und Krankenversicherung. Kann nicht auf persönliche Erfahrungen zurückgegriffen werden, sind die Massenmedien „die wichtigste Quelle für unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit“ (Brosius & Esser, 1995, S. 30). Journalismus leistet somit einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung. Es ist die Aufgabe des Journalismus, gesellschaftspolitische Zusammenhänge umfassend, transparent und verständlich zu vermitteln.
Obwohl das Thema gesellschaftlich und politisch seit Jahren relevant ist und regelmäßig mediale Aufmerksamkeit erfährt, liefert die Kommunikationswissenschaft bisher kaum Studien zu diesem Thema. Die vorliegende Studie schließt diese Forschungslücke und beschäftigt sich mit folgender Forschungsfrage:
Wie wird das Thema Pflege(notstand) in der Presseberichterstattung dargestellt und welche Medien-Frames prägen die Berichterstattung?
Anhand der Lasswell-Formel „Who says what in which channel to whom with what effect?“ (Lasswell, 1948) lässt sich die Studie in den kommunikationswissenschaftlichen Kontext einordnen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wird eine quantitative Inhaltsanalyse der Presseberichterstattung durchgeführt. Dabei handelt es sich um eine Medieninhaltsforschung. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sollen eine auf Fakten basierende Diskussionsgrundlage zu dem „says what“-Segment der Lasswell-Formel liefern. Durch die Verwendung des Framing-Ansatzes als theoretische Grundlage lassen sich, obwohl in dieser Studie nur ein Teilbereich der Medien- und Kommunikationsforschung abgedeckt wird, Anschlussforschungen konzeptionell leicht umsetzen (Dahinden, 2006, S. 13; J. Matthes, 2014, S. 13).
Im Kontext des Fachkräftemangels kann aufgrund von Erkenntnissen der Wirkungsforschung vermutet werden, dass die mediale Berichterstattung über das Thema Pflege nicht ohne Konsequenzen bleibt. Einige Studien belegen den Einfluss der Massenmedien auf das Berufsimage, welches sich wiederum auf die Berufszufriedenheit oder den Berufswahlprozess auswirken kann (S. Matthes, 2019; Weyer et al., 2016). Diese Studien beziehen sich auf das letzte Segment der Lasswell-Formel: den Effekt der Medienberichterstattung. Um diese Erkenntnisse sinnvoll einordnen und Rückschlüsse daraus ziehen zu können, braucht es jedoch eine Medieninhaltsforschung, welche die Darstellung des Themas Pflege(notstand) in den Medien in den Mittelpunkt stellt. Die Analyse von Medieninhaltsframes, kurz Medien-Frames, ermöglicht es, differenzierte Sichtweisen der medialen Darstellung des Themas abzubilden.
Im Folgenden wird der Aufbau der vorliegenden Studie kurz skizziert. Die Studie besteht aus einem theoretischen und einem empirischen Teil. In Kapitel 2 werden zunächst die Begriffe Pflege und Pflegenotstand definiert, um dieses komplexe Thema greifbarer zu machen. Im Anschluss wird erläutert, wie das Berufsimage ‚Pflege‘ und die Medienberichterstattung zusammenhängen und sich wechselseitig beeinflussen. Zusätzlich liefert dieses Kapitel einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Thema Pflege(notstand) in den Medien. Der Forschungsstand wird entgegen der gängigen Forschungspraxis dem eigentlichen theoretischen Konstrukt vorgelagert, da eine deutliche Forschungslücke existiert, die im Rahmen dieser Studie anhand einer quantitativen Inhaltsanalyse erschlossen werden soll. Daher wird in Kapitel 3 das Theoriegerüst der Studie, der Framing-Ansatz, vertieft erläutert. Dieser liefert die kommunikationswissenschaftliche Basis für den empirischen Teil dieser Studie. Mit Hilfe des Framing-Ansatzes wird untersucht, wie bestimmte Themen dargestellt und aus welchem Blickwinkel sie betrachtet werden. Zusätzlich wird in diesem Kapitel auf die Unterschiede zwischen Boulevard- und Qualitätsmedien eingegangen. Auf den theoretischen Überlegungen aufbauend, werden in Kapitel 4 die Forschungsfragen hergeleitet.
Die anschließenden Kapitel 5 und 6 bilden den empirischen Teil dieser Studie. Zunächst wird das methodische Vorgehen erläutert. Konkret werden der Untersuchungsgegenstand und der Untersuchungszeitraum definiert, im Weiteren werden das Untersuchungsinstrument und die Operationalisierung dargestellt und zuletzt wird die Durchführung der Analyse erläutert. Das sechste Kapitel liefert eine ausführliche Präsentation der Ergebnisse. Dieses Kapitel beantwortet die Forschungsfragen und interpretiert die Ergebnisse anhand der Erkenntnisse aus dem theoretischen Teil der Studie. Kapitel 7 liefert eine kritische Reflektion der Studie und im Anschluss erfolgt ein Ausblick auf mögliche Anschlussforschungen. Das Kapitel 8 schließt die Studie mit einem Fazit ab.
Seit vielen Jahren befindet sich die Pflege in einer Krise, welche nicht nur häufig Gegenstand politischer Debatten ist, sondern auch in der öffentlichen Diskussion und in der medialen Berichterstattung immer wieder Beachtung findet. Nachdem COVID-19 im März 2020 offiziell zur Pandemie erklärt worden war und die Fallzahlen deutlich angestiegen waren, rückten die Brisanz des Themas und das mögliche Ausmaß der Folgen eines Pflegenotstandes erneut ins Zentrum der Berichterstattung.
Die Pflege und der andauernde Notstand stehen in dieser Studie im Fokus, weswegen im ersten Unterkapitel die Begriffe Pflege und Pflegenotstand genauer erläutert werden. Für den Begriff der Pflege ist eine genaue Definition notwendig, da er einen Überbegriff für mehrere Bereiche darstellt. Diese genaue Definition ist für spätere Differenzierungen wichtig, die im Rahmen der Studie vorgenommen werden. Im Anschlusswird das Berufsimage der Pflegeberufe dargestellt und ein Einblick in den Forschungsstand zum Thema Pflege und Medien geliefert.
DerInternational Council of Nurses (ICN) hat eine umfassende Definition vorgelegt, die von Berufsverbänden der Schweiz, Österreichs und Deutschlands offiziell wie folgt übersetzt wurde:
Pflege umfasst die eigenverantwortliche Versorgung und Betreuung, allein oder in Kooperation mit anderen Berufsangehörigen, von Menschen aller Altersgruppen, von Familien oder Lebensgemeinschaften, sowie von Gruppen und sozialen Gemeinschaften, ob krank oder gesund, in allen Lebenssituationen (Settings).
Pflege schließt die Förderung der Gesundheit, Verhütung von Krankheiten und die Versorgung und Betreuung kranker, behinderter und sterbender Menschen ein. Weitere Schlüsselaufgaben der Pflege sind Wahrnehmung der Interessen und Bedürfnisse (Advocacy), Förderung einer sicheren Umgebung, Forschung, Mitwirkung in der Gestaltung der Gesundheitspolitik sowie im Management des Gesundheitswesens und in der Bildung. (ICN, 2002)
In Deutschland meint berufliche Pflege jede Form der Pflege, die durch Fachpersonal in den Bereichen Altenpflege, Kinderkrankenpflege und in der Gesundheits- und Krankenpflege erfolgt. Die informelle Pflege, die beispielsweise durch Familienangehörige geleistet wird, muss davon getrennt gesehen werden (G. Meyer & Luderer, 2019). Hier wird ein sprachliches Problem deutlich: Der Definition des ICN muss erklärend beigefügt werden, dass es sich um die professionelle Pflege handelt und die informelle Pflege nicht mit einbezogen wird. Im Rahmen dieser Studie wird vermutet, dass in der Medienberichterstattung unter dem Wort ‚Pflege‘ verschiedene Themen subsumiert werden, die sich nicht zwingend auf die professionelle Pflege beschränken. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes wurden 2019 in Deutschland knapp 2,3 von insgesamt 4,1 Millionen Pflegebedürftigen zu Hause durch Angehörige gepflegt (2020, S. 18). Aus diesem Grund und aufgrund einer fehlenden sprachlichen Abgrenzung ist davon auszugehen, dass auch die informelle Pflege in der Presseberichterstattung thematisiert wird. Von zentralem Interesse für die vorliegende Studie ist jedoch die professionelle Pflege.
Die Pflegeberufe sind mit 1,7 Millionen Beschäftigten (davon 58 % Teilzeitbeschäftigte) laut Arbeitsagentur größte Berufsgruppe in der Gesundheitsbranche. Zusätzlich waren 2019 im Durchschnitt fast 40.000 offene Stellen für Pflegekräfte gemeldet. Die Arbeitslosen-Stellen-Relation macht die Brisanz noch deutlicher: Auf 100 offene Stellen für Krankenpflegefachkräfte kamen im Jahr 2019 nur 39 arbeitslose Fachkräfte. In der Altenpflege waren es 19 Altenpflegefachkräfte auf 100 offene Stellen (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2020, S. 15). Die in der Alten- und Langzeitpflege vorgeschriebene Fachkraftquote von 50 % kann teilweise nicht mehr erfüllt werden. Aufgrund des hohen Fachkräftemangels und stetig steigender Versorgungsbedarfe ist die Pflege geprägt vom Pflegenotstand (Görres et al., 2020, S. 138). Zudem steigt der Anteil älterer Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, durch den demographischen Wandel. Pflegebedürftigkeit, Multimorbidität und chronische Erkrankungen werden häufiger (Görres, 2015, S. 171). Die enormen Fortschritte in der Medizin, die Innovationen in der Medizintechnologie und die damit verbundene Komplexität führen zu einer Kostenexplosion und einem stetig wachsenden Bedarf an Pflegefachkräften. Die Folgen dieser Entwicklungen sind ein zusätzlicher Anstieg des Fachkräftemangels und eine Zuspitzung des Pflegenotstandes in Deutschland (Böhme, 2014; Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2020).
Neben diesen vermeintlich externen Gründen sind die häufig öffentlich diskutierten Probleme innerhalb des Berufsfeldes ein weiterer Grund für den steigenden Fachkräftemangel. Unzureichende Bezahlung, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten, schlechte Arbeitszeitregelungen und fehlende Anerkennung sind nur einige Faktoren, die trotz der Professionalisierung und der Akademisierung die Attraktivität der Pflege schmälern (Böhme, 2014; Etgeton, 2019). Anhand der Abbildung 1 werden die Gründe und Faktoren, die zu dem aktuell postulierten Pflegenotstand führen, noch einmal zusammenfassend dargestellt.
Abbildung 1: Faktoren des Pflegenotstandes
Quelle: Eigene Darstellung
Der Ursprung dieser anhaltenden Probleme scheint unter anderem in der Geschichte des Berufes zu liegen. Die Geschichte der Pflege wurde insbesondere durch das frühe Christentum und die Entstehung der karitativen Pflegeideologie geprägt, die bis ins 20. Jahrhundert hinein die zentrale Motivation vieler Pflegenden darstellte. Das neu entstandene karitative Pflegeverständnis basierte auf der christlichen Nächstenliebe; es war ein Dienst an Gott, der ansonsten nicht entlohnt wurde. Diakone und Diakonissen übernahmen im Dienst der Kirche die Aufgabe der Betreuung von Hilfsbedürftigen und Kranken. Auch Witwen, die keine Kinder hatten, und unverheiratete Frauen, die noch keine eigene Familie hatten, erfüllten karitative Aufgaben. So wurde die Krankenpflege früh zu einer weiblich dominierten Tätigkeit (Metzger & Zielke-Nadkarin, 1998, S. 21; Seidler & Leven, 2003, S. 77). Diese Entwicklung wurde durch die Einführung des Medizinstudiums und der Approbation im Laufe des 14. Jahrhunderts weiter verstärkt, da Frauen bis 1901 nicht zum Medizinstudium zugelassen wurden und ihnen daher nur die Möglichkeit einer pflegerischen Tätigkeit blieb. Mit der Trennung der Berufsfelder wurde das überwiegend weibliche Pflegepersonal den Ärzten unterstellt (Metzger & Zielke-Nadkarin, 1998, S. 37; Seidler & Leven, 2003, S. 149).
Im Laufe des 18. Jahrhunderts kam es aufgrund der Entstehung großer Krankenhäuser, der steigenden Ansprüche an die Pflegenden und einer fehlenden sachgerechten und kontrollierten Ausbildung zu einer schweren Krise in der Pflege. Der nach wie vor der christlichen Tradition unterworfene Pflegegedanke wurde durch den Umbruch der Aufklärung in Frage gestellt und sorgte so für eine Krise in der Organisation der Krankenpflege (Seidler & Leven, 2003, S. 169, 178). Um diese Probleme zu lösen, wurden vermehrt konfessionelle Pflegeverbände gegründet. Diese Mutterhaus-Schwesternschaften wie beispielsweise von der Caritas oder dem Deutschen Roten Kreuz blieben bis in die 1950er Jahre hinein das zentrale Konzept der Krankenpflege. Das zölibatäre Schwestersein verlor jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend an Attraktivität. Die Erwerbsmöglichkeiten für junge Frauen wurden immer vielfältiger und auch die Forderung nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurden lauter. Der dadurch entstandene Pflegenotstand erzwang in den 1950er und 60er Jahren die Reformation des Pflegeberufes (Kreutzer, 2005, S. 20–25): Pflege wurde zu einer professionellen Berufstätigkeit mit Arbeitszeitregelungen und einer entgeltlichen Entlohnung. Nachdemdie Pflege fast 2000 Jahre – durch die Kirche geprägt – als ein „Liebesdienst“ ausgeübt worden war, hat sich seit Ende der 1950er Jahre sehr viel verändert. Professionalisierung und Akademisierung der Pflege sind die zentralen Themen der letzten Jahrzehnte. Die Verantwortlichkeiten, Anforderungen, Aufgabenfelder und Kontexte, in denen professionelle Pflegende arbeiten, werden laufend reformiert (Brieskorn-Zinke, 2014, S. 60; Kreutzer, 2005, S. 8–10).
Die hier dargestellten Entwicklungen werden auch bei der Suche nach einer aktuellen und allgemeingültigen Definition deutlich. Zum einen werden die Definitionen aufgrund der schnellen Veränderungen des Berufsbildes regelmäßig überarbeitet und zum anderen werden einige neue Faktoren nicht in allen Definitionen gleichermaßen berücksichtigt. So ist beispielsweise der Faktor ‚Forschung‘ durch die Akademisierung der Pflege in den 1990er Jahren zu einem relevanten Bestandteil des Pflegeberufes geworden und soll dem pflegerischen Handeln eine wissenschaftliche Basis bieten (Brieskorn-Zinke, 2014, S. 60; G. Meyer & Luderer, 2019, S. 17–18). Die Definition des ICN (2002) berücksichtigt Forschung als eine Schlüsselaufgabe der Pflege. Die Definition von Pflege in dem 2017 verabschiedeten Pflegeberufereformengesetz (PflBRefG) berücksichtigt das Aufgabenfeld Forschung hingegen nicht:
Pflege […] umfasst präventive, kurative, rehabilitative, palliative und sozialpflegerische Maßnahmen zur Erhaltung, Förderung, Wiedererlangung oder Verbesserung der physischen und psychischen Situation der zu pflegenden Menschen, ihrer Beratung sowie ihrer Begleitung in allen Lebensphasen und die Begleitung Sterbender. Sie erfolgt entsprechend dem allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse auf Grundlage einer professionellen Ethik.
Sie berücksichtigt die konkrete Lebenssituation, den sozialen, kulturellen und religiösen Hintergrund, die sexuelle Orientierung sowie die Lebensphase der zu pflegenden Menschen. Sie unterstützt die Selbstständigkeit der zu pflegenden Menschen und achtet deren Recht auf Selbstbestimmung. (2017)
Es zeigt sich: Ein einheitliches und allgemein gültiges Verständnis von Pflege existiert aktuell nicht. Es wäre jedoch hilfreich, um den professionell Pflegenden einen Konsens zu bieten, mit dem sie sich identifizieren und ihre Arbeit legitimieren könnten (G. Meyer & Luderer, 2019, S. 19).
Die Geschichte der Pflege und der Pflegenotstand lassen vermuten, dass sich das Berufsfeld Pflege weiterhin in einer Findungsphase zwischen der traditionellen Erwartung der Hingabe und einer legitimierten Pflegeprofession befindet. Auch die zu Beginn dieses Kapitels erwähnte Ungenauigkeit des Pflege-Begriffes, der sich ohne eine weitere Attribution sowohl auf die informelle als auch auf die professionelle Pflege beziehen kann, verschärft die Problematik, ein professionelles Berufsverständnis zu etablieren. Das Ringen um das Thema Pflege, sowohl innerhalb der Berufsgruppe als auch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, prägt das Berufsimage. Welche Rolle die Massenmedien in ihrer Funktion als Vermittler und Kritiker dabei spielen und wie wichtig das Berufsimage für die Gewinnung neuer Fachkräfte ist, wird im folgenden Kapitel erläutert.
Der Fachkräftemangel zählt, wie im vorherigen Kapitel erläutert, zu den größten Herausforderungen der Pflegebranche, da er den Pflegenotstand weiter verschärft. Er entsteht vor allem dann, wenn der Mehrbedarf nicht durch ausreichend qualifizierte Arbeitnehmende gedeckt werden kann. Warum Berufe gewählt oder nicht gewählt werden bzw. Ausbildungen und Berufe gewechselt oder verlassen werden, kann unterschiedliche Gründe haben.
Mit den Berufswahlprozessen beschäftigt sich insbesondere die Berufswahlforschung (Gehrau & Röttger, 2015; S. Matthes, 2019; Weyer et al., 2016; Zarea et al., 2009). Hierbei zeigt sich, dass sowohl Attraktions- als auch Aversionsfaktoren den Berufswahlprozess beeinflussen. S. Matthes (2019) untersuchte am Beispiel der Pflegeberufe, welche Aversionsfaktoren Einfluss auf die Nichtwahl von Berufen haben. Die Medien begründen den Personalmangel in der Pflege häufig mit einfachen Erklärungen wie „schlechten Verdienstmöglichkeiten, unsicheren Jobperspektiven oder körperlich anstrengender Arbeit“ (S. Matthes, 2019, S. 162) wobei S. Matthes dies lediglich als „alltagspraktische Erklärungen“ (2019, S. 162) bezeichnet, die kaum wissenschaftlich fundiert sind. Laut S. Matthes gilt die mangelnde soziale Passung, also die Sorge vor negativen Reaktionen aus dem sozialen Umfeld, als der zentrale Aversionsfaktor (2019, S. 163). Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass trotz eines grundsätzlichen (beruflichen) Interesses Pflegeberufe zum Beispiel häufig ausgeschlossen werden, weil die soziale Anerkennung als zu gering eingeschätzt wird. Neben der sozialen Passung können auch Rahmenbedingungen wie Arbeitszeiten, Lohn oder Aufstiegschancen zu einem wichtigen Aversionsfaktor werden, wenn diese nicht zu den Zielvorstellungen passen. Zudem zeigt die Studie Zusammenhänge zwischen der erwarteten sozialen Anerkennung und den vermuteten oder bestehenden Rahmenbedingungen (S. Matthes, 2019, S. 163). Die Erwartung bezüglich der sozialen Passung basiert häufig auf einem Berufsimage, das sich aus diversen Imagefaktoren zusammensetzt (S. Matthes, 2019; Rezaei-Adaryani et al., 2012).
Ein Berufsimage beschreibt ein komprimiertes subjektives Bild, das von mehreren Personen geteilt wird. Assoziationen und stereotype Vorstellungen über eine bestimmte Tätigkeit oder das gesellschaftliche Ansehen einer Branche werden zu einem Image verdichtet und beeinflussen das individuelle Verhalten (Geigenmüller et al., 2009, S. 514–515). In Studien über das Image von Pflegeberufen wurden differenzierte Berufsbilder untersucht. Neben der öffentlichen Wahrnehmung des Pflegeimages wurde auch das Selbstbild der Pflege untersucht sowie die Frage, wie die Pflege selbst das öffentliche Bild wahrnimmt und welches Berufsimage die Medien vermitteln (Rezaei-Adaryani et al., 2012, S. 83). Vorstellungsbilder von Berufen werden in erster Linie durch das eigene soziale Umfeld, eigene Erfahrungen mit der Berufsgruppe und durch die Medien geprägt. Dabei spielen auch Faktoren wie Rollenbilder, das Verhalten und die Kommunikation von Pflegekräften oder die Organisation der Pflege eine bedeutende Rolle (Donelan et al., 2008; Gehrau & Röttger, 2015; Geigenmüller et al., 2009; Rezaei-Adaryani et al., 2012; Weyer et al., 2016). Das Berufsimage wirkt sich auf verschiedene Bereiche aus: Es kann die Berufswahl beeinflussen, das Vertrauen in die Pflege, aber auch die Berufszufriedenheit oder die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Gesundheitsbranche.
Die Medien prägen nicht nur das Berufsimage, sondern zählen für Berufsinteressierte neben den eigenen Fähigkeiten und Interessen, dem sozialen Umfeld und eigenen Erfahrungen, z.B. durch Praktika, zu den wichtigsten Einflussfaktoren für den Berufswunsch (Weyer et al., 2016, S. 116).
Es zeigt sich: Die Medien sind ein wichtiger Faktor, der die Wahrnehmung des Pflegeimages beeinflusst. Für die vorliegende Studie, welche