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Neun unterhaltsame Kurzgeschichten, die in verschiedenen Jahrhunderten spielen, wurden hier geschickt zu einer amüsanten Zeitreise verknüpft, die abwechslungsreich und humorvoll durch über eintausend Jahre Gießener Stadtgeschichte führt. Dazu gibt es ein launiges Vorwort, das Sie mit der Stadt bekannter und vertrauter macht. Erleben Sie eine mit neuem Leben erfüllte Gießen-Chronik von der Sintflut bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in neun Kurzgeschichten, eine heiterer, erbaulicher, kurzweiliger, spannender, überraschender, unglaublicher, phantastischer und abenteuerlicher als die andere. Kurzum, trockene Stadt-Historie mit Phantasie und Fabulierkunst so erfrischend und einfallsreich aufbereitet, ist selbst für Ortsunkundige das pure Lesevergnügen.
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Seitenzahl: 151
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Vorwort I
Vorwort II
Noah kann's bezeugen
Gießen gibt's nicht?
Der Schein-Heilige
Der Rock des Artisten
Von allerlei Strafen
Der Schlammbeiser
Das Denkmal
Verpasste Gelegenheiten
Pest
Nachwort
Puck manisch
Bildnachweis
Stadttheater Gießen
Herzlich willkommen in Gießen! Ach, Sie sind gar kein Tourist und auch nicht auf der Durchreise? Sondern Gießener? Gießener auf Zeit, also Student? Zugereister, wie man in Bayern sagt? Oder gar Ureinwohner sprich hier geboren? Egal, wer im Umland sagt, er kommt aus Gießen, wird gern als >Schlammbeißer< tituliert und bekommt dann mal auch diesen Spottvers zu hören:
Wer früher wollt gen Gießen reisen,
der musste durch den Schlamm sich beißen,
drum nannten alle, Volk und Kaiser,
die Gießener >Schlammbeißer<.
Diese Zeilen sind natürlich ebenso falsch wie die Schreibweise, denn korrekt muss es heißen >Schlammbeiser<. Tatsächlich ist die Wahrheit aber anrüchig, denn der >Schlammbeiser< reinigte einst die oberflächlichen Abwasserkanäle, die die Stadt durchzogen – er entfernte den Unrat (Schlamp) aus den Rinnsalen mit einer hakenbewehrten Stange, dem Schlamp-Eisen. Aus diesem Kanalarbeiter, dem >Schlamp-Eiser<, wurde dann der Spitzname >Schlammbeiser<. 2005 haben ihm die Gießener am Kirchenplatz ein Denkmal gesetzt. Dort ist er als Figur verewigt – und wie es sich gehört – mit Eimer und Schlamp-Eisen zu besichtigen.
Nun könnte allein schon der Name >Gießen< abschrecken – es gießt wie aus Kübeln oder es regnet oft und viel. Auch das ist wieder so ein Vorurteil. Von allen größeren hessischen Städten bekommt Gießen den wenigsten Niederschlag ab, ist also ein relativ trockenes Areal.
Das war aber 2011 nicht der Grund für die Gründung des Gießener Gießkannenmuseums, sondern es entstand im Rahmen eines Ideenwettbewerbs zur Hessischen Landesgartenschau in Gießen, die im Jahr 2014 stattfand. Mittlerweile ist die Sammlung auf rund 1.500 Exponate angewachsen, die auch online unter www.giesskannenmuseum.de abrufbar sind. Passenderweise befindet sich das Gießkannenmuseum heute direkt neben dem Botanischen Garten, sodass man im Notfall dort mit Gießkannen aushelfen könnte. Als Trinkgefäße taugen solche mobilen Pflanzenbewässerer natürlich nicht, dennoch muss hier niemand verdursten, denn in Gießen versteht man sich durchaus auf die Kunst der Hopfenveredelung.
Nun gut, die Gießener Privatbrauerei wurde 2015 geschlossen, aber seit 2016 gibt es wieder eine Gießener Brauerei. Deren Biermarke >Schlammbeiser< wird zwar seit 2017 im Vogelsberg in einer oberhessischen Brauerei gebraut, aber natürlich in Gießen getrunken. Die Gießener Bier-Tradition lebt also fort.
Apropos Tradition – da kann Gießen durchaus mit Superlativen aufwarten. Was wolle Se dann wisse? Gut, weiter auf Hochdeutsch. Der Botanische Garten, der 1609 angelegt wurde, ist der älteste seiner Art in Deutschland, der sich immer noch an Ort und Stelle befindet. Auch die älteste Tanzschule Deutschlands, die 1787 von einem Herrn Bäulke gegründet wurde und nach wie vor von den direkten Nachfahren der Familie betrieben wird, befindet sich in Gießen.
Medienmäßig ist Gießen ebenfalls gut drauf. Hier befinden sich ein Studio des Hessischen Rundfunks und eins des Offenen Kanals, wo jeder Bürger unter fachkundiger Anleitung Fernseh-Beiträge produzieren kann, die dann auch in der Region ausgestrahlt werden. Zwei Anzeigenblätter kommen jede Woche frei Haus, und sogar zwei unabhängige Tageszeitungen gönnt man sich hier. Eine davon ist der >Gießener Anzeiger<, dessen Publikationswurzeln bis ins Jahr 1750 zurückreichen. Damit zählt dieses Presseorgan zu den ältesten Zeitungen in Deutschland.
Sie mögen es lieber sportlich? Nehmen Sie den MTV 1846 Gießen. Er gehört zu den ältesten noch existierenden deutschen Sportvereinen. Oder die Tradition der Gießener Rudervereine. Seit 1882 existiert die Gießener Pfingstregatta und ist damit eine - na, wissen Sie's? – der ältesten in Deutschland. Aber auch bei den schönen Künsten punktet die Stadt. Der Gießener Konzertverein, hervorgegangen aus der 1792 gegründeten >Musikalischen Gesellschaft<, muss nur Berlin den Vortritt lassen, das noch ein Jahr früher kunstsinnige Zeitgenossen zur Vereinsgründung veranlasste.
Noch viel älter ist natürlich die Stadt selbst. 1152 baute hier einst ein gewisser Herr von Gleiberg eine Wasserburg, und erstmals urkundlich erwähnt wurde der damals Giezzen genannte Ort 1197. 1248 bekam er die Stadtrechte, aber erst 1442 das Privileg, Märkte abzuhalten. Den Wochenmarkt können Sie übrigens heutzutage jeweils mittwochs und samstags von 7.00 bis 14.00 Uhr erleben, und er ist wirklich einen Besuch wert. Einen? Sie werden immer wiederkommen!
Direkte Nachbarn vom Markt auf dem Brandplatz sind der Botanische Garten und das Alte Schloss, das etwa um 1300 errichtet wurde, nur einen Steinwurf entfernt beeindruckt das Neue Schloss, das 1535 erbaut wurde. Daran schließt sich das nicht minder imposante Zeughaus an. Das Alte Schloss bildet zusammen mit dem Leib'schen Haus (erbaut 1350) und dem daneben liegenden Wallenfels'schen Haus am Kirchenplatz das Oberhessische Museum.
Drei weitere Bildungstempel laden zum Besuch ein. Da ist das Liebigmuseum in der Liebigstraße und fast Mauer an Mauer dazu das im Jahr 2002 eröffnete Mathematikum, das erste mathematische Mitmach-Museum der Welt, initiiert von dem Mathematik-Professor Dr. Albrecht Beutelspacher, der an der hiesigen Universität lehrte.
Stichwort Universität. 1607 von Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt gegründet, ist sie nicht nur die älteste kontinuierlich bestehende, sondern auch die zweitgrößte Universität in Hessen. Sie ist benannt nach dem Chemiker Justus Liebig, der ab 1824 schon mit einundzwanzig Jahren als Professor in Gießen lehrte und sowohl den Kunstdünger als auch Liebigs Fleischextrakt erfand. Fast drei Jahrzehnte war Liebig in Gießen als Hochschullehrer tätig.
Von einer solchen Karriere schon in ganz jungen Jahren können die über 28.000 Studentinnen und Studenten, die sich derzeit an der Justus-Liebig-Universität eingeschrieben haben, nur träumen. Ebenso wie ihre mehr als 11.000 Kommilitoninnen und Kommilitonen, die die Vorlesungen an der Technischen Hochschule Mittelhessen (vormals Fachhochschule Gießen-Friedberg) am Standort Gießen besuchen. Und nicht zu vergessen die Freie Theologische Hochschule als eine der größten evangelikalen Einrichtungen Deutschlands, dazu kommt die Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie sowie eine Abteilung der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung. Alles in allem sind es über 40.000 Studenten, die hier ihr Wissen mehren wollen und nach höheren Weihen streben.
Das beeindruckt Sie jetzt nicht, weil es Hochschulen und Universitäten in Deutschland gibt, die jede für sich deutlich mehr als 40.000 Studierende haben? Richtig, aber der Superlativ kommt ja erst. Bei gut 90.000 Einwohnern kommt Gießen auf eine Studentendichte von über 40%. Und das ist in Deutschland einsame Spitze.
Spitze war auch Conrad Wilhelm Röntgen, der Entdecker der nach ihm benannten Röntgen-Strahlen. Er lehrte ab 1879 an der Gießener Universität und erhielt 1901 den ersten Nobelpreis für Physik. Sein Grab befindet sich auf dem Alten Friedhof hier in Gießen, ein Denkmal im Theaterpark erinnert an den großen Gelehrten.
Gelehrtes und Gelerntes wird auch am Stadttheater Gießen geboten. Der Musentempel wurde 1906/1907 als ein >Denkmal bürgerlichen Gemeinsinns< erbaut und ist seit über hundert Jahren ein Hort der schönen Künste. Als Drei-Sparten-Haus bietet es Kulturfreunden aller Couleur ein abwechslungsreiches Programm.
Das hat auch der Verkehr zu bieten. Der Gießener Ring bietet Autobahn-Anschlüsse, die ihresgleichen suchen, und auch für die Bahn ist Gießen ein wichtiger Knotenpunkt. Schon 1925 bekam Gießen einen Flughafen, der sogar von der Lufthansa angeflogen wurde, aber nach dem 2. Weltkrieg machten ihn die Amerikaner als Besatzungsmacht dicht. Jetzt können Sie Gießen nur noch per Segelflieger erreichen (Flugplatz in der Wieseckaue) oder per Kleinflugzeug (Flugplatz Lützellinden). Natürlich gehören beide Standorte zum Stadtgebiet. Wie der >Hafen< der Schiffe des Gießener Marinevereins 1892 e. V., die in der wärmeren Jahreszeit mit Ausflüglern über die Lahn schippern.
Sie heißen, wie könnte es anders sein, alle >Schlammbeiser<. Nein, zwei von ihnen tragen den Namen >Schlammbeißer<. Mit Augenzwinkern wird die Schreibweise damit erklärt, dass diese Kähne früher schon mal in den Lahnschlamm >bissen<, weil eine Handbreit Wasser unterm Kiel fehlte. 2014 sind noch zwei weitere, brandneue Schiffe hinzugekommen, ein – ja, jetzt staunen Sie – Event-Boot und ein schmuckes Elektro-Boot. Eingedenk der schlechten Erfahrungen mit den schlammbeißenden ollen Pötten wurden sie auf die Namen >Lahnperle< und >Lahnlust< getauft. Das verheißt Noblesse und Lust anstatt Maloche und Frust. Tja, so hat auch Gießen >sin Klönschnack<, wie man an der Küste sagt, nur – hier wird ja, obwohl in der Stadt Menschen aus über 140 Nationen leben, überwiegend hessisch >geschwätzt<. Den Beweis finden Sie in der Plockstraße, denn die Skulpturengruppe dort hat man >Die drei Schwätzer< getauft.
Und auch ein Bauwerk haben die Gießener sehr treffend benannt – das Elefantenklo. Es ist die Fußgängerüberführung am Selterstor, das wohl markanteste Wahrzeichen der Stadt, das 1967/68 errichtet wurde. Mit ihren drei riesigen Öffnungen wirkt die auf Stelzen stehende Betonplattform tatsächlich wie ein riesiges Plumpsklo und hat mittlerweile Kultcharakter. Als örtliche Geschäftsleute dem Bauwerk zur Hessischen Landesgartenschau 2014 in Gießen einen Wasserfall spendierten, war etwas entstanden, was keine andere Stadt der Welt besitzt – ein Elefantenklo mit Wasserspülung.
Sie glauben, nach diesem langen Vorwort alles über Gießen und seine Geschichte zu wissen? Tja, da sind Sie leider auf dem berühmten Holzweg. Die Historie ist viel fantastischer, und die Ursprünge der Stadt gehen auch nicht auf die Wasserburg dieses Herrn von Gleiberg zurück, sondern auf Noah. Sie wissen schon - das ist der, der einst wegen der Sintflut die Arche baute ...
Stadtkirche Gießen
Neun unterhaltsame Kurzgeschichten, die in verschiedenen Jahrhunderten spielen, erwarten Sie. In diesem Buch wurden sie geschickt zu einer amüsanten Zeitreise verknüpft, die Sie abwechslungsreich und humorvoll durch über eintausend Jahre Gießener Stadtgeschichte führt.
Erleben Sie eine mit neuem Leben erfüllte Gießen-Chronik von der Sintflut bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in neun Kurzgeschichten, eine heiterer, erbaulicher, kurzweiliger, spannender, überraschender, unglaublicher, phantastischer und abenteuerlicher als die andere. Kurzum, trockene Stadt-Historie mit Phantasie und Fabulierkunst so erfrischend und einfallsreich aufbereitet, ist sowohl für Einheimische wie für Ortsunkundige das pure Lesevergnügen ...
Allerdings: Wenn in den einzelnen Geschichten historische Ereignisse und Daten genannt werden, handelt es sich dabei um tatsächliche Begebenheiten und Geschehnisse, also um Fakten und nicht um Fiktion.
Genießen Sie diese Anthologie als eine abwechslungsreiche literarische Stadtführung durch fast tausend Jahre Gießener Geschichte, bei der Sie nicht einmal Ihren bequemen Lesesessel verlassen müssen.
Bahnhof Gießen
Dass Gießen viel älter ist, als gemeinhin angenommen und durch Urkunden belegt wird, beweist eine Flaschenpost, die Noah einem seiner Söhne zu dessen hundertfünfzigsten Geburtstag geschickt hat.
Der konnte sich zwar für die Glückwünsche nicht bedanken, weil sein Vater mit der Arche >nach unbekannt verzogen war<, wie es im Amtsdeutsch so schön heißt, dennoch dokumentiert diese Grußbotschaft eindeutig, dass die Stadt eine der ältesten menschlichen Siedlungen ist.
Fatalerweise war auf der Flasche weder ein Absender noch ein Haltbarkeitsdatum angegeben, und so hat einer von Noahs Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkeln beim Entrümpeln seines Kellers das kostbare Stück einfach in den Altglas-Container gegeben – zum Braunglas.
Das war auch wieder so eine Achtlosigkeit, denn die Flasche war zwar verstaubt, aber weiß. Und der >Grüne Punkt< hatte dann wieder Probleme mit der richtigen Sortierung.
*
Nachdem Noah, der mittlerweile 600 Jahre alt war, die Arche gebaut hatte, nahm er von allen Tieren ein Pärchen an Bord und ging schließlich mit seiner Frau, den Söhnen und den Schwiegertöchtern als Letzter aufs Schiff. Er schloss die Bullaugen, und dann kam schon die Sintflut. Vierzig Tage und Nächte lang regnete es ununterbrochen.
So entstand das sumpfige Becken der Lahn, in dem einst Gießen entstehen sollte.
*
Nachdem es aufgehört hatte zu regnen, wartete Noah weitere vierzig Tage und ließ einen Vogel als Kundschafter aus der Arche flattern. Obwohl er in der Schule in Biologie immer gefehlt hatte, warf er keinen Strauß über Bord, der gar nicht fliegen kann, sondern einen Raben. Der kreiste nur, fand aber kein trockenes Plätzchen zum Rasten und landete wieder auf der Arche. Nach weiteren sieben Tagen schickte Noah eine Taube als Kundschafter aus, und die kehrte abends mit einem abgebrochenen Ölblatt zurück (Anmerkung des Verfassers: Es war das Blatt einer wilden Rapspflanze, aus deren Samen man Öl presste. Da der Archen-Erbauer aber wie erwähnt in Biologie immer gefehlt hatte, wusste er das nicht und hielt es für das Blatt eines Ölbaums).
Noah, der zu diesem Zeitpunkt gerade die Lahn befuhr, ging vor einer Insel vor Anker, die aus dem Wasser ragte, und wagte sich an Land. Da der Boden immer noch nass war und er im feuchten Erdreich stecken blieb, haderte Noah ob des sumpfigen Untergrunds mit dem Herrn.
»Herr, ich bin doch kein Schlammbeiser!«
Der Herr rief ihn zur Ordnung und befahl ihm, all jene Tiere und Spezies auszusetzen, die hier leben und siedeln konnten und wollten. Also verließen die Arche all jene unauffälligen Fische, Frösche, Lurche und Molche, Vögel, Würmer und Vierbeiner, die Noah ohnehin nicht gefielen wie die Moderlieschen, die Schlammspringer, die Sumpfohreule, das Moorhuhn und wie sie alle hießen, je ein Männchen und ein Weibchen.
Auch einer seiner Söhne und dessen Weib gingen von Bord. Noah weinte ihnen keine Träne nach. Beide waren in den letzten Wochen häufig seekrank gewesen, doch anstatt dankbar zu sein, an Bord der Arche weilen zu dürfen, hatten sie seine Steuerkünste bemängelt und ihn vor der gesamten Familie einen lausigen Kapitän genannt.
Seine Autorität wurde zudem dadurch untergraben, dass die beiden ihn ertappt und verpetzt hatten, wie er sich an dem eingelagerten Gemüse für die animalischen Vegetarier gütlich tat und sogar den einen oder anderen für die Raubtiere reservierten Brocken Fleisch abzweigte, um ihn zu braten und zu verspeisen.
Da Noah diesem sumpfigen Fleckchen Land, wo nicht Milch und Honig, sondern nur die trübe Lahn floss, ganz und gar nichts abgewinnen konnte, war er froh, das Paar zurücklassen zu können. Erleichtert bestieg er die Arche und legte grußlos ab.
*
Noahs Sohn und seine Gemahlin kümmerten sich nicht um den grantigen Alten, der ihnen noch nicht mal seine neue Adresse hinterließ, sondern begannen sogleich, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren.
Als die Lahn in ihr altes Bett zurückkehrte, stellte Noahs Sohn fest, dass sie nicht auf einer Insel gelandet waren, sondern auf einem Hügel geankert hatten. So nannten sie den Berg zur Erinnerung an das Anlegen der Arche >Schiff am Berg<, aus dem dann Jahrtausende später die Abkürzung >Schiffenberg< wurde.
Noahs Sohn und dessen Weib verließen den Berg und wanderten zu Tal ans Ufer des Flusses. Obwohl es dort sumpfig war, klappte das mit der Vermehrung so gut, dass man bald Lahn auf, Lahn ab das fröhliche Geplapper von Schlammbeisern hörte. Auch Noahs Enkel und Urenkel vermehrten sich reichlich und waren überaus fruchtbar – gerade so, wie der Herr es Noah prophezeit hatte.
Auch sonst wandelten sie auf den Spuren ihres Stammvaters, der nach der Sintflut noch dreihundertfünfzig Jahre lebte und das biblische Alter von 950 Jahren erreichte. Noah, der Ackersmann, hatte nach dem Verlassen der Arche als Erstes einen Weinberg angelegt, die Trauben gekeltert und sich einen ordentlichen Rausch angetrunken.
Selbst in dieser Hinsicht ließ sich das Erbe ihres Sippengründers nicht verleugnen. Sie kultivierten die in der Lahnaue heimische Sumpfglockenrebe, deren Früchte sie vergoren. Es war die zweitliebste Beschäftigung nach der Vermehrung, der die Nachfahren von Noah, dessen Sohn und damit die Schlammbeiser nachgingen – sich einen hinter die Binde zu >giezzen<. So entstand aus biblischen Ursprüngen heraus der Name >Giezzen< (später >Gießen<) und die Bezeichnung >Schlammbeiser< für die ersten Siedlungsbewohner – auch wenn der Ort im Alten Testament ebenso wenig erwähnt wird wie der Schiffenberg.
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Der aber wurde auch besiedelt, und zwar zuerst von einem einzelnen Mann. Die Erzählung von Noahs Sohn über die Sintflut, die er im Familienkreis gerne zum Besten gab, wurde mit jeder feucht-fröhlichen Runde abenteuerlicher, und sie ängstigte einen seiner Enkel, der nicht schwimmen konnte, schließlich derart, dass er eigentlich einen Psychiater gebraucht hätte. Diese Spezies war damals jedoch noch nicht erfunden, und so beschloss der Enkel, eine Hütte auf dem hochwassersicheren Schiffenberg zu errichten und Einsiedler zu werden.
Eines Tages tauchte eine junge Frau vor der Hütte auf, die auf dem Schiffenberg Kräuter gesammelt hatte und nun Schutz vor einem Unwetter suchte. Der Einsiedler bat sie zu sich herein, und sogleich überkam beide übermächtig der in den Genen und Lenden verankerte Befehl des Herrn, sich zu vermehren. Aus dem Einsiedler war ein Zweisiedler geworden, und neun Monate später waren die beiden schon Dreisiedler. So entstand die Siedlung (abgeleitet von mehr als drei Siedlern) auf dem Schiffenberg.
Da die Vermehrung allein auf Dauer nicht tagfüllend war und das ständige Baumfällen mit der Zeit langweilig wurde, suchten sich die Schiffenberger ein Hobby und begannen zu töpfern. Weil sie zur Verzierung für ihre Keramik-Gefäße nichts weiter als ein simples Stück Band zur Verfügung hatten, nannte man sie schon bald – wie später auch die Archäologen – die >Bandkeramiker<.
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Irgendwann, auf jeden Fall etliche Jahrhunderte nach Christi Geburt, tauchte ein Mönch an der Lahn auf und bekehrte Noahs Erben zum Christentum. Die Schlammbeiser, die sich vornehmlich mit der Vermehrung und einen hinter die Binde >zu giezzen< beschäftigten, wurden von dem frommen Mann angehalten, nicht nur gelegentlich zwischen vermehren und trinken zu ackern und zu fischen, sondern diese Berufe zur Lebensgrundlage ihres Alltags zu machen – sozusagen zum Broterwerb.
Daraufhin zogen etliche aus, um neue Dörfer zu gründen, Einzelne machten sich auf in die Ferne, um den Beruf des Burgmannen und Ritters zu erlernen, da er beste Zukunftsaussichten versprach, und wieder andere wurden religiöse Eiferer, die wie so viele Konvertiten mit Leib und Seele in ihrem neuen Glauben aufgingen. Sie beschlossen, dem Herrn ein Haus zu bauen und selbst fromme Mönche zu werden. Eingedenk der Überlieferungen ihrer Sippe wegen der Sintflut sollte die Kirche aber nicht in ihrer Siedlung an der Lahn entstehen, sondern auf dem Schiffenberg, dort, wo ihr Urahn mit der Arche vor Anker gegangen und das Haus des Herrn vor Hochwasser sicher war. So entstanden die Basilika und das Kloster auf Gießens Hausberg.
Kloster Schiffenberg
Auch für die übrigen Verwandten, die in >Giezzen< blieben, änderte sich der Alltag. Das alttestamentarische Lotterleben war nunmehr vorbei, dafür wurden die Tage arbeitsreicher. Etliche wurden Bauern, andere Fischer, wieder andere Viehzüchter oder Handwerker, und eine Handvoll wurde Weinbauer. Vermehren taten sie sich weiter, aber mit dem täglichen >einen hinter die Binde giezzen< war es vorbei. Nur noch an hohen christlichen Feiertagen und zu liturgischen Zwecken war der Weingenuss gestattet.
So war es kein Wunder, dass die Weinberge an der Lahn im Laufe der Zeit verfielen, die Gießener zu Biertrinkern wurden und auch das Vermehren mehr und mehr einstellten ...
Schiffenberg-Basilika
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