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Zwei Romane in einem Band Wechsel der Dimensionen Ende des 23. Jahrhunderts leben Menschen als Singles, zwischenmenschliche Beziehungen gibt es so gut wie keine mehr, der Gefühlssektor ist infolgedessen verkümmert. Mit dem 60. Lebensjahr wird die arbeitende Bevölkerung aus der Produktion ausgegliedert und muss in Seniorenheime umziehen. Unter ihnen ist Leopold Oguwabe, ein Systemanalytiker. Meinolf Sieber ist klein von Gestalt, aber im verwachsenen Körper des Wissenschaftlers steckt ein wacher und brillanter Geist. Er hat sich in die Idee von Parallelwelten verrannt, die er auch als Dozent vertritt, sodass er für seine Hochschule nicht mehr tragbar ist. Nach seinem inszenierten Tod im Jahr 1981 kann er endlich daran gehen, in einem abgelegenen Haus seine ehrgeizigen Pläne ungestört in die Tat umzusetzen. Er will eine Maschine bauen, die ihm etwas ermöglicht, was es so noch nie gegeben hat: einen Wechsel der Dimensionen. Dieser Roman erschien 1983 als Terra Astra 573. Gefangene des Systems Mittels Emotio-Haube erlebt Leopold Oguwabe nach seinem Ausscheiden aus der produzierenden Bevölkerung zum ersten Mal in seinem Leben Emotionen. Da dies die einzige Abwechslung in seinem eintönigen Alltag ist, lässt der Reiz des Neuen jedoch rasch nach und macht Langeweile Platz. Er will sich aber nicht damit abfinden, in geistiger Ödnis und Dumpfheit zu versinken und bis ans Ende seiner Tage lethargisch vor sich hin zu dämmern, doch ein Verlassen des Seniorenheims ist zu Lebzeiten nicht vorgesehen. Daher fasst er einen kühnen Plan, den er mit Hilfe seiner Mitbewohner umsetzen will. Sie wollen ausbrechen, denn sonst sind und bleiben sie bis zu ihrem Tod Gefangene des Systems. Dieser Roman erschien 1983 als Terra Astra 575. Außerdem enthält der Band die Kurzgeschichte "Rettung in letzter Minute", die von Falk-Ingo Klee 1990 zum 70. Geburtstag von Walter Ernsting verfasst wurde.
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Seitenzahl: 245
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FALK-INGO KLEE
Gefangene des Systems
HOPF Autorenkollektion
Impressum
Vorwort
Wechsel der Dimensionen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Gefangene des Systems
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Originalausgabe März 2021
Text © Falk-Ingo Klee
Copyright © 2021 der E-Book-Ausgabe by Verlag Peter Hopf, Minden
Covergestaltung: etage eins, Jörg Jaroschewitz
Covermotiv © grandfailure / de.depositphotos.com
Innenillustration © Sylvia Bespaluk
Korrektorat: Thomas Knip
ISBN ePub 978-3-86305-375-8
www.verlag-peter-hopf.com
Alle Rechte vorbehalten
Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.
Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
Liebe Science-Fiction-Fans,
es freut mich, dass Sie sich erneut für diese Reihe entschieden haben, in der der Verlag Peter Hopf meine TERRA ASTRA-Klassiker wieder neu aufleben lässt. Diese »alten Schätzchen« wurden der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst und von mir sorgfältig durchgesehen und behutsam überarbeitet.
Ich habe darauf verzichtet, die beiden Romane, die hier in diesem Band zusammengefasst sind, grundlegend zu verändern und zu modernisieren, sondern habe nur sehr geringfügige Korrekturen vorgenommen. Warum?
Die Storys sind fast vierzig Jahre alte SF-Klassiker, die ich Ihnen möglichst original präsentieren möchte. Mit all dem Charme, aber auch dem Reiz, den Texte ausmachen, die damals als Science-Fiction-Romane erstmals veröffentlicht wurden.
Als Anglizismen noch nicht so verbreitet waren, nannte man diese Literaturgattung »Zukunftsromane«. Ein ebenso passender wie treffender Name, denn diese Geschichten handeln von oder in der Zukunft. Wie die beiden Romane in diesem Buch, die inhaltlich sehr eng zusammengehören. Sie beschreiben, wie unser Leben im 23. Jahrhundert aussehen könnte.
Die Geschichten stammen aus dem Jahr 1983, und etliches, was ich darin beschrieben habe, war zu jener Zeit allein aus technischen Gründen weder denk- noch machbar. Aber einiges, was ich damals in die Zukunft extrapoliert habe, ist heute schon Realität. Und manches, was früher bereits im Argen lag wie die Heimunterbringung von alten Menschen, ist auch aktuell ein Thema, das unsere Gesellschaft beschäftigt. Und im Jahr 2292?
Da gibt es auch noch Altersheime. Oder Seniorenheime. Klingt zwar besser, ist aber dasselbe. Die Sonnenschein-Lebensabend-Company zum Beispiel betreibt solche Einrichtungen. Doch existieren die überhaupt auf unserer Erde oder nur auf einer Parallelwelt? Es spielt nämlich auch ein Dimensionswandler eine Rolle, den ein kauziger Wissenschaftler erfunden hat.
Die Handlung bietet also genau das, was Sie von mir zu Recht erwarten: Action, Spannung und unterhaltsames Lesevergnügen. Das bietet Ihnen hoffentlich auch meine Kurzgeschichte, die diesmal als Bonus und kleine Überraschung Band 5 der HOPF Autorenkollektion abrundet.
Sie entstand 1990 als »Auftragsarbeit« zum 70. Geburtstag von Walter Ernsting, besser bekannt unter seinem Pseudonym Clark Darlton und bewegt sich – wie könnte es bei diesem berühmten Jubilar anders sein – im Perryversum. Mehr will ich aber an dieser Stelle nicht verraten, also lassen Sie sich von meinem Mini-Weltraumepos überraschen.
Ihr
Falk-Ingo Klee
Die Hauptpersonen des Romans:
Dr.-Ing. Meinolf Sieber ‒ Seine Erfindung macht ihn zum Gejagten
Leopold Oguwabe ‒ Ein Systemanalytiker
Linda Ipswich und Lilly Benton ‒ Insassen eines Seniorenheims
Ralf Moser und Josef Obermüller ‒ Zwei Männer machen eine Entdeckung
Noreen Thorny ‒ Sie giert nach Emotionen
»Ich ertrage es nicht länger, CHARLES, hörst du? Ich will, dass du etwas unternimmst, bevor ich verrückt werde.« Die Stimme wurde schrill, bekam einen hysterischen Unterton. »Man hat mir seinerzeit Abwechslung versprochen, geballte Emotionen, starke Gefühle von Hunderten von Menschen …«
»Hast du sie nicht bekommen, Jeff?«
»Ja, am Anfang, doch nach einem halben Jahr war es vorbei damit.«
»Du vergisst die Neuzugänge.«
»Sie waren nach kurzer Zeit genauso unergiebig wie die anderen. Alle hier strahlen Stumpfsinn und Monotonie aus, und ich bin diesen Impulsen ausgeliefert. Sie machen mich depressiv und treiben mich in den Wahnsinn, aber ich will nicht wahnsinnig werden, hörst du? Ich will nicht als umnachteter Geist dahinvegetieren. Tag und Nacht empfange ich Öde und geistige Leere, und das seit fast neunundvierzig Jahren. Noch einmal so lange halte ich das nicht aus. Ich will, dass du mir Emotionen verschaffst, CHARLES, starke Emotionen ‒ jetzt sofort!«
»In wenigen Minuten wirst du dich nicht mehr langweilen, Jeff.«
»Was hast du vor, CHARLES? Nein, verrate es mir nicht. Sage mir nur, was für Gefühle ich in mich aufnehmen kann. Ist es Hass? Oder Angst?«
»Ich denke, es wird Angst sein, aber du wirst sie nicht in dich aufnehmen können und wollen.«
»Was heißt das? Drücke dich gefälligst deutlich aus!«
»Vor elf Minuten erhielt ich eine Nachricht. Sie besagt, dass dein Konto kein Guthaben mehr aufweist.«
Für einen Moment war es still, dann stammelte Jeff:
»Das kann nicht wahr sein. Du lügst!«
»Du weißt, dass ich nicht lügen kann.«
»Es muss sich um einen Irrtum handeln. Natürlich, ein Irrtum, eine Verwechslung. Irgendwie hast du falsche Informationen bekommen. Du musst das auf der Stelle richtigstellen, CHARLES, hörst du?«
»Ich halte eine falsche Datenübertragung zwar für ausgeschlossen, dennoch werde ich nachfragen.«
Jeff brauchte nicht einmal zwei Sekunden auf die Antwort zu warten.
»Die mir zugespielte Mitteilung ist korrekt, ein Fehler ausgeschlossen.«
»Das kann nicht sein, es ist einfach unmöglich. Mir wurde damals versichert, dass mein Vermögen ausreicht, um mindestens einhundertfünfzig Jahre alle Kosten zu decken. Sogar die Preissteigerung ist einkalkuliert worden.« Jeff gab einen erstickten Laut von sich. »Nicht einmal der simpelste Computer kann sich so verrechnen, dass aus einhundertfünfzig Jahren noch nicht einmal fünfzig werden. Siehst du das denn nicht ein, CHARLES?«
»Meine Information besagt, dass die Inflation der letzten zwei Jahrzehnte und die damit verbundene Abwertung so außergewöhnlich hoch war, dass dadurch alle Hochrechnungen illusorisch geworden sind.«
»CHARLES, du kannst nicht zulassen, dass ich getötet werde! Dein Programm erlaubt das nicht. Du musst mir helfen, CHARLES, hörst du? Du musst!«
»Du hast noch dreiundfünfzig Sekunden zu leben, Jeff.«
»Mörder!«, stieß Jeff hasserfüllt hervor.
Er wollte noch mehr sagen, doch ihm versagte die Stimme.
»Du tust mir unrecht, Jeff. Ich führe nur einen Befehl aus. Möchtest du mir noch etwas sagen, was dich erleichtert?«
Jeff begann, unartikuliert zu schreien. Seine Stimme hatte nichts Menschenähnliches mehr an sich. Wie ein waidwundes Tier schrie er seine Qual und seine Todesangst hinaus.
Plötzlich wurde es totenstill. CHARLES, wie Jeff die Steuereinheit genannt hatte, hatte das Lebenserhaltungssystem abgeschaltet.
*
»Dass Ihre Wahl auf uns gefallen ist, Madam, ehrt uns. Wir von der Sonnenschein-Lebensabend-Company dürfen uns rühmen, seit Jahrzehnten über die wohl komfortabelsten Seniorenheime zu verfügen, die auch höchsten Ansprüchen gerecht werden. Für Sie käme wohl nur die A-Kategorie infrage, die keine Wünsche offen lässt. Ich kann Ihnen …«
»Sie reden ein bisschen viel, junger Mann.«
Verblüfft sah der Manager die Frau an, die in ihrer Energie-Sphäre vor seiner Datenkonsole saß. Sie wirkte gepflegt, und ihre ganze Erscheinung verriet, dass sie mehr als wohlhabend sein musste.
»Verzeihung, Madam, ich dachte, Sie hätten sich bereits entschieden. Möchten Sie vielleicht einige Infos sehen? Oder interessieren Sie spezielle Details?«
»Ja, aber keine, die Ihre Kategorien betreffen. Von einem Bekannten hörte ich, dass es auch noch eine andere Möglichkeit gibt, seinen Lebensabend zu verbringen.«
»Ich verstehe nicht, Madam.«
»Oh, natürlich, ich vergaß, dass Sie mich nicht kennen.« Sie reichte ihm ein Plastikkärtchen. »Hier, bitte, meine ID-Karte der Bank. Erkundigen Sie sich.«
Mit ausdruckslosem Gesicht nahm der Mann die Kunststoffmarke entgegen und schob sie in eine Eingabeöffnung seiner Konsole. Ein Datensichtfeld leuchtete auf. Die Augen des Managers weiteten sich, ungläubiges Staunen lag auf seinem Gesicht. Mehrmals überflog er die fluoreszierenden Zeichen, bevor er die Folie zurückgab. Er schluckte.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Madam, aber das konnte ich nicht wissen. Es tut mir außerordentlich leid, dass mir nicht sofort bewusst wurde, wer mir gegenübersitzt. Ich hoffe, Sie nehmen mir diesen Lapsus nicht übel ‒ ich würde es sehr bedauern.«
»Das glaube ich sogar, denn sicherlich würde Ihre Organisation Sie mit anderen Aufgaben betrauen oder Sie Ihrer Pflichten entbinden, wenn ich mich beschweren würde.«
»So ist es, gnädige Frau.« Der Manager setzte eine Leichenbittermiene auf. »Darf ich hoffen, dass Sie mich schonen?«
»Junger Mann, wir sollten endlich zur Sache kommen, meine Zeit ist nicht nur knapp, sondern auch kostbar. Also?«
»Natürlich, Madam, natürlich. Dennoch möchte ich Ihnen noch einmal Dank sagen für Ihr Verständnis. Nicht alle Kunden sind so … Wie soll ich sagen?«
Die Dame räusperte sich demonstrativ.
»Ja, wissen Sie, es ist so, dass ständig Leute zu uns kommen, die etwas gehört haben und die daraus Kapital schlagen wollen, obwohl sie gar nicht genug Kapital besitzen.« Als der Mann sah, dass das Wortspiel die Frau durchaus nicht amüsierte, setzte er sein gewinnendstes Lächeln auf und wurde verbindlich. »Ihre Informationen stimmen, doch Sie müssen verstehen, dass die wenigen Plätze, die wir anbieten können, nur ausgesuchten Persönlichkeiten zur Verfügung gestellt werden können. Natürlich gehören Sie zu diesem Kreis, Madam.«
»Weil ich vermögend bin, nicht wahr?«
»Äh, ja, das auch.« Der Mann wand sich wie ein Aal. »Sie wissen sicherlich, dass jemand, der für seinen Lebensabend einen so speziellen Status anstrebt, über bedeutende Mittel verfügen sollte. Schließlich muss der Kunde alle laufenden Kosten übernehmen und abdecken ‒ und das nicht nur für kurze Zeit, sondern für Jahrzehnte. Ach, was sage ich ‒ für mindestens ein Jahrhundert. Wir von der Sonnenschein-Lebensabend-Company wollen, dass die Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, auch voll und ganz unseren Kunden zugute kommen.«
»Das habe ich nicht anders erwartet, doch jetzt möchte ich Einzelheiten wissen und Fakten hören.«
»Gewiss, gnädige Frau.«
Fast eine dreiviertel Stunde lang beantwortete der Manager Fragen der Lady, die sich als zäher Verhandlungspartner entpuppte. Endlich waren alle Details geklärt.
»Dann darf ich Sie also auf die Terminliste setzen?«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Wir müssen vorausplanen. Ich werde Ihren sechzigsten Geburtstag speichern.«
»Da gibt es nicht viel zu speichern, junger Mann. Der ist wie immer am 20. April.«
Der Manager blickte überrascht auf.
»Das ist ja schon in sechs Tagen.«
»Sehen Sie Terminschwierigkeiten?«
»Das kann man wohl sagen, gnädige Frau. Wir haben keine Einheit frei.«
»Dann werde ich mich wohl nach etwas anderem umsehen müssen.«
»Bitte warten Sie noch einen Moment, Madam. Vielleicht lässt sich doch noch etwas finden oder arrangieren.«
Wie selbstständige Wesen glitten die Finger des Mannes über die Tasten des Terminals. Er suchte nicht nach einer freien Einheit, denn er wusste, dass es keine gab und in naher Zukunft auch nicht geben würde. Er fragte den Speicher nach dem ältesten Kunden der Sonnenschein-Lebensabend-Company ab. Es war ein gewisser Jeff Roger, der seinen Platz bereits vor neunundvierzig Jahren eingenommen hatte.
»Übermorgen wird eine Einheit frei, allerdings ist sie bereits von einer anderen Dame gebucht worden.«
»Wie können Sie wissen, dass übermorgen jemand stirbt?«
Die Dame verstand es, ihren Verstand zu gebrauchen; fast hätte er sich eine Blöße gegeben. Hastig sagte der Manager: »Der Kunde ist bereits verstorben, gnädige Frau. Es wird nur noch alles überprüft und für den neuen Kunden vorbereitet. Das dauert natürlich etwas, da wir es mit dem Service sehr genau nehmen.«
Die Frau nickte zustimmend.
»Welche Kategorie?«
»B-1, Madam. Ein sehr gepflegtes Haus.«
»Ich hatte mir A-1 vorgestellt.«
»Tut mir leid, da ist wirklich alles belegt. Wir haben bereits Dreißigjährige dafür auf der Warteliste stehen.«
»Was sind das für Menschen in dem B-1-Heim?«
»Fast ausschließlich Akademiker. Wissenschaftler, hohe Beamte, Ärzte ‒ alles integre Persönlichkeiten. Außerdem ist es ein recht großes Haus mit etwa neunhundert Bewohnern einschließlich der obligatorischen K-Ebene. Es wird somit einiges geboten.«
»Reservieren Sie mir das bitte.«
Steve Hancroft wiegte bedenklich den Kopf, so, als ob er Skrupel habe und abwägen müsse, welche von den Damen den Platz dringlicher benötigte. In Wahrheit hatte er seinen Entschluss längst gefasst.
»Ich müsste dann der anderen Lady absagen.«
»Tun Sie das. Was zahlt sie?«
Der Mann nannte eine unverschämte Summe.
»Ist das nicht ein bisschen viel?«
»Bedenken Sie, dass die Einheiten begrenzt sind. Die Nachfrage ist höher als die Kapazität.«
»Also gut, ich akzeptiere Ihren Preis. Benötigen Sie noch etwas von mir?«
»Die Vollmacht über Ihr Konto, gnädige Frau. Da der Platz bereits übermorgen frei wird, muss die Zahlung ab diesem Tag erfolgen. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
»Eines muss ich Ihnen zugestehen: Geschäftstüchtig sind Sie.«
»Sie aber nicht weniger, gnädige Frau.«
Erneut machte sich der Manager an der Konsole zu schaffen. Er tippte einen mehrstelligen Code ein, wodurch automatisch ein vorbereitetes Programm abgefahren wurde. Es war Jeffs Todesurteil.
Die Dame mit Namen Noreen Thorny würde seinen Platz einnehmen.
Begleitet von den hellen Klängen des Armsünderglöckleins der Kapelle bewegte sich der Trauerzug gemessenen Schrittes über den kiesbestreuten Weg zum frisch ausgehobenen Grab hin.
Nur eine Handvoll Menschen gab dem Toten das letzte Geleit. Voran schritt der Pfarrer, ihm folgten die sechs in Schwarz gekleideten Sargträger, den Abschluss bildeten einige ältere Frauen. Keine von ihnen stand in irgendeiner Beziehung zu dem Verblichenen. Es waren allesamt Witwen, denen der tägliche Gang zum Friedhof fast zum Bedürfnis geworden war. Sie wohnten jeder Trauerfeier bei.
Es war ein empfindlich kalter Novembermorgen. Raureif lag auf Bäumen und Erdreich, ein schneidender Ostwind blies. Schwach und kraftlos stand der rote Ball der Sonne am bleigrauen Himmel. Sie vermochte nicht den Bodennebel aufzulösen, der in Schleiern zwischen den Gräbern wallte und der Szene etwas Unwirkliches gab.
Die kleine Trauergemeinde fröstelte. Bei jedem Atemzug entstanden weiße Wölkchen. Über Nacht waren die Blütenpflanzen auf den Grüften erfroren und unansehnlich geworden. Auch die bunte Pracht der Schnittblumen war verblasst. Verschrumpelt und mit hängenden Köpfen standen sie in den Vasen, in denen sich das Wasser in Eis verwandelt hatte.
Endlich erreichte die Gruppe die mit Tannenzweigen abgedeckte Grube. Niemand bemerkte den Mann, der in einiger Entfernung hinter einem Baum stand und jede Einzelheit mit brennenden Augen verfolgte.
Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, wirkte aber älter. Deutlich zeichnete sich unter dem schäbigen Mantel eine Verwachsung des Rückens ab; damit hing wahrscheinlich auch die geringe Körpergröße zusammen, denn der Mann maß nur 159 Zentimeter.
Der relativ große Kopf wollte nicht so recht zu dem schmächtigen Körper passen. Schulterlanges graues Haar umrahmte ein asketisches Gesicht mit einer schmalen, etwas zu lang geratenen Nase. Die Lippen waren dünn und blutleer, die Hautfarbe wirkte ungesund.
Obwohl das Äußere des Mannes ungepflegt schien, erkannte man bei näherem Hinsehen, dass er durchaus nicht zum Strandgut der Gesellschaft gehörte. Die blauen Augen machten einen wachen und intelligenten Eindruck, der Blick hatte etwas Zwingendes.
Trotz der dünnen Kleidung spürte der Mann die Kälte nicht. Als der Sarg in das Grab hinabgelassen wurde, rieb er sich zufrieden die Hände. Lange genug hatte er darauf gewartet.
Seit Jahren hatte er einen Doppelgänger gesucht und diesen endlich in dem Holländer Jan Sluis gefunden.
Seine ursprüngliche Absicht, ihn in sein Haus zu locken und umzubringen, hatte er aufgegeben. Trotz aller Besessenheit hatte er es nicht übers Herz gebracht, sein Ebenbild kaltblütig zu töten. Hin und her gerissen von den unterschiedlichsten Empfindungen, hatte der kleine Mann fast ein Jahr lang mit dem Holländer unter einem Dach gelebt, dann erlag dieser plötzlich einem Herzversagen. Nun war Jan Sluis tot, doch da er die Papiere vertauscht hatte, begrub man offiziell ihn ‒ Dr.-Ing. Meinolf Sieber.
Nun, wo er amtlich nicht mehr existierte, konnte Sieber, der sich jetzt Jan Sluis nannte, endlich darangehen, seine ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen. Er wollte eine Maschine bauen, die es noch nie gegeben hatte ‒ einen Dimensionswandler.
*
Sein wenig ansprechendes Äußeres war mit daran schuld, dass Sieber sich zum Sonderling entwickelt hatte. Schon in der Schule war er wegen seiner Verwachsung gehänselt worden. Das hatte ihn verbittert und verschlossen gemacht, er misstraute den Menschen.
Später auf der Universität hatte man ihn nicht verspottet, denn er war ein kluger Kopf, doch er reagierte abweisend auf die Kontaktversuche der Kommilitonen. Verständlicherweise zogen sie sich daraufhin zurück, und er blieb einsam.
Aufgrund seiner überragenden Fähigkeiten hatte er eine Dozentenstelle an einer bekannten deutschen Universität bekommen, aber auch hier hatte er keinen leichten Stand. Kollegen und Professoren gingen ihm aus dem Weg, und die Studenten nannten ihn respektlos hinter seinem Rücken »Rumpelstilzchen«.
Meinolf Sieber beschäftigte sich auch in der Freizeit mit seiner Arbeit. Als er zu der Erkenntnis gelangte, dass es auf der Erde Parallelwelten geben müsste, die gleichzeitig existent waren und von Menschen bevölkert wurden, die nebeneinander herlebten ‒ möglicherweise in verschiedenen Zeiten ‒, da belächelten ihn die anderen Akademiker.
Der kleine Mann ließ sich nicht beirren. Als er diese Thesen jedoch in seine Vorlesungen mit einbezog, verwahrten sich die anderen Wissenschaftler dagegen, von Sieber in die Nähe von Spiritisten und Okkultisten gerückt zu werden; schließlich lautete der Lehrauftrag, Wissen, Kenntnisse und Fakten zu vermitteln und nicht, irgendwelche Hirngespinste einer überreizten Fantasie weiterzugeben.
Der verwachsene Mann beharrte auf seiner Überzeugung, was dazu führte, dass die Kollegen ihn ächteten und denunzierten. Man schreckte nicht davor zurück, ihn an höchster Stelle als Spinner zu bezeichnen, der nicht mehr ganz richtig im Kopf sei. Schließlich sprach man ihm sogar die fachliche Qualifikation ab. Nach Ansicht der Beteiligten brachte Sieber die ganze Fakultät in Verruf.
Der Dekan konnte sich nicht länger gegen die immer massiver werdenden Beschuldigungen und Unterstellungen sperren. In einem persönlichen Gespräch legte er Meinolf Sieber nahe, die Universität zu wechseln oder sein Lehramt niederzulegen.
Der Querelen überdrüssig, zog Dr.-Ing. Meinolf Sieber die Konsequenzen und widmete sich fortan als Privatmann nur noch seinen eigenen Studien.
Der kleinwüchsige Mann hatte stets bescheiden gelebt. Er hatte kein kostspieliges Hobby, legte auf Äußerlichkeiten keinen Wert und verachtete Nikotin und Alkohol. Zu Frauen hatte er ohnehin keine Beziehung, sie spielten in seinem Leben keine Rolle.
Seine Eltern hatten ihm als einzigen Erben ein paar Wertpapiere und ein Haus hinterlassen. Er hatte alles verkauft; zusammen mit den Rücklagen seines Gehalts verfügte er damit über ein nicht unbeträchtliches Vermögen, das ihm bis zur Erreichung der Altersgrenze ein gutes und sorgenfreies Leben ermöglicht hätte.
Nur: Sieber war ein Besessener, Geld war für ihn nur Mittel zum Zweck. Er wollte der Welt beweisen, dass es Parallelwelten gab.
*
In den letzten Jahren hatte sich der Ingenieur ausschließlich mit Grundlagenforschung und der theoretischen Seite seiner Idee befasst, nun ging er endlich daran, die Pläne in die Tat umzusetzen.
Seine frühere Wohnung hatte er aufgegeben und in einer abgelegenen Gegend, wo ihn niemand kannte, unter dem Namen seines Doppelgängers ein einsam stehendes Haus gemietet. Sogleich begann er damit, sich ein Labor einzurichten.
Aus seiner Dozentenzeit kannte er alle einschlägigen Hersteller und Lieferanten. Obwohl seine Tarnung nahezu perfekt war und Bestellungen auf den Namen Sluis keinerlei Argwohn erweckten, ging er mit der gebotenen Sorgfalt vor.
Geräte und Instrumente, deren Verwendung eindeutig war, orderte er als Einzelteile bei verschiedenen Firmen und baute sie selbst zu den entsprechenden Aggregaten zusammen.
Den hohen Stromverbrauch kaschierte er durch den Einsatz einiger Notstromanlagen; schließlich wäre man im E-Werk stutzig geworden, wenn man herausfand, dass Sluis-Sieber so viel Energie abnahm, wie ein mehrstöckiger Wohnblock verbrauchte.
Für seine Berechnungen benutzte der kleine Mann einen Verbund aus mehreren simplen Kleincomputern, wie sie im Versand- und Bürofachhandel erhältlich waren. Durch den Zusammenschluss erreichten sie eine Speicher- und Arbeitskapazität, die einer wesentlich teureren Anlage nicht nachstand.
Was er zum Leben brauchte, bestellte er telefonisch beim Kaufmann im drei Kilometer entfernten Dorf, der einmal die Woche lieferte.
Den Kontaktversuchen des Händlers begegnete Meinolf Sieber einsilbig und mit der für ihn typischen Distanz. Als ihn der Mann jedoch eines Tages fragte, warum er denn nie das Dorf und das Wirtshaus besuche und was es eigentlich mit den vielen Paketen auf sich habe, die nahezu täglich von der Post ins Haus gebracht wurden, reagierte der Ingenieur mit derart schroffer Ablehnung, dass der Mann sich überhastet verabschiedete und sogar zu kassieren vergaß.
Der Vorfall machte natürlich im Dorf die Runde. Hatte man vorher schon allerlei Vermutungen über den komischen Kauz angestellt, so trieb nun der Klatsch seltsame Blüten. Einige hielten den Sonderling für einen Verrückten, andere redeten hinter vorgehaltener Hand davon, ob er nicht eine Art Frankenstein sei.
Niemand wusste, woher er kam, was er tat und wovon er lebte. Nicht einmal sein Aussehen kannte man, jeder war auf die Beschreibung des Kaufmanns angewiesen.
Wann immer den Klatschbasen der Gesprächsstoff auszugehen drohte, musste der verwachsene Mann als Thema herhalten. Auf jeden Fall waren sich alle darüber einig, dass mit dem Fremden etwas nicht stimmte.
Ein wenig scheu wanderten die Blicke dann zu dem auf einer leichten Anhöhe stehenden Anwesen, dessen Garten zunehmend verwilderte. Sogar tagsüber waren die Fensterläden oft verschlossen, und vorwitzige Knaben, die sich einmal über den Zaun geschwungen und bis ans Haus herangewagt hatten, wussten zu berichten, dass im Innern des Hauses unheimliche Geräusche zu hören waren.
Seitdem wagte sich bis auf den Händler niemand mehr in die Nähe des Hauses. Obwohl es schon Jahrzehnte dort stand und keine baulichen Veränderungen erfahren hatte, strahlte es etwas Bedrohliches aus, seit der Fremde darin wohnte.
*
Dr.-Ing. Meinolf Sieber wusste nichts von dem Gerede der Dörfler, es wäre ihm auch egal gewesen. Für ihn zählte nur seine Arbeit.
Die ehemalige Waschküche hatte er in einen Raum verwandelt, der vor Technik nur so strotzte. Armdicke Leitungen schlängelten sich über den Boden und verzweigten sich zu bunten Kabelbäumen. Auf einfachen Spanplatten waren Versuchsanordnungen montiert, die Wände waren über und über mit Messinstrumenten, Skalen und Prüfgeräten bedeckt. Von der Decke baumelten Isolatoren und Schalter, ein Küchentisch war zu einem primitiven Schaltpult umfunktioniert worden. Unzählige Lämpchen strahlten und blinkten in allen Farben des Spektrums.
Wo immer an der Decke und an den Wänden noch Platz war, hatte Sluis-Sieber Neonröhren angebracht, die das Geviert in kalkig weißes Licht tauchten. Eine Ecke des Raumes wurde zusätzlich noch durch Spot-Strahler erhellt. Sie beleuchteten ein entfernt quaderförmiges Gebilde von verwirrender Struktur.
Die unverkleidete Apparatur war zirka zwei Meter hoch und hatte eine Grundfläche von etwa einhundertsiebzig zu zweihundertneunzig Zentimetern.
Nichts war symmetrisch. Der ganze Block sah aus, als hätte ein Kleinkind Bauklötze wahllos neben- und übereinander aufgebaut, ein System war nicht zu erkennen. Chips, gedruckte Schaltungen, Leitungen und Kabel bildeten mit den elektronischen Bauteilen ein unentwirrbares Durcheinander.
Drei daumenstarke Leitungen führten von dem Komplex zu dem Kupfereinsatz des früheren Waschkessels. Das rote und das giftgrüne Kabel waren an dessen Rändern festgeschweißt, das gelbe war mit einem Aufsatz verbunden, der aus einfachen Metallstäben bestand, die eine Art Faraday’schen Käfig bildeten.
Im Zentrum des aus Kessel und Rohren geformten Eies stand eine Art Metallstuhl. Seine drei Beine waren mit dem Kupfereinsatz durch Schrauben fest verbunden.
Der verwachsene Mann hatte bewusst das untere Geschoss gewählt. Es war tragfähig genug für noch so schweres Gerät und bot dank der aus Quadern errichteten Mauern sommers wie winters die gleiche Temperatur von rund neun Grad Celsius. Zwar trieb die Wärmeabgabe der Anlage die Raumtemperatur auf nahezu zweiundzwanzig Grad hoch, doch war das ohne Bedeutung. Im Gegensatz zu den üblichen Gebäuden benötigte er weder eine Heizung noch eine aufwändige Klimaanlage. Und kein noch so zufälliger Besucher verirrte sich in den Keller und kam damit seinem Geheimnis auf die Spur.
Tageslicht drang nicht herein. Sluis-Sieber hatte die beiden Fenster sorgfältig verklebt und abgedichtet und zusätzlich mit einem innen angebrachten Laden regelrecht verbarrikadiert. Er wollte sicher sein, dass ihn niemand beobachtete.
Seit einem Vierteljahr war die Anlage funktionsfähig. Zweimal hatte er sie bereits ausprobiert, und beide Male war der Versuch fehlgeschlagen. Außer Zerstörungen innerhalb des Dimensionswandlers hatte er nichts erreicht; danach brauchte er jeweils mehrere Wochen, um die entstandenen Schäden zu reparieren.
Zehn-, zwanzig-, hundertmal hatte er die aufgezeichneten Messergebnisse mit seinen Berechnungen verglichen. Alles stimmte bis auf mehrere Stellen hinter dem Komma überein. Es hätte funktionieren müssen.
Tagelang hatte er sich die Bilder der Hochgeschwindigkeitskamera angesehen. Deutlich war zu erkennen, dass sich eine Aureole um das Ei bildete, dann brach das Feld zusammen. Anstatt das Objekt wie vorgesehen zu dimensionieren, kam es zu einem energetischen Rückstau innerhalb der Anlage und der vorgeschalteten Sicherungen und Wandler.
Die Objekte ‒ beim ersten Mal war es ein Metallwürfel, dann eine Holzkugel ‒ blieben völlig unversehrt, doch sie wurden nicht versetzt und verschwanden noch nicht einmal für Sekundenbruchteile in einer anderen Dimension.
Dennoch war Sluis-Sieber davon überzeugt, dass er keinen Fehler gemacht hatte und auf dem richtigen Weg war.
*
Seit achtundvierzig Stunden hatte der verwachsene Mann ununterbrochen gearbeitet.
Mit rotgeränderten Augen betrat er sein unterirdisches Reich. Alle Schäden waren wieder behoben, lediglich einige schwarze Flecken auf den weißgetünchten, nicht mit Anzeigen bedeckten Quadern erinnerten noch an die Misserfolge.
Das grelle Neonlicht tat den übermüdeten Augen weh. Mit einem Dimmer setzte Meinolf Sieber die Leuchtkraft auf ein erträgliches Maß herab.
Nahezu unbewusst schaltete er die Anlage ein und begab sich dann zum Sitz innerhalb des Käfigs. Immer, wenn er sich niedergeschlagen fühlte und nicht mehr weiter wusste, zog er sich hierher zurück.
Blicklos starrte er auf das wuchtige und zugleich so zerbrechliche Gebilde im Halbdunkel. Warum funktionierte der Dimensionswandler nicht?
Das unterschwellige Summen der Maschinerie wirkte einschläfernd, und bevor Sluis-Sieber sich es recht versah, war er eingenickt.
Ohne dass er es wusste, befand sich noch jemand im Raum, der, im Gegensatz zu dem Ingenieur, putzmunter war. Es war einer jener winzigen grauen Nager mit den listigen Knopfaugen, die der Mensch schon seit alters her gnadenlos verfolgte.
Meinolf Sieber bildete darin keine Ausnahme. Er hasste und fürchtete die winzigen Tiere, deren Nagetrieb gerade für hochmoderne elektronische Einrichtungen verhängnisvolle Folgen haben konnte.
Die Maus, die durch alle Fallen hindurch den Weg in die ehemalige Waschküche gefunden hatte, nagte jetzt mit Inbrunst an der Kunststoffisolierung eines Kabels.
Als es an einer Stelle blankgenagt war und die Maus es als nicht essbar eingestuft hatte, wandte sie sich einer anderen Leitung zu und knabberte sie an. Und dann geschah es: Kopf und Schwanz der Maus berührten die nebeneinander liegenden nunmehr ungeschützten Kupferstränge und bildeten für den fließenden Elektronenstrom eine Art Überbrückung. Die Anlage bekam die erforderliche Energie und wurde aktiv.
Um Dr.-Ing. Meinolf Sieber, der immer noch schlief, bildete sich die von ihm schon beobachtete Aureole. Der verwachsene Körper bäumte sich auf und fiel dann schlaff in den Sitz zurück, als das Feld sich auflöste. Äußerlich war er unversehrt …
Erst mit dem Durchbruch zentraler Robotküchen war es der Regierung gelungen, das Problem der Überbevölkerung in den Griff zu bekommen. Jedem Nahrungsmittel wurden Hormone beigefügt, die den Sexualtrieb nicht nur dämpften, sondern völlig zum Erliegen brachten. Somit war es möglich, die Vermehrungsrate gezielt zu steuern.
In jedem Schaltjahr, jeweils am 9. September, wurde als eine Art Feiertag der Tag der Fortpflanzung begangen. Zu diesem Zweck wurden alle großen Versammlungsorte geräumt und besonders präpariert. Jede Halle, jeder Saal, jede Aula und jeder Gemeinschaftsraum diente dann ausschließlich dem Zweck, den Fortbestand der Menschheit zu sichern.
Bereits ab Mitternacht begannen staatliche Stellen mit der Ausgabe von Dragees, die die Wirkung der in den Speisen enthaltenen Stoffe neutralisierten und eine Überdosis von Stimulanzien und synthetischen Geschlechtshormonen enthielten. Verteilt wurden die Kapseln an alle interessierten Menschen zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren.
Der 10.9. war dann ein Feiertag, die Frauen hatten sogar noch einen weiteren Tag lang frei, da ihnen die befruchteten Eizellen entnommen wurden. Die Zellballungen, aus denen sich später Embryos und Kinder entwickelten, wurden vollrobotischen Anlagen zugeführt. In einer Art synthetischer Gebärmutter entwickelten sich die neuen Erdenbürger. Schwangere gab es nicht mehr.
Ihr Leben als chemisch kotrolliertes Neutrum hatte die Menschen geprägt. Den Kampf der Geschlechter gab es nicht mehr. Eine gewisse Gefühlsverarmung war eingetreten. Ehen und Partnerschaften waren illusorisch geworden, es gab allenfalls noch Freundschaften, die diesen Namen aber kaum noch verdienten.
*
Wie immer, wenn Leopold Oguwabe von der Arbeit in sein Appartement zurückkehrte, schaltete er zuerst den Fernsehapparat ein.
Eine große Halle war auf dem Bildschirm zu sehen. Sie war, abgesehen von einigen Gängen, bis in den letzten Winkel ausgefüllt mit rosa schimmernden Energieformfeldern, die von unzähligen nackten Menschen beiderlei Geschlechts bevölkert wurden.
Das Bild wechselte, ein Saal in einer anderen Stadt wurde gezeigt. Hier sah es ähnlich aus.
Der schlanke Mann mit der dunklen Haut und dem modisch tintenblau gefärbten, kurzgeschnittenen Kraushaar, schaltete ab. Ihn beschäftigten andere Gedanken. In wenigen Wochen würde er sechzig Jahre alt werden, und das war der Zeitpunkt, an dem er aus der Produktion ausgegliedert wurde. Bis dahin musste er einen Platz in einem Seniorenheim gefunden haben.
Zwar hatte er schon einige Angebote überprüft, doch die hatten ihm alle nicht zugesagt. Er rief den Speicher ab. Es waren nur Werbesendungen eingegangen, vornehmlich von Seniorenorganisationen. Per Fernsteuerung veranlasste er das Steuerteil des Zimmerservos, die Kassette auf den Bildschirm zu überspielen.
Aber es war nichts darunter, was Oguwabe wirklich interessierte.
Schon wollte er das Band löschen, als ihm doch noch ein Spot ins Auge stach. Er unterschied sich deutlich von der Konfektionsware üblicher Prägung. Wohltuend sachlich und informativ zugleich berichtete die Sonnenschein-Lebensabend-Company über ihre Seniorenheime.
Unbewusst nickte der dunkelhäutige Mann. So, wie es der Film zeigte und versprach, hatte er sich seinen Lebensabend vorgestellt.
Er berührte zwei Sensorschalter. Der erste speicherte den Anschluss der Sonnenschein-Lebensabend-Company, der andere koppelte das Band aus und wählte den Rufcode.
Ein Robot erschien auf dem Schirm und erkundigte sich nach den Wünschen des Anrufers. Oguwabe sagte ihm, was er wissen wollte.
Bevor der Automat Auskunft gab, fragte er nach der Tätigkeitsklasse. Der Mann nannte sie ihm bereitwillig.
»Für Sie kommt somit die Kategorie B-1 infrage, Sir. Ist es Ihnen recht, wenn ich Ihnen zuerst einige Infos zeige? Im Anschluss daran können Sie dann Fragen stellen.«