Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik - Markus Dederich - E-Book

Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik E-Book

Markus Dederich

2,2

  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Brauchen praktisch tätige Pädagoginnen und Pädagogen, die sich jeden Tag mit ganz handfesten und unmittelbar zu lösenden Problemen konfrontiert sehen, ein Buch über philosophische Aspekte ihres Fachs? Ist das nicht viel zu theoretisch und daher nicht praxisrelevant? Das Buch zeigt, dass die Philosophie nicht nur für die Fundierung der Heil- und Sonderpädagogik als Wissenschaft unverzichtbar ist. Es macht auch deutlich, dass philosophisches Denken in diesem Feld durchaus auch von Bedeutung für die Klärung dringlicher Fragen der Praxis ist. Die Grundidee des Bandes ist, bestimmte philosophische Fragen von einem für die Heil- und Sonderpädagogik ganz zentralen Problem aus zu untersuchen, nämlich dem Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit. Die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel.

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Nachbarwissenschaften der Heil- und Sonderpädagogik

Herausgegeben von

Erwin BreitenbachMarkus DederichStephan Ellinger

Band 2

Markus Dederich

Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023046-0

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-024428-3

epub:  ISBN 978-3-17-024429-0

mobi:  ISBN 978-3-17-024430-6

Vorwort der Herausgeber

Die vorliegende ›Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik‹ stellt den zweiten Band der Reihe ›Nachbarwissenschaften der Heil- und Sonderpädagogik‹ dar. Die Grundidee der Reihe wurzelt in der Erkenntnis, dass Vertreterinnen und Vertreter der Heil- und Sonderpädagogik aufgrund der Vielschichtigkeit des Phänomens bei der Beforschung und Bearbeitung verschiedener Fragestellungen im Themenfeld der Behinderung und Benachteiligung schon immer stark auf Nachbarwissenschaften zurückgegriffen haben. Tatsächlich lassen sich die vielfältigen pädagogischen Fragen, die sich im Kontext von Behinderung und Benachteiligung stellen und im Zentrum der Heil- und Sonderpädagogik stehen, ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit angemessen nur in einer inter- und transdisziplinären Perspektive bearbeiten. Hierzu gehören neben den ›traditionellen‹ Nachbarwissenschaften Erziehungswissenschaft, Medizin, Psychologie und Soziologie auch die Philosophie, die Rechtswissenschaften und die Technikwissenschaften.

Die einzelnen Bände dieser Reihe sollen schwerpunktmäßig den Stand der jeweiligen Nachbarwissenschaft, sofern er für die Heil- und Sonderpädagogik relevant ist, aufarbeiten. Strukturgebend für die einzelnen Werke sind Fragestellungen, die aus der Heil- und Sonderpädagogik resultieren. Das bedeutet: Es wird grundsätzlich aus sonderpädagogischer Perspektive geprüft, welche Inhalte der jeweiligen Nachbarwissenschaft für sonderpädagogische Handlungsfelder sowie die Forschung und Theoriebildung bedeutsam sind und wie diese verständlich und fruchtbringend dargestellt werden können.

Einzelbände der Reihe sind:

Band 1: Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik

Band 2: Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik

Band 3: Soziologie in der Heil- und Sonderpädagogik

Band 4: Erziehungswissenschaft in der Heil- und Sonderpädagogik

Band 5: Medizin in der Heil- und Sonderpädagogik

Band 6: Recht in der Heil- und Sonderpädagogik

Band 7: Technik in der Heil- und Sonderpädagogik

Wir wünschen den Leserinnen und Lesern eine gewinnbringende Lektüre.

Köln, Berlin und Würzburg, im Sommer 2013

Markus Dederich, Erwin Breitenbach und Stephan Ellinger

Inhalt

Vorwort

1   Einleitung: Philosophische Aspekte der Heil- und Sonderpädagogik

Einführende Überlegungen

Was ist Philosophie?

Die Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik: Ein erster Überblick

Philosophie und die Offenhaltung des Blicks auf den anderen Menschen

Heil- und sonderpädagogische Impulse für die Philosophie

2   Die Anderen I: Gleichheit und Verschiedenheit

Einleitende Überlegungen

Der Gleichheits- und Differenzdiskurs in der Heil- und Sonderpädagogik

Über Gleichheit

Grundlinien des Differenzdiskurses

Differenzdenken in der Philosophie des 20. Jahrhunderts

Eine fundamentale Unterscheidung: ›Relative‹ und ›radikale‹ Differenz

›Relative Andersheit‹: Vielfalt und Heterogenität

Der Andere als Fremder

Diesseits von Allgemeinem und Besonderem: Ethische Konsequenzen

Schlussbemerkung

3   Die Anderen II: Im Spiegel von Wissen, Sprache und Repräsentation

Politische Implikationen

Zur Störfunktion der Philosophie

4   Die Frage nach dem Wissen: Erkenntnistheorie

Was ist Erkenntnistheorie?

Erkenntnis und Wahrheit

Zur Bedeutung der Erkenntnistheorie in der Heil- und Sonderpädagogik

Von der Perspektive der dritten zur Perspektive der zweiten und ersten Person

Erkenntnis und Erfahrung

Exkurs: Die Bedeutung der Aufmerksamkeit

Fazit: Erkennen als selektiver und exklusiver Prozess

5   Wege, Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis: Wissenschaftstheorie

Was ist Wissenschaftstheorie?

Grundlegende Probleme der Wissenschaftstheorie

Zur Erosion des alten Objektivitätsideals

Grenzen des Erklärens, Grenzen des Verstehens

Schluss I: Pluralismus in den Wissenschaften

Schluss II: Konsequenzen für die Heil- und Sonderpädagogik

6   Die Frage nach dem Menschen: Anthropologie

Einleitende Überlegungen

Anthropologie und Menschenbild

Anthropologie in der Heil- und Sonderpädagogik als Sonderanthropologie

Kritische und historische Anthropologie

Anthropologie und Ethik

Pädagogische Anthropologie und die Unbestimmbarkeit des Menschen

Exkurs: Das Leib-Seele-Problem und die Antwort der Phänomenologie

Schlussbemerkung

7   Der prothetisierte Mensch: Technikphilosophie

Einleitende Überlegungen

Erste Annäherung: Umrisse des Technikbegriffs

Zweite Annäherung: Philosophischer Technikbegriff und Technikphilosophie

Moderne Technik: Invasive Technisierung

Normative Leitideen der Heil- und Sonderpädagogik und der Behindertenpolitik und die Bedeutung der Technik

Technik in den verschiedenen Modellen von Behinderung

Technikbewertung in der Perspektive der ersten Person

Enhancement – Die Debatte über die Verbesserung des Menschen

Ausblick

8   Der Humanismus des anderen Menschen: Ethik

Einleitende Überlegungen

Zum Begriff ›Ethik‹

Ethik und das Problem der Legitimation der Heil- und Sonderpädagogik

Ethische Positionen und Ansätze in der Heil- und Sonderpädagogik

Problemfeld 1: Lebenswert und Lebensqualität

Problemfeld 2: Reziprozität

Problemfeld 3: Moralischer Status und der Begriff der Person

Problemfeld 4: Menschenwürde

Eine Ethik vom Anderen her

Ethik als responsives Geschehen diesseits von Gut und Böse

Ethik als responsives Geschehen diesseits von Allgemeinem und Besonderem

Schlussbemerkung

9   Ich und die Anderen I: Selbstbestimmung und Stellvertretung

Der Selbstbestimmungsdiskurs in der Heil- und Sonderpädagogik

Kritische Anfragen an die Idee der Selbstbestimmung

An Stelle des Anderen: Zur Problematik der Stellvertretung

Der Diskurs zur Stellvertretung im Kontext von Behinderung

Die Legitimationsproblematik der Stellvertretung in der Pädagogik

Zwischen Selbst- und Fremdbestimmung – Kritik des Subjektbegriffs

Stellvertretung und Macht

Schlussbemerkung

10   Ich und die Anderen II: Anerkennung

Einleitung

Zum Begriff der Anerkennung

Offene Fragen und Aspekte der Kritik

Behinderung, Anerkennung und Identität

Anerkennung und Verkennung

Verkennung und Achtsamkeit

Schlussbemerkung

11   Der Einzelne und die Vielen: Politik und Gerechtigkeit

Ein erster Überblick: Zur Relevanz der Politischen Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik

Der philosophische Gerechtigkeitsdiskurs

Behinderung und Gerechtigkeit: Einführende Überlegungen

Exkurs: Gerechtigkeit und Menschenrechte

Behinderung, Gleichheit und Gerechtigkeit

Gerechtigkeit und das Problem der Differenz

Korrekturen I: Gerechtigkeit vom Anderen her

Korrekturen II: Gelebtes Ethos, Tugenden und Gerechtigkeit

Zum Schluss: Gerechtigkeit als Kulturpolitik

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Im Gegensatz zur Psychologie, Medizin und Soziologie gehört die Philosophie nicht zu den Disziplinen, die normalerweise zu den wichtigen ›Nachbardisziplinen‹ der Heil- und Sonderpädagogik gezählt werden. Und doch ist sie eine wichtige, in Hinblick auf manche Fragen und Probleme sogar die wichtigste Bezugswissenschaft. Zu denken ist hier beispielsweise an all die Fragen, die durch den Fortschritt der modernen Medizin aufgeworfen werden: die Chancen und Risiken der vorgeburtlichen Diagnostik oder die Problematik der Spätabtreibungen. In diesen sehr speziellen Problemfeldern geht es um etwas Grundsätzliches, nämlich den moralischen Status von Menschen mit Behinderungen und die Frage, welche Pflichten ihnen gegenüber bestehen.

Vorliegender Band ist ein Versuch, die Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik zu würdigen und systematisch herauszuarbeiten. Jedoch handelt es sich nicht um ein Buch über Philosophie. Daher wird auf innerphilosophische Debatten und Kontroversen nur eingegangen, wo es notwendig ist, um die Hintergründe bestimmter heil- und sonderpädagogischer Problemstellungen zu erläutern. Im Mittelpunkt dieses Buchs, das sich als Grundlegung versteht und einen einführenden Überblick bereitstellen möchte, stehen zentrale und fundamentale Themen und Probleme der Heil- und Sonderpädagogik, die in einer philosophischen Perspektive untersucht und reflektiert werden.

Diese zentralen Themen und Probleme werden anhand eines doppelten Leitfadens herausgearbeitet: zum einen dem Verhältnis von Gleichheit, Verschiedenheit und radikaler Differenz, zum anderen an der Figur der Grenze. Das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit kann als ein Grundthema der Heil- und Sonderpädagogik verstanden werden, und dies nicht erst seit den Konjunkturen der Debatten über Integration bzw. Inklusion. Auf der anderen Seite sieht sich die Heil- und Sonderpädagogik oft mit Grenzen bzw. Grenzphänomenen konfrontiert und durch diese herausgefordert: Grenzen dessen, was viele Philosophen als ›allgemeinmenschlich‹ (z. B. im Sinne charakteristischer oder notwendiger Gattungseigenschaften) ansehen, Grenzen der Kommunikation und des Verstehens (die z. B. erfahrbar werden, wenn Menschen sich nur auf einer sehr basalen körperlichen Ebene, nicht aber verbalsprachlich artikulieren können), Grenzen des pädagogisch Mach- und Herstellbaren (z. B. bei Menschen mit schwersten und komplexen Beeinträchtigungen) oder Grenzen normativer Systeme (z. B. hinsichtlich der Frage, ob es Grenzen der Zugehörigkeit zu moralischen Gemeinschaften gibt). Die Beschäftigung mit philosophischen Fragen im Kontext der Heil- und Sonderpädagogik führt immer wieder an solche Grenzen heran. Diese zu erkunden bedeutet einerseits, die Aufmerksamkeit für Phänomene zu schärfen, die häufig übersehen oder nur am Rande thematisiert werden. Andererseits können solche Grenzgänge auch zeigen, dass die Grenzen in der Regel nicht naturwüchsig sind, sondern beispielsweise durch Denksysteme, Menschen- und Gesellschaftsbilder, normative Setzungen und eine regelrechte soziale und kulturelle, aber auch ethische und anthropologische Grenzpolitik hervorgebracht werden. Insofern gibt es vieles von allgemeinem Interesse über die Wissenschaften, die Philosophie, den Menschen und die Gesellschaft zu erfahren, wenn man damit beginnt, sie von den Rändern her zu betrachten.

Die Thematik des Buchs impliziert eine Anmaßung. Wenn aus Nachbarwissenschaften Anleihen gemacht werden, um bestimmte Fragestellungen und Probleme großräumiger und differenzierter reflektieren und theoretisch bearbeiten zu können, scheint das vorauszusetzen, dass das Übernommene in der Herkunftsdisziplin als geklärt gelten kann. Genau dies ist selbstverständlich bei vielen der hier angesprochenen philosophischen Fragestellungen keineswegs der Fall. Vielmehr sind viele Probleme, etwa solche erkenntnistheoretischer oder ethischer Art, in der Philosophie strittig. Tatsächlich gibt es ›die‹ Philosophie ebenso wenig wie ›die‹ Heil- und Sonderpädagogik. Beide Bezeichnungen für wissenschaftliche Disziplinen vereinen unterschiedlichste und vielstimmige Traditionen, Diskurse, methodische Präferenzen, überhaupt Vorstellungen davon, was die jeweilige Disziplin ist, kann und soll – und was eben nicht.

Deshalb gilt: Die Probleme, die in den Kapiteln dieses Buchs zur Sprache kommen, könnten philosophisch auch anders aufgerollt und in andere methodische und begriffliche Kontexte gestellt werden und daher auch in andere Klärungsvorschläge münden. Mit diesem Hinweis soll aber keine Ausflucht in eine an Beliebigkeit grenzende Paradigmenvielfalt oder dergleichen formuliert werden. Denn vorliegendes Buch erhebt Geltungsansprüche und möchte an diesen gemessen werden. Vielmehr soll damit gesagt werden, dass auch der Rückgriff auf die Philosophie bestimmte Fragen der Heil- und Sonderpädagogik nicht endgültig beantworten wird.

Auch ist zu erwähnen, dass es weder ortlose Reflexion gibt noch wissenschaftliche Erkenntnis, die ein Problem oder ein Thema in seiner Totalität erfassen könnte. Das, was in diesem Buch zur Sprache kommt (und was eben nicht), ist einerseits dem gewählten Zugang geschuldet, andererseits den selektiven und exklusiven Effekten, die jeder methodische Zugang, jedes Begriffssystem und Sprachspiel, jede Forschungstradition unweigerlich produziert. Im Falle des vorliegenden Buchs spricht kein Praktiker, der praktische Probleme lösen muss, sondern ein Wissenschaftler, der primär an Reflexion interessiert ist, und zwar einer Reflexion, die den Blick auf bestimmte Fragen und Probleme überhaupt erst eröffnen, erweitern oder verändern möchte. Der Zugang, der zu diesem Zweck gewählt wurde, ist über weite Strecken ein phänomenologischer, der um poststrukturalistische Denkfiguren und Theorieansätze angereichert wird. Ohne in Details der Phänomenologie als Methode oder Haltung einsteigen zu wollen, geht es bei diesem Zugang im Kern darum, »das Was des Sachgehalts an das Wie einer bestimmten Zugangsweise zu koppeln« (Waldenfels 2012, 170). Als Methode in einem ganz wörtlichen Sinn (nämlich als Weg zu etwas hin) ist sie ein Versuch, sich von den ›Sachen‹, d. h. den Phänomenen und ihren Anforderungen leiten zu lassen. Zum Kern der Phänomenologie als Haltung gehört, sich beispielsweise von metaphysischen, wissenschaftlichen oder moralischen Vorurteilen frei zu machen. Sie zielt darauf ab, den jeweiligen Gegenstand zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu machen und nicht das, »was von unserem theoretischen Standpunkt zu erwarten ist« (Zahavi 2007, 26). Auch wenn im Sinne des Versuchs, eine methodische Überfrachtung dieses Buchs zu vermeiden, auf eine explizite Erläuterung und Diskussion der Phänomenologie verzichtet wurde, müsste vor allem im Abschnitt »Der Andere als Fremder« (Kap. 2) und im Exkurs »Das Leib-Seele-Problem und die Antwort der Phänomenologie« (Kap. 6) deutlich werden, was damit gemeint ist.

Bei der Bearbeitung einzelner Kapitel bzw. Aspekte konnte ich auf eine ganze Reihe früherer Arbeiten zurückgreifen. Einige Kapitel bzw. Abschnitte dieses Buchs bestehen aus Überarbeitungen bereits publizierter Texte. Ein zentraler Aspekt der Überarbeitung war ihre Einpassung in die Struktur des Bandes und des ihm zugrundeliegenden Leitfadens.

Das einführende Kapitel greift auf Teile meines Beitrags »Schwere und mehrfache Behinderung – Philosophische Aspekte« (2011a) zurück. Das Kapitel 3 »Die Anderen II: Im Spiegel von Wissen, Sprache und Repräsentation« ist eine Überarbeitung von Teilen meiner Dortmunder Antrittsvorlesung, die unter dem Titel »Wozu Theorie?« (2006) publiziert wurde. Aus diesem Text wurde auch der Abschnitt »Erkennen als selektiver und exklusiver Prozess« in das Kapitel 6 eingearbeitet. Die Überlegungen zu Grenzen des Verstehens im Kapitel zur Wissenschaftstheorie wurden zuerst in dem Beitrag »Grenzen des Fremdverstehens« (2011b) veröffentlicht und für vorliegendes Buch leicht überarbeitet. Kapitel 9, das das Verhältnis von Selbstbestimmung und Stellvertretung untersucht, geht auf den Text »Stellvertretung« (2013) zurück. Kapitel 10 über das Problem der Anerkennung ist eine stark überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrags »Behinderung, Identitätspolitik und Anerkennung – Eine alteritätstheoretische Reflexion« (2011c). Die Überlegungen zur Bildungsgerechtigkeit in Kapitel 11 schließlich sind dem Beitrag »Inklusion als Menschenrecht und Bedingung der Möglichkeit für Chancengleichheit?« (2012) entnommen und wurden leicht überarbeitet.

Ich danke meinem Doktoranden Robert Stöhr, der mich auf die große Bedeutung der Technik in der Behindertenpolitik aufmerksam gemacht und wichtige Hinweise zum Technik-Kapitel gegeben hat. Meiner Doktorandin Nadine Dziabel danke ich für sehr hilfreiche Hinweise zum Problem der Reziprozität im Kontext von Behinderung. Ihr, Robert Stöhr und meiner Doktorandin Svenja Meuser danke ich darüber hinaus für die kritische Lektüre einer Reihe von Kapiteln. Ihre Rückfragen waren sehr hilfreich, meine Gedanken zu klären und zu präzisieren. Schließlich danke ich Juvenal de Sainte Fare für verschiedene Recherchen und seine Hilfe bei der Erstellung des Stichwortverzeichnisses sowie Marita Friedrich für ihre Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung des Manuskripts.

1          Einleitung: Philosophische Aspekte der Heil- und Sonderpädagogik

»Aufmerksammachen ist die Formel für das, was wesentlich philosophisch – aber auch in anderen deskriptiven Disziplinen – geleistet werden kann.

Es wird nichts gelehrt, nichts zu lernen aufgegeben, nichts eingeführt und niemand angeführt, nichts versprochen und erst recht nichts verheißen, weder Hoffnung erweckt noch Furcht eingejagt. Statt dessen dies: Es wird aufmerksam gemacht auf das, wovon die Vermutung besteht, es sei bis dahin nicht oder nicht deutlich genug gesehen worden«

(Blumenberg 2007, 183).

Einführende Überlegungen

Ein Buch über philosophische Aspekte der Heil- und Sonderpädagogik – muss das sein? Es ist naheliegend, dass praktisch tätige Pädagoginnen und Pädagogen, die sich jeden Tag mit ganz handfesten und unmittelbar zu lösenden Problemen konfrontiert sehen, ein solches Buch für viel zu theoretisch und daher nicht praxisrelevant halten. Richtig daran ist sicherlich, dass es nachfolgend tatsächlich nicht darum geht, eine philosophische Hausapotheke für pädagogische Problemsituationen zusammenzustellen oder aus der Philosophie heraus pädagogisches Handwerkszeug für die Alltagspraxis bereitzustellen. Und doch: Dieses Buch ist dem Versuch gewidmet, zu zeigen, dass die Philosophie nicht nur für die Fundierung der Heil- und Sonderpädagogik als Wissenschaft unverzichtbar ist. Vielmehr soll auch deutlich werden, dass philosophisches Denken in diesem Feld durchaus auch von Bedeutung für eine fundierte und reflektierte Klärung von Fragen ist, die die Praxis selbst aufwirft.

Ohne Zweifel kann man insbesondere die akademische Philosophie als hochspezialisierten, hermetisch abgeriegelten und um sich selbst kreisenden Expertendiskurs ansehen, der sich unendlich weit von der Lebenspraxis und der konkreten Selbst- und Welterfahrung der Menschen entfernt hat. Auch wenn man diese Kritik in ihrer Undifferenziertheit nicht teilt, ist klar, dass Philosophie zu betreiben stets bedeutet, einen Akt der Dezentrierung oder Distanzierung zu vollziehen und eine Beobachterposition einzunehmen (vgl. Sloterdijk 2010). Und doch gilt für die Philosophie auch, was Viktor von Weizsäcker bereits 1946 über die Lebenswissenschaften geschrieben hatte: »Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen. […] Leben finden wir als Lebende vor; es entsteht nicht, sondern es ist schon da, es fängt nicht an, denn es hat schon längst angefangen. […] die Wissenschaft hat mit dem Erwachen des Fragens mitten im Leben angefangen« (Weizsäcker 1986, V).

Die vielleicht fundamentalste philosophische Frage, die mitten im Leben und mit Blick auf das Leben aufgeworfen wird, ist die Warum-Frage. Warum-Fragen haben, wie Spaemann betont, etwas Kindliches, aber sie sind auch dringlich. »Philosophieren heißt: Legitimationsfragen, Warumfragen stellen, sei es an das Universum, sei es an menschliches Handeln, sei es an soziale Systeme« (Spaemann 2008, 16). Philosophie ist nicht darauf angelegt, Wissen zu erzeugen, das unsere Fähigkeiten erhöht oder verfeinert, in die Wirklichkeit einzugreifen und sie nach unseren Zwecken zu gestalten oder zu nutzen. Ein solches Wissen ist in erster Linie zweckrational auf das ›Wie‹ ausgerichtet – wie ein Problem zu lösen ist oder wie Ziele erreicht werden können. Die Philosophie hingegen ist das Beharren auf der Frage, warum – also: mit welchen Gründen – wir bestimmte Ziele verfolgen und bestimmte Zwecke bevorzugen. Die Philosophie ist aber auch, wie Blumenberg (2007) sagt, ein Versuch, die Aufmerksamkeit zu schärfen und in einem ›geistigen‹ Sinn klarer zu sehen. Das Stellen von Fragen und die Schärfung von Aufmerksamkeit sind jedoch nicht reiner Selbstzweck. Vielmehr können sie hilfreich sein, in häufig unübersichtlichem Gelände und angesichts von Fragen, von denen viele nicht abschließend zu beantworten sind, die Orientierung zu erleichtern.

Beginnt man, nach philosophischen Aspekten der Heil- und Sonderpädagogik zu suchen, tut sich ein außerordentlich weites, komplexes und vielschichtiges Feld auf. Dieses Buch ist ein Versuch, dieses Feld zumindest in groben Zügen zu umreißen und die dabei auftauchenden zentralen Fragen und Probleme herauszuarbeiten. Dabei wird eine doppelte Perspektive eingenommen: Einerseits wird der Frage nachgegangen, in welcher Hinsicht und in Bezug auf welche Problemstellungen die Philosophie mit Blick auf die Heil- und Sonderpädagogik und das Thema ›Behinderung‹ von Bedeutung ist. In dieser Hinsicht geht es um die Frage, in welchen Zusammenhängen, auf welche Weise und mit welchen Intentionen die Heil- und Sonderpädagogik auf philosophisches Gedankengut zurückgreift. Andererseits soll aber auch diskutiert werden, inwiefern Menschen mit Behinderungen eine Herausforderung für die Philosophie in dem Sinn darstellen, dass sie sie dazu zwingen, bestimmte altehrwürdige Fragen neu zu stellen und tradierte (Vor-)Urteile zu überdenken. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, welchen Beitrag die Heil- und Sonderpädagogik zu diesem veränderten oder neuen Denken leisten kann.

In der Erziehungswissenschaft gibt es eine lange Tradition, pädagogische Grundfragen unter Rückgriff auf philosophisches Gedankengut zu diskutieren. Am deutlichsten wird dies in der Erziehungsphilosophie, der pädagogischen Anthropologie und der pädagogischen Ethik. Die enge Verbindung zur Philosophie kommt darin zum Ausdruck, dass sich Philosophen wie Kant, Fichte, Herbart oder Bollnow ausführlich mit pädagogischen Fragen befasst haben bzw. zugleich Pädagogen waren. In der Heil- und Sonderpädagogik, die ohnehin erst Mitte des 19. Jh. entstanden ist, ist diese Tradition viel weniger ausgeprägt.

Die zweite Blickrichtung, also die Frage nach den Gesichtspunkten, die die Heil- und Sonderpädagogik mit ihrem zentralen Thema ›Behinderung‹ in die Philosophie einbringen kann, steht noch ganz am Anfang. Die heute bereits vorliegenden Anregungen, das philosophische Denken über Behinderung einer kritischen Revision zu unterziehen und neue Wege einzuschlagen, stammen daher auch nicht aus der Heil- und Sonderpädagogik, sondern sind von den Behindertenbewegungen in verschiedenen Ländern und den Disability Studies ausgegangen (vgl. Wasserman 2001, Carlson 2010).

Ein bemerkenswerter Versuch, diese zweite Perspektive einzunehmen, war die Tagung »Cognitive Disability – A Challenge to Moral Philosophy«, die vom 18. bis 20. September 2008 in New York stattgefunden hat (vgl. Kittay & Carlson 2010). Die amerikanische Philosophie-Professorin Eva Feder Kittay, zugleich Mutter einer erwachsenen Tochter mit einer schweren geistigen Behinderung, wies bei ihrer Eröffnung der Tagung auf einen paradoxen Befund hin: Durch intellektuelle Beeinträchtigungen (»cognitive disabilities«) aufgeworfene Fragen sind in den Wissenschaften und in der Philosophie seit den Anfängen immer wieder berührt worden, jedoch bis in die Gegenwart nicht ernsthaft reflektiert worden. Insofern handelt es sich um ein ausgeblendetes Thema. Menschen mit Behinderungen wurden entweder durch die Philosophie ignoriert, mit Vorurteilen betrachtet oder theoriestrategisch als ›Negativfolie‹ benutzt, um spezifische Charakteristika beispielsweise ›des Menschen‹, ›der Vernunft‹ oder ›der Person‹ herauszuarbeiten. Rein quantitativ hat sich dies erst im Kontext mit den Kontroversen über Probleme der sog. Bioethik geändert, in denen beispielsweise die Frage nach dem moralischen Status von Menschen mit einer geistigen Behinderung und ihrem Lebensrecht diskutiert wird. Die Beiträge der erwähnten Tagung griffen den Impuls einer kritischen Auseinandersetzung des bisherigen wissenschaftlichen und philosophischen Denkens über geistige Behinderung auf und stellten sich der Frage, was es für die Philosophie bedeutet, sich ernsthaft der Thematik anzunehmen. Wie beschreiben und deuten Philosophen Behinderungen? Wie wirken sich philosophische Überlegungen auf den gesellschaftlichen Diskurs über Behinderung und den gesellschaftlichen Umgang mit behinderten Menschen aus? Reproduziert und verfestigt der philosophische Diskurs bestimmte Stereotypien der Wahrnehmung von Behinderung? Gibt es Formen des Denkens über Behinderung, die die Philosophie legitimiert, und solche, die sie verwirft? Wie trägt sie dazu bei, Unterschiede zwischen Selbem und Anderem bzw. Vertrautem und Fremdem zu markieren und behinderte Menschen als negativ abweichende, vielleicht sogar aus dem Bereich eines menschlichen ›Wir‹ herausfallende Andere und Fremde zu kennzeichnen? Welches Bild entwirft sie in Bezug auf die Möglichkeiten zu einem guten und gelingenden Leben von Menschen mit Behinderungen? Was sagt sie über Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen und über die Bedeutung von deren Existenz für die Gesellschaft als ganzer? Allgemein gesagt: Wie trägt sie dazu bei, Wissen über Behinderung zu produzieren und zu verändern? Trägt sie zu einem Umdenken bei, oder ist sie an Ausgrenzung und Unterdrückung beteiligt?

Kittay und Carlson (2010) verweisen auf einschlägige Textpassagen in Platons »Staat«, John Lockes »Zwei Abhandlungen über die Regierung« und Immanuel Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, die deutlich machen, dass ›geistige Behinderung‹ immer wieder in klassischen Schriften auftaucht, dabei jedoch meistens auf hochproblematische Weise thematisiert wird. Es gibt aber auch zahlreiche andere Beispiele, von denen hier nur drei genannt werden sollen. Ein historisch langlebiges Denkmuster findet sich in der pseudoaristotelischen Schrift »Physiognomica«, einer Schrift zur Physiognomie. Darin wird die Auffassung vertreten, es gebe Korrespondenzen zwischen physischer Erscheinung und leiblichem Ausdruck einerseits und Charakter, Persönlichkeitstyp, Intelligenz usw. andererseits. Weil sich dieses in jenem widerspiegle, könne, so die Annahme, vom Äußeren auf das Innere geschlossen werden. So werde beispielsweise die Dummheit eines Menschen in Gestalt großer Kinnbacken, einer fleischigen Stirn und stumpfer Augen physisch sichtbar (vgl. Degkwitz 1988, 52). Ein anderes Beispiel ist der römische Philosoph Seneca, ein bekannter Anhänger der Idee, behinderte Neugeborene zu töten. »Tollwütige Hunde schlagen wir nieder, einen widerspenstigen und unbezwingbaren Stier töten wir, und krankes Vieh, daß es nicht die Herde anstecke, schlachten wir; Mißgeburten löschen wir aus, Kinder auch, wenn sie schwächlich und mißgestaltet geboren worden sind, ertränken wir; und nicht Zorn, sondern Vernunft ist es, vom Gesunden Untaugliches zu sondern« (Seneca, zit. nach Mürner 1996, 45). Das dritte Beispiel ist eine Passage aus einer Schrift von Montaigne, der darin erklärt, weshalb geistige Behinderung in der Geschichte der Philosophie und der Humanwissenschaften bis heute nur auf geringes Interesse gestoßen ist: »Lahme taugen nicht zu den Übungen des Körpers, und zu den Übungen des Geistes keine lahmen Seelen: die niederen und gemeinen sind der Philosophie unwürdig« (zit. nach Mürner 2003, 39).

Das überwiegend negative, Menschen mit Behinderungen eine marginale Position zuweisende bzw. sie aus der moralischen Gemeinschaft ausschließende Denken setzt sich insbesondere in der angewandten Ethik bis in die Gegenwart fort (vgl. Dederich & Schnell 2011). So schreibt etwa Schramme:

»Die Philosophie hat es mit dem Menschen zu tun. Leider vergessen Philosophen häufig, dass nicht alle Menschen gleich sind. In ihrer Suche nach ewigen Wahrheiten vermeiden sie bisweilen das Ungewöhnliche, Besondere und von der Norm Abweichende. […] Insofern finden sich Menschen mit Behinderungen in philosophischen Überlegungen selten; zu ungewöhnlich scheint ihre Existenz dem generalisierenden Blick« (Schramme 2011, 25).

Jedoch sind, wie bereits angedeutet wurde, auch Ansätze des Umdenkens festzustellen. Diese lassen sich ebenfalls im Kontext der Behandlung ethischer Problemstellungen beobachten. Neben dem erwähnten Band von Kittay und Carlson (2010) sind beispielsweise ein Sammelband von Kristiansen, Vehmas und Shakespeare (2009), Martha Nussbaums »Frontiers of Justice« (2007), das Buch »Assistierte Freiheit« (2011a) von Sigrid Graumann, verschiedene Beiträge von Eva Kittay (2005a, 2005b) sowie zahlreiche Publikationen aus dem Umfeld des Instituts »Mensch, Ethik und Wissenschaft« (z. B. Graumann u. a. 2004) zu nennen. Ebenfalls erwähnenswert ist Peter Sloterdijks Schrift »Du musst dein Leben ändern« (2009), die sich in einigen Passagen als Versuch versteht, die Bedeutung des Themas Behinderung für die Philosophie neu auszuloten. Allerdings drängt sich bei der Lektüre der Eindruck auf, dass die Figur des ›Krüppels‹ in diesem Buch vor allem eine theoriestrategische Funktion hat, d. h. eine bestimmte anthropologische These untermauern und bildgewaltig illustrieren soll.

Wasserman zufolge wird das Thema Behinderung vor allem deshalb zu einem Thema für die Philosophie, weil es in Hinblick auf einige wichtige Probleme grundlegende Fragen aufwirft. Diese betreffen die Bedeutung von körperlichen und mentalen Unterschieden zwischen Menschen hinsichtlich ihrer Handlungsfähigkeit, ihres Wohlergehens und ihrer individuellen und sozialen Identität. Des Weiteren zwingt das Thema zu einer vertieften Klärung von Gerechtigkeitsfragen sowie zu einem Umdenken hinsichtlich der Gestaltung der physischen und sozialen Umwelt (vgl. Wasserman 2001, 219). In Hinblick auf geistige Behinderung ist die Philosophin Carlson der Überzeugung, »that the philosophical questions that emerge in connection with intellectual disability are matters that not only are worthy of scholarly interest but speak to the deepest problems of exclusion, oppression, and dehumanization« (Carlson 2010, 3).

Es gibt also, so kann man resümieren, einerseits durchaus problematische Traditionen in der Philosophie, über Behinderung nachzudenken, die nicht ohne Auswirkungen auf die Diskurse in der Heil- und Sonderpädagogik geblieben sind. Andererseits zeichnet sich derzeit vor allem im englischsprachigen Raum die Entwicklung ab, in der akademischen Philosophie auf eine veränderte Weise über das Thema Behinderung nachzudenken, die auch für die Heil- und Sonderpädagogik wichtig ist.

Bevor ich ausführlicher auf die Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik eingehe, soll jedoch eine kurze Erläuterung zum Begriff der Philosophie folgen.

Was ist Philosophie?

Da sich die Philosophie aus ihrer Perspektive letztlich mit allem und jedem befassen kann, das Ganze der Philosophie in zahlreiche Teildisziplinen und Spezialdiskurse aufgefächert ist, es eine Pluralität und kaum entwirrbare Vielstimmigkeit von Orientierungen, Zugängen und Methoden gibt und sich philosophische Denksysteme im Laufe der Jahrhunderte teilweise stark verändert haben, ist es kaum möglich, zugleich bündig und umfassend zu sagen, was Philosophie ist. Insofern wäre es in der Tat vermessen, in einigen wenigen Absätzen eine kohärente und konsensfähige Definition und Aufgabenbeschreibung der Philosophie zu liefern. Stattdessen möchte ich mich darauf beschränken, einige wenige, m. E. allerdings zentrale Auffassungen davon zu umreißen, worum es in der Philosophie im Kern geht.

Im Wortsinn bedeutet Philosophie ›Liebe zur Weisheit‹. Eine der Wurzeln der Philosophie ist, so wird häufig gesagt, das Staunen (so bei Platon, Theaitetos 155d 2–5, oder bei Aristoteles, Metaphysik I 2, 982b, 10–18; vgl. Hersch 1989), beispielsweise das Staunen darüber, dass etwas ist und nicht etwa nichts ist. Vom Staunen ist es nicht weit zum Auftauchen von Warum-Fragen. Solche Warum-Fragen wiederum können entweder auf Ursachen oder Gründe abzielen oder nach dem Sinn von etwas fragen. Eine andere Wurzel der Philosophie ist das Streben nach Erkenntnis, nach ›wahrem‹ und unbezweifelbarem Wissen, etwa nach dem ›Wesen‹ und dem innersten oder letzten Zusammenhang aller Dinge. Nach Windelband (1980) ist Philosophie in der antiken platonisch-aristotelischen Schule »die methodische Arbeit des Denkens, durch welche das ›Seiende‹ erkannt werden soll« (ebd., 1). Als methodische Suche nach ›wahrem‹ Wissen steht die Philosophie auch für den Anspruch, die Menschen aus dem Dunkel der Höhle ihrer Vorurteile und ihres falschen Wissens herauszuführen. Dieses Motiv verbindet das platonische Höhlengleichnis mit einem Grundmotiv der Aufklärung. Ebenso wie die Idee der Befreiung wirkt die metaphorische Beschreibung der wahren Erkenntnis als Licht, das in die Dunkelheit der Welt getragen wird, im Begriff der Aufklärung (und noch deutlicher im englischen »enlightenment«) weiter: die Herausführung der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Einer heutigen Auffassung zufolge bezeichnet der Begriff der Philosophie »besondere Formen der Reflexion und der Wissensbildung in einem sowohl epistemischen, d. h. auf die Formen des Wissens bezogenen, als auch disziplinären, d. h. auf ein (tatsächliches oder als Idee festgehaltenes) System des Wissens (und der Wissenschaft) bezogenen Sinn« (Mittelstraß 1995, 131). Wiederum anders akzentuiert ist die Auffassung, die Philosophie sei eine Lehre von den ersten Gründen und Ursachen. Demnach betreibt sie »Prinzipienforschung« und versteht sich als »Lehre von den ersten Erklärungsgründen dessen, was ist« (Ferber 1998, 13 f.). Über die Frage aber, was das Prinzip – im Wortsinn: das Erste – sei, herrscht in der Philosophie, auch bezüglich ihrer Systematik, keineswegs Einigkeit: Ist es die Ontologie (wie Heidegger meint) oder die Ethik (wie Levinas, einer von Heideggers schärfsten Kritikern, zu zeigen versucht)?

Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen sich die Suche nach unumstößlichen Wahrheiten oder nicht mehr hinterfragbaren Prinzipien konfrontiert sieht, und angesichts der immer wieder festgestellten Unhaltbarkeit von Gedankengebäuden, die Totalitätsansprüche erheben, kann man Philosophie bescheidener, aber auch mit deutlich kritischerem Akzent als »Reflexionsdisziplin« (Janich 1996, 11) verstehen. In diesem Sinne ist Philosophie eine auf Grundsätzliches bezogene »Kultur der Nachdenklichkeit« (Schnädelbach 2012, 7). Philosophieren ist ein »Innehalten und Sichbesinnen« (ebd.) mit dem Ziel, »Orientierung im Bereich der Grundsätze unseres Denkens, Erkennens und Handelns« (ebd.) zu gewinnen.

Die Philosophie ist aber nicht nur eine Suche nach Wahrheit und Erkenntnis (sowie deren Kritik), sondern spätestens seit Aristoteles auch ein Nachdenken über das gute, gelingende Leben und das menschliche Glück. Die Philosophie kann insofern (trotz der ihr häufig unterstellten Lebensferne) auch ›praktische Lebenshilfe‹ sein, als sie, gerade in Zeiten der Erosion oder des Verlustes tradierter, etwa religiöser Gewissheiten, Lehren der »rechten Lebensführung« oder »Lebenskunst« (Windelband 1980, 2) zu entwickeln sucht. Dabei werden die Fragen nach der Wahrheit, der Selbsterkenntnis des Menschen, nach dem Sinn des Seins und nach einem guten Leben oftmals in einen engen Zusammenhang gebracht.

Während, wie bereits erwähnt, die Wurzeln der Philosophie von manchen Philosophen im Staunen verortet werden und somit von Anfang an ein starkes kontemplatives Element im Spiel ist, werten andere das Auftauchen des Bedürfnisses nach Philosophie als Krisensymptom (vgl. Spaemann 2008, 14 f.). Philosophie wird nach dieser Auffassung dann wichtig, wenn bisherige selbstverständliche Grundlagen oder Grundannahmen fraglich werden.

Mit dem sich im 19. Jh. durchsetzenden Verständnis, Wissenschaft müsse empirisch fundiert sein, und der sich gleichzeitig verstärkenden Ablehnung spekulativen und metaphysischen Denkens kam es zu einer Legitimationskrise der Philosophie. Im Zuge dieser Debatte wurde u. a. die Frage erörtert, ob Philosophie eine Wissenschaft neben den anderen Wissenschaften sei oder eine Metawissenschaft bzw. Wissenschafts-Wissenschaft, die sich mit jenen Fragen befasse, »die in den Forschungswissenschaften in der Regel oder sogar aus prinzipiellen Gründen nicht thematisiert werden, vor allem Fragen der ›Bedingungen der Möglichkeit‹ (Kant) wissenschaftlicher Forschung« (Schnädelbach 2012, 27). Demgegenüber akzentuieren Reydon und Hoyningen-Huene (2011) ähnlich wie Janich (1996) den Reflexionsaspekt. Ihrer Auffassung nach besteht der wichtigste Unterschied zwischen Einzelwissenschaften und Philosophie darin, dass erstere »primär positives Wissen hervorbringen wollen, während die Philosophie primär Dinge in Frage stellt, vor allem bisher unbefragte Selbstverständlichkeiten« (Reydon & Hoyningen-Huene 2011, 141).

Böhme (1997) unterscheidet drei Typen von Philosophie. Im Kontext dieses Buchs ist diese Dreiteilung insofern hilfreich, als alle Typen für die Bearbeitung von grundlegenden Fragen der Heil- und Sonderpädagogik und die Reflexion des Themas ›Behinderung‹ von Bedeutung sind.

Der erste Typ ist die Philosophie als Wissenschaft, die wie andere Wissenschaften einen spezifischen Gegenstand hat, beispielsweise die ›Phänomene‹ als Bewusstseinsgegebenheiten im Sinne Husserls oder die Sprache. Philosophie als Wissenschaft kann aber auch die Wissenschaft selbst zu ihrem Gegenstand machen und insofern primär als Wissenschafts-Wissenschaft, etwa als Wissenschaftstheorie verstanden werden. Dieser Typus von Philosophie wird uns noch ausführlich beschäftigen.

Der zweite Typ ist die Philosophie als Lebensform. Hier geht es nicht primär um wissenschaftliches Wissen, sondern – traditionell formuliert – um ein Streben nach ›Weisheit‹ und um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit oder einer tugendhaften Lebenshaltung als Basis eines ›gelingenden Lebens‹. Weil sie eine Orientierung über Orientierungsmöglichkeiten geben kann, gewinnt die Philosophie als Lebensform vor allem angesichts der Komplexität, der vielfältigen Herausforderungen und Probleme, mit denen die Welt den Menschen in ihren Bann zieht, an Bedeutung. Dies erklärt sicher auch einen gewissen Boom einer philosophischen Lebenskunst, wie sie beispielsweise von Wilhelm Schmid (2004) vertreten wird (vgl. hierzu kritisch Kobusch 2011).

Den dritten Typ nennt Böhme Philosophie als Weltweisheit. Dieser Typus strebt nach einer Integration von Wissen und versucht, eine Orientierung in Politik und Gesellschaft zu ermöglichen. Hier stehen allgemeine Probleme im Mittelpunkt des Interesses, etwa »Probleme des Friedens und der Konfliktbewältigung, der Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Fremden, es sind Probleme der technischen Manipulation und allgemeiner der technischen Zivilisation« (Böhme 1997, 27). Mittelstraß (2011) macht am Beispiel des Klonens die Bedeutung dieses Aspekts der Philosophie deutlich. Das Problem des Klonens zeigt nach seiner Auffassung

»auf eine geradezu dramatische Weise, wie sich in der modernen Welt wissenschaftliche, gesellschaftliche und politische Problemlagen, und über diese hinaus, je nach Perspektive, viele andere, miteinander verbinden, und zwar so, dass weder der wissenschaftliche, noch der gesellschaftliche, noch der politische, geschweige denn der weltanschauliche Verstand allein in der Lage wären, die betreffenden Probleme zu lösen« (Mittelstraß 2011, 259).

Die Philosophie alleine kann Probleme wie dieses sicher nicht lösen. Aber sie kann helfen, Begriffe zu klären, verschiedene Problemzugänge kritisch zu prüfen und Methoden zur Problembearbeitung zu entwickeln.

Die Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik: Ein erster Überblick

In diesem Abschnitt soll in einem ersten Überblick erläutert werden, inwiefern die Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik von Bedeutung ist. Dabei wird ein Verständnis von Philosophie zugrunde gelegt, wonach diese für die Heil- und Sonderpädagogik unverzichtbare Anhaltspunkte liefert, in Hinblick auf Grundfragen und -probleme der Disziplin eine reflexive Aufmerksamkeit wachzuhalten und zu schärfen. Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik bedeutet, zentrale Begriffe und theoretische Grundorientierungen, etwa anthropologische Annahmen, erkenntnistheoretische Denkfiguren, sozialphilosophische Modelle oder ethische Positionen, zu prüfen, zurückzuweisen oder weiterzuentwickeln. Da auch Praxiskonzepte auf solchen Grundorientierungen beruhen, ist die Philosophie zumindest indirekt von praktischer Relevanz, nämlich hinsichtlich der Reflexion und Prüfung von Grundlagen und Voraussetzungen praktischen Handelns, die von der Heil- und Sonderpädagogik als wissenschaftlicher Disziplin erarbeitet werden.

Zu den wenigen Beiträgen, die sich bisher ausdrücklich mit der Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik befassen, gehört Wolfgang Jantzens »Zur politischen Philosophie der Behinderung« (2008). Jantzen bestimmt Philosophie als Reflexionswissenschaft, und zwar als Reflexionswissenschaft des Allgemeinen. Philosophische Reflexion in Humanwissenschaften, zu denen die Heil- und Sonderpädagogik gehört, bedeutet, deren spezifische Fragen und Probleme im Lichte philosophischen Wissens und philosophischer Theorien zu betrachten. Diese Reflexion ist Jantzen zufolge in Bezug auf das Gesamtwissen zu leisten, das in den Human- und Naturwissenschaften zur Verfügung steht. Dieser Aspekt ist aus folgendem Grund von besonderer Bedeutung: Die Heil- und Sonderpädagogik (Jantzen selbst verwendet die Bezeichnung »Behindertenpädagogik«) ist eine Schnittstellendisziplin zwischen Erziehungswissenschaft, Medizin, Psychologie und Soziologie (um nur die wichtigsten zu nennen). Für sie ist das durch diese Disziplinen hervorgebrachte Wissen unver-zichtbar. Dieses ist aber so umfangreich, vielschichtig und in grundlagentheoretischer und methodischer Hinsicht uneinheitlich, dass sich die Frage stellt, wie es aufgenommen, verarbeitet und integriert werden kann. Um diese Aufgabe zu bewältigen, so die These Jantzens, benötigt die Heil- und Sonderpädagogik die Philosophie. Mit ihren allgemeinen und abstrakten Begriffen und Methoden ist sie für eine Disziplin wie die Heil- und Sonderpädagogik, die gleichzeitig hochspezialisiert ist und auf eine ganze Reihe heterogener Nachbarwissenschaften zurückgreift, eine unverzichtbare Hilfe, Wissen zu sichten, kritisch zu reflektieren und, wo möglich, zu verknüpfen. Allerdings kommt der Heil- und Sonderpädagogik nicht die Aufgabe zu, eine integrale ›Superwissenschaft‹ zu schaffen, sondern auf ihrer Ebene und mit ihren Mitteln inhaltliche und methodologische Probleme zu bearbeiten. Eine der zentralen Herausforderungen bei dem Unterfangen, »das Ganze der Humanwissenschaften zu denken« (Jantzen 2008, 229), besteht darin, keine Kategorienfehler zu machen, d. h., Reflexionsebenen, Begriffe, Denkmodelle usw. der verschiedenen Disziplinen nicht miteinander zu verwechseln. Wie aus Jantzens Ausführungen sehr deutlich wird, hat das, was er als philosophische Reflexion versteht, auch eine klare normative Ausrichtung, nämlich nach einem guten und humanen Leben zu fragen oder, negativ formuliert, an der Aufdeckung von Unterdrückungs- und Ausschlussverhältnissen und deren Überwindung mitzuwirken. Wegen dieses Anliegens spricht Jantzen auch ausdrücklich davon, dass die Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik politisch zu verstehen ist.

Neben der von Jantzen thematisierten grundlegenden Bedeutung der Philosophie überhaupt ist aber auch eine Reihe ihrer Teildisziplinen von größter Relevanz für die Heil- und Sonderpädagogik. Das sind die Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Anthropologie, Ethik und Politische Philosophie. Ihnen sind eigene Kapitel gewidmet. Hinzu kommen subjekt- und sprachphilosophische Aspekte sowie eine Reihe von Fragen, die technikphilosophischer Art sind. Letztere werden in einem eigenen Kapitel erkundet.

In einem Überblicksartikel führt Wasserman (2001) eine Reihe von Problemkomplexen auf, die im Kontext von Behinderung und daher auch für die Heil- und Sonderpädagogik von besonderer Bedeutung sind und zu deren Problematisierung und Klärung die Philosophie beitragen kann. Wasserman geht es u. a. darum, zu untersuchen, welche philosophischen Fragen durch das Phänomen der Behinderung bzw. durch verschiedene Theorien der Behinderung aufgeworfen werden. Davon möchte ich nachfolgend nur einige wenige exemplarisch nennen.

Als erstes nennt Wasserman die »philosophy of science« (Philosophie der Naturwissenschaften). Sie befasst sich mit wissenschaftlichen Grundbegriffen wie ›Kausalität‹ und ›Erklärung‹. Diese sind hinsichtlich der Klärung verschiedener, etwa biologischer oder sozialer Bedingungs- und Einflussfaktoren bei der Entstehung von Behinderungen von Bedeutung (vgl. Wasserman 2001, 220). In diesem Zusammenhang stellt sich beispielsweise die Frage, ob es theoretisch und für Explikationszwecke überhaupt sinnvoll ist, »particular activity limitations« und »participation restrictions« entweder nur der individuellen Schädigung oder der Umwelt zuzuschreiben. Ist es möglich und sinnvoll, die individuellen und sozialen Einflüsse auf Schädigungen (»impairments«) zu vergleichen, zu gewichten und zu bewerten? In diesem Zweig der Philosophie sind nach Wasserman vor allem die Philosophie der Biologie und der Medizin bedeutsam, weil sie Konzepte von Gesundheit, Krankheit, Normalität und Abweichung entwickeln und medizinische Klassifikationssysteme sowie diagnostische Verfahren auf offensichtliche oder verborgene normative Gehalte hin kritisch prüfen. Zu den vielen in diesem Feld aufgeworfenen Fragen gehören etwa die, ob eine Bewertung und hierarchische Differenzierung körperlicher und kognitiver Schädigungen sinnvoll ist und gerechtfertigt werden kann. Weitere Fragen beziehen sich darauf, ob universelle Prozesse wie Schmerzempfinden, Zahnausfall oder Alterung als Schädigungen zu bezeichnen sind oder ob die Trennung zwischen ›normal‹ und ›abnorm‹ grundsätzlich oder graduell zu verstehen ist (ebd., 221).

Ein zweiter Komplex von Fragen ist erkenntnistheoretischer Art. Welche Bedeutung haben die verschiedenen Sinnesmodalitäten und ihr Zusammenspiel für die Fähigkeit der Menschen, sich auf die Welt zu beziehen, sich auf der Grundlage praktischen Wissens in ihr zu orientieren, sie zu erkennen? Und was für Folgen hat es, wenn einzelne Sinnesmodalitäten eingeschränkt oder nicht vorhanden sind oder das Zusammenspiel verschiedener Sinnesmodalitäten gestört oder atypisch ist? Um zwei Beispiele zu nennen: Sind die Erkenntnisse sehender Menschen im Vergleich zu denen blinder Menschen genauer oder der Wirklichkeit angemessener? Kann die Vorstellung einer externen Welt auf der Grundlage von Höreindrücken aufgebaut werden? In diesem Zusammenhang kommen, wie Wasserman betont, auch sprachphilosophische Probleme ins Spiel, etwa die Frage nach der Komplexität und Vergleichbarkeit verschiedener Kommunikationssysteme wie der Verbalsprache, der Gebärdensprache oder leibnaher, taktiler Kommunikationsformen.

Ein drittes Bündel von Fragen lässt sich einerseits der Ästhetik, andererseits der Moralphilosophie zuordnen. In ästhetischer Hinsicht stellt sich beispielsweise die Frage, ob es möglich und sinnvoll ist, verschiedene Sinneserfahrungen hinsichtlich ihrer Qualität oder Komplexität zu vergleichen. Kann man die Erfahrung von Schönheit, die Blinde, gehörlose oder Menschen mit geistiger Behinderung machen, überhaupt vergleichen und darüber hinaus in eine Rangordnung bringen? Haben kognitive Einschränkungen einen größeren Einfluss auf das individuelle Wohlergehen als z. B. motorische oder sinnesbezogene? In moralphilosophischer Hinsicht stellt sich beispielweise die Frage, ob es ein Mindestmaß an kognitiver oder sinnlicher Funktionsfähigkeit gibt, das Voraussetzung dafür ist, moralisch handeln zu können (z. B. Versprechungen zu machen und sich daran zu halten), bzw. um als Träger moralischer Rechte anerkannt zu werden (vgl. Wasserman 2001, 221).

Diese wenigen Beispiele mögen an dieser Stelle genügen, um zu zeigen, wie schwierig und weitreichend die durch verschiedene Behinderungen aufgeworfenen philosophischen Fragen sind.

Philosophie und die Offenhaltung des Blicks auf den anderen Menschen

Wie im vorangehenden Abschnitt deutlich wurde, gibt es ein ganzes Bündel von Fragestellungen und Problemen in der Heil- und Sonderpädagogik, die eine philosophische Reflexion als unerlässlich erscheinen lassen. Diese Notwendigkeit zeigt sich am deutlichsten in Arbeiten, die sich als wissenschaftliche Grundlegungen verstehen und die eigene Disziplin wissenschaftstheoretisch und grundlagenbegrifflich reflektieren.

Den von Jantzen (2008) entwickelten Gedanken aufnehmend kommt der philosophischen Reflexion in der Heil- und Sonderpädagogik vor allem deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil es sich um ein inter- und multidisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld handelt, das, will es nicht in eine Vielfalt hochspezialisierter und unverbundener Einzelwissenschaften (sonderpädagogische Förderschwerpunkte, Psychologie, Soziologie usw.) zerfallen, eine Ebene übergreifender und ›integrativer‹ Reflexion bedarf. Damit geht jedoch nicht der Anspruch einher – hier nun in Abgrenzung von Jantzen –, auch unter Rückgriff auf die Philosophie eine synthetische Humanwissenschaft mit einem einheitlichen und kohärenten Theoriegebäude zu entwickeln.

Während in den weiteren Kapiteln spezifische Themenbereiche diskutiert werden, in denen die Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik von Bedeutung ist, werde ich mich nachfolgend auf eine übergreifende Problematik konzentrieren, deren Reflexion für die Heil- und Sonderpädagogik unverzichtbar ist: die Hervorbringung von Wissen über Schädigungen, Beeinträchtigungen, Benachteiligungen und Behinderungen und die daraus abgeleiteten Konsequenzen für institutionalisiertes praktisches Handeln.

Als anwendungsorientierte Wissenschaft produziert die Heil- und Sonderpädagogik ein spezifisches Wissen, das letztlich im Dienste der Förderung und Bildung von benachteiligten und behinderten Menschen steht und zu einer Verbesserung ihrer Lebenssituation beitragen soll. Nun ist aber die Hervorbringung eines solchen Wissens niemals wert- und machtfrei. Und es wird, wenn es in der Praxis aufgenommen wird, wirklichkeitsmächtig. Wissenschaftliches Wissen konstituiert und formt seinen eigenen Gegenstandbereich, bringt bestimmte Sichtweisen auf diesen Gegenstandsbereich hervor, definiert Begriffe und Probleme, sucht nach kohärenten Deutungs- und Erklärungsmustern für diese Probleme, formuliert Ziele, erarbeitet Methoden und Kriterien guter Forschung und Theoriebildung, leitet Schlussfolgerungen für die Praxis ab, entwickelt Konzepte, erprobt und prüft spezifische Methoden usw. Insofern bringt wissenschaftliches Wissen nicht nur eine um den Gegenstandsbereich herum aufgebaute theoretisch-praktische Ordnung der Dinge hervor (in diesem Fall: institutionalisiertes heil- und sonderpädagogisches Handeln), es produziert bzw. formt auch den Gegenstand selbst (in diesem Fall ›Behinderung‹ bzw. den ›Menschen mit Behinderung‹).

Damit soll nicht gesagt werden, dass Behinderung nichts anderes als eine Konstruktion ist. Es soll zunächst nur besagen, dass Wissenschaftler wie Philosophen, Psychologen, Soziologen und Pädagogen ebenso wie Praktiker in verschiedenen Professionen an einem bestimmten ›Bild‹ oder einem expliziten theoretischen Modell von Behinderung sowie zugleich auf der Grundlage eines solchen Modells arbeiten. Das bedeutet, dass Vorwissen bzw. Vorannahmen, Gegenstandskonstituierung und Wissensproduktion zirkulär miteinander verschränkt sind. Ein zentrales Problem bei der Entwicklung von Theoriekonstruktionen über den (behinderten) Menschen besteht darin, dass das, was erst noch zu bestimmen, zu definieren, theoretisch zu begründen oder abzuleiten wäre, häufig in verborgener Form als implizites Modell oder Wissen bereits vorausgesetzt wird. Um mich überhaupt mit Behinderung beschäftigen zu können, brauche ich bereits eine Vorstellung, eine Idee davon, was ›Behinderung‹ ist. Vorwissen bzw. bestehende Vorannahmen (mitsamt ihrer historischen, sozialen, fachspezifischen und individuell-biografischen Einlagerungen) und Gegenstandskonstitution sind daher eng miteinander verflochten. Pointiert formuliert: Das Grundproblem der Heil- und Sonderpädagogik besteht darin, dass ihr zentraler Gegenstand nicht unabhängig von ihrem theoretischen und praktischen Zugriff existiert, sondern durch diesen Zugriff benannt, klassifiziert, gedeutet und durch performative Einwirkung geformt wird.

Eine philosophische Perspektive einzunehmen heißt in diesem Zusammenhang, die Logik solcher Prozesse zu hinterfragen und hinsichtlich ihrer Legitimation kritisch zu prüfen. Zwar entgeht auch die Einführung von reflexiven Metaebenen nicht der Verschränkung von Gegenstandserforschung und Gegenstandskonstitution, hilft aber, diese Verschränkung sichtbar und bewusst zu machen und auf ihre Voraussetzungen, Implikationen und Folgen hin zu bedenken. Bei dieser kritischen Reflexion spielen neben philosophischen auch historische, kulturelle, gesellschaftstheoretische, wissenschaftssoziologische, psychologische und machtanalytische Aspekte eine wichtige Rolle.

Vor allem durch die universitäre Ausbildung und Professionalisierungsprozesse kommt heil- und sonderpädagogisches Wissen in Umlauf und fließt (wenn auch selektiv, gefiltert und aus handlungspragmatischen Gründen oft genug auf problematische Weise schematisiert) in praktisches Handeln ein. Für die wechselseitig wirkende Konstitution von Gegenstand einerseits und Disziplin und Profession andererseits ist aber nicht nur ein spezifisches Wissen von Bedeutung (und sei es, wie beim Thema ›Behinderung‹, ein differenziertes und keineswegs widerspruchsfreies Wissenskonglomerat), sondern auch die historische, kulturelle und soziale Situierung der Heil- und Sonderpädagogik. So sind die Anforderungen an die Profession auch durch gesellschaftliche Aufträge bestimmt und bringen mehr oder weniger standardisierte Ausbildungen hervor. Hierüber wird auch der Zugang zum Berufsfeld formalisiert und reglementiert. Diese Prozesse münden in eine Monopolisierung der fachlichen Zuständigkeit und spielen der Heil- und Sonderpädagogik eine gewisse Definitionsmacht zu. Das Ergebnis ist eine mit wissenschaftlichen Legitimitätsansprüchen auftretende Durchsetzung einer für gültig gehaltenen Festlegung des Fachgebiets auf eine mehr oder weniger eingegrenzte Sicht der Dinge, Schlüsselbegriffe, Methodologien usw. Wissenschaftssoziologisch ist es jetzt nur noch ein kleiner Schritt hin zur Ausbildung von Eigeninteressen und Systemdynamiken, zur Herstellung selbstreferenzieller institutioneller und wissenschaftlicher Ordnungen.

Um es nochmals zu betonen: Die Herausbildung und Institutionalisierung von Wissen ist nicht nur bedeutsam, weil sie erhebliche Auswirkungen auf Art und Inhalte der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion hat. Da die Heil- und Sonderpädagogik angewandte Wissenschaft ist, die pädagogische Praxis reflektieren, theoretisch modellieren und praktisch gestalten und verändern will, haben ihr Wissen und die daraus abgeleiteten Praktiken konkrete existenzielle Auswirkungen auf die Lebenssituation behinderter, chronisch kranker und anderer, aus dem gesellschaftlichen Normalitätsspektrum herausfallender bzw. bestimmten Normen nicht entsprechender Menschen.

Mit dem Prozess der Herausbildung spezifischer Wissensordnungen geht häufig auch eine Art Ritualisierung und Verfestigung von Wahrnehmungs- und Denkweisen und deren Verkörperung im alltäglichen Handeln einher. Dies hat ohne Zweifel Entlastungseffekte, birgt aber auch die Gefahr, systematisch blinde Flecken zu produzieren. Gewissermaßen als Antidot zu dieser Tendenz kann man Philosophie als Denkform und Denkbewegung verstehen, Aufmerksamkeit zu erhöhen und den Blick für bisher nicht oder nicht klar genug Gesehenes zu schärfen. Dabei kommt es nicht nur auf analytische Schärfe an, sondern auch darauf, sich dem Gegebenen durch die Ausübung einer ›praktischen Epoche‹ immer wieder neu anzunähern und auf diesem Weg über das in unserem Wissen Gegebene hinauszugehen. Zahavi (2007) zufolge bedeutet die Ausübung von Epoche, »eine bestimmte dogmatische Einstellung zur Welt zu suspendieren oder zu neutralisieren, um das Augenmerk ausdrücklich auf das phänomenologisch Gegebene zu lenken« (ebd., 22). Von ›praktischer Epoche‹ zu reden heißt aber auch, dass diese Form von Reflexion keinen direkten und unmittelbaren praktischen Nutzen hat, ja, sich der »Praxisbehilflichkeit zwecks ökonomisch-kurzer Zielerreichung« (Röttgers 2002, 299) verweigert. Sie steht in dieser Hinsicht buchstäblich für eine »Kultur der Nutzlosigkeit«, die ihren Rückhalt in einer Philosophie hat, die »kritische Reflexion unserer Welt- und Handlungsorientierungsmuster sich zur Aufgabe mache. Genau diese Figur der Reflexion ist aber die Grundfigur eines Umwegs und eines Innehaltens im praxisrelevanten Zielerreichungsgetriebe« (ebd.).

In dieser Hinsicht erweist sich die Philosophie nicht nur als Reflexionsinstanz gegenüber für selbstverständlich gehaltenen Wissensbeständen, wissenschaftlichen Überzeugungen und praktisch-institutionalisierten Handlungsmustern, sondern auch als ›Schule des Sehens‹. Ihr geht es um die Kultivierung einer Offenheit und Bereitschaft, sich möglichst unvoreingenommen immer wieder in Frage stellen zu lassen und berührbar zu bleiben angesichts des Fremden und Anderen, des Neuen und Überraschenden. Offenheit und Unvoreingenommenheit heißt unter anderem, das, was uns als Wissenschaftlern oder Praktikern begegnet, nicht vorschnell unserer Wissensordnung mit ihren Deutungsmustern einzuverleiben. Die Philosophie kann stärker in den Blick rücken, dass der Prozess der Forschung und Erkenntnisgewinnung wesentlich als ein Umlernen zu deuten ist und dass Forschung angesichts von menschlichen und sächlichen Ansprüchen keineswegs ein schlichtes ›Erfinden‹ oder ›Konstruieren‹, sondern responsiv ist (zum Konzept der responsiven Rationalität vgl. Waldenfels 1994), also eine Antwort auf vorgängige Ansprüche darstellt. Dies scheint gerade für Menschen-Wissenschaften von großer Bedeutung zu sein.

Sowohl die kritisch-reflexive Annäherung an den ›Gegenstand‹ als auch das möglichst unvoreingenommene phänomenologische ›Sehen‹ spielen zusammen: im Widerstand gegen Festschreibungen, gegen fremdheitsresistente Fixierung auf begrenzte Sichtweisen und »vorgängige Denkbegrenzungen« (Schneiders 2000, 22). Beide arbeiten gegen die Einengung, Einhegung und Einfrierung von Wissen, pädagogisch-therapeutisch-rehabilitativer Praxis und konkreter Lebensverhältnisse und Lebensumstände behinderter Menschen.

Heil- und sonderpädagogische Impulse für die Philosophie

Wie eingangs gesagt wurde, kann die Frage nach dem Verhältnis von Heil- und Sonderpädagogik und Philosophie von zwei Seiten gestellt werden. Bisher habe ich einige Gedankenlinien skizziert, die auf die Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik aufmerksam machen möchten. Zum Schluss möchte ich wenigstens andeuten, worin die Bedeutung der Heil- und Sonderpädagogik für die Philosophie liegen könnte. Wie ich vorab zu zeigen versucht habe, ist die Philosophie in Bezug auf ihre Grundorientierung, das Denken des Allgemeinen und Gemeinsamen, überaus ambivalent. Sie birgt die Tendenz zu Totalisierungen und läuft hierdurch Gefahr, die Produktion von Normalisierungseffekten und gesellschaftlichen Ordnungen philosophisch zu unterfüttern und zu legitimieren, die Menschen benachteiligen, marginalisieren und ausgrenzen. Allerdings zeigt sich diese Ambivalenz auch in der Heil- und Sonderpädagogik. Denn diese ist historisch gesehen als Disziplin und Profession auf kaum entwirrbare Weise zugleich Sachwalterin und Kritikerin der historisch-gesellschaftlichen Konstruktion und Verbesonderung von Menschen mit Behinderungen. Insofern sie ein Denken des Allgemeinen reproduziert, das das Singuläre, den anderen Menschen in seiner Andersheit entwertet oder ausscheidet, muss sie immer wieder einer radikalen Kritik unterzogen werden, etwa der Kritik, wie sie durch Vertreterinnen und Vertreter der Disability Studies formuliert wird (vgl. z. B. Linton 1998). Insofern sich aber die Heil- und Sonderpädagogik pädagogisch, politisch und ethisch als Anwältin von Heterogenität und Vielfalt versteht, kann ihr auch eine wichtige Kritik- und Korrekturfunktion gegenüber einer Philosophie zukommen, die in einem Denken der einseitigen Betonung des Allgemeinen und Gemeinsamen befangen ist. In dieser Perspektive kann sie (hier nun wieder gemeinsam mit den Disability Studies) beispielsweise einen Beitrag zur Infragestellung normativer Anthropologien leisten, die in der Philosophie in Geschichte und Gegenwart virulent sind, indem sie totalisierende Sichtweisen des Menschseins ebenso hinterfragt wie die in aller Regel damit verbundenen Prozesse der Normalisierung, der Einhegung, Aneignung oder des Ausschlusses des Außerordentlichen und Singulären (vgl. die zahlreichen, die gesamte abendländische Philosophiegeschichte umfassenden Beispiele bei Mürner 1996). In entsprechender Weise kann die Heil- und Sonderpädagogik den Blick für problematische Eingrenzungen und Engführungen philosophischer Kommunikations- und Verständigungstheorien schärfen, für ein- und ausgrenzende ethische Konstruktionen oder Bildungskonzeptionen, die offen oder latent Menschen aus dem Kreis der Bildungsfähigen und zu Bildung Berechtigten ausschließen.

Solche und ähnliche Fragen entstehen nicht allein aus einer theoretischen Perspektive, sondern werden durch die Praxis aufgeworfen. Sie sind die Frucht der Arbeit und des Lebens mit behinderten Menschen und tragen das Potenzial in sich, manche mit philosophischer Würde ausgestatte Grundannahmen, selbstverständlich scheinende Theorien und geläufige Formen der Repräsentation menschlichen Behindertseins zu hinterfragen und zu verabschieden. In dieser Hinsicht bestünde ihr Beitrag in Erfahrungen.

Ebenso kann sie einen wichtigen Beitrag zur Analyse und zur Aufdeckung jenes kulturellen Wissens, jener historischer Annahmen, Bilder und Phantasmen leisten, die sich häufig unbemerkt in explizite Theorien, Modelle und Repräsentationen einschleichen. Dies hat aber zur Voraussetzung, dass sich die Heil- und Sonderpädagogik ihrer historischen Erblasten und ihrer ambivalenten Effekte bewusst ist. Dann kann sie zusammen mit den Disability Studies als ›philosophische Sehhilfe‹ fungieren, als theoretische und ethische Optik, die abwertende, ausgrenzende, stigmatisierende philosophische und politische Bilder vom Menschen aufdeckt und kritisiert.

2          Die Anderen I: Gleichheit und Verschiedenheit

»Das Unbestimmte und Immer-Offene des menschlichen Wesens verlangen danach, mechanistische und endgültige Festlegungen zu verweigern, vereinfachende Dualismen (Fähigkeit/Unfähigkeit, Normalität/Anomalität etc.) zurückzuweisen und diejenigen Kategorisierungen in Frage zu stellen, die der Anerkennung der Person im Wege stehen«

(Kristeva & Gardou 2012, 41).

Einleitende Überlegungen

In philosophischer Hinsicht ist das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit eines der Schlüsselprobleme der Heil- und Sonderpädagogik schlechthin, genauer noch: des Bildungssystems überhaupt. Dieses Schlüsselproblem ist aufs Engste mit Strukturen und Prozessen gesellschaftlicher Benachteiligung und Diskriminierung, der schulischen und sozialen Inklusion, ethischen Fragen – etwa der Klärung des moralischen Status von Individuen – und verschiedenen Strängen des Gerechtigkeitsdiskurses verbunden. Es ist insbesondere die Inklusionsdebatte, die dieses Schlüsselproblem erneut virulent macht und, wie Hollenweger (2006) herausarbeitet, zahlreiche Fragen aufwirft, von denen nachfolgend nur einige zitiert werden sollen:

»(1) Soll die Gruppe der behinderten Kinder jetzt eine besondere Zielgruppe sein oder nicht? Gibt es Kategorien von Kindern und Jugendlichen, welche besonders von Ausschluss und Marginalisierung bedroht sind? Oder können wir uns damit begnügen festzustellen, dass das Besondere auch normal und jeder Mensch etwas Besonderes ist? […] Welche Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern nehmen wir wahr und wie argumentieren wir bezüglich der Verursachung dieser wahrgenommenen Differenz? […] Oder ginge es nicht darum, die von uns starr gedachten Kategorien aufzulösen – soweit, dass jedes Kind nur noch seine eigene Kategorie – seine Person – ist?

(2) Sollen einzelne Schülerinnen oder Schüler eine besondere Unterstützung erhalten oder genügt es, eine gute Schule für alle zu gestalten? Sind die Maßnahmen beim Kind oder beim System anzusetzen? […] Sollen wir den betroffenen Kindern zusätzliche Maßnahmen und spezifische Unterstützung anbieten oder ist gerade dieses Angebot diskriminierend? Doch wenn eine Schule zu jedem Zeitpunkt allen Bedürfnissen gerecht werden will, bietet sie dann noch einen gemeinsamen Rahmen für die Bildung aller? […] Oder ginge es nicht darum, ein differenzierteres Bild davon zu erhalten, wo Partizipation höher gewertet werden muss und effizienter ist als individuelle Sonderangebote? […]

(3) Bereitet man Kinder und Jugendliche mit Behinderungen unter der Perspektive zukünftiger Inklusion in die Gesellschaft auf die kompetitive, konsumorientierte und auf perfektem Funktionieren des Individuum aufbauende Welt der Erwachsenen vor oder lässt man sie im Kontext schützender Beziehungen und einem von sozialer Gerechtigkeit geprägtem Umfeld partizipieren? Können wir sicher sein, dass wenn behinderte Kinder inkludiert sind, alles gut für sie wird als Erwachsene?« (Hollenweger 2006, 46 f.)

Solche und ähnliche Fragen, die den Hintergrund der Überlegungen dieses Kapitels bilden, machen deutlich, dass die Diskussion über Gleichheit und Verschiedenheit auf sehr unterschiedlichen Ebenen verhandelt werden muss. Sie zeigen auch, dass die Thematik gleichermaßen fundamental, hoch komplex und von erheblicher praktischer Relevanz ist. Abgesehen von terminologischen, anthropologischen, ethischen und politischen Problemen werden Fragen bezüglich der Struktur und Organisation des Bildungswesens, der (Aus-)Bildung von Pädagoginnen und Pädagogen sowie der Methodik, Didaktik und Curriculum-Entwicklung aufgeworfen. Betrachtet man die verschiedenen Stränge des Diskurses über Gleichheit und Verschiedenheit, lassen sich in einer ersten Annäherung verschiedene ›Dimensionen‹ unterscheiden:

•  Die individuelle Dimension: Sie betrifft körperliche Unterschiede, den Gesundheitszustand, Differenzen in Hinblick auf Wahrnehmung, Denken, Gefühle, Begabungen sowie sexuelle, politische, religiöse und andere Orientierungen.

•  Die gesellschaftliche Dimension: Zu ihr gehören soziale Ungleichheitslagen, die Vielfalt von Lebensformen und Lebensstilen, sprachliche Differenzen, die Geschlechterdifferenz, die Ungleichverteilung der Verfügbarkeit von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital im Sinne Bourdieus (1992) sowie die Selektivität und Exklusivität von gesellschaftlichen Systemen.

•  Die kulturelle Dimension: Sie ist ein zentraler Organisations- und Differenzierungsfaktor bei der Herausbildung und Abgrenzung von Lebensformen, Zugehörigkeiten und Nichtzugehörigkeiten, Wissens- bzw. Glaubenssystemen, Formen symbolischer Repräsentation usw.

•  Die pädagogische Dimension: Sie ist auf die institutionelle, methodische, didaktische und kommunikative Gestaltung von Lern- und Bildungsprozessen bezogen.

•  Die politische Dimension: Hier geht es vor allem um Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen, etwa die Regelung von Konflikten und Verteilungsfragen, Fragen der politischen Partizipation und der Gerechtigkeit, die gesetzliche Regelung von Rechten und Pflichten sowie die Regulierung von Macht und Gewaltausübung.

•  Die epistemische Dimension: Diese ist mit der Frage verbunden, ob und wie wir ein Wissen vom anderen Menschen haben können, ob und wie Fremdverstehen, Einfühlung usw. möglich sind.

•  Die anthropologische Dimension: Sie betrifft die Frage, ob das Menschsein überhaupt durch universale Eigenschaften und Charakteristika beschrieben werden kann und wie es durch Geschichte, Kultur und Gesellschaft ausdifferenziert, überformt oder zugerichtet wird.

•  Die ethische Dimension: Sie ist mit Unterschieden des moralischen Status, Fragen der Verantwortung, der Reziprozität bzw. Wechselseitigkeit von moralischen Rechten und Pflichten in einem Kontext von Vielfalt und Differenz befasst.

Nachfolgend wird es darum gehen, eine Reihe von Begriffsklärungen vorzunehmen, verschiedene Grundpositionen zur Bestimmung von Gleichheit und Verschiedenheit zu rekapitulieren und auf ein in diesem Zusammenhang bislang weitgehend vernachlässigtes Problem aufmerksam zu machen: das Problem radikaler Andersheit bzw. Differenz. Dabei werde ich, nach einem kurzen Überblick über den Gleichheits- und Differenzdiskurs in der Heil- und Sonderpädagogik, zunächst auf das Problem der Gleichheit eingehen, um dann schrittweise verschiedene Zugänge zum Differenzdenken zu rekonstruieren.

Der Gleichheits- und Differenzdiskurs in der Heil- und Sonderpädagogik

Seit den späten 1980er Jahren hat es eine ganze Reihe von Beiträgen gegeben, die sich mit dem Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit befassen (etwa Antor 1988, Jantzen 1998b, Lindmeier 2001, Sasse 2001 oder Wenning 1999 aus allgemein erziehungswissenschaftlicher Perspektive). Es waren insbesondere Andreas Hinz (1993) und Annedore Prengel (1995), die Heterogenität und Vielfalt ins Zentrum ihrer am Leitprinzip der Integration bzw. Inklusion orientierten Entwürfe gestellt haben. Das von Hinz und Prengel verfolgte Ziel besteht darin, Heterogenität und Vielfalt als normativ gehaltvolle Konzepte auszuweisen und pädagogische, bildungspolitische und sozialethische Gestaltungsaufträge an sie zu binden. Trotz der weiter unten zu formulierenden Kritik ist und bleibt es ein Verdienst dieser Beiträge, einige zentrale Aufgaben und Probleme der Pädagogik insgesamt in dieser bis dahin nur wenig systematisch ausgearbeiteten Hinsicht neu bedacht zu haben.

Theoretisch ganz anders ansetzend (nämlich unter Rückgriff auf das Begriffsinstrumentarium der Luhmannschen Systemtheorie) haben Opp und Fingerle (1998, 2001) auf einige Paradoxien bzw. Antinomien des Verhältnisses von Integration (in diesem Kontext verstehbar als Chiffre für eine Form der Realisation der Gleichheitsidee) und Differenz hingewiesen. Mit ihrer soziologisch orientierten Analyse wenden sie sich gegen eine allzu sozialromantische Version des gesellschaftlichen Zusammenlebens höchst verschiedener Menschen und sozialer Gruppen. Während Heterogenität und Vielfalt in vielen pädagogischen Schriften zugleich emphatisch aufgeladen und theoretisch unterbestimmt bleiben, ist der theoretische Differenzbegriff Luhmannscher Prägung deutlich nüchterner und eher für die Analyse gesellschaftstheoretisch begründeter Grenzen von Inklusion geeignet (vgl. Fuchs 2002).

Gemeinsam ist den (dem pädagogischen status quo gegenüber kritischen und zugleich zukunftsoptimistischen) Entwürfen von Hinz und Prengel und den skeptischen Überlegungen von Opp und Fingerle die Kritik am in der Moderne zunehmend verschärften Selektionsprinzip der Schule und der damit gekoppelten Forcierung von Benachteiligungen durch das Bildungssystem. Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Entwürfe besteht trotz aller Unterschiede darin, dass sich ihre zentralen Begriffe, eben Heterogenität bzw. Vielfalt und Differenz, auf empirische, an Kriterien gebundene Unterschiede beziehen. In deskriptiv-analytischer Hinsicht dienen sie dem Zweck, etwas als etwas zu identifizieren und gesellschaftliche Differenzierungsprozesse beschreibbar zu machen.

Diese wenigen Hinweise zeigen, dass im heil- und sonderpädagogischen Diskurs über Gleichheit und Verschiedenheit unterschiedliche theoretische Zugänge entwickelt wurden. Im Kontrast zur Wertschätzung von Heterogenität und Vielfalt bei Hinz und Prengel zeigt ein Blick in die Praxis ein eher ambivalentes Bild. So schreiben Kelle und Tervooren, das Phänomen der Heterogenität der Bildungsvoraussetzungen von Kindern werde

»auf der einen Seite produktiv gewendet und in Ansätzen der Altersmischung z. B. im Rahmen der flexiblen Schuleingangsstufe sogar forciert sowie als Grundlage für die Differenzierung der Lehr- und Lernformen pädagogisch begrüßt. Auf der anderen Seite wird die Heterogenität in den expandierenden Formen der vorschulischen Beobachtung und Untersuchung der frühen kindlichen Entwicklung doch implizit auch als ein Phänomen begriffen, dem es vorzubeugen gilt« (Kelle & Tervooren 2008, 7),

etwa durch regelmäßige Kindervorsorgeuntersuchungen, Entwicklungsbeobachtung und Sprachstandserhebungen. Dabei geht es jeweils um eine Überprüfung, ob die kindliche Entwicklung altersgemäß ist, was immer auch heißt, dass anhand von standardisierten Parametern kontrolliert wird, ob sie normgemäß ist oder nicht. Werden dabei definierte Grenzwerte verfehlt, sind entwicklungsunterstützende Zusatzmaßnahmen wie beispielsweise Frühförderung indiziert. Das aber zeigt, dass die Wertschätzung von Heterogenität Grenzen hat und unerwünschte Ausprägungen von Verschiedenheit als bearbeitungsbedürftige Probleme angesehen werden. Das normative bzw. ethische Postulat, das Wertschätzung und Anerkennung von Vielfalt und Heterogenität einfordert, steht in einer deutlichen Spannung, vielleicht sogar in einem nicht auflösbaren Gegensatz zu diagnostisch festgestellten und als Negativabweichung definierten Differenzen. Es gilt heute als selbstverständlich, dass solche negativen Normabweichungen Entwicklungsrisiken darstellen, die frühzeitig erkannt und durch gezielte Interventionen bearbeitet werden sollten.

Diese Ambivalenz von Differenz zeigt sich aber auch auf grundsätzlicher Ebene. Empirische, als an konkrete Merkmale gebundene Differenz operiert häufig mit der binären Kontrastierung von Gegensätzen oder Polen. Zum einen werden Bedeutungen von Wörtern oder Sinnbezirke über die Abgrenzung von Anderem gewonnen. Demnach bedeutet nichts etwas Bestimmtes aus sich selbst heraus; Bedeutung entsteht durch Operationen der Grenzziehung. Es ist die spezifische Differenz, die etwas als Etwas von etwas anderem unterscheidbar macht. Nun sind aber diese Differenzen, wie sich bereits angedeutet hat, häufig nicht wertneutral. Dies gilt vor allem, wenn es um Merkmale geht, die nicht nur in einem Kontinuum von ›mehr‹ oder ›weniger‹ vorliegen können (etwa der Gesundheitszustand, die Intelligenz oder die Beherrschung von Kulturtechniken), sondern auch als wertvoll, nützlich oder wünschenswert eingestuft werden. Solche Mehr-Weniger-Differenzen werden in der Regel hierarchisch, d. h. nach dem Schema ›besser – schlechter‹ angeordnet. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Unterscheidung von ›erwünscht – unerwünscht‹. Merkmale, an denen Differenzen festgemacht werden, sind demnach zumindest in praktischen Handlungszusammenhängen nicht rein deskriptiv, sondern zugleich auch präskriptiv oder normativ unterfüttert. Dass die Feststellung solcher Differenzen im Rahmen von Institutionen erfolgt und für die betroffenen Menschen erhebliche Konsequenzen (etwa in bildungs- oder erwerbsbiografischer Hinsicht) hat, zeigt auch, dass der Hervorbringung und Aufrechterhaltung solcher Differenzen gesellschaftliche oder kulturelle Machtverhältnisse zugrunde liegen.

Bis zu diesem Punkt kann mit Hall zusammengefasst werden, dass Differenz ein vielschichtiges und ambivalentes Problem ist: »It can be both positive and negative. It is both necessary for the production of meaning, the formation of language and culture, for social identities and a subjective sense of the self as a sexed subject – and at the same time, it is threatening, a site of danger, of negative feelings, of splitting, hostility and aggression towards the ›Other‹« (Hall 1997, 238).

Gegenüber den bisher genannten deskriptiven und präskriptiven Differenzbegriffen ist bis heute vor allem in der Heil- und Sonderpädagogik erst in Ansätzen bedacht worden, zu welchen theoretischen und konzeptionellen Konsequenzen eine Konzipierung von Heterogenität und Vielfalt als radikaler Andersheit