Philosophieren mit Bildern und Fotografien -  - E-Book

Philosophieren mit Bildern und Fotografien E-Book

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Beschreibung

Neben Texten und Filmen zählen Bilder und Fotografien aktuell zu den beliebtesten Medien im Philosophie- und Ethikunterricht. Der vorliegende Band bietet sowohl die theoretische Begründung, warum die unterrichtliche Arbeit mit ihnen von essentieller Bedeutung ist, als auch zahlreiche praxistaugliche Beispiele und Handreichungen für die Unterrichtsgestaltung in beiden Sekundarstufen. Zu Beginn führen die Herausgeber zunächst in das Thema ein, bevor sich je ein Theorie- und ein Praxisteil zu Bildern und Fotografien anschließen. Während die Theorieteile die grundsätzliche Bedeutung von Bildern und Fotografien im Philosophie- und Ethikunterricht erläutern und die Chancen und Grenzen ihres Einsatzes darlegen, wird in den Praxisteilen anhand konkreter Unterrichtsbeispiele demonstriert, wie kreativ vielfältig man darstellende Kunstwerke und Fotos nutzen kann, um Schülerinnen und Schüler in philosophische Fragestellungen oder Theorien einzuführen, diese zu verdeutlichen oder zu vertiefen. Die Auswahl des Bildmaterials und der entsprechenden Unterrichtshandreichungen eignen sich für den Einsatz in Sekundarstufe I und II. Der Band schließt mit einer weiterführenden Auswahlbibliographie ab.

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Die Reihe Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht ist auf 12 Themenbände angelegt:

Philosophieren mit Filmen im Unterricht

Philosophieren mit Gedankenexperimenten

Philosophieren mit Dilemmata

Philosophieren mit Comics und Graphic Novels

Textarbeit im Philosophie- und Ethikunterricht

Der Einsatz von Spielen im Philosophie- und Ethikunterricht

Literatur und Jugendliteratur im Philosophie- und Ethikunterricht

Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht

Theatrales Philosophieren, Musik und Videoclips im Philosophie- und Ethikunterricht

Philosophieren mit Bildern und Fotografien

Digitale Medien im Philosophie- und Ethikunterricht

Hörbücher, Hörspiele und Hördokumentationen im Philosophie- und Ethikunterricht

Ausführliche Informationen unter:www.philosophie-didaktik.de

PHILOSOPHIEREN

MIT BILDERN UND

FOTOGRAFIEN

METHODEN IMPHILOSOPHIE- UNDETHIKUNTERRICHT

Band 10

Herausgegeben vonMartina und Jörg Peters

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über ‹https://portal.dnb.de›.

ISBN 978-3-7873-4428-4 · ISBN eBook 978-3-7873-4429-1EPUB-ISBN 978-3-7873-4430-7

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2024. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg.

INHALT

Einführung: Bilddidaktik im Fokus

Martina Peters, Jörg Peters

1Wie Bilder und Fotografien im Philosophie- und Ethikunterricht eingesetzt werden können

Das Spektrum der Bilder

Oliver R. Scholz

Bildverstehen

Gabriele Münnix

Bilder im Ethikunterricht

Volker Pfeifer

Zum Philosophieren mit Bildern – Versuch einer didaktischen Begründung

Gabriele Münnix

Der Reiz der Bilder – Einsatzmöglichkeiten von Bildern im Philosophie- und Ethikunterricht

Stefan Maeger

2Möglichkeiten für den Einsatz von Bildern in den Sekundarstufen I und II

Bildung durch Bilder – Zur Didaktik und Methodik des bildlichen Denkens

Bernd Rolf und Brigitte Wiesen

Ästhetisch denken lernen – Impulse zu einer philosophisch orientierten Bilddidaktik

Hans-Bernhard Petermann

Die Bedeutung von Bildern für den Philosophie- und Ethikunterricht

Jörg Peters

Bilder im Gespräch – ab Jahrgangsstufe 5

Stefan Maeger

Philosophieren mit Gemälden – Ein Einstieg in Jahrgangsstufe 5

Katrin Seele

Das Eigene in einem Fremden finden – Bildung mit Bildern als hermeneutischer Prozess

Volker Steenblock

Bilder zeigen den ganzen Menschen

Brigitte Wiesen

Bilder des Todes

Hans-Peter Mahnke

Lügende Bilder? Darstellungen, die nicht sein können, mit der Puzzle-Methode erschließen

Andreas Siekmann

Das Philosophieren mit Klassikern beginnen

Frederik Steenblock

Entdeckendes Deuten von komplexen Bildern

Christian Klager

3Möglichkeiten für den Einsatz von Fotografien in den Sekundarstufen I und II

Sechs Ansichten einer Philosophie der Fotografie

Bernd Stiegler

Vor dem Posting – Foto-Kommunikation im Philosophieunterricht

Bodo Kensmann

»Ungehorsames Sehen« – vom Umgang mit Kriegs-, Gräuel- und Leidensbildern. Judith Butlers Ansätze zu einer ethischen Fotografiekunde

Sandra Hesse

Grenzen im Fokus – Analyse und Beurteilung von Pressefotos zu Flucht und Migration nach Europa

Andreas Linder

Und es hat »klick« gemacht – Von der Fotografie zum Schreiben

Christa Runtenberg

»All are unequal!« – Vom toleranten Umgang mit der Intoleranz

Isabelle Guntermann

Fotografien als Denk- und Schreibanlass – Schreiben als Reflexion von Mensch und intelligentem System

Christa Runtenberg

Unser Umgang mit der Umwelt – Der Einsatz von Collagen im Ethikunterricht

Cordula Möller

Auswahlbibliografie

EINFÜHRUNG

Bilddidaktik im Fokus

Martina Peters, Jörg Peters

Die Bedeutung von Bildern

Sortiert man die fachdidaktischen Publikationen im Bereich der Fächergruppe Philosophie/Ethik nach Schwerpunkten und schaut auf die Anzahl der zu den einzelnen Themen veröffentlichten Schriften, dann kristallisiert sich heraus, dass insbesondere drei Gebiete eine überdurchschnittliche Beachtung erfahren. Im diskursiven Bereich ist dies – wie hätte es auch anders sein können – die Frage danach, welche Texte wie und in welchem Zusammenhang im Philosophie- bzw. Ethikunterricht behandelt werden sollen. Bei den präsentativen Medien sind es gleich zwei, die besonders hervorstechen: Neben dem Umgang mit Filmen im Philosophie- und Ethikunterricht nimmt die philosophische bzw. ethische Auseinandersetzung mit Bildern mittlerweile einen der zentralen Plätze in der fachdidaktischen Diskussion ein.

Argumente, die deutlich machen, warum es lohnenswert ist, Bilder im Philosophie- bzw. Ethikunterricht einzusetzen, gibt es inzwischen viele. Das war aber nicht immer so. Noch Mitte der 1990er Jahre galt die Maxime, dass insbesondere der Philosophieunterricht ausschließlich argumentativ zu führen sei, ja dass in Anlehnung an das Hegel’sche Bildungsideal die Philosophie die Anstrengung des Begriffs auf sich zu nehmen habe. Für die Vertreter dieser Auffassung war es ganz klar, dass Bilder, Karikaturen oder gar Comics dem Anspruch des Faches in keiner Weise genügen könnten. Vielmehr, so konstatiert Gabriele Münnix, gab es selbst mit der Einführung des Faches Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen Mitte der 1990er Jahre noch zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer sowie Philosophiedidaktiker, die an der seit dem 19. Jahrhundert gültigen Sichtweise festhielten.1 Und dies, obwohl der Kernlehrplan für alle Schulformen – mit Ausnahme der Primarstufe –, also für Gymnasien, Gesamt-, Real-, Haupt- und Förderschulen (!) in gleicher Weise galt und nicht schülerinnen- und schülerspezifisch differenziert wurde. Die Vertreter der alten Auffassung sahen Bilder als zu »unseriös«2 an, primär aufgrund der Sorge, dass Bilder philosophische Texte ersetzen könnten. Münnix hat daher zu Recht darauf hingewiesen, dass Bilder keinen Ersatz für eine argumentative Auseinandersetzung darstellen, wie man sie in Texten findet, sondern diese unterstützen und bereichern können.

Jene Philosophielehrerinnen und -lehrer, die das Fach Praktische Philosophie aufgebaut haben, waren damals vom Ministerium damit beauftragt, sowohl verpflichtende Unterrichtsinhalte für die Doppeljahrgangsstufen 5/6, 7/8 und 9/10 zu konzipieren als auch angemessene Methoden zusammenzustellen, die sich insbesondere für jüngere Schülerinnen und Schüler eigneten. Weil diese aufgrund ihrer noch auszubauenden kognitiven Fähigkeiten in der Regel mit abstrakten philosophischen Texten überfordert sind, ist eine altersgemäße Aufarbeitung von Unterrichtsmaterial auch heute noch essentiell. Hinzu kommt, dass man für einen modernen Unterricht in den Fächern Praktische Philosophie, Philosophie, Ethik, Werte und Normen, L-E-R oder Philosophieren mit Kindern ein möglichst großes Methoden-Repertoire zur Vermittlung von philosophischen Auffassungen und Positionen sowie in der Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen benötigt. Dazu zählt natürlich auch der Einsatz von Bildern im Philosophie- und Ethikunterricht, sofern die ausgewählten Bilder nicht zu illustrativen Zwecken, sondern zur philosophischen Betätigung genutzt werden. Unterricht allein auf der Auslegung von Texten aufzubauen, gilt mittlerweile als antiquiert und reicht längst nicht mehr aus, wenn man sich als Lehrerin oder Lehrer zum Ziel setzt, möglichst viele Schülerinnen und Schüler auf die Reise durch die zahlreichen Gebiete der Philosophie mitzunehmen.

Darüber hinaus gibt es noch einen dritten Grund für den Einsatz von Bildmaterial, der ausgehend von der Allgemeinen Didaktik mittlerweile auch in der Philosophiedidaktik von Bedeutung ist: Gemeint ist die Frage nach der Beherrschung der deutschen Sprache, die die Grundlage für die Vermittlung der durch die jeweiligen Kernlehrpläne bzw. Richtlinien vorgegebenen Inhalte bildet. Für die Fächergruppe Philosophie/Ethik ergibt sich daher das Problem, wie Schülerinnen und Schülern philosophische Gedanken nähergebracht werden können, wenn diese die deutsche Sprache (noch) nicht oder nur rudimentär sprechen – man denke dabei etwa an Geflüchtete oder auch an Kinder bzw. Jugendliche, die aus sogenannten bildungsfernen Familien stammen. In diesen und vielen weiteren Fällen können Bilder oder sogar Bilderbücher gegebenenfalls helfen, vorhandene Sprachbarrieren (zumindest teilweise) zu überwinden.

Diese kurzen Ausführungen deuten schon an, dass sich zahlreiche Möglichkeiten für den Einsatz von Bildern im Philosophie- und Ethikunterricht anbieten. Bilder dienen keinesfalls mehr als »Türöffner«3, wie dies der Fall war, als sie in den Philosophie- bzw. Ethikunterricht einzogen. Der Begriff »Türöffner« suggeriert nämlich, wie Stefan Maeger betont, »dass hinter dieser Tür der eigentliche Raum des Philosophierens«4 liegt und das tatsächliche Philosophieren somit erst zu einem späteren Zeitpunkt beginnt. Dass dies nicht der Fall sein muss, wird noch anhand von Beispielen zu zeigen sein.

Bevor dieser Aspekt aber näher beleuchtet wird, sei noch auf Folgendes verwiesen: Der Kommunikationswissenschaftler Siegfried Frey konstatierte bereits 1999 in Bezug auf Film und Berichterstattung, dass wir »ein halbes Jahrtausend nach Gutenberg […] am Vorabend einer Entwicklung [stehen], die man als visuelle Zeitwende bezeichnen könne. In der kurzen Zeitspanne, seit die Bilder laufen lernten, haben sie – nicht zuletzt bedingt durch die explosionsartige Entwicklung des Fernsehens – eine Autorität über die Vorstellungskraft gewonnen, die das gedruckte Wort gestern hatte und das gesprochene davor. Der technologische Fortschritt im Bereich der Bewegtbildkommunikation wird diesen Trend noch so sehr verstärken, dass die Balance zwischen Auge und Ohr im Kommunikationsprozess sich immer mehr in Richtung auf das Visuelle verschiebt.«5 Frey hatte mit seiner Prognose insofern recht, als er erkannte, dass das Visuelle immer mehr das Leben der Menschen bestimmen werde. Man möchte seine Ausführungen aber um eine von ihm nicht berücksichtigte Facette ergänzen, nämlich dahingehend, dass nicht nur Film und Berichterstattung, also das von ihm hervorgehobene bewegte Bild, die Kommunikation ins Visuelle verschoben haben, sondern auch das nicht bewegte Bild seinen Beitrag dazu leistet, indem es sich mittlerweile in unvorstellbaren Größen unaufhaltsam im Internet verbreitet. So werden auf Facebook schätzungsweise 259 Millionen Bilder bzw. Fotos täglich hochgeladen.6 Nach derzeitigem Stand erweitert sich die Internetgalerie um weitere 57.000 Bilder pro Sekunde oder knapp 5,2 Milliarden Bilder täglich.7

Diese geschätzten Angaben belegen empirisch, dass das Visuelle seinen Siegeszug längst angetreten hat, es daher mittlerweile eine unausweichliche Rolle in unserem Leben einnimmt und somit eine immens große Bedeutung im täglichen Umgang erhält. Auch aufgrund dieser Ausgangslage ist es nahezu unmöglich, Bilder in einem modernen Philosophie- oder Ethikunterricht nicht zu berücksichtigen.

Einsatzmöglichkeiten von Bildern

Die Einsatzmöglichkeiten von Bildern sind vielfältig. Natürlich kann man sie verwenden, um Schülerinnen und Schüler zum Thema der Stunde hinzuführen oder um ein philosophisches bzw. ethisches Problem zu initiieren, mit dem sich die Lernenden in der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit auseinandersetzen sollen. Aber Bilder können viel mehr.

Optischen Täuschungen beispielsweise eignen sich ideal, um in einen philosophischen Diskurs einzutreten. Die Bilder des niederländischen Künstlers und Grafikers Maurits Cornelis Escher etwa gaukeln dem Gehirn etwas vor, was der physikalischen Realität widerspricht. Auch Friedhelm Decher stellt heraus, dass es sich bei Eschers unmöglichen Objekten um »zweidimensionale Projektionen von dreidimensionalen Gegenständen [handelt], die im dreidimensionalen Raum nicht existieren können«.8 Mit Eschers Bildern wird man unweigerlich zu Fragen wie »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?« oder »Wie kann der Mensch überhaupt zu Erkenntnissen gelangen, wenn ihn schon die Sinne täuschen?« geführt und somit auf das Gebiet der Erkenntnistheorie.9

Ein Beispiel dafür, wie man durch ein Bild zu moralphilosophischen Überlegungen gelangt, stellt Der Träumer von Heinrich Maria Davringhausen dar: Sein Bild zeichnet sich durch eine kühle Sachlichkeit und eine genau beobachtete Realität aus. Dabei benutzt er das Mittel der perspektivischen Verzerrung, um eine bestimmte, »merkwürdige« Raumpsychologie zu erreichen. Auf diese Weise gelingt es, den Träumer in den Mittelpunkt des Bildes zu stellen; durch die rote Farbe drängt er sich der Betrachterin bzw. dem Betrachter geradezu auf. Seine verkrampfte Körperhaltung und der starre Gesichtsausdruck spiegeln seine innere Verfassung wider. Um ihn herum sind Requisiten gruppiert, die auf Szenen seiner Geschichte verweisen. Unter diesen Gegenständen fällt insbesondere das links auf dem Tisch liegende blutige Rasiermesser auf. Es verweist auf die im Hintergrund auf dem Bett liegende Tote. Die romantische Geschichte der Beziehung zwischen dem Träumer und der Toten wird in einer Gedankenblase am oberen Bildrand beschrieben. Das Bild lässt sich in zwei Hälften aufteilen, die antithetisch gestaltet sind. Die rechte Hälfte, durch räumliche Weite gekennzeichnet, stellt den Tag, die Liebe, das Leben dar und die linke Hälfte, Gefühle von Enge und Angst hervorrufend, die Nacht, den Hass, den Tod. Man könnte auch sagen: Die beiden Bildhälften verhalten sich zueinander wie Traum und Albtraum.

Heinrich Maria Davringhausen: Der Träumer II, 1919, Öl auf Leinwand, 119 × 121 cm

Das Bild lässt sich im Unterricht für eine Reflexion über Verantwortung, Gewissen und Schuld verwenden. Bezogen auf die Darstellung könnte man rekonstruieren, was vorgefallen ist und wie der Täter sich fühlt: Hat er Gewissensbisse? Fühlt er sich schuldig? Man könnte überlegen, was weiterhin geschehen könnte: Wird der Täter beschuldigt und vor Gericht gestellt? Wird er für seine Tat zur Rechenschaft gezogen werden? Das Bild bietet also einen Anlass, allgemein über die Phänomene von Verantwortung, Gewissen und Schuld nachzudenken.10

Zum Einsatz von Bildern im Philosophie- oder Ethikunterricht liegen zahlreiche Ausführungen vor, sowohl in Bezug auf die didaktische Begründung als auch im Hinblick auf die unterrichtliche Praxis. Dies gilt nicht in gleicher Weise für die Fotografie. Bernd Stiegler beginnt seinen Aufsatz Sechs Ansichten einer Philosophie der Fotografie mit den Worten: »Die Philosophie der Fotografie steckt noch in den Kinderschuhen.«11 Diese Feststellung gilt nicht nur für die Philosophie der Fotografie, sondern auch für den Umgang mit Fotografien im Philosophie- bzw. Ethikunterricht.

Fotografien im Unterricht

Die Fotografie führt in der Didaktik der Philosophie und Ethik bislang nur ein Randdasein, ja, sie ist oft sogar unsichtbar und steht eindeutig im Schatten jener Bilder, die im Bereich der Kunst der Malerei zuzurechnen sind. Daher lassen sich auch nur vereinzelte Beiträge, die Fotografien zu Unterrichtsgegenständen machen, in den einschlägigen fachdidaktischen Zeitschriften Ethik & Unterricht, Praxis Philosophie und Ethik sowie Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik nachweisen, wenngleich es 2011 schon einmal ein Themenheft der Zeitschrift Ethik & Unterricht zur Fotografie gegeben hat.12

In den philosophiedidaktischen Publikationen, in denen Fotografien als Unterrichtsgegenstände behandelt werden, konzentriert sich das Spektrum – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf die Themengebiete »Gewalt«, »Krieg« und »Tod«, wobei diese Aspekte auch gerne miteinander kombiniert werden. Die Konzentration auf diese drei Themen ist insofern bedauerlich, als dass Fotografien – wie viele andere Medien – prädestiniert sind, in philosophische Fragestellungen einzuführen, Probleme der Philosophie oder Ethik konkret(er) werden zu lassen oder schließlich selbst zum Gegenstand des Philosophierens zu werden.

Fotografien sind heute ein selbstverständlicher Teil der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler und nehmen dementsprechend auch Einfluss auf ihr Leben. Weil das Medium Fotografie populär ist und einen hohen Stellenwert bei Schülerinnen und Schülern genießt, wäre es allein schon aus motivationalen Gründen sinnvoll, es in Unterrichtsreihen einzubinden. Man kann Fotos z. B. in einer Unterrichtsreihe zu »Medienwelten« detailliert Aufmerksamkeit schenken, weil sie unter anderem

•aus einer bestimmten Perspektive aufgenommen sind und daher das Denken der Betrachterinnen und Betrachter beeinflussen,

•nur einen winzigen Ausschnitt des Gesamten zeigen und dementsprechend das Augenmerk auf etwas Spezielles lenken,

•aus künstlerischen Gründen bearbeitet worden sind, damit bestimmte Effekte zum Tragen kommen, oder

•so umgestaltet worden sind, dass mit ihnen eine bewusste Täuschung oder Manipulation einhergeht.

Will man die angeführten Aspekte mit Beispielen belegen, so kann man in Bezug auf den ersten Punkt Altbundeskanzler Gerhard Schröder anführen, der Fotografinnen und Fotografen sowie Kameraleute während seiner Amtszeit immer wieder anwies, ihn nur zu fotografieren bzw. zu filmen, wenn er eine Treppe hinaufging. Diese Forderung kam nicht von ungefähr. Schröder war sich nämlich der generellen Wichtigkeit von Körpersprache und insbesondere seiner eigenen sehr bewusst: Dem menschlichen Gehirn erscheint das körpersprachlich zum Ausdruck Gebrachte im Zweifel immer glaubwürdiger als das sprachlich Vermittelte. Ein Statement wie: »Folgt mir! Mit mir geht es aufwärts!« wird immer unglaubwürdig bleiben, wenn man es mit kraftlos herabhängenden Armen, erschöpftem Gesichtsausdruck und zögerlichem Herabschreiten einer Treppe äußert. Die gleiche Aussage, verbunden mit kräftigen, zügigen Schritten aufwärts gehend, einem aufgeschlossenen, aufnahmebereiten Blick und einer nach oben gerichteten Geste, wirkt dagegen stimmig mit dem Gesagten.13

Zum zweiten Punkt lässt sich Folgendes anmerken: Eine Fotografie zeigt grundsätzlich immer nur einen Ausschnitt, selbst wenn mit speziellen Objektiven ein größerer Raum eingefangen werden kann. Was man aber meistens nicht auf einem Foto zu sehen bekommt, ist das, was sich seitlich und hinter der Fotografin bzw. dem Fotografen befindet. Ausnahmen bilden vielleicht Panorama- und 360-Grad-Bilder, die aber auch nur begrenzt das mit dem Auge Gesehene wiedergeben können.

Die Bearbeitung von Fotos, die im dritten Punkt angesprochen wird, nutzen heute neben Berufsfotografinnen und -fotografen auch viele Privatleute, wenn sie etwa Bildbearbeitungsprogramme zur Optimierung ihrer persönlichen Fotos einsetzen. Als Stilmittel besonders populär gemacht hat die Fotobearbeitung der in Leipzig geborene Fotograf Andreas Gursky – auch wenn er bei weitem nicht der erste war, der diese Technik für sich entdeckt hat. Gursky selbst bezeichnet sich als »Maler-Fotograf«14, da er nicht nur fotografiert, sondern all seine Bilder digital in seinem Düsseldorfer Atelier bearbeitet. Nach seinen eigenen Angaben ist diese Arbeit aufwändig und mühsam. Daher habe er beispielsweise in seine neun Bilder umfassende Bangkok-Serie (2011) mehr als eineinhalb Jahre Arbeit investieren müssen.15

Andreas Gursky: Paris, Montparnasse, Paris 1993, Fotografie, 206 × 406 cm

Der Aufwand, den Gursky betreibt, belegt z. B. sein Bild Paris, Montparnasse (1993). Durch seine Bearbeitung gelingt es ihm, Details in Wohnungen erkennen zu lassen. Gursky gibt auf diese Weise der Betrachterin bzw. dem Betrachter seines Bildes die Möglichkeit – ähnlich wie es Hitchcock in seinem Film Das Fenster zum Hof (USA 1954) vormacht, als der Foto-Reporter L. B. Jeffries seine Nachbarn im gegenüberliegenden Apartmentblock beobachtet –, in Wohnungen zu spähen, so zumindest das vermeintliche Interieur kennenzulernen und Einblicke in Privatsphären zu erlangen. Kann dieses Bild beispielsweise in einer Unterrichtsreihe zum Thema »Der Mensch in der Gemeinschaft« eingesetzt werden, so passt Gurskys Fotografie 99 Cent etwa zu einer Reihe über »Konsum« oder »Kapitalismus«.

In diesem Bild geht es dem Düsseldorfer Künstler um Konsumwaren, vielleicht sogar um Konsumwahn16:

Andreas Gursky: 99 Cent, 1999, Fotografie, 207 × 336,9 cm

»Im Vordergrund sind etwa Kekse und Süßigkeiten zu sehen, jedenfalls Gegenstände, die in der gezeigten Häufung ungesund sind. In großen Mengen, auf deren Verkauf der Supermarkt ja gerade zielt, verursachen sie Schäden an der Gesundheit des Käufers und bewirken dennoch den Geschäftserfolg des Ladenbesitzers. In dieser Welt verhält sich also der Kunde letztlich selbstschädigend und hat zugleich die Illusion, sich mit dem Einkauf etwas Gutes zu tun. Er hat den Eindruck, für einen Dollar kann man sich alles kaufen. Dies ist sozusagen das Versprechen des Schlaraffenlandes durch den Kapitalismus. Dieses Schlaraffenland hat aber eine beängstigende Kehrseite. Der im Bild dargestellte Konsumrausch führt zur Reduktion des Individuums, der Mensch wird zum Accessoire einer […] Warenwelt. Das Bild zeigt eine Unmenge von angebotenen Waren; die Menge ist erschlagend und nicht zu überblicken. Das Auge hat nichts zum Festhalten. Die gezeigte Warenwelt wird geradezu als ein wogendes Meer gezeigt, in der der Mensch nur noch aus den Wellentälern herausschaut und zu ertrinken droht. Die in der Fotografie 99 Cent gezeigte Welt ist eine sehr nüchterne Realität, in der die Waren den Menschen erdrücken und wenig Platz für Individualität lassen. Es gibt keine Geheimnisse, keine Abenteuer, keine Helden, keine echten Herausforderungen des Menschen. Seine Vitalfunktion beschränkt sich auf das Einpacken und Bezahlen. Offenbar hat Gursky mit der Fotografie den Nerv der Zeit getroffen, denn er zeigt und verdichtet die gesellschaftliche Realität in nur einem Foto. […] Ob Gursky die postmoderne Warenwelt mit dem Bild kritisieren oder nur widerspiegeln will, bleibt [allerdings] offen […].«17

Entstammt die computergesteuerte Veränderung, die Manipulation, die Gursky vornimmt, aus rein künstlerischer Absicht, so wird die in Punkt vier angesprochene Umgestaltung eines Bildes zur absichtlichen Täuschung seiner Betrachterin bzw. seines Betrachters vorgenommen. Handelt es sich bei diesen bewussten Täuschungen bzw. Fälschungen um Fotografien, so wird mittlerweile häufig künstliche Intelligenz (KI) zur deren Herstellung eingesetzt. Aufgrund der Nutzung von KI ist es äußerst schwierig zu erkennen, ob es sich um ein sogenanntes Deepfake18 handelt. Das derzeit wohl bekannteste Beispiel für ein Deepfake dürfte die Darstellung von Papst Franziskus in einer hippen weißen, ihm viel zu großen Daunenjacke sein. Der Umgang mit Deepfakes (und Fake News) könnte zum Beispiel genauso in einer Unterrichtsreihe zu »Virtualität und Schein« besprochen werden wie in einer Unterrichtsreihe mit dem Titel »Medienwelten«.

KI-generiertes Bild: Papst Franziskus in weißer Daunenjacke, 2023

Ein Foto bildet also keineswegs, wie oft angenommen, die Wirklichkeit ab, sondern ist – sofern es sich nicht um eine durch künstliche Intelligenz generierte Abbildung handelt – eine subjektive Momentaufnahme eines Menschen, der in der Regel mit seinem (bearbeiteten) Bild einen bestimmten Eindruck erwecken will.

Kategorien der Fotografie

Schaut man auf die nahezu siebzig Kategorien, die die Fotografie derzeit ohne ihre Subkategorien umfasst, bieten sich Bilder aus unterschiedlichsten Sparten, z. B. aus Landschafts-, Mode-, Porträt-, Sport-, Umwelt-, Werbe- oder sozialdokumentarische Fotografie, für den unterrichtlichen Einsatz an. Eine für den Philosophie- bzw. Ethikunterricht wichtige Kategorie stellt die Dokumentarfotografie dar, die es sich insbesondere zur Aufgabe gemacht hat, soziale Missstände aufzuzeigen und diese anhand von mehreren Fotografien in einer Fotoserie anzuprangern. Dabei unterliegt dieses Genre allerdings limitierten künstlerischen Möglichkeiten. Dokumentarfotografinnen und -fotografen ist sowohl Natürlichkeit als auch eine möglichst große Nähe zur Realität wichtig, weil ihre Bilder so etwas wie eine beweisende Urkundedarstellen sollen. Der aus dem Lateinischen stammende Begriff »documentum«, der etwa »Beispiel«, »Beweis« oder »Zeugnis« bedeutet, verweist nämlich genau auf die in ihm liegende Beweiskraft. Aufgrund ihres politischen Hintergrundes erhebt die Dokumentarfotografie zudem den Anspruch, Einfluss auf die Politik nehmen zu können.

Als Beispiel für eine Dokumentarfotografie zum Thema »Menschenrechte« sei hier das Bild der afroamerikanischen Schülerin Ruby Bridges angeführt. Das Foto zeigt, wie sie am 14. November 1960 als erste Schwarze von U.S. Marshals begleitet wird, um an der William Frantz Elementary School, einer Schule für Weiße in New Orleans, am Unterricht teilnehmen zu dürfen. Der Staat Louisiana hatte aufgrund einer neuen Rechtslage die Rassensegregation an Grundschulen aufgehoben.

Angestellter des Justizministeriums der USA (DOJ): U.S. Marshals begleiten Ruby Bridges auf dem Schulweg, New Orleans, Foto, (wahrscheinlich) 14. November 1960

Bevor die Menschenrechte selbst thematisiert und auf den Fall Ruby Bridges angewandt werden, kann in Zusammenhang mit dem Foto die Frage gestellt werden, ob (Menschen-)Rechte für alle oder nur eine bestimmte Gruppe von Menschen gelten.

Ein anderes Themenfeld, in dem Dokumentarfotografien verwendet werden können, ist die »Arbeits- und Wirtschaftswelt«. Als Beispiel sei eine Aufnahme aus dem Jahre 1911 genannt, die die entfremdete Arbeit zeigt: Sie stellt einen Ausschnitt der Fließbandarbeit dar, wie sie in dem Werk des Automobilherstellers Henry Ford verrichtet wurde. Man kann sehen, wie etliche Arbeiter damit beschäftigt sind, den jeweils einen speziellen Handgriff auszuführen, der geleistet werden muss, damit die Arbeit am Band nicht stillsteht und die Produktion nicht ins Stocken gerät. Die meisten Gesichter sind hinter Kappen oder Mützen versteckt – und bei den wenigen, bei denen man doch einen Teil des Gesichts erblicken kann, hat man den Eindruck, als seien sie angespannt (um ja keinen Fehler zu begehen) und mit ihrer Arbeit nicht im Einklang.

Unbekannt: Fließbandarbeit in den Ford-Werken, Detroit, Foto, 1911

Modern Times (USA 1936, Regie: Charlie Chaplin), Filmstill

Lewis Hines: Power house mechanic working on steam pump, New York, Foto, 1920

Die Arbeiter am Fließband verrichten ihre Arbeit nur deshalb, weil sie das durch diese Tätigkeit verdiente Geld benötigen, um ihre eigene und gegebenenfalls die physische Existenz ihrer Familien zu gewährleisten. Da sie selbst wie Maschinen funktionieren müssen, können sie sich mit der von ihnen geleisteten Arbeit auch nicht (mehr) identifizieren, nicht den Sinn ihrer Arbeit erkennen. Sie sind ihrer Arbeit entfremdet.

Die Fließbandarbeit kritisierte unter anderem Charlie Chaplin in seinem Film Modern Times (USA 1936). Er zeigt auf amüsante Weise, was passiert, wenn ein »Rädchen« bzw. ein Arbeiter am Fließband nicht die erwartete Leistung erbringt und wie einfach ein Arbeiter letztlich vom Räderwerk der Maschinerie verschluckt werden kann.

Aus den angeführten Gründen bieten sich die Fotografie Fließbandarbeit in den Ford-Werken wie auch das Still aus Modern Times an, um im Philosophie- oder Ethikunterricht über entfremdete und nicht entfremdete Arbeit nachzudenken.

Ein Gegenstück zu beiden Bildern stellt die Fotografie Power house mechanic working on steam pump von Lewis W. Hines dar. Der Fotograf schafft ein fesselndes Bild, das eine mögliche Beziehung des Menschen zur Technik darstellt, indem er den Körper des Mannes mit der Struktur der Maschine verschmelzen lässt: Der gebeugte Rücken des Arbeiters spiegelt genau die Wölbung der von ihm zu befestigenden Metallplatte wider. Gleichzeitig ist er bemüht, eine Schraube an der Maschine mit einem gigantischen Maulschlüssel zu fixieren. Mensch und Maschine scheinen geradezu eine Symbiose einzugehen.

Hines’ Fotografie eignet sich, um etwa Fragen innerhalb einer Unterrichtsreihe »Arbeits- und Wirtschaftswelt« zu entwickeln oder um in einer Unterrichtsreihe »Technik – Nutzen und Risiko« die angespannte Beziehung des Menschen zur Technik zu beleuchten. In einer solchen Unterrichtsreihe könnten etwa folgende Fragen behandelt werden: Wie wichtig ist Technik für das menschliche Leben? Ist der Mensch Herr über die Maschine oder bestimmt die Maschine das Tun desjenigen, der sie bedient? Inwieweit bestimmen Maschinen das menschliche Leben? Wo kann man eine Grenze zwischen sich selbst und der eigenen Arbeit ziehen? Ist der Mensch überhaupt noch in der Lage, sich von Maschinen zu entkoppeln?

Ein letztes Beispiel soll deutlich machen, dass Fotografien mit nahezu allen philosophischen und ethischen Fragen Berührungspunkte aufweisen. Dementsprechend können sie auch in einer Unterrichteinheit zum Thema »Der Mensch in der Gemeinschaft« ihren Platz finden.

Das Foto des aus Sri Lanka stammenden Fotografen Dominic Sansoni zeigt eine Frau, die sich (wahrscheinlich) in einer einfach eingerichteten Gaststätte aufhält. Sie sitzt an einem Tisch, auf dem sie ihre beiden Ellenbogen stützt und eine Tasse mit beiden Händen in Kinnhöhe festhält. Auf der anderen Seite des Tisches stehen zwei Stühle; der hintere direkt am Tisch, der vordere etwas vom Tisch entrückt. Dass dort eventuell bis vor Kurzem eine zweite Person gesessen haben könnte, lässt sich nicht verifizieren, da keine Spuren von ihr auf dem Tisch in Form einer Tasse, eines Glases oder eines Gedecks vorzufinden sind. Die Frau hat sich so hingesetzt, dass sie – wenn sie wollte – aus einem großen Fenster schauen könnte. Tatsächlich ist ihr Blick aber auf die Tasse in ihren Händen gerichtet und sie scheint in Gedanken versunken zu sein. Geht man von der spärlichen Einrichtung, dem Gesichtsausdruck der Frau sowie der düsteren unteren Hälfte und der unruhig strukturierten oberen Hälfte der Wand aus, könnte es möglich sein, dass die Frau unangenehme Gedanken beschäftigen. Und so stellt sich fast automatisch die Frage ein, wie es zu ihrer derzeitigen Verfassung gekommen ist: Ist die Frau einsam? Was bedeutet Einsamkeit eigentlich und ist sie positiv oder negativ zu bewerten? Wurde die Frau vielleicht verlassen oder wartet sie auf jemanden? Welchen Platz nimmt sie in der Gesellschaft ein? Ist sie eventuell eine Außenseiterin? Falls ja: Wie könnte sie wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben?

Dominic Sansoni: Ohne Titel, England, Foto, ca. 1976–1979

Diese oder ähnliche Fragen führen dazu, dass innerhalb einer Unterrichtsreihe zum Thema »Der Mensch in der Gesellschaft« die allgemeine Bedeutung von Gesellschaft ebenso thematisiert werden kann wie die Fragen, warum Partizipation an Gesellschaft für den Menschen wichtig ist, warum er Gesellschaft benötigt und in der Regel nicht außerhalb von ihr stehen möchte.

Es ließen sich noch zahlreiche weitere geeignete Beispiele für den gewinnbringenden Einsatz von Fotografien anführen. Die vorgestellten Aufnahmen sollten allerdings genügen, um zu zeigen, welchen Wert Fotografien im Philosophie- bzw. Ethikunterricht haben können. Tatsache ist leider auch, dass bis heute keine Didaktik den Einsatz von Fotografien im Philosophie- bzw. Ethikunterricht legitimiert. Es wäre vielleicht an der Zeit, eine solche zu schreiben.

Zum Aufbau des Buches

Anders als in den bisher in dieser Reihe veröffentlichten Büchern konzentriert sich dieser Band auf zwei Themenbereiche: Der erste Teil, in dem gemalte Bilder im Zentrum des Interesses stehen, ist wie gewohnt so aufgebaut, dass zunächst unterschiedliche theoretische Ansätze zum Einsatz von Bildern im Philosophie- und Ethikunterricht präsentiert werden. Im Anschluss daran wird im Praxisteil anhand von Unterrichtsstunden und -reihen gezeigt, welche vielfältigen Möglichkeiten sich anbieten, auf der Grundlage von Bildern zu philosophieren.

Der zweite Teil des Buches ist den Fotografien gewidmet. Ihm fehlt ein Theorieteil, da bisher keine entsprechende Didaktik vorliegt. Aus diesem Grund konnten nur Beiträge aufgenommen werden, die Praxisbeispiele für beide Sekundarstufen anbieten.

Wie gewohnt schließt auch dieser Band mit einer umfangreichen Auswahlbibliografie ab.

Bildquellen

Abb. 1: Heinrich Maria Davringhausen: Der Träumer II, Gemälde, 1919, auf: https://www.flickr.com/photos/hen-magonza/31929953841 (Stand: 01.11.2023).

Abb. 2: Gursky, Andreas: Paris, Montparnasse, Foto, 1993, auf: https://www.andreasgursky.com/de/works/1993/paris-montparnasse (Stand: 25.09.2023).

Abb. 3: Gursky, Andreas: 99 Cent, Foto, 1999, auf: https://www.artnet.de/k%C3%BCnstler/andreas-gursky/99-cent-a-zsC8vavoDsXWQ3cMsWMADA2 (Stand: 25.09.2023).

Abb. 4: Deep Learning: Papst Franziskus in weißer Daunenjacke, 2023, Foto, auf: https://www.ardmediathek.de/video/aktuelle-stunde/umgang-mit-deep-fake/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFn-LTM4NGI3OTMxLTEzYWMtNGVlMi05YmQwLWQyMzQxMmU1MmE2ZA (Stand: 25.09.2023).

Abb. 5: Angestellter des Justizministeriums der USA (DOJ): U.S. Marshals begleiten Ruby Bridges auf dem Schulweg, New Orleans, Foto, 1960, auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Ruby_Bridges#/media/Datei:US_Marshals_with_Young_Ruby_Bridges_on_School_Steps.jpg (Stand: 25.09.2023).

Abb. 6: Unbekannt: Fließbandarbeit in den Ford Werken, Detroit, Foto, 1911, auf: https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/wirtschaft/industrialisierung_in_deutschland/pwiedasfliessbandeineerfolgsgeschichte100.html (Stand: 01.10.2023).

Abb. 7: Modern Times (USA 1936, Regie: Charlie Chaplin), Filmstill, Zeit: 00:00:00, auf: https://babylonberlin.eu/film/3833-modern-times (Stand: 01.10.2023).

Abb. 8: Hines, Lewis: Power house mechanic working on steam pump, New York, Foto, 1920, auf: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Lewis_Hine_Power_house_mechanic_working_on_steam_pump.jpg (Stand: 01.10.2023).

Abb. 9: Sansoni, Dominic: Untitled, England, Foto, ca. 1976–1979, in: Maley, Alan; Duff, Alan; Grellet, Franζoise: The Mind’s Eye. Using pictures creatively in language learning, Student’s Book, Cambridge University Press, Cambridge 111992, S. 30.

1Vgl. Münnix. Gabriele: »Zum Philosophieren mit Bildern – Versuch einer didaktischen Begründung«, in diesem Band, S. 67–89: S. 67.

2Ebd.

3Maeger, Stefan: »Der Reiz der Bilder. Einsatzmöglichkeiten von Bildern im Philosophie- und Ethikunterricht«, in: Ethik & Unterricht 11, 2000, Heft 3: Methoden, S. 35–41: S. 36.

4Ebd.

5Frey, Siegfried: Die Macht des Bildes. Der Einfluß der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik, Verlag Hans Huber, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 1999, S. 9.

6Vgl. Edyth: Wie viele Fotos werden weltweit täglich gemacht?, Eintrag vom 18. Mai 2023, auf: https://datei.wiki/tech/wie-viele-fotos-werden-weltweit-taeglich-gemacht/ (Stand: 22.09.2023).

7Broz, Matic: How many pictures are there (2023): Statistics, trends and forecasts, Eintrag vom 25. August 2023, auf: https://photutorial.com/photos-statistics/ (22.09.2023).

8Decher, Friedhelm: Die rosarote Brille. Warum unsere Wahrnehmung von der Welt trügt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010, S. 23.

9Unter den zahlreichen Publikationen zu Eschers künstlerischem Schaffen enthält unter anderem folgendes Buch zahlreiche Bilder, mit denen erkenntnistheoretische Fragen thematisert werden können: Escher, M.C.: Graphiken und Zeichnungen, Taschen Verlag, Köln 2002.

10Vgl. Peters, Jörg; Rolf, Bernd: Ethik im Bild. Folienmappe zu Ethik aktuell, C. C. Buchner Verlag, Bamberg 2003, S. 3.

11Stiegler, Bernd: »Sechs Ansichten einer Philosophie der Fotografie«, in: Ethik & Unterricht 22, 2011, Heft 1: Fotografie, S. 6–10: S. 5.

12Vgl. Ethik & Unterricht 22, 2011, Heft 1: Fotografie.

13Vgl. Verra, Stefan: Gerhard Schröder, Eintrag vom 25. Juni 2019, auf: https://www.facebook.com/photo/?fbid=2368097803283854&set=a.304897219603933 (Stand: 23.09.2023).

14Söntgen, Beate: »Am Rande des Ereignisses. Das Nachleben des 19. Jahrhunderts in Andreas Gurskys Serie F1 Boxenstopp«, in: Kunstmuseum Basel: Andreas Gursky, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2007, S. 49–68: 50; Gurskys Selbstverständnis als Maler-Fotograf tritt seit 1992 noch deutlicher hervor: Seitdem operiert er mit digitalen Bildern, die er offenkundig, ja nahezu demonstrativ bearbeitet.

15dpa: Digital bearbeitete Fotokunst. Andreas Gursky stellt im Museum Kunstpalast in Düsseldorf aus, Eintrag vom 15. September 2012, auf: https://artsation.com/journal/editorial/andeas-gursky-kunstpalast (Stand: 23.09.2023).

16Auf den Konsumwahn, der durch 99 Cent zum Ausdruck gebracht wird, verweist unter anderem Schmitz, Rudolf: »›Nothing over 99 Cent ever‹ oder: Die Warengesellschaft als göttliche Komödie«, in: Beil, Ralf; Feßel, Sonja (Hrsg.): Andreas Gursky – Architektur, Mathildenhöhe, Darmstadt und Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008, S. 50–53: S. 52, wenn er auf die Stapelung von Süßwaren aufmerksam macht: »Es sind Dinge, die auf Verzehr dringen, auf die direkte Form der Komsumtion: aufreißen, in den Mund schieben, zerbeißen, kauen, hinunterschlucken.«

17Henry: Bildkunst als soziologisches Meisterwerk – Die Fotografie von Andreas Gursky »99 Cent. 1999«, Eintrag vom 28. Dezember 20214, auf: http://choland.blogspot.com/2014/12/bildbeschreibung-der-fotografie-von.html (Stand: 23.09.2023).

18Bei dem Wort Deepfake handelt es sich um ein Kofferwort, das sich aus den Begriffen deep learning, engl. für mehrschichtiges oder tieferes Lernen, und fake, engl. für Fälschung, zusammensetzt und realistische Medieninhalte meint, die mithilfe künstlicher Intelligenz verfälscht worden sind.

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WIE BILDER UND FOTOGRAFIEN IM PHILOSOPHIE- UND ETHIKUNTERRICHT EINGESETZT WERDEN KÖNNEN

Das Spektrum der Bilder

Oliver R. Scholz

Menschen kennzeichnet es – neben manch anderem –, dass sie mit Bildern umgehen können, das heißt im Einzelnen: Bilder herstellen, mit Bildern etwas darstellen und ausdrücken können, dass sie differenzierte Oberflächen als Bilder sehen, behandeln und verstehen können.

Die Anfänge solchen Bildgebrauchs reichen bis in Zeiten zurück, die im Dunkel der Vergangenheit verschwinden. Erhalten sind uns Höhlenmalereien und Felszeichnungen aus dem Paläolithikum und Neolithikum. Danach finden sich Bilder in allen frühen Hochkulturen; und trotz wiederholter Bilderstreite und Bilderverbote ließen sie sich nicht mehr verdrängen. Nach und nach breiteten sie sich über den gesamten Globus aus. Menschliche Lebensformen ohne Bilder scheint es nicht zu geben; aber die Bilder und der Umgang mit ihnen können sich von Lebensform zu Lebensform unterscheiden. Jede Kultur bildet ihre besondere Bildkultur aus. Heute sind Bilder allgegenwärtig. längst schon brauchen wir nicht mehr in Höhlen oder Katakomben hinabzusteigen, in Kirchen und Paläste, Museen oder Galerien zu pilgern, um auf bildhafte Darstellungen zu stoßen. Alle öffentlichen und privaten Lebensräume – ob Alltag, Wissenschaft, Kunst oder Religion, ob Arbeit oder Freizeit – sind von Bildern durchsetzt und geprägt. In vielfältigen Zusammenhängen sind wir darauf angewiesen, mit Illustrationen, Piktogrammen, Infografiken, Fotografien, Filmaufnahmen, Fernsehbildern und anderen bildhaften Darstellungen umzugehen. Die Unfähigkeit, mit Bildern verstehend umzugehen, stellt in unseren bildgeprägten Kulturen ein ebenso großes Hindernis dar wie die Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben. Obwohl diese Problemlage mehr und mehr ins allgemeine Bewusstsein rückt, steht der viel beschrieenen Bilderflut und ihrer wachsenden Macht noch immer eine beträchtliche praktische und theoretische Inkompetenz gegenüber. Längst fällig ist eine Aufklärung über Bilder.

Was ist ein Bild?

Diese Aufklärung wird natürlicherweise von der Frage »Was ist ein Bild?« ihren Ausgang nehmen. Sie gehört zu den ältesten, aber auch zu den am wenigsten geklärten. Angesichts der großen politischen, religiösen und kulturellen Bedeutung von Bildern war sie seit Tausenden von Jahren unabweislich.

Die vermeintliche Klarheit und Eindeutigkeit der Frage »Was ist ein Bild?« und vor allem die Dominanz einer unzulänglichen »offiziellen Lehre«, der Ähnlichkeitsauffassung des Bildes (in allen ihren historischen Spielarten)1, haben eine adäquate Vorstellung von der Komplexität des Bildbegriffs und damit das tiefere Eindringen in viele Besonderheiten von Bildern und Bildsystemen lange Zeit behindert.

Wort und Begriff

Bevor wir auf die Frage »Was ist ein Bild?« zurückkommen, müssen wir uns darauf besinnen, in welchem Sinne das Wort »Bild« hier zu verstehen ist, denn es ist – wie die meisten Wörter – vieldeutig. Werfen wir einen Blick auf die Hauptbedeutungen2:

a)Der Terminus »Bild« und seine Entsprechungen in anderen Sprachen bezeichnen primär künstliche bildhafte Darstellungen wie Gemälde, Zeichnungen und verwandte Artefakte (wie Kupferstiche, Holzschnitte, Fotografien usw.). Als eminenter Fall gilt das künstlerisch gestaltete Bild. Die große Masse der Bilder stand jedoch seit jeher in außerkünstlerischen Verwendungszusammenhängen.

b)Neben diesen künstlichen Bildern kannte man von alters her sogenannte natürliche Bilder, die ohne menschliches Hinzutun zustande kommen. Dazu zählte man insbesondere Spiegelungen, Schatten und Abdrücke. Heute ist zu fragen, ob auch automatisch erzeugte technische Bilder in diese Rubrik fallen.

c)Auch innere Bilder, Bilder im Geiste oder in der Seele, wurden früh postuliert, sei es um die Sinneswahrnehmung, sei es, um das Denken, die Erinnerung, die Vorstellungstätigkeit oder das Träumen zu beschreiben und zu erklären. Man kann in diesem Zusammenhang von psychologischen bzw. gnoseologischen Bildbegriffen sprechen.

d)Besonders im Altertum und Mittelalter war eine metaphysische oder auch typologische Verwendung des Bildbegriffs verbreitet, demzufolge eine Person, eine Sache oder ein Abstractum aufgrund eines Dependenzverhälmisses Bild einer anderen Person, Sache oder Entität genannt werden konnte. Die eine Seite heißt dann »Urbild«, die andere »Abbild«.

e)Ferner fungierten eikon, imago, Bild und ihre Äquivalente als rhetorische und poetologische Fachausdrücke für verschiedene Formen sprachlicher Veranschaulichung, etwa Vergleiche, Gleichnisse und Parabeln, später auch die Metapher. Mehr und mehr entwickelten sich »Bild« und »Bildlichkeit« zu Sammelbezeichnungen für Verfahren der sprachlichen Veranschaulichung oder Vergegenwärtigung.

f)Vor allem in Zusammensetzungen wie ›Vorbild‹ oder ›Leitbild‹ kann der Bildbegriff einen normativen Sinn annehmen. Schon seit ca. 100 v. Chr. wurde imago im Sinne einer vorbildlichen Verkörperung einer Eigenschaft gebraucht; als klassisch galt Senecas Kennzeichnung von Cato als einem lebenden Bild der Tugenden (virtutum viva imago).

Es dürfte schon aufgrund der kurzen Erläuterungen einsichtig sein, dass die unterschiedlichen Verwendungen von »Bild« auf ein Zentrum hin geordnet sind. »Bild« ist zwar vieldeutig; aber die Vieldeutigkeit ist eine systematische oder zentrierte. Begriffsgeschichtlich grundlegend waren die beiden erstgenannten Verwendungen: der Begriff des künstlichen, paradigmatisch des malerisch-zeichnerischen Bildes und der Begriff des natürlichen Bildes. Bei den anderen Gebrauchsweisen handelt es sich augenscheinlich um Ausweitungen oder Übertragungen dieser Termini. Im Folgenden wird der Begriff des malerisch-zeichnerischen Bildes (und seiner technischen Fortentwicklungen) im Mittelpunkt stehen.

Fragen über Fragen

Die Frage »Was ist ein Bild?«, mit der man beginnen möchte, scheint, wie gesagt, klarer zu sein, als sie tatsächlich ist. Mit »Was ist X?«-Fragen im Allgemeinen und der Frage »Was ist ein Bild?« im Besonderen hat es seine Schwierigkeiten. Wie ein bekannter Platon-Forscher einmal bemerkte, ist eine »Was ist X?«-Frage ohne Einbettung extrem vage und unspezifisch: »[…] it is, perhaps, when unsupported by a context, the vaguest of all forms of question except an inarticulate grunt. lt indicates less determinately than any other the sort of information the questioner wants.«3

Neben der Vagheit kann an der Frage »Was ist ein Bild?« die essentialistische Suggestion misslich sein, es müsse ein Wesen des Bildes und deshalb auch nur eine Hauptfrage in Bezug auf den Bildbegriff geben. Tatsächlich haben wir es sowohl mit einer weitverzweigten Familie von Phänomenen, als auch mit einem Bündel zwar miteinander zusammenhängender, aber keineswegs identischer Fragen und Probleme zu tun. Es empfiehlt sich deshalb, die vage und potenziell irreführende Frage »Was ist ein Bild?« durch weniger unbestimmte Fragen zu ersetzen. Die folgende Liste gibt einen Eindruck von den Aufgaben, mit denen systematische Bildtheorien konfrontiert sind: (1) Welchen Umfang hat der Bildbegriff? Welche Dinge oder Phänomene fallen unter den Begriff, welche nicht? (2) Welchen Sinn, welche Bedeutung hat der Begriff »Bild«? (3) Wie unterscheiden sich Bilder von anderen Dingen? (3.1) Wie unterscheiden sich Bilder von anderen Zeichen? (3.2) Wie unterscheiden sich Bilder insbesondere von sprachlichen Ausdrücken? (4) Wodurch ist der Inhalt eines Bildes festgelegt? (5) Wodurch ist der Sachbezug eines Bildes festgelegt? (6) Was heißt es, Bilder zu verstehen? (7) Wie ist die Bilderfahrung zu charakterisieren?

Umfassende Bildtheorien müssen zu allen genannten Fragen Stellung beziehen. Zu jeder dieser Fragen haben sich in der Diskussion besondere Rätsel herauskristallisiert. Bildtheorien müssen sich daran messen lassen, wie sie diese Rätselfragen lösen können. Daneben lassen sich allgemeine Adäquatheitsbedingungen formulieren. Zu den wichtigsten Adäquatheitsbedingungen jeder Explikation des Bildbegriffs zählt die Forderung, dass sie den unterschiedlichen Arten von Bildern gerecht werden muss. Bildtheorien müssen mit anderen Worten einer Allgemeinheits- und Diversitätsbedingung genügen.4 In den vortheoretischen Anwendungsbereich fallen alltägliche, künstlerische und wissenschaftliche Bilder, bildhafte Darstellungen aus allen Zeiten, Weltgegenden und Kulturen, Techniken und Stilrichtungen. Je mehr von diesen intuitiv als bildhafte Darstellungen eingestuften Phänomenen eine Theorie erfassen und adäquat behandeln kann, desto angemessener wird sie ceteris paribus sein.

Einfache Sätze über Bilder

Wenn Sie einen Blick in die Literatur über Bilder werfen, finden Sie dort neben gründlichen, auf Klärung und Begründung bedachten Arbeiten auch viel unklares Gerede, das vor allem darum bemüht ist, möglichst chic und hip zu wirken. Demgegenüber wird hier versucht, verständliche und intersubjektiv nachprüfbare Aussagen zu machen und aus ihnen weiterführende Fragen zu entwickeln.

1.In Bildern können wir etwas sehen.

Bilder geben etwas zu sehen. Das heißt zunächst: Bilder werden (vorzugsweise) mit dem Gesichtssinn wahrgenommen. Die Bilderfahrung ist – wenigstens zu einem bedeutenden Teil – eine visuelle Erfahrung, und sie ist eine Seherfahrung, die sich von anderen spezifisch unterscheidet. Die Phänomenologie und die empirische Wahrnehmungspsychologie sind mit unterschiedlichen Mitteln darum bemüht, die Besonderheiten der Bilderfahrung näher zu beschreiben und womöglich zu erklären.

Man darf die Einsicht in die engen Zusammenhänge von Bild und Sehen aber nicht überziehen. Zum einen kann es Bilder geben, die mit dem Tastsinn »verarbeitet« werden; man denke etwa an Zeichnungen von Figuren, bei denen die Umrisslinien erhöht sind.

Noch wichtiger als der Hinweis auf haptische Bilder ist jedoch ein anderer Punkt: Auch in dem gewöhnlichen Fall des visuell wahrzunehmenden Bildes dürfen die Begriffe des Visuellen und des Bildhaften nicht verwechselt werden. Wenn man etwas als visuell kennzeichnet, dann greift man auf eine Einteilung gemäß den Sinnesmodalitäten zurück und grenzt es etwa vom Auditiven, dem Olfaktorischen, dem Gustatorischen und dem Taktilen ab. Kennzeichnet man etwas als Bild, so kommt dagegen eine Klassifikation von Zeichenarten ins Spiel: Das Bildhafte wird etwa vom Wortsprachlichen, von Notationssystemen und vielem anderen abgegrenzt.

2.Bilder sollen typischerweise in bestimmten – durch vielfältige Kontextfaktoren festgelegten – Weisen betrachtet werden.

Natürlich kann einen grundsätzlich niemand daran hindern, mit einem Bild umzugehen, wie man will. Der Bildträger ist ein physischer Gegenstand, mit dem man alles Mögliche anstellen kann. So mag man ein Ölgemälde mit der Rückseite nach oben auf den Boden legen und als Fußmatte benutzen.

Allerdings ist in Bezug auf Bilder eine Weise des Umgangs als die übliche, ja mehr noch, als die richtige ausgezeichnet. Bilder sollen zunächst betrachtet werden. Entscheidend ist nun weiterhin, dass ein gegebenes Bild nicht bloß irgendwie zu betrachten ist, sondern von den möglichen Arten und Weisen der Betrachtung darüber hinaus auch bestimmte als richtig gelten, andere als unangemessen, ja als verkehrt.

3.Bilder können verstanden (und missverstanden} werden. Zum Bildverstehen muss vielerlei gelernt werden.

Bilder gehören zu den Dingen, die verstanden und missverstanden werden können. Das Bildverstehen ist eine komplexe Fertigkeit, in der sich eine Reihe von Teilkompetenzen unterscheiden lassen.5 Diese Differenzierung stellt einen ersten Schritt auf dem Weg dar, im Einzelnen die angeborenen und die erworbenen Komponenten der Bildkompetenz auseinander zu halten; außer Frage stehen sollte aber schon jetzt, dass zu einem allseitigen Bildverstehen vielerlei gelernt werden muss.6

Es ist auch genauer zu untersuchen, welche Teilkompetenzen auf welche Weise gelernt werden. So dürften sich auch aufschlussreiche Besonderheiten in der Art und Weise finden lassen, wie Bildsysteme gelernt werden. Einen weiterführenden Hinweis dazu hat James Q. Knowlton gegeben: »While a picture is not wholly arbitrary, it does involve a good deal of conventionalization in its production, and learning is involved in its interpretation. However, the learning that is involved is often rapid and ‚instantly generalized«.7 Tatsächlich gilt: Wenn jemand ein paar Bilder einer bestimmten Darstellungsweise erfolgreich interpretiert hat, dann versetzt ihn das in aller Regel in die Lage, viele verwandte Bilder zu verstehen.

4.Bilder sind Zeichen, aber keine rein natürlichen Zeichen.

Der Begriff des Bildes gehört in den logischen Raum der Unterscheidung und Klassifikation von Zeichen und Zeichensystemen. Bilder sind, was immer sie sonst noch sein mögen, Zeichen. Kausale Schlüsse reichen aber in aller Regel nicht aus, um ein Bild zu verstehen. Insofern sind Bilder keine natürlichen Zeichen. Bedeutet dies, dass sie konventionale, ganz und gar willkürliche Zeichen sind?

Hier droht Verwirrung. Vor allem müssen Konventionalität und Arbitrarität auseinander gehalten werden. Ob etwas konventional ist, ist eine Angelegenheit von Ja oder Nein. Da nun der Zeichenstatus von Bildern und viele Einzelaspekte ihrer Verwendung und Interpretation sozialen Konventionen unterliegen, sind Bilder grundsätzlich konventionale Zeichen. (Dies gilt jedenfalls für die paradigmatischen Fälle; Phänomene wie Fotografien wären gesondert zu erörtern, was aber den hier gegebenen Rahmen sprengen würde.)

Arbitrarität ist dagegen eine graduelle Angelegenheit. Und wenn man sich die unterschiedlichen Zeichensysteme auf einem Spektrum angeordnet denkt, dass von maximal bis zu minimal arbiträren Systemen reicht, sind viele bildhafte Systeme weniger arbiträr als andere Zeichensysteme. Man muss sich so vorsichtig ausdrücken, da es auch innerhalb des Bereichs der Bildsysteme bereits große Unterschiede im Hinblick auf Arbitrarität und Motiviertheit gibt.

5.Die einzelnen Bilder sind Elemente von Zeichensystemen, d. h. von produktiven Systemen, die die Bildung neuer zeichenhafter Einheiten zulassen.

Im Unterschied zu der Situation bei anderen Artefakten hat es bei Bildern einen guten Sinn, von Systemen, also: von bildhaften Symbolsystemen zu sprechen. Unter einem System ist hier etwas anderes als eine Menge zu verstehen. Mengen sind durch ihre Elemente bestimmt. Ein bildhaftes System ist dagegen nicht identisch mit der Menge der bereits existierenden Elemente dieses Systems.

Viele Symbolsysteme, ja, man kann sagen: die typischen Symbolsysteme erlauben die Bildung neuer Symbole. Sprachen wie das Englische erlauben die Bildung immer neuer komplexer Wendungen und Sätze, mit denen man immer neue Inhalte ausdrücken kann. Entsprechendes gilt auch für Bilder: Wir können immer neue Bilder produzieren und verstehen. Eine wichtige Aufgabe jeder Theorie der Bildkompetenz ist es zu erklären, wie wir neue Bilder verstehen können.

6.Bilder sind analoge Zeichen.

Was für Zeichen sind Bilder? Wie lassen sie sich von anderen Arten abgrenzen? Viele traditionelle Bildtheorien waren auf die Beziehung zwischen dem Bild und seinem Korrelat fixiert. Hier verdanken wir Nelson Goodman einen entscheidenden Perspektivenwechsel.8 Er hat gesehen, dass sich bildhafte Symbolsysteme von anderen Zeichensystemen, etwa Sprachen, durch innersystemische, syntaktische Charakteristika unterscheiden.

Piktoriale Systeme zeichnen sich vor allem durch syntaktische Dichte und relative syntaktische Fülle aus. Um etwas als Bild zu verstehen, muss man es, kurz gesagt, als Element eines analogen, syntaktisch dichten Zeichensystems mit hoher syntaktischer Fülle behandeln. Diese Charakteristika haben damit zu tun, welchen Unterschied Veränderungen entlang der verschiedenen Eigenschaftsdimensionen der Zeichenmarken für die Zeichenfunktion machen, und wie viele (und welche) Eigenschaften oder Aspekte der Gebilde für ihre Zeichenfunktion relevant sind.

Die syntaktische Komponente bildhafter Symbolsysteme stellt potenziell unendlich viele Zeichen bereit, von denen keine zwei als syntaktisch äquivalent behandelt werden. Ein Symbolschema ist syntaktisch dicht, wenn es unbegrenzt viele Zeichencharaktere zulässt, die so geordnet werden können, dass zwischen zwei gegebenen immer noch ein weiteres liegt. In aller Regel sind bildhafte Symbolsysteme zugleich hinsichtlich vieler Dimensionen syntaktisch dicht, etwa hinsichtlich der Höhe, Breite, Länge, hinsichtlich mehrerer farblicher Eigenschaften et cetera. Syntaktische Dichte in diesem Sinne, so lautet der Vorschlag, könnte eine notwendige Bedingung für bildhafte Symbole sein.9

Freilich sind nicht alle syntaktisch dichten oder analogen Systeme auch Bildsysteme im landläufigen Sinne. Bei analogen Geräten wie etwa Thermometern oder anderen Messinstrumenten ohne Gradeinteilung, bei denen die Anzeige in einem syntaktisch dichten System geschehen kann, wird wohl kaum jemand bereit sein, von Bildern zu reden. Es entsteht so das Bedürfnis, Bilder im landläufigen Sinne von anderen Elementen syntaktisch dichter oder analoger Systeme genauer abzugrenzen. Auch hierfür lässt sich ein systembezogenes, wiederum syntaktisches Kennzeichen angeben, das Goodman »relative syntaktische Fülle« getauft hat. Während die Grenze zwischen Bildern und Nicht-Bildern scharf zu ziehen ist, handelt es sich bei der Abgrenzung von Vollbildern und anderen analogen Systemen um eine graduelle Angelegenheit. Die Grundidee lässt sich so formulieren: Ein Symbolsystem hat desto mehr syntaktische Fülle, je mehr Züge der Zeichenträger symbolische Funktionen besitzen.10

Bei einem Diagramm etwa sind nur wenige Aspekte der Linie von Belang, im Grunde bloß der relative Abstand der Punkte von den Achsen des Koordinatensystems. Bei einer Linie in einem Bild, etwa einem Landschaftsgemälde, können dagegen alle Nuancen der Farbe, der Dicke und Textur, des Kontrastes zum Hintergrund usw. konstitutiv sein. Wenn jeder – oder fast jeder – Unterschied in puncto Farbe, Form, Textur etc. einen Unterschied für die Zeichenbewandtnis macht oder machen kann, dann spricht vieles dafür, die fraglichen Gebilde zu den Bildern zu rechnen. Wer mit bildhaften Symbolen konfrontiert ist, aber nach syntaktisch disjunkten und differenzierbaren Einheiten, intuitiv gesprochen: nach einem Alphabet und Vokabular wohlunterschiedener Zeichen sucht, versteht die Objekte nicht als Bilder.

7.Bilder sind typischerweise Bilder von etwas, d. h. sie sind typischerweise intentional auf Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse oder zumindest auf Inhalte und Eigenschaften gerichtet. Bildhafte Zeichensysteme lassen neben singulär bezeichnenden auch generell bezeichnende und im Sachbezug leere Zeichen zu.

Bilder weisen typischerweise die Intentionalität von Zeichen auf, die in der »Von-Konstruktion« zum Ausdruck gebracht werden kann: Als Bilder von x sind sie ipso facto Zeichen von x. Bilder sind typischerweise intentional auf einen Gegenstand oder einen Inhalt gerichtet; sie beziehen sich auf etwas, handeln von etwas oder gehen um etwas. Vielen Bildern kann ein Gegenstandsbezug oder zumindest ein Inhalt zugeschrieben werden.

Mit Elementen dieser Zeichensysteme können Dinge, Ereignisse und Sachverhalte richtig oder falsch dargestellt werden. Bildsysteme ermöglichen insbesondere auch Fehlrepräsentationen; dies ist ein weiteres deutliches Kennzeichen der Intentionalität, wie sie bei geistigen Zuständen und äußeren Zeichen festzustellen ist.

Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Bildinhalt und Sachbezug. Mit diesen Termini ließen sich noch recht verschiedenartige semantische Theorien des Bildes verbinden. Mir ist es um eine Unterscheidung zu tun, der wohl in jedem Ansatz in irgendeiner Form Rechnung getragen werden muss. Wenn ich vom Erfassen des Bildinhalts rede, dann beziehe ich mich auf ganz elementare Dinge, nämlich auf Umstände der Art, dass ein Bildbetrachter erfasst, dass ein gegebenes Bild ein F-Bild oder ein G-Bild ist, z. B. ein Mann-Bild, ein Kreuzigungs-Bild etc. Wer diese Stufe des Verstehens erreicht hat, hat etwas darüber erfasst, mit welcher Art von Bild er es zu tun hat; er beherrscht bestimmte Weisen, das Bild zu klassifizieren, und zwar solche, die nicht mit den physischen oder formalen Eigenschaften des Bildes allein zu tun haben. Beim Umgang mit Bildern lernen wir eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten, diese zu klassifizieren: nach den verwendeten Materialien, nach den Formaten nach den angewandten Techniken, nach Stilrichtungen, nach Epochen, nach den Künstlern und nach vielen anderen Gesichtspunkten, insbesondere eben auch nach inhaltsbestimmten. Hier geht es um die letztgenannten Klassifikationen. Je spezifischer das Prädikat »F-Bild« ist, mit dem der Interpret den Inhalt zutreffend charakterisieren kann, desto genauer hat er es (auf dieser Ebene!) verstanden.

Klarer werden diese Zusammenhänge, wenn wir uns Möglichkeiten des Nicht- und Missverstehens vor Augen führen. Man mag erfasst haben, dass ein gegebener Gegenstand eine bildhafte Darstellung ist, ohne ausmachen zu können, wie das Bild inhaltlich bestimmt ist (ein F-Bild, ein G-Bild etc.). Hier lassen sich mehrere Fälle unterscheiden: (i) Es kann einfach so sein, dass dem Betrachter das Sujet des Bildes vollkommen unvertraut ist. Beispielsweise wird es jemandem, der von dem Räderwerk einer mechanischen Uhr weder Wissen aus Bekanntschaft noch Wissen durch Beschreibung besitzt, schwerfallen, das Bild des Inneren einer solchen Uhr als solches zu verstehen. (ii) Das Nichtverstehen des Inhalts kann ferner daran liegen, dass der Betrachter mit den allgemeinen, d. h. mit den gegenstandsunspezifischen Darstellungskonventionen nicht vertraut ist, nach denen das Bild gemalt wurde. Beispielsweise kennt er die besonderen Konventionen der perspektivischen Darstellung nicht, nach denen sich der Maler gerichtet hat. Oder ihm ist die besondere Art und Weise fremd, Figur und Grund gegeneinander abzugrenzen etc. (iii) Drittens mag ein dem Betrachter durchaus vertrauter Gegenstand unter Zugrundelegung eines ihm fremden Schemas, d. h. einer ihm fremden gegenstandsspezifischen Darstellungskonvention gemalt bzw. gezeichnet worden sein.11

Wir haben uns bislang auf Bilder konzentriert, die man als »semiotisch selbständig« bezeichnen könnte. Zu ihrem Verständnis ist die Kenntnis besonderer anderer Zeichen nicht erforderlich. Bei zahlreichen Bildern hingegen ist die korrekte Bestimmung des Inhalts nur unter Rückgriff auf dem Bild zugrunde liegende vorgängige Text- oder Bildquellen möglich. Diese Werke bilden die Domäne der ikonologischen Forschungsrichtung. Nennen wir diese Fälle »semiotisch unselbständig«. Bei Bildern, die von einer literarischen (philosophischen, theologischen oder mythologischen) Vorlage oder auch von früheren Bildern abhängen, ergeben sich besondere Möglichkeiten des Nicht- und Missverstehens. Dem Bildbetrachter mögen etwa die für das Verständnis nötigen Vorlagen unbekannt sein, so dass er auf einer »niedrigeren« Stufe stehenbleibt. Oder er zieht den falschen Text als Interpretationsgrundlage heran.

Unter den Bildern, die einen Bezug haben, lassen sich singulär denotierende von generell oder multipel denotierenden unterscheiden. Viele Bilder fungieren als Portraits, wenn man das Wort in einem erweiterten, nicht auf die Personendarstellung eingeschränkten Sinne gebraucht; d. h., mit ihnen wird auf eine bestimmte Person, einen bestimmten Gegenstand etc. Bezug genommen. (Sie sind in dieser Hinsicht den Eigennamen und den übrigen singulären Termini in den natürlichen Sprachen vergleichbar.)

Daneben kennen wir jedoch auch Bilder, deren Bezeichnungsfunktion eher der von generellen Termini gleicht und die man infolgedessen »Allgemeinbilder« nennen kann. Mit ihnen bezieht man sich nicht auf ein bestimmtes, sondern auf jedes beliebige von vielen Dingen aus einer gewissen Klasse. Besonders einschlägig sind Abbildungen in Lehrbüchern, Wörterbüchern und Enzyklopädien.12

Fiktionale Gemälde schließlich sind im Sachbezug leere Repräsentationen. Reden wir umgangssprachlich davon, etwas sei ein Bild von einem Einhorn, dann kann das sinnvollerweise nichts anderes heißen, als dass es sich um ein Einhorn-Bild handele, d. h. eine besondere inhaltlich bestimmte Art von Bild. Die Redeweise darf hingegen nicht so verstanden werden, als gäbe es neben dem Bild (mit diesem Sujet) noch ein Einhorn und zwischen beiden Relata bestünde eine Urbild-Abbild-Beziehung.13 Die bislang betrachteten Fälle belegen, dass nicht jedes F-Bild überhaupt einen Gegenstandsbezug zu haben braucht. Eo ipso belegen sie den Umstand, dass nicht bei jedem Bild die den Sachbezug betreffende Verstehensstufe überhaupt zum Tragen kommt.

Wodurch wird nun der Sachbezug von Bildern festgelegt? Wertet man die Forschung zu dieser Frage aus, so trifft man auf eine Fülle konkurrierender Vorschläge zu ihrer Beantwortung. (Was den meisten dieser Theorien des Sachbezugs von Bildern bei allen sonstigen Unterschieden gemeinsam ist, ist die äußerst zweifelhafte Voraussetzung, es müsse genau einen Typ von Merkmal, sei es des Bildes, sei es der Bildumgebung, geben, der bei jedem Bild für die Festlegung des Sachbezugs ausschlaggebend wäre.) Die Vorschläge unterscheiden sich im Hinblick auf die Angabe des Merkmals, das sie für bezugsbestimmend halten. Wie ich bei anderer Gelegenheit ausführlich begründet habe, legen Ähnlichkeitsbeziehungen den Gegenstandsbezug von Bildern nicht fest. Auch kausale Kriterien brauchen nicht in jedem Falle den Ausschlag zu geben. Und die Absichten des Bildherstellers bestimmen aus eigener Kraft ebenfalls nicht, was das Bild darstellt. Grundsätzlich ist die Festlegung des Sachbezugs von Bildern gebrauchs- und umgebungsabhängig. Für die entsprechenden Zuschreibungen können eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle spielen. Ich möchte an dieser Stelle nur die wichtigsten aufzählen: Neben den im engeren Sinne bildhaften Eigenschaften (grob gesprochen: welche farbigen Punkte und Flächen sich an welchen Stellen befinden), neben dem Typ des Bildes und gewissen kausalen Antezedenzien können weitere Merkmale der räumlichen, zeitlichen und semiotischen Umgebung des Bildes für die Bestimmung des Bezugs relevant werden (etwa auch die Bildtitel).

8.Mit Bildern können Zeichenhandlungen vollzogen werden.

Mit Bildern kann man vielerlei tun. Wie wir sahen, kann man mit Bildern auf Dinge Bezug nehmen und diese als soundso beschaffene charakterisieren. Mit Bildern kann man aber auch kommunikative Zeichenhandlungen vollziehen und auf Personen auf rationalem oder außerrationalem Wege einwirken; die Zeichenträger sind dabei in weitläufigere Zeichenspiele und in Lebensformen eingebettet.

Man kann den Bildinhalt, die direkten und indirekten, die denotativen und nichtdenotativen Bezüge eines Bildes kennen, ohne zu verstehen, in welcher kommunikativen Rolle es verwendet worden ist. Wie mit sprachlichen Ausdrücken können mit bildhaften Darstellungen eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungen vollzogen werden. Es ist ein Irrtum zu glauben, Bilder hätten einzig den Zweck, mit ihrer Hilfe zu zeigen, wie etwas bereits Vorhandenes und Gegebenes aussieht. Wie man sich leicht vergegenwärtigen kann, wird mit Bildern gewarnt, geworben, verboten und vieles andere mehr.

Eine wichtige Dimension des Bildbegriffs erschließt sich, wenn wir uns vor Augen führen, dass Zeichen oder Symbole in komplexe Muster von Handlungen und sozialen Interaktionen eingebettet sind. Bilder machen davon keine Ausnahme. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, spreche ich von »Zeichenspielen«, und wenn die fraglichen Zeichen Bilder sind, von »Bildspielen«.

Diese Begriffe knüpfen an Wittgensteins Rede von »Sprachspielen« und – allgemeiner – »Zeichenspielen« an.14 Bekanntlich wollte dieser mit diesen Termini vor allem die regelhafte Einbettung von Zeichen in den engeren und weiteren Handlungszusammenhang der Verwendung dieser Zeichen betonen. Wenn ich von Bildspielen spreche, so soll entsprechend die Einbettung der bildhaften Zeichen in verschiedenartige Handlungs- und Interaktionsmuster sowie in Zweck-Mittel-Zusammenhänge hervorgehoben werden. Der Philosoph Bernard Bolzano hat diese Dimension bei seiner Explikation des Bildbegriffs berücksichtigt: »Besonders merkwürdig ist der Unterschied in den Zwecken; je nachdem die Betrachtung des Bildes uns dienen soll, bald gewisse Beschaffenheiten des Gegenstandes, stattdessen wir es betrachten, erst kennen zu lernen, bald uns nur ihrer zu erinnern, bald nur gewisse Empfindungen, Gefühle und Willensentschließungen, welche dem vorgestellten Gegenstande gemäß sind, in uns zu erhalten.«15

Zur weiteren Veranschaulichung seien typische »Bildspiele« aufgezählt: jemandem mitteilen oder zeigen, wie etwas aussieht oder beschaffen ist; jemandem zeigen, wie etwas sein soll; jemandem zeigen, wie etwas nicht sein soll; wie man etwas machen (bzw. nicht machen) soll; jemandem das Aussehen oder die Beschaffenheiten eines Gegenstandes, einer Person, eines Gesichts etc. in Erinnerung rufen; nach einem Bild, einer Zeichnung etwas herstellen (bauen, zimmern, schneidern u. ä.); die Gegenstände holen, die auf einem Bild zu sehen sind; zu dem Ort gehen, den das Bild zeigt; dem Betrachter zeigen, was sich hinter einer Tür, in einem undurchsichtigen Behälter (o. ä.) befindet etc.

Offenkundig gibt es auch auf dieser Ebene Nichtverstehen und Missverstehen. Sehe ich an einem Gartenzaun das Bild eines Hundes mit gebleckten Zähnen, fasse es jedoch schlicht als das Portrait eines Hundes auf, welches über das Aussehen des Tieres unterrichten oder ein ästhetisches Erleben in Gang setzen soll, dann habe ich den modalen Sinn des Bildes in dieser Situation nicht richtig verstanden. Entgegen meiner unkorrekten Reaktion handelt es sich eindeutig um die Warnung vor einem bissigen Hund.

In einer ausgebauten Bildwissenschaft wird weiter zu klären sein, welche Arten von Zeichenhandlungen, insbesondere von kommunikativen Handlungen, mit Bildern vollzogen werden können. Eine unvoreingenommene Geschichte des Bildes wird einmal darüber zu berichten haben, in welche Handlungsmuster, Zeichenspiele, Institutionen und Rituale Bilder zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen und Gruppen eingebettet waren. Nicht zuletzt muss die Geschichte der künstlerischen Bilder, die nur einen kleinen Teil einer solchen Gesamtgeschichte ausmacht, diese Ebene des modalen Verstehens stärker beachten, als das bislang in der Regel geschieht. Auch künstlerische Bilder waren und sind in unterschiedliche Zeichenhandlungen oder Zeichenspiele eingebettet.16

Der Umstand, dass Bilder in der Regel einen kommunikativen Witz haben, hängt mit einer oft übersehenen Eigenschaft von Bildsystemen zusammen. Sie lassen unterschiedliche Anpassungsrichtungen oder Ausrichtungen zu.17 Wenn von dem Verhältnis eines Bildes, allgemeiner: einer Repräsentation zur Welt die Rede ist, denken wir allzu oft nur an eine Ausrichtung.

Als paradigmatisch gilt uns die Szene, bei der dem Maler eine Person Modell sitzt. Das Abzubildende wird als gegebener Gegenstand mit einer Fülle gegebener Eigenschaften betrachtet. Der Maler will dieses Gegebene nun abbilden, nachahmen, wiedergeben, darstellen. Insofern richtet sich das Bild nach dem Gegenstand; der Weg führt gleichsam vom Gegenstand zum Bild. Es liegt also in diesem Falle Bild-auf-Welt-Ausrichtung vor.

Als Modell für die Beziehung zwischen Repräsentation und Welt ist dieses Szenario einseitig und damit irreführend. Es wird dabei übersehen, dass die Ausrichtung oft umgekehrt ist. In vielen Fällen steht das Bild, die Repräsentation, am Anfang. So verhält es sich bei allen entwerfenden Bildern, bei Planzeichnungen u. ä. Der Konstruktionsingenieur, der Architekt, der Couturier fertigen Zeichnungen an, und nach diesen Repräsentationen werden dann erst die Dinge gebaut oder geschneidert, die auf den Zeichnungen dargestellt sind. Hier haben wir also Darstellungen mit Welt-auf-Repräsentation-Ausrichtung.

In diesem Zusammenhang ist auf einen Punkt hinzuweisen, der für eine Beschreibung und Diagnose des Einflusses der Medien von eminentem Interesse ist. Bei einer Repräsentation können mehr oder weniger versteckt beide Ausrichtungen im Spiele sein – oder es kann versucht werden, eine Ausrichtung vorzuspiegeln, während es in Wahrheit auf eine andere ankommt. So mag eine Szene in der Werbung oder in einer Fernsehserie einen Wirklichkeitsausschnitt abbilden (bzw. häufiger nur abzubilden vorgeben); gleichzeitig und vor allem will sie aber als Vorbild wirken, nach dem der Betrachter sich richten soll.

Wenn uns Bilder nicht dumm und unfrei machen sollen, müssen wir solche (und noch viel komplexere) Zusammenhänge durchschauen lernen. Bildwissenschaften müssen heute mehr denn je Aufklärungswissenschaften sein.

Quelle: Scholz, Oliver R.: »Das Spektrum der Bilder«, in: Ethik & Unterricht 13, 2002, Heft 2: Medium Bild, S. 8–14.

1Für eine ausführliche Kritik aller Spielarten der Ähnlichkeitstheorie des Bildes vgl. Scholz, Oliver R.: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, Karl Alber Verlag, Freiburg/München 1991, S. 16–63. [2., vollständig überarbeitete Auflage, Klostermann Verlag, Frankfurt a. M. 2004, S. 17–81.]

2Vgl. Mitchell, W. J. T.: lconology. Image, Text, ldeology, University of Chicago Press, Chicago, IL 1986, S. 9–14; vgl. auch Steinbrenner, Jakob; Winko, Ulrich (Hrsg.): Bilder in der Philosophie & in den anderen Künsten & Wissenschaften, Ferdinand Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich 1997; Scholz, Oliver R.: »Bild«, in: Barck, Karlheinz; Fontius, Martin; Schlenstedt, Dieter; Steinwachs, Burkhart; Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1: Absenz – Darstellung, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2000, S. 618–669: S. 620–623.

3Robinson, Richard: Plato’s Earlier Dialetic, Clarendon Press, Oxford 21953, S. 59.

4Lopes, Dominic: Understanding Pictures, Oxford University Press, Oxford/New York, NY 1996, S. 8–11 und S. 32.

5Dazu ausführlicher Scholz, Oliver R.: »Was heißt es, ein Bild zu verstehen?«, in: Sachs-Hombach, Klaus; Rehkämper, Klaus (Hrsg.): Bild – Bildwahrnehmung – Bildverarbeitung. Interdisziplinäre Beiträge zur Bildwissenschaft, Bildwissenschaft, Bd. 15, Springer Verlag, Wiesbaden 1998, S. 105–117.

6Vgl. Scholz, Oliver R.: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, a. a. O., S. 33–43.

7Knowlton, James Q.: »On the Definition of Picture«, in: Audio-Visual Communication Review 14, 1966, S. 157–183: S. 164.

8Vgl. Goodman, Nelson: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Hackett Publishing Company, Indianapolis, IN 1968 und vgl. Scholz, Oliver R.: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, a. a. O., S. 82–110.

9Goodman, Nelson; Elgin, Catherine Z.: Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, Hackett Publishing Company, Indianapolis, IN 1988, S. 123 und S. 121.

10Vgl. Goodman, Nelson: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, a. a. O., S. 229 f.; vgl. auch Goodman, Nelson; Elgin, Catherine Z.: Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, a. a. O., S. 123; vgl. Scholz, Oliver R.: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, a. a. O., S. 103 f. und S. 157–159.

11Vgl. Scholz, Oliver R.: