Philosophieren mit Dilemmata -  - E-Book

Philosophieren mit Dilemmata E-Book

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Beschreibung

Moralisch handeln in scheinbar ausweglosen Situationen? Die Auseinandersetzung mit Dilemmata im Unterricht fokussiert die moralische Kompetenzbildung und -förderung, welche in unserer hochvernetzten und komplexen Welt von großer Aktualität ist. Im Theorieteil dieses Bandes werden verschiedene Methoden der Dilemma-Diskussion vorgestellt und ihr Einsatz im Philosophie- und Ethikunterricht diskutiert. Der Praxisteil erläutert anhand zahlreicher Beispiele, wie Dilemmata problem-, schüler- und kompetenzorientiert eingesetzt werden können. Die Einleitung der Herausgeber, eine Auswahl moralischer Dilemmata sowie eine Auswahlbibliographie bieten weitere Anregungen für die Unterrichtsgestaltung.

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Inhalt

Cover

Titelei

Einführung

Über die Rolle von ethisch-moralischen Dilemmata für den Philosophie- und Ethikunterricht

1 Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht

Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion

Die erweiterte Dilemma-Diskussion

Dilemmadiskussion – ein Weg der Werteerziehung?

Dilemmadiskussion

Einsatz von Dilemmata zur Wertebildung in Schulen

2 Beispiele aus der Praxis

Soll Calvin „pfuschen“?

Das ist unser Land!?

Wann ist Kooperation vernünftig?

3 Auswahl ethischer und philosophischer Dilemmata

Auswahlbibliographie

Die Reihe Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht ist auf neun Themenbände angelegt, die bis 2023 erscheinen werden:

1 Philosophieren mit Filmen im Unterricht

2 Philosophieren mit Gedankenexperimenten

3 Philosophieren mit Dilemmata

4 Philosophieren mit Bildern und Comics

5 Vom Umgang mit philosophischen Texten

6 Der Einsatz von Spielen im Philosophie- und Ethikunterricht

7 Literatur und Jugendliteratur im Philosophie- und Ethikunterricht

8 Das Sokratische Gespräch im Philosophie- und Ethikunterricht

9 Theatrales Philosophieren, Musik und Videoclips im Philosophie- und Ethikunterricht

▶ Ausführliche Informationen unter:www.philosophie-didaktik.de

Martina und Jörg Peters

Philosophieren mit Dilemmata

Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

ISBN 978-3-7873-3745-3 · ISBN EPUB: 978 3 7873 3860 3

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht $$ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz und Konvertierung: 3W+P GmbH, Rimpar.

  Einführung

Über die Rolle von ethisch-moralischen Dilemmata für den Philosophie- und Ethikunterricht

Martina Peters und Jörg Peters

Dieser Band zum Philosophieren mit Dilemmata richtet sich hauptsächlich an drei unterschiedliche Zielgruppen: Die erste Zielgruppe stellen die Studierenden der Fächer Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen sowie Lebenskunde – Ethik – Religion (L-E-R) dar, die sich möglicherweise aus didaktischen Gründen erstmals mit Dilemmata auseinandersetzen und sich in diesem Bereich orientieren wollen. Die zweite Zielgruppe, die diese Anthologie erreichen will, sind Referendarinnen und Referendare bzw. Junglehrerinnen und Junglehrer, die gerade ihre ersten praktischen Erfahrungen mit Dilemmata sammeln und daher auf der Suche nach Praxisbeispielen und motivierendem Material für ihre Unterrichtsstunden sind. Zielgruppe drei umfasst all diejenigen, die den Einsatz von Dilemmageschichten im Philosophie- bzw. Ethikunterricht längst als sinnvolle Vorgehensweise in ihr Methodenrepertoire aufgenommen haben und nun ihr Beispielspektrum durch neue Impulse erweitern bzw. sich mit den derzeit diskutierten theoretischen Ansätzen befassen möchten. Darüber hinaus wenden sich natürlich auch Menschen, die philosophisch interessiert sind oder aus beruflichen Gründen mit ihnen konfrontiert werden – man denke beispielsweise an Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal oder Juristinnen und Juristen –, moralischen Dilemmata zu. Auch sie mögen in diesem Band reizvolle Anregungen finden. Allerdings konzentrieren sich die zusammengestellten Beiträge auf den Einsatz im Philosophie- und Ethikunterricht, da die Bücher dieser Reihe auf einen didaktischen Schwerpunkt hin ausgerichtet sind.

Aber was sind überhaupt Dilemmata, und warum besteht in derart vielen Gruppen eine so hohe Motivation, sich damit auseinanderzusetzen? Wenn man im Bereich der Philosophie über Dilemmata spricht, mag man entweder „an mehr oder weniger eng verwandte Schlüsse“1 denken, wie sie in der Logik vorkommen, oder an ethisch-moralische Zwickmühlen, wie sie insbesondere in der Ethik anzutreffen sind. Dass im vorliegenden Buch ausschließlich dem ethisch-moralischen Dilemma Aufmerksamkeit geschenkt wird, liegt daran, dass die Logik im Kanon der zu unterrichtenden philosophischen Teildisziplinen nur eine – wenn überhaupt – untergeordnete Rolle spielt. Dementsprechend besteht derzeit auch kein ausdrücklicher Bedarf, logische Dilemmata für den schulischen Kontext aufzuarbeiten, so dass eine didaktische Auseinandersetzung mit ihr momentan kaum stattfindet. Für das ethisch-moralische Dilemma gilt genau das Gegenteil. Der Einsatz von Dilemmageschichten hat sich als eine wichtige Methode des modernen Philosophie- und Ethikunterrichts etabliert und lässt sich aus ihm ebenso wenig wegdenken wie der Einsatz von philosophischen Texten und Gedankenexperimenten.2

Bevor der Einsatz von ethisch-moralischen Dilemmata im Philosophie- bzw. Ethikunterricht in den Blick genommen wird, soll zunächst ein kurzer Überblick über die verschiedenen Dilemmatypen erfolgen.

Dilemmatypen

Zu unterscheiden sind drei Dilemmatypen, nämlich positive, falsche und negative Dilemmata:

1. Positive Dilemmata sind eigentlich keine richtigen Dilemmata. Bei ihnen stellt sich lediglich die Frage nach dem einzuschlagenden Weg, weil das Ergebnis – egal welches Mittel man wählt – immer das gewünschte sein wird. Man kann sich beispielsweise zwei unterschiedliche medizinisch-therapeutische Maßnahmen vorstellen, deren Anwendungen gleichermaßen zur Genesung einer Patientin oder eines Patienten führen. In diesem Fall ist es daher unerheblich, für welche der beiden Maßnahmen sich die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt entscheidet, da die Patientin bzw. der Patient durch das gewählte Verfahren auf alle Fälle gesunden wird.

2. Wie der Name schon andeutet, handelt es sich bei einem falschen Dilemma ebenfalls um kein wirkliches Dilemma. Es trägt seinen Namen deshalb, weil man die Vorstellung gewinnt, dass es zu einer Streitfrage nur genau zwei sich widersprechende Standpunkte gibt, selbst dann, wenn beide Positionen gar nicht im Widerspruch zueinander stehen oder zumindest eine weitere Handlungsoption angedacht werden kann. Das von Frank Zenker angeführte Beispiel für ein falsches Dilemma, „Wir machen das entweder richtig, oder wir machen das gar nicht“3, zeigt klar, dass die Sprecherin oder der Sprecher erstens überhaupt nur zwei Handlungsmöglichkeiten vor Augen hat, nämlich „es richtig zu machen“4 oder „gar nicht“, und zweitens sie bzw. er keine weitere Handlungsoptionen ins Kalkül zieht, obwohl die Aussage, „es richtig zu machen“, diese durchaus impliziert.

3. Ein negatives Dilemma meint eine Situation, in der eine Person zwischen zwei unerwünschten Alternativen5 eine Entscheidung herbeiführen muss. Die Person weiß also vom ersten Moment an, dass sie sich mit der Wahl von Möglichkeit A nicht nur gegen Möglichkeit B entscheidet bzw. umgekehrt, sondern zugleich die jeweils andere unmöglich werden lässt. Darüber hinaus weiß sie auch, dass es in einer solchen Zwickmühle6 keine – weder für sie selbst noch für andere Beteiligte – irgendwie zufriedenstellende Lösung geben kann bzw. wird. Da sie mit ihrer Wahl in jedem Fall gegen eine von zwei gebotenen moralischen Pflichten verstößt, zieht jede der von ihr in Augenschein genommenen Alternativen unweigerlich negative Konsequenzen nach sich.7 Das Beispiel „Sophies Wahl“ aus dem gleichnamigen Roman von William Styron verdeutlicht das Gesagte: Sophie wird mit ihren beiden Kindern während des Zweiten Weltkrieges nach Auschwitz deportiert. Von einem NS-Offizier wird sie dort vor die Wahl gestellt, entweder beide Kinder in den sicheren Tod zu schicken oder eines von ihnen zu retten. Sie habe – so sagt ihr der sadistische Offizier – die Wahl, zu entscheiden, welches Kind weiterleben dürfe. Treffe sie keine Entscheidung, würden ihr beide Kinder weggenommen. Sophie entscheidet erst im letzten Moment, als die Nazis bereits beginnen, ihr die Kinder zu entreißen, dass ihr Sohn weiterleben soll.

Egal, welche Entscheidung Sophie auch trifft, sie hat keine Option, in irgendeiner Weise richtig zu agieren. Trifft sie die Wahl, dass ihr Sohn weiterleben darf (Möglichkeit A), entscheidet sie sich gegen ihre Tochter, die dann in einer Gaskammer ihr Leben verlieren wird. Trifft sie die Wahl, dass ihre Tochter weiterleben darf (Möglichkeit B), muss ihr Sohn sein Leben hingeben. Trifft sie keine Wahl (Möglichkeit C), sterben beide Kinder. Man kann also sagen, dass Sophies Handeln zugleich etwas Positives als auch Negatives bewirkt. Positiv ist die Tatsache, dass sie einem ihrer Kinder das Leben retten kann, negativ, dass sie das andere dem Tod preisgeben muss. Indem Sophie sich gegen eines ihrer Kinder wendet, verstößt sie unweigerlich gegen das moralische Gebot, jeglichen (körperlichen) Schaden von Menschen grundsätzlich fernzuhalten.

Die Entscheidung, die Sophie zu treffen hat, dürfte wohl jeden Menschen moralisch extrem belasten. Wie oft wird sich Sophie in der Folge wohl vorgeworfen haben, auf die Konversation mit dem deutschen NS-Offizier eingegangen zu sein? Hätte sie ihm seine Frage, ob sie eine »dreckige Kommunistin« sei, nicht beantwortet, wäre sie wohl nie vor die schreckliche Wahl gestellt worden. Sowohl die Tatsache, dass Sophie sich Vorwürfe macht, sie hätte die Situation umgehen können, eine Entscheidung treffen zu müssen, als auch der Umstand, eine (tödliche) Entscheidung herbeigeführt und selbst den Holocaust überlebt zu haben, lösen bei Sophie das sogenannte Überlebensschuld-Syndrom aus. Ein wesentliches Merkmal dieses Syndroms besteht darin, dass der oder die Betreffende von Schuldgefühlen geplagt wird, die Internierung in einem Konzentrationslager „überlebt zu haben, obwohl viele Menschen durch dieses Ereignis oder bei diesem Ereignis ums Leben gekommen sind. Entscheidend […] ist das Schuldgefühl des Betroffenen, dass er gewollt oder ungewollt überlebt hat, während andere Personen um ihn herum gestorben sind, ohne dass er diesen hat helfen können“.8

Das Überlebensschuld-Syndrom macht evident, wie schwierig es für Sophie fortan sein wird, mit der Schuld, die sie vermeintlich auf sich geladenen hat, zu leben: „Wenn Sophie dem […] [Offizier] nicht geantwortet hätte, wären beide Kinder in die Gaskammern von Auschwitz geschickt worden. Dies ist schrecklich. Doch dann hätte sie lediglich die Nazis, das Schicksal oder Gott verfluchen müssen. Jetzt muss sie sich jedoch auch selbst anklagen und sich mit unerträglichen Selbstvorwürfen quälen. Hätte sie geschwiegen, hätte […] nicht die Verantwortung für den Tod ihrer Tochter auf sie […] [abgewälzt werden] können“.9

Ethisch-moralische Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht

Negative bzw. moralische und insbesondere tragische Dilemmata stellen „Handelnde vor die Herausforderung […], in Situationen eine Entscheidung zu treffen, in denen sie es nicht vermeiden können, einer Pflicht zuwiderzuhandeln.“10 Handelnde, die sich in einer ausweglosen Situation befinden, sollten nicht erwarten, dass ethische Theorien in der Frage, was sie tun sollen, „entscheidungsrelevante Hilfe bieten. Denn ein tragisches Dilemma ist gerade dadurch definiert, dass man die eine ebenso wie die andere Handlung auszuführen verpflichtet ist“.11

Aber es ist genau diese Aporie, die sich in besonderem Maße für den Einsatz im Philosophie- und Ethikunterricht eignet. Die Gründe dafür sind mannigfaltig:

1. In Anlehnung an den amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg sollen die am Philosophie- bzw. Ethikunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schüler ihre jeweilige moralische Kompetenz erweitern. Dazu bieten sich Dilemmadiskussionen an, denn sie fordern zu einer begründeten Stellungnahme geradezu heraus.

2. Je mehr ethische Positionen Schülerinnen und Schüler kennen, desto kenntnisreicher können sie Dilemmata dahingehend analysieren, welche ethische Theorie dazu beiträgt bzw. welche ethischen Theorien dazu beitragen können, zu einer eventuell vertretbaren Lösung des aufgeworfenen Problems zu gelangen.

3. Auch der hohe motivationale Charakter, der von Dilemmageschichten ausgeht, darf keineswegs außer Acht gelassen werden. Gerade weil unterschiedliche Positionen eingenommen werden können, mag dies eine höhere Beteiligung an den häufig sehr konträr geführten Diskussionen zur Folge haben. Auf dieses Weise kann außerdem die Gesprächskultur innerhalb einer Klasse oder eines Kurses weiter gefördert werden.

4. Das oberste Ziel aber, das im Philosophie- oder Ethikunterricht mit der Durchführung von Dilemmadiskussionen angestrebt wird, besteht – folgt man Lawrence Kohlberg – in der (Weiter-) Entwicklung der moralischen Urteilskraft.12 Für die Schulung moralischer Kompetenz ist es seiner Theorie zufolge förderlich, Schülerinnen und Schüler in echte Moralkonflikte zu versetzen, um sie dann mit Argumenten zu konfrontieren, die eine Stufe höher liegen als die von ihnen derzeit vertretenen. Durch diese Vorgehensweise soll erreicht werden, dass die jungen Menschen zur nächsthöheren Moralstufe geführt werden.

Kohlberg, der seine (ausschließlich männlichen) Probanden mit Dilemmata buchstäblich überfrachtete, musste allerdings einsehen, dass sich eine moralische Weiterentwicklung nicht allein durch den permanenten Einsatz von Dilemmata erreichen ließ. Dennoch ist es ihm – sozusagen als Vater des methodischen Einsatzes von Dilemmata – zu verdanken, dass im modernen Philosophie- und Ethikunterricht der Auseinandersetzung mit moralischen bzw. negativen Dilemmageschichten eine tragende Rolle zukommt.

Der didaktische Hauptgrund für die mittlerweile gängige Beschäftigung mit Dilemmata im Unterricht liegt klar auf der Hand: Die Lernenden werden auf diese Weise förmlich dazu gezwungen, rational über emotionale Zwangslagen nachzudenken, ihre Ansichten ständig neu zu hinterfragen und die von ihnen vertretenen Standpunkte immer wieder zu überprüfen.13 Wer der „didaktischen Falle“14 von Dilemmageschichten aufsitzt, sich auf sie einlässt und sich in die Lage der oder des Handelnden begibt, wird nicht umhinkönnen, sich philosophisch zu betätigen. Das Sich-Einlassen auf eine moralische Dilemmasituation bedeutet automatisch, sich mit einem nicht zu lösenden moralphilosophischen Problem auseinanderzusetzen. Für die Fächer Philosophie und Ethik lässt sich aus dem Gesagten ableiten, dass es nahezu unmöglich ist, mit dem Einsatz von Dilemmata einen nicht-problemorientierten Unterricht durchzuführen.

Aus den angeführten Aspekten erwächst geradezu die Notwendigkeit des unterrichtlichen Einsatzes von Dilemmata. Dabei ist es sinnvoll, dass ein zur Verwendung kommendes Dilemma möglichst der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler entstammt. Der Vorteil einer solchen Dilemmageschichte liegt darin, dass sie, ohne Umwege einzuschlagen, direkt zum Problem der Schülerinnen und Schüler avanciert. Benutzt man allerdings ein Dilemma, das – wie Sophies Wahl – fernab der Lebenswelt der Lernenden liegt, so regt es natürlich auch zum Denken an. Damit es sich aber für die Moralentwicklung als gewinnbringend erweist, ist es von entscheidender Bedeutung, dass es von den Schülerinnen und Schülern nicht als weit von ihnen entferntes und daher für sie irrelevantes fiktionales Beispiel wahrgenommen, sondern in seiner ganzen Dramatik nicht nur mitgedacht, sondern auch mitgefühlt wird.

Der Aufbau des Buches

Wie in den beiden bisher erschienenen Bänden Philosophieren mit Filmen im Unterricht und Philosophieren mit Gedankenexperimenten hat sich auch für dieses Buch eine Dreiteilung in einen Theorie-‍, einen Praxis- und einen Materialteil angeboten.

Der Theorieteil umfasst alle maßgeblichen deutschsprachigen Ansätze, die sich aus didaktischer Sicht mit dem Einsatz von Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht der Sekundarstufen beschäftigen. Die Rezipientinnen und Rezipienten, für die sich der Umgang mit Dilemmata als etwas Neues darstellt, können hier die theoretische Basis dafür kennenlernen oder – sofern sie schon Kenntnisse besitzen – diese weiter vertiefen.

Der anschließende Praxisteil wartet mit einigen Vorschlägen auf, wie sich Dilemmata konkret im Unterricht umsetzen lassen. Die vorgestellten Beispiele machen evident, welche Chancen Dilemmata mit sich bringen, aber auch, welche Schwierigkeiten sie im Unterricht bereiten können und wie man diese meistern kann.

Der dritte und letzte Teil des Buches, der Materialteil, enthält eine Sammlung von 43 Zwickmühlen. Neben einigen Klassikern finden sich dort auch zahlreiche eher unbekannte Dilemmageschichten. Damit die didaktische Methode des Philosophierens mit Dilemmata nicht eintönig verläuft, haben bei der Auswahl auch innovativere Präsentationsweisen eine Rolle gespielt: Zwar werden die meisten Dilemmata als klassische Kurztexte vorgestellt, darüber hinaus aber auch in Form von (nacherzählten) Filmausschnitten oder Comics.

Der Band endet mit einer umfangreichen Auswahlbibliographie, in die unter Berücksichtigung der zu Beginn umrissenen Zielgruppen ausschließlich Beiträge zum Einsatz von Dilemmata aus didaktischer Perspektive aufgenommen worden sind.

Endnoten

1Vgl. Artikel: „Dilemma“, in: Regenbogen, Armin; Meyer, Uwe (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, begründet von Kirchner, Friedrich und Michaëlis, Carl, fortgesetzt durch Hoffmeister, Johannes, PhB 500, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013, S. 151 – 152.

2Vgl. Peters, Martina; Peters, Jörg: „Der Einsatz von Gedankenexperimenten im Philosophie- und Ethikunterricht“, in: Peters, Martina; Peters, Jörg (Hrsg.): Philosophieren mit Gedankenexperimenten, Methoden im Philosophie- und Ethikunterricht, Bd. 2, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020, S. 7 – 12: S. 7.

3Zenker, Frank: „Argumentationstheorien“, auf: Internet Archive Wayback Machine vom 31. Mai 2012, auf: https://web.archive.org/web/20120531132628/http://www.frankzenker.de/downloads/Zenker%202008_Argumentationstheorie_RUB.pdf#page=13 (Stand: 15. 08. 2020).

4Es ist unklar, a) was der Begriff „richtig“ hier eigentlich bedeuten soll und b) wie viele Möglichkeiten, „etwas richtig zu tun“, im Terminus „richtig“ bereits angelegt sind.

5Vgl. Artikel: „Dilemma“, in: Redaktion Schule und Lernen: Schülerduden Philosophie. Ein Lexikon zu Philosophie und Ethik für Schule und Studium, Dudenverlag, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2002 (völlig neu bearbeitete Auflage), S. 93 – 94: S. 93.

6Vgl. Artikel: „Dilemma“, in: Schischkoff, Georgi (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, begründet von Schmidt, Heinrich, KTA 13, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1991, S. 142.

7Vgl. Artikel: „Dilemma“, in: Regenbogen, Armin; Meyer, Uwe (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, a.a.O., S. 151 – 152.

8Vgl. Artikel: Überlebensschuld-Syndrom, auf: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3 %9Cberlebensschuld-Syndrom (Stand: 30.089.2020).

9Dahl, Edgar: „Ein unerträgliches Dilemma“, in: Humanistischer Pressedienst, Ausgabe vom 17. Januar 2014, auf: https://hpd.de/node/17615/seite/0/1 (Stand: 30. 08. 2020).

10Schmidt, Thomas: „Gibt es unauflösbare moralische Konflikte?“, auf: https://www.philosophie.hu-berlin.de/de/lehrbereiche/ethik/mitarbeiter/schmidt/schmidt-moralische-konflikte-zuerich-30 - 09 - 2015.pdf (Stand: 30. 08. 2020).

11Ibid.

12Vgl. dazu das sechsstufige Stufenschema Kohlbergs.

13Ähnlich argumentiert auch Johnson, Lee: Ethical Dilemmas to Pose to Students, auf: https://classroom.synonym.com/ethical-dilemmas-pose-students-8066466.html (Stand: 10. 08. 2020).

14Rolf, Bernd: „›Wie soll ich mich entscheiden?‹ Dilemmata im Philosophie- und Ethikunterricht“, in: Ethik & Unterricht 11/2001, Heft 3: Praktische Philosophie, S. 18 – 22: S. 18.

1 Dilemmata im Philosophie- undEthikunterricht

Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion

Georg Lind

Wie kann man die Fähigkeit effektiv fördern, Probleme und Konflikte auf der Grundlage moralischer Prinzipien durch Abwägen und Diskutieren zu lösen, statt durch Gewalt, Betrug oder Unterwerfung unter andere? Wie kann man also das fördern, was wir Moralkompetenz nennen? Die meisten, wenn nicht alle Methoden der Moralerziehung zielen auf die Vermittlung ethischer Konzepte oder auf die Änderung moralischer Einstellungen und Werthaltungen oder auf die Modifikation des „Verhaltens“. Keine dieser Methoden scheint geeignet, Moralkompetenz zu fördern. Die wenigen Studien, die es dazu gibt, zeigen kaum Effekte.1 Einige haben, wie die experimentellen Studien von Hartshorne und May2 zeigen, sogar einen negativen Effekt: Jugendliche, die in der Sonntagsschule in Religion unterwiesen wurden, neigten eher zur Übertretung von Regeln als zum Beispiel Schüler von Reformschulen (progressive schools). Auch die Methode der „Werteklärung“, die zeitweise stark genutzt wurde, zeigt kaum Wirkung.3 Zu anderen Methoden liegen bislang kaum Studien vor, in denen die Wirksamkeit für die Moralkompetenz geprüft wurde. Zu den wenigen Methoden der Moralerziehung, die empirisch evaluiert wurden und sich als wirksam erwiesen, gehören die Blatt-Kohlberg-Methode der Dilemmadiskussion, die Kohlberg trotz ihrer Wirksamkeit nicht mehr empfiehlt, und die hieraus entwickelte Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion. Beide sollen hier vorgestellt werden. Beide Methoden haben wenig gemein mit spontanen Diskussionen, mit Rollenspielen, mit philosophischen Seminardiskussionen oder mit den im angelsächsischen Raum bekannten Debatten, die auch bei uns populärer werden.

Die Dilemma-Methode von Blatt und Kohlberg

Trotz dieses Erfolgs riet Kohlberg davon ab, sie zu benutzen: „Unsere Forschungsbefunde zeigten an, dass die Operation erfolgreich war […] Der Patient jedoch starb: das heißt, wir kamen ein Jahr später zurück und fanden, dass kein einziger Lehrer weiter Dilemmadiskussionen machte, nachdem ihre Teilnahme an der Forschung zu Ende war.“7 Kohlberg deutet auch den Grund für die Ablehnung durch die Lehrer an. Die Lehrkräfte waren „kaum in der Methode ausgebildet.“8 Den Erfolg verdankten sie also mehr den Leitern der Forschungsprojekte, an denen sie beteiligt waren. Ohne deren Hilfe sahen sie sich offenbar nicht in der Lage, selbst die Dilemmadiskussion durchzuführen. Dafür war die Blatt-Kohlberg-Methode wohl auch zu komplex, worauf Oser und Althof hinwiesen: „Erstens ist die Konstruktion von Dilemmata mit zwei sich wirklich widersprechenden Grundwerten eine äußerst zeitaufwendige Sache […] Zweitens ist es für Lehrpersonen äußerst schwer, das Basismodell der Dilemma-Diskussion durchzuführen: [...] (a) Dilemma-Erfahrung, (b) Kontroverse, (c) +1-Konvention (Konfrontation mit Argumenten, die eine Stufe höher anzusiedeln sind als die Stufe des eigenen Denkens), (d) Prozessreflexion, die notwendig ist, um wirksam in Richtung der nächst höheren Stufe des sozio-moralischen Urteils zu entwickeln. […] Drittens besteht die Gefahr, dass das Argumentationsmaterial einer höheren Stufe, das Lehrpersonen unter Umständen vorbringen, in eine moralisierende Bewertung der Schülerargumente abrutscht.“9 Trotz Kohlbergs Abkehr von der Dilemmamethode gab es für mich zwei wichtige Gründe, an ihr festzuhalten – und sie zu verbessern:

1. Die Blatt-Kohlberg-Methode war bis dahin die einzige Methode, mit der sich die Moralkompetenz effektiv fördern ließ, und zwar viel effektiver, als dies sonst in Interventionsstudien der Fall ist. Mir schien, dass man sie noch effektiver und vor allem besser lehrbar machen konnte, so dass Lehrer sie besser lernen können.2. Sie nimmt die Teilnehmer als moralische und denkende Wesen ernst. Auch hier, schien mir, konnte noch einiges verbessert werden. Vor allem schien es mir wichtig, den Teilnehmern viel mehr Zeit für die eigene Auseinandersetzung mit Dilemmasituationen zu geben, als dies dort der Fall war.

Die Ziele der Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion®

Die KMDD wurde entwickelt, um die Fähigkeit von (jungen und alten) Menschen zu fördern, Probleme und Konflikte auf der Basis von universellen moralischen Prinzipien durch Denken und Diskussion zu lösen, also das zu fördern, was wir als Moralkompetenz bezeichnen. Diese Fähigkeit stellt eine Schlüsselkompetenz für das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft dar.10 Fehlt diese Fähigkeit, dann bleibt den Menschen zur Lösung von Problemen und Konflikt nur Gewalt, Betrug und die Unterwerfung unter andere. Die KMDD zielt primär nicht darauf ab, die Teilnehmer mit Ethik vertraut zu machen und zum moralphilosophischen Diskurs zu befähigen. Aber in Dilemma-Diskussionen entsteht meist ein starkes Interesse an moralphilosophischen Fragestellungen und, je nach Thema der Dilemmageschichte, auch an akademischen Fachgebieten, auf das Ethik- und Fachunterricht aufbauen können.

Moralkompetenz setzt sich aus einer Vielzahl von Teilfähigkeiten zusammen, die in Dilemmadiskussionen gebraucht und geübt werden:

¬

sich der eigenen Moralprinzipien bewusst werden; sie in Worte fassen.

¬

Umstände und Fakten einer Situation genau beachten.

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Die eigenen Prinzipien nach ihrer Wichtigkeit und Angemessenheit unterscheiden.

¬

Bei Konflikten zwischen gleichrangigen Prinzipien ein übergeordnetes Prinzip finden, das helfen kann, moralische Konflikte aufzulösen.

¬

Den eigenen Standpunkt auch dann vertreten, wenn Gegner anwesend sind und ei- ne andere Meinung vertreten als man selbst.

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Sich Zeit und Gelegenheit zum Denken und Diskutieren zu nehmen, auch wenn man zeitlich, emotional oder sozial unter Druck steht.

¬

andere Meinungen nicht nur zu tolerieren, sondern sie zu

schätzen

, weil sie einen zur Überprüfung der eigenen Argumente zwingen und dadurch vor Fehlern bewahren können.

Didaktische Leitideen der KMDD

Bei der Entwicklung der Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion standen fünf lernpsychologische Erkenntnisse über optimale Lernbedingungen Pate11:

I. Maximale Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft

Optimale Aufmerksamkeit wird bei der KMDD durch verschiedene Mittel erreicht. Die wichtigsten sind

a)

das Abwechseln von Phasen der Unterstützung und Herausforderung im Laufe einer KMDD-Sitzung,

b)

die Selbststeuerung der Diskussion durch die so genannte Pingpong-Regel,

c)

die Auswahl einer geeigneten Dilemmageschichte, und

d)

die Grundregel, dass in der Diskussion über die Sache diskutiert wird und nicht über Personen.

Für die Wirkung der KMDD ist es wichtig, dass die Übungsaufgaben für die Teilnehmer nicht zu einfach und nicht zu schwer sind, also eine mittlere Schwierigkeit besitzen. Wenn man die Lernenden mit zu einfachen Aufgaben unterfordert, lösen sie kaum Lernaktivitäten aus, ebenso wenn man sie mit zu schweren Aufgaben überfordert, was passieren kann, wenn man sie mit Geschichten konfrontiert, in denen eine reale Person vor einer schwierigen Entscheidungen steht. Wir lassen daher nur Geschichten diskutieren, in denen es um eine fiktive Person geht.

II. Wechselnde Phasen der Unterstützung und Herausforderung

Das Abwechseln zwischen Phasen der Unterstützung und der Hausforderung hat sich als der beste Weg herausgestellt, sich an das optimale Lernvermögen der Teilnehmer heranzutasten. Zudem hilft dies, das Aufmerksamkeitsniveau bei allen Schülerinnen und Schülern hoch zu halten. Es hat sich als günstig erwiesen, eine Dilemma-Stunde mit stützenden, helfenden Phasen zu beginnen, dann herausfordernde Phasen einzubauen und diese beiden Phasen während einer KMDD-Sitzung mehrmals zu wechseln. Wie das konkret aussieht, ist im Ablaufschema dargestellt.12

III. Selbststeuerung der Diskussion

Autonomie kann nur gelernt werden, wenn sie praktiziert wird. Daher erfolgt die Moderation bei der KMDD nicht durch den Lehrer oder die Lehrerin, sondern durch die Teilnehmer selbst. Nur auf diese Weise können die Teilnehmer lernen (und Vertrauen darin entwickeln), solche Diskussionen auch dann vernünftig und gewaltfrei zu gestalten, wenn keine Autorität eingreift. Die Selbstmoderation wird durch die Pingpong-Regel gesteuert, bei der derjenige, der gerade gesprochen hat, aus der anderen Gruppen jemanden aufruft, der sich durch Handzeichen meldet, um ihm zu antworten. Die Lehrperson ruft nur den ersten Redner auf, sonst beschränkt sie sich darauf, die Einhaltung der beiden Regeln zu überwachen.

Diese Selbstmoderation hat sich sehr gut bewährt. Der jeweilige Redner bekommt dadurch die Möglichkeit, die eigene Nervosität, die fast immer vorhanden ist, in den Griff zu bekommen und demjenigen zuzuhören, der auf ihn antwortet. Durch die Pausen, die hierdurch entstehen, bekommen die anderen Teilnehmer die Gelegenheit, das Gesagte zu verarbeiten und dem weiteren Diskussionsverlauf zu folgen. Man kann auch beobachten, dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Teilnehmer versuchen, beim Aufrufen der Teilnehmer aus der anderen Gruppe gerecht zu verfahren. Sie rufen bevorzugt jene auf, die zuvor noch nicht aufgerufen worden waren. Die Aufzeichnung eines Beobachters (s. Graphik von Hartmut Neuschwander) beschreibt die Aufrufe in einer vergleichsweise kleinen Gruppe, gibt aber ein typisches Aufrufmuster wider: obwohl manche sich viel öfter als andere meldeten, wurde jeder mindestens einmal aufgerufen.

IV. Auslösung einer Diskussion durch eine semi-reale Dilemmageschichte

Dilemmageschichten sollen „semi-real“ sein, denn in ihnen ist das Dilemma realistisch, der Protagonist jedoch fiktiv. Sie bieten dem Lehrer bzw. der Lehrerin eine gute Möglichkeit, den Grad der Emotionalisierung in der Klasse auf einem mittleren, optimalen Niveau zu halten. Semi-reale Geschichten lassen einen breiten Spielraum für die Wahl der Geschichte. Sie kann sich aus den Themen ergeben, die in einem bestimmten Fach gerade behandelt werden (z. B. Stammzellengewinnung in der Biologie oder das Gleichnis vom ›verlorenen Sohn‹ in Religion), oder aus der unmittelbaren Erfahrung der Teilnehmer. Man kann eine fertige Geschichte der Literatur oder den Medien entnehmen oder eine erfinden.

Wichtig ist, dass die Geschichte dem Zweck der KMDD angepasst wird: Sie muss von einer Person handeln, die vor einer schweren Entscheidung steht; sie muss in einer einfachen Sprache verfasst und so kurz wie möglich sein (nicht länger als eine Viertelseite), damit die Teilnehmer sich in der Diskussion noch an die Fakten präzise erinnern können; sie darf keine Wertungen und Vermutungen enthalten; sie soll andeuten, dass der Protagonist nachdenkt, und sie muss mit einer klaren Entscheidung enden, damit die Teilnehmer Stellung beziehen und abstimmen können: War sie richtig oder falsch?

Wichtige Definitionen

Dilemma:

¬

Zwangslage; Wahl zwischen zwei [unangenehmen] Dingen. (Duden)

Moralisches Dilemma:

¬

Die Wahl zwischen zwei Verhaltensalternativen, wenn beide eigenen moralischen Prinzipien widersprechen und es keine dritte Alternative gibt.

Semi-reales (hypothetisches) moralisches Dilemma:

¬

Die Zwangslage einer fiktiven Person, die zwischen zwei Verhaltensalternativen wählen muss, die gegen ihre moralischen Prinzipien verstoßen.

Edukatives moralisches Dilemma:

¬

Ein (semi-reales oder reales) Dilemma, das Teilnehmer an einer Dilemmadiskussion so zum Nachdenken über moralische Problemlösungen anregt, dass bei ihnen die Entwicklung der moralischen Urteils- und Diskursfähigkeit gefördert wird.Das Dilemma sollte so realistisch formuliert sein, dass beim Zuhörer Neugier und Spannung, aber keine lernhemmenden Emotionen (z. B. Ängste, Hass) ausgelöst werden.

V. Sachorientierung statt Personenorientierung

Um möglichst günstige Bedingungen für den Lernprozess zu schaffen, ist es sehr wichtig, dass sich die Diskussion auf das Dilemma, also den Widerstreit der beteiligten Moralprinzipien, konzentriert und nicht „persönlich“ wird. Der Moralphilosoph und Soziologe Georg Simmel argumentiert, dass dies nicht nur aus didaktischen, sondern auch aus moralischen Gründen geboten ist: „Die Loslösung des Interesses an der Sache von dem an der Person, um derentwillen jenes ursprünglich entstand, ist einer der wichtigsten Vorgänge im ethischen Leben“.13

Die KMDD hilft, einen Konflikt zu versachlichen, indem sie die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf den „moralischen Kern“ eines Konflikts lenkt. Das wird zum einen durch die Dilemmageschichte zu erreichen versucht: Der Protagonist ist fiktiv, so dass die Teilnehmer nicht in Versuchung kommen, eine konkrete Person anzugreifen oder zu verteidigen. Zum anderen durch die Grundregel der Diskussion: Es darf alles gesagt werden, aber es dürfen keine wertenden Bemerkungen über reale Personen gemacht werden, weder negative noch positive. Das heißt nicht, dass bei dieser Methode emotionales Engagement für den eigenen Standpunkt verboten ist. Im Gegenteil, damit die KMDD wirkt, ist es wichtig, dass moralische Emotionen geweckt werden. Die Methode soll den Teilnehmern ja helfen, diese bewusst zu machen, sie in Worte zu fassen und so moralisch-emotionale Konflikte durch Denken und Diskussion lösen zu können. Der Ablauf der gesamten neun Phasen einer KMDD-Sitzung wird in einer Tabelle im Anhang wiedergegeben.

Wie unterscheiden sich KMDD und Blatt-Kohlberg-Methode?

Die wichtigste Neuerung der KMDD bestand darin, den Teilnehmern mehr Gelegenheit zu geben, sich mit ihren eigenen moralischen Gefühlen und denen von Gegnern auseinanderzusetzen, also sich ihrer eigenen Moral bewusst zu werden und zu lernen, diese in Worte zu fassen, und damit kommunizierbar zu machen. Dafür wird die Rolle der Lehrperson stärker zurückgenommen, damit sie diesen Lernprozess nicht stört:

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Statt die Teilnehmer vier und mehr Dilemmageschichten in 45 Minuten diskutieren zu lassen, gibt die KMDD nur eine Geschichte vor und lässt den Teilnehmern 90 Minuten Zeit zum Nachdenken, zu Gesprächen und zur Reflexion über die eigenen moralischen Gefühle und die Gefühle der anderen.

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Statt durch höherstufige Argumente, die der Lehrer bzw. die Lehrerin vorgibt, wird bei der KMDD die Moralkompetenz der Teilnehmer durch die Auseinandersetzung mit

Gegenargumenten

stimuliert. Walker

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wies nach, dass es keiner „höher-stufigen“ Argumente bedarf, sondern dass generell alle Argumente, die von den eigenen verschieden sind, das moralische Denken herausfordern und die Entwicklung anregen können. Unsere Erfahrungen mit der KMDD bestätigen seine Befunde.

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KMDD-Teilnehmer bekommen – anders als bei der Blatt-Methode – vor der Diskussion Gelegenheit, sich der moralischen Gefühle, die bei ihnen durch die Dilemmageschichte ausgelöst werden, bewusst zu werden und sie in Worte zu fassen. Nach der Präsentation der Geschichte bekommen sie Zeit, zunächst allein für sich und dann in der Gruppe, darüber nachzudenken, ob die Geschichte wirklich ein moralisches Dilemma (oder auch mehrere) enthält und worin dieses besteht. Denn ein Dilemma liegt immer im Auge des Betrachters. Jeder Teilnehmer kann also ein anderes Dilemma in der präsentierten Geschichte sehen.

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Vor der Diskussionsphase bekommen die Teilnehmer zudem Gelegenheit, sich in kleinen Gruppen von drei bis vier auf die Diskussion im Plenum vorzubereiten. Meine Erfahrung ist, dass je mehr wir tun, um die Teilnehmer zu stärken, diese umso weniger dazu neigen, in der Diskussion „persönlich“ zu werden und einen aggressiven Ton anzuschlagen.

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Bei der KMDD wechseln sich Phasen der

Unterstützung

und

Herausforderung

rhythmisch ab. Damit wird erreicht, dass alle Teilnehmer über die ganzen 90 Minuten hinweg aufmerksam sind. Es passiert selten, dass sich jemand gelangweilt oder überfordert fühlt. Diese Maßnahme zur Affektregulierung im Unterricht fehlt bei der Blatt-Methode und ist auch sonst im Unterricht selten anzutreffen.

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Bei der KMDD moderieren die Teilnehmer die Diskussion selbst, nicht der Lehrer bzw. die Lehrerin.

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Der Lehrer bzw. die Lehrerin greift also nicht, wie bei der Blatt-Kohlberg-Methode, inhaltlich in die Diskussion der Teilnehmer ein, sondern hilft nur durch Handzeichen, die beiden Regeln einzuhalten. Am Ende dankt er allen für die lebhafte und faire Diskussion, aber enthält sich jeder inhaltlichen Bewertung. Bei einer Methode, die die moralische Autonomie der Teilnehmer stärken soll, sind Zensuren fehl am Platz.

Vorbereitung und Durchführung einer KMDD-Sitzung

Die der KMDD zugrunde liegende Idee einer universalistischen Moral kann nur verwirklicht werden, wenn die Methode selbst inklusiv ist. Sie auf bestimmte Menschengruppen zu begrenzen, wäre ein Widerspruch in sich selbst. Natürlich kann es aus praktischen Gründen notwendig sein, die Teilnahme zahlenmäßig zu begrenzen. Aber die Teilnahme an KMDD-Sitzungen sollte an keine Bedingungen geknüpft werden. Die Wahl der Dilemmageschichte sollte sich immer an den Teilnehmern orientieren, die die wenigsten Voraussetzungen mitbringen, damit niemand von der Diskussion ausgeschlossen wird. Weitere Maßnahmen können sein: Vereinfachung der Dilemmageschichte, einfachere Sprache und längere Mikropausen beim Vortrag der Geschichte.

An KMDD-Sitzungen können Kinder schon ab der dritten Grundschulklasse und Erwachsene bis ins hohe Alter teilnehmen. Es können auch problemlos lernbehinderte Schülerinnen und Schüler und demente Seniorinnen und Senioren teilnehmen. Die KMDD ist weder auf so genannte „Risikogruppen“ begrenzt, noch ist sie ausschließlich für „gute“ Klassen geeignet. Sie ist für alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen empfehlenswert, auch wenn Inhalt und Form der Dilemmageschichte den jeweiligen Bedürfnissen und Voraussetzungen angepasst werden müssen. Die KMDD ist in allen Gruppen gleich wirksam. Aber am augenfälligsten ist ihre Wirkung bei Menschen, die als schwierig gelten und denen man eine vernünftige Diskussion heikler Themen nicht zutraut. Besonders fruchtbar sind KMDD-Sitzungen mit bunt zusammengesetzten Gruppen, jungen und alten Menschen und Menschen mit einem unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Hintergrund. Fraglos stellen diese aber besondere Anforderungen an die Lehrperson.

Die KMDD wurde ursprünglich für Sekundarschulen und Hochschulen entwickelt, wurde aber auch schon in der Bundeswehr15 und in Gefängnissen16