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So viel Leid und Unterdrückung Unschuldiger in der Welt! Wo bleibt da der alliebende und gerechte Gott? Die Mystiker sagen, er sei in unserem Innern. Lehrte Jesus also nur geistige Versenkung und einen bahnbrechenden Humanismus? Die Bibel spricht eine andere Sprache, zum Beispiel jene der Wunder. Können wir heutzutage noch daran glauben? Aber ist denn das Buch der Bücher nun göttliche Offenbarung oder nur Mythos und Legende? Wenn Sie auf solche Fragen noch keine glaubhaften Antworten erhielten, sollten Sie mit Philipp auf Einkaufsbummel gehen. Statt Kleider findet er nämlich aufschlussreiche Diskussionen. Die besten Antworten geben am Ende nicht die großen Streiter, sondern ein kleines Mädchen.
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Seitenzahl: 118
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Gebt wohl Acht, dass niemand euch einfängt durch die Philosophie und eitle Täuschung, die sich auf menschliche Überlieferung, auf die Elemente der Welt gründet und mit Christus nichts zu tun hat. (Kol 2,8)
Vorwort
Feierabend
Frohe Botschaft
Über den Vater und den Sohn
Über die Erkenntnis
Über die Versuchung und das rechte Opfer
Über die Auferstehung und die Erlösung
Über den Glauben
Über den Zweifel und die Kraft des Guten
Über die Vergebung der Sünden
Über Sinn und Unsinn der Strafe
Über weltliche und himmlische Gerechtigkeit
Über Abkehr und Umkehr
Über das Wort Gottes
Über Gut und Böse, Wahrheit und Lüge
Jünger Christi
Die Lücke
Ein kleiner Engel
Ein großer Engel
Der Schlüssel
Anmerkungen
Das Christentum ist seit jeher gespalten, ja zersplittert, nicht nur wegen der Trennung der katholischen und der orthodoxen Kirche vor bald tausend Jahren oder weil die Reformatoren vor fünf Jahrhunderten sich mit der Kurie entzweiten. Auch spätere Reformbewegungen wie die Täufer oder die Pietisten wurden von beiden Volkskirchen bis aufs Blut bekämpft. Seit dem achtzehnten Jahrhundert streiten Erweckungsbewegungen mit um den rechten Glauben. So bewegt sich das Christentum heute im Spannungsfeld zwischen der Mystik, reinem Humanismus und den Charismatikern.
In diesem Zusammenhang entzündet sich ein unerwarteter Diskurs im Stadtpark. Jede der widerstreitenden Positionen scheint einen gewissen Rückhalt in der Heiligen Schrift zu finden. Am Ende der Diskussion scheint der Protagonist zwar befriedigende Antworten erhalten zu haben. Schon nach kurzem Nachdenken erkennt er aber klaffende Lücken. Bezüglich verschiedener existentieller Fragen lassen uns all die diskutierten Glaubensinhalte gänzlich im Dunkel. Wenn es den allliebenden Gott tatsächlich gibt, so kann es doch nicht sein, dass er die Menschen derart in leidvoller Ungewissheit lässt! In welch missliche Lage ist die Christenheit da nur geraten?
Allein zurückgeblieben sitzt der Protagonist ratlos sinnierend auf dem Rasen im Park, da spricht ihn ein kleines, verträumt wirkendes Mädchen an. Es scheint mehr zu wissen, als alle religiösen Lehrer. Am helllichten Tage wird er Zeuge von rätselhaften Vorgängen, die die Kirchen seit der Antike vergessen und verdrängt haben. So lernt er schließlich, dass die allgemeine Verwirrung nicht daran liegt, dass die Bibel widersprüchlich oder verworren wäre. Wir haben nur gründlich verlernt sie zu lesen.
Ach, war das ein anstrengender Tag! Dauernd diese Telefonate, die einen von den wichtigen Aufgaben abhalten. Gott sei Dank konnte ich dennoch etwas früher Feierabend machen. Ich habe heute Abend nichts Besonderes vor, und das Wetter ist gut. Heute Morgen hat es noch geregnet, doch um den Mittag ist die Wolkendecke aufgerissen. So ist die Luft sehr klar und frisch für städtische Verhältnisse. Ich will ein wenig auf Einkaufsbummel gehen. Ein neues sportliches Hemd oder ein Poloshirt könnte ich noch brauchen. Ich steige am Zürcher Hauptbahnhof aus dem Zug und spaziere in die Bahnhofstrasse hinein. Hier hat es eine ganze Reihe geeigneter Waren- und Modehäuser.
Nach zwei Häuserblocks komme ich am kleinen Park mit dem Pestalozzi-Denkmal vorbei. Eigenartig, normalerweise tummeln sich hier mehr junge Leute auf der Wiese und im Schatten der Bäume. Am Wetter kann es nicht liegen — ein wunderbarer Nachmittag. Ach so! Hier steht ein Mann auf einer Holzkiste und redet mit lauter Stimme und dramatischer Gestik auf die vorübereilenden Passanten ein. Ein missionierender Laienprediger. Daran wird es wohl liegen.
In pathetischen Worten mahnt er: »Wir sind alle gerettet, denn Jesus, der eingeborene Sohn Gottes hat sich für uns am Kreuz geopfert. Er hat all unsere Sünden auf sich genommen. Er ist auferstanden, wahrhaftig auferstanden, zum Zeichen, dass Er Macht über Tod und Leben hat. Kommt, folget Ihm nach und wählt das ewige Leben! …«
Ich halte kurz inne. Der Mann ist ziemlich jung und einfach gekleidet. Sein kurzes Haar hat gewiss schon lange keinen richtigen Schnitt mehr erhalten, doch seine Erscheinung ist ordentlich, aber gar nicht nach meinem Geschmack.
Woher nehmen diese Leute nur den Mut, sich derart der Lächerlichkeit preiszugeben? Ich bin fasziniert ob der freimütigen Ehrlichkeit und beeindruckt vom Feuer der Begeisterung, mit denen der Mann seine Überzeugung äußert. Zugleich bin ich bestürzt ob der Sinnlosigkeit seiner Predigt — ein wahrer Rufer in der Wüste, doch in einer ganz anderen Wüste als Johannes, der Täufer.1
Ich schaue um mich, und mir wird schmerzlich bewusst, in welch trauriger Einöde wir leben. Die Stadtmenschen leben dicht gedrängt, und dennoch oder vielleicht gerade deshalb wirken sie sehr einsam. Sie geben sich verschlossen, manche wirken abweisend oder gar aggressiv. Die Leute ziehen teilnahmslos vorbei, die meisten beachten den Prediger nicht. Einige schmunzeln belustigt, andere schütteln den Kopf.
Ich zögere kurz, doch dann trete ich hinzu und spreche den Redner in einer Atempause an: »Darf ich dich etwas fragen? Du predigst die frohe Botschaft vom Erlöser, und nur wer an den auferstandenen Sohn Gottes glaube, könne gerettet werden. Was nun, wenn ich ein guter, mitfühlender Mensch wäre, ein Suchender, der aber nicht auf diese Art an Jesus glauben kann? Wäre ich deshalb verloren?«
Entgeistert blickt der junge Mann zu mir her, als hätte seit Tagen niemand mehr mit ihm gesprochen. Dann entgegnet er entschlossen und fröhlichen Sinnes: »Lieber Freund, der Tag wird kommen! Wenn du wirklich ein Suchender bist, dann wird Jesus dir den rechten Glauben schenken!«
»Ich bin aber schon lange auf der Suche« wende ich ein, »doch diesen Glauben hat mir Jesus noch nicht geschenkt. Und all die vorbeieilenden Leute — wer weiß, wie lange sie schon suchen, und sie können dich noch nicht einmal hören. Sie wollen es gar nicht! Wie kannst du mit Jesus vereinbaren, dass du hier predigst? Er, dessen Botschaft du verkündest, sprach doch nur, wenn sie zu ihm kamen, sei es mit dem Durst nach Wahrheit und Gerechtigkeit oder aber um ihn herauszufordern mit dem Hass der Heuchler.«
»Jesus — dein Retter und Heiland — beauftragte uns: Was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern!2« ruft der Prediger mit ungebrochener Begeisterung, »wir sollen Seine Frohe Botschaft in die Welt tragen!« Die Worte Frohe Botschaft kommen mit besonderer Inbrunst über seine Lippen, und er wirft schwungvoll seine Hände in den sonnigen Nachmittagshimmel.
»Gewiss, doch Jesus sagte auch, wir sollen nicht das Heilige den Hunden geben, noch unsere Perlen vor die Säue werfen3«, erklingt überraschend eine ruhige Männerstimme neben uns. Ich habe gar nicht bemerkt wie er herangetreten ist, lautlos. Wir schauen uns an. Stille. Da glätte ich meine Stirn und wende meinen Blick verlegen zur Seite. Ich habe ihn wohl etwas zu skeptisch gemustert.
»Dein Zuhörer hat recht«, fährt der Mann mit einer winzigen Kopfbewegung in meine Richtung fort. Er scheint meinen prüfenden Blick gar nicht bemerkt zu haben. »Die Leute hier vernehmen deine Botschaft nicht. Sie gehen darüber hinweg ohne ihren Wert zu erkennen. Und sollten sie dich hören, so können sie dich dennoch nicht verstehen. Gib Acht! Wie streunende Hunde könnten sie dich anfallen und nach dir beissen.3 Wenn ihre Zeit reif ist, werden sie es hören, ob du sie nun anschreist oder schweigst. Du musst nur den Duft deiner Lebensfreude verbreiten, jenen Duft, der nur auf dem fruchtbaren Boden der Wahrheit erblüht. Dann wirst du zum Träger des lebendigen Feuers, das Jeden ansteckt, der sich davon berühren lässt.4 Gottes Wege sind wunderbar und unergründlich.5«
Ich bin bewegt ob der Ruhe, die in dieser Stimme anklingt. Es sind nicht einmal seine Worte, die mich am stärksten berühren. Nicht dass ich seinen tiefsinnigen Äußerungen nicht beipflichten müsste, doch ich habe Ähnliches schon anderweitig gehört und gelesen. Da ist eine innere Ruhe in seiner ganzen Erscheinung. Das scheint ein Philosoph zu sein, der viel über das Leben, über Gott und die Welt nachgedacht und dadurch einen inneren Frieden gefunden hat. Feuer, überlege ich, Feuer hat er schon, der Prediger, und dennoch muss ich dem Philosophen beipflichten: Auf mich wirkt es deplatziert, nicht ansteckend.
Entschieden hält der Prediger fest: »Die Heilige Schrift lehrt uns, dass nur gerettet werden kann, wer Jesus als Herrn bedingungslos anerkennt. Er bringt uns das ewige Leben. Jesus sagte: Niemand kommt zum Vater denn durch mich.6 Alle Menschen müssen dies erfahren. Ich bin Sein Knecht und gehöre Ihm mit Leib und Seele. Der Herr sandte uns aus, die wir den Glauben haben, damit wir es verkünden!7 Soll ich da im stillen Kämmerlein bleiben und mein Licht unter den Scheffel stellen?8 Nein! Ich muss meine Freude hinausrufen und Andere daran teilhaben lassen.«
»Freude und Lobpreis sind gut. Doch Jesus als Herr der Menschen, als Herrscher über das All?« schüttelt der Philosoph den Kopf, »welch tragisches Missverständnis seiner Botschaft. Das Volk Israel und auch seine unverständigen Jünger wollten ihn zu ihrem weltlichen König erheben.9 Die späteren Kirchenfürsten machten ihn dann zum himmlischen Kaiser, denn jetzt war er nicht mehr da, um sich ihnen entgegen zu stellen.«
»Er war und ist der König«,10 beharrt der Prediger, »dies sagte Jesus im Zuge der Gerichtsverhandlung selber zu Pilatus. Schon Jesaja hatte es vorausgesagt,11 und alle Evangelien bezeugen dies! «
»Beachte aber das Evangelium des Johannes«, hält der Philosoph entgegen, »als nämlich Jesus merkte, dass sie ihn zum König machen wollten, entwich er allein auf den Berg,12 und als Pilatus wissen wollte, ob nun er der König der Juden sei, stellte Jesus eine bezeichnende Gegenfrage: Sagst du das von dir aus, oder haben dir's andere über mich gesagt?13 Auch hier nannte sich Jesus ein König, jedoch der König der Wahrheit,14 und das war er auch. Jesus selbst gab sich immer wieder als Gleicher unter Gleichen, ja mit Vorliebe gar als Diener seiner Jünger. Denk zum Beispiel an die Szene, in der er seinen Jüngern die Füße wusch.15 Er war Erster im Sinn eines vorangehenden Fährtenlesers, nicht im Sinn eines Herrschers über die Seinen.«
Der Prediger ist ganz anderer Meinung. »Nein, da irrst du gewaltig«, entgegnet er, begleitet von einer entschiedenen Handbewegung, »auch bei Johannes bezeichnet sich Jesus ohne Einschränkung als König. Er ergänzt nur, Er sei in die Welt gekommen, um die Wahrheit zu bezeugen. In Jesus ist Gott selbst Mensch geworden. Du behauptest der Allmächtige herrsche nicht über diese Welt? Lächerlich!«
»Gott wurde in Jesus Mensch, ja«, pflichtet der Philosoph bei, doch er zeichnet mit seiner Hand einen großen Bogen in Richtung der Passanten und ergänzt, »so wie in uns allen, denn Gott schuf uns nach Seinem Bilde.16 Die Frage, ob Jesus wirklich Gott selbst sei, ist nebensächlich. Wenn es dir derart wichtig ist, dann glaube es, doch behalte es bei dir selbst und bei Gott.17 Jesus behauptete nie, Gott zu sein, sondern nur Gottes Sohn.Was heißt das? Im Gegensatz zu den gottfernen, dem Bösen verfallenen Kindern war und blieb er allezeit geistiger Sohn des Höchsten. Er war eins mit dem geistigen Vater, da er von Gott kam, sich ganz mit Seinem Willen verbunden fühlte und sich Seiner überwältigenden Liebe gewiss war. Auch wir können lernen, dass wir Kinder Gottes sind.18 Dies dann Knechtschaft oder Gehorsam zu nennen, ist weit gefehlt. Es ist Einsicht und Liebe — Einsicht, dass Gottes Wille die Wahrheit ist, an der sich alles messen muss und Liebe zu unserem Schöpfer und Bewahrer, der uns schon immer geliebt hat. Jesus war der Christus, der Erlöser, da er als Erster diese Wahrheit fand und weitergab.«
»Sagte Jesus nicht, wir seien alle Götter?19« fährt der Philosoph fort, »Jesus wollte Schwestern und Brüder, nicht Knechte und Mägde.20 Wagen wir es! Wir müssen uns dessen nur bewusstwerden!«
Der Prediger ist außer sich: »Götter, bewusstwerden — das ist die gnostische Suche nach Erkenntnis, die verblendet und in die Irre führt! Das steht schon in der Heiligen Schrift, angefangen beim ersten Brief des Paulus an die Korinther: Die Erkenntnis bläht auf; aber die Liebe baut auf.21 Das zieht sich weiter über mehrere seiner Briefe22 und ist historisch erwiesen! Wer glaubt Erkenntnis erworben zu haben, der irrt! Nicht wir sollen Gott erkennen — Gott erkennt uns.23 Erkenntnisstreben hat noch immer in Irrwegen, ja in Lug und Trug geendet.« Er erhebt abwehrend seine Hand: »Der Himmel bewahre uns!«
Der Philosoph hat anscheinend einen Punkt berührt, den der Prediger gelernt hat, entschieden abzuwehren. Die Schärfe in seiner Stimme verrät es.
Mittlerweile bin ich nicht mehr allein mit den Beiden. Die spannende Auseinandersetzung hat einen weiteren stillen Passanten bewegt, in seinem Abendtrott innezuhalten. Mir wird bewusst, welch eigenartiges Bild wir darstellen: Da stehen drei, vier Menschen spätnachmittags mitten im hektischen Einkaufsverkehr und streiten angeregt und lautstark über Glaubensfragen!
»Nein, verstehe mich richtig«, versucht der Philosoph zu klären, »ich meine Bewusstsein, nicht Erkenntnis! Die Gnostiker behaupteten, der Geist Jesu sei schon vor dem Leidensweg entrückt und so vom Leiden bewahrt worden.24 Deshalb bekämpfte sie Paulus. Er verurteilte auch, dass sie Erkenntnis durch Nachdenken und Versenkung suchten25 und entrückte Askese forderten, statt Hingabe an das Leben.26 Wenn wir solche Erkenntnis errungen haben, empfinden wir Stolz auf unsere Leistung.27 Und wenn dieser Stolz überheblich wird, ist er Verblendung. Das Bewusstsein das ich meine, war hingegen immer schon da, nur haben wir es vergessen. Wir müssen es lediglich zulassen, uns erinnern; wir müssen nur aufhören, es zuzuschütten in unserer Angst, dann ist es uns geschenkt. Die Erkenntnis von Gut und Böse ist uns von Anbeginn zuteil.28«
»Das ist sie doch, die Selbsterkenntnis der Gnostiker«, beharrt der Prediger, »werde dir deines göttlichen Kerns bewusst, denn eigentlich sind wir ja alle im Innersten schon sündlos. Somit wäre nur noch Enthaltsamkeit und Versenkung geboten, die Mitmenschlichkeit spielt keine Rolle mehr. Solche Stimmen hören wir unter anderem Namen auch heute. Nein, das kann ich nicht glauben!«
»Du verstehst mich noch nicht ganz«, korrigiert der Philosoph, »wir sind nicht im Innersten sündlos, aber von Anfang an geliebt, trotz unserer Sünden. Paulus wollte die urchristlichen Gemeinden vor der verführerischen Ichbezogenheit der Gnostiker bewahren und sich klar von ihnen abgrenzen. Deshalb forderten er und vor allem seine späteren Schüler die bedingungslose Annahme Jesu als auferstandenen Sohn Gottes. Es kommt in erster Linie darauf an, dass man vertraut und liebt, wie Paulus uns lehrte: Liebe erträgt alles, hofft alles, vergibt alles.29«