Pinguine küssen besser - Ina Glückauf - E-Book

Pinguine küssen besser E-Book

Ina Glückauf

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Beschreibung

Keine Pfiffe, keine Bemerkungen, die mit »Schätzchen« anfangen, und keine blöden Sprüche. Das ist es, was sich Carina wünscht und sie auf die skurrile Idee bringt, sich als Nonne zu verkleiden. Und siehe da, kaum trägt sie eine Ordenstracht, ist Carina für ihre Mitmenschen ein geschlechtsloses Wesen, dem man gern seine Sorgen anvertraut. Das tut auch der alleinerziehende Vater Jörn, was Carina vor ungeahnte Probleme stellt. Denn je mehr Zeit sie mit Jörn verbringt, desto rettungsloser ist sie in ihn verliebt. Doch wie soll sie ihm erklären, dass sich ausgerechnet eine vermeintliche Nonne in ihn verliebt hat?

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Das Buch

Seit ein paar Monaten ist Carina nun mit ihrem neuen Freund zusammen, doch die ganz große Liebe will sich nicht so recht ein­stellen. Muss es zwischen ihr und Maik eigentlich immer nur um Sex gehen? Und der ist nicht einmal erfüllend. Generell hat Carina das Gefühl, ständig auf ihr Äußeres reduziert zu werden. Gut, sie ist eine attraktive junge Lehrerin, aber müssen ihr deshalb die Männer gleich hinterherpfeifen? Als die nächsten Ferien vor der Tür stehen, kommt Carina auf eine verrückte Idee: Warum die freie Zeit nicht inkognito vor Ort verbringen, sozusagen ein Urlaub von sich selbst – beziehungsweise von ihrer äußeren Erscheinung? Was würde sich da besser eignen als eine Verkleidung als Nonne? Tracht, Schleier, Brille – fertig ist die Kostümierung. Plötzlich kann Carina sich frei durch die Stadt bewegen, ohne dass es blöde Sprüche gibt. Als Carina dem Pfarrer die Kollekte klaut und sich mit einem windigen Anwalt anlegt, ist sie in ihrem Element. Doch was soll eine vermeintliche Nonne tun, wenn sie sich unsterblich in einen alleinerziehenden Vater verliebt? Und spätestens, wenn die Ferien vorbei sind, muss Carina sich wieder »zurückverwandeln« …

Die Autorin

Ina Glückauf wurde im westfälischen Witten geboren. Nach mehreren Ausflügen in diverse Berufsbereiche führte ihr Weg statt ins Büro an den kreativen Schreibtisch, wo sie bisher vor allem Jugendbücher verfasst hat. Sie lebt in Friedrichshafen am Bodensee.

Von Ina Glückauf ist in unserem Hause bereits erschienen:

Nageln will gelernt sein

Ina Glückauf

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juli 2015

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: © Getty Images/Cultura RM/Art Wolfe Stock

ISBN 978-3-8437-1098-5

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

1.

»Nicht auf dem Küchentisch!«

»Warum denn nicht?«

»Ich will nicht, Herrgott noch mal! Das hier ist eine Küche und keine Lustgrotte!«

Empört versuche ich, Maik von mir wegzuschieben. Doch er drängt mich weiter gegen die Tischkante und knabbert dabei an meinem linken Ohrläppchen.

»Ich finde, Frauen sollten allzeit bereit sein«, raunt er, »und außerdem wäre das doch mal was anderes und ziemlich aufregend!«

»Hildegard Huckelmann könnte zum Fenster reinschauen und jeder Spaziergänger, der gerade die Poststraße entlangkommt!«, protestiere ich. Dann drehe ich ruckartig den Kopf zur Seite und befreie so mein Ohrläppchen aus Maiks Kauwerkzeugen.

»Wäre doch auch irgendwie geil«, erwidert Maik ungerührt.

Ich schubse ihn unsanft von mir. »Sex vor den Augen meiner sensationsgierigen Vermieterin, damit es morgen das ganze Haus oder besser noch die ganze Straße weiß, ja? Du spinnst doch!«

»Und du bist frigide!«

»Meinetwegen … es gibt Wichtigeres als Sex!«

»Findest du? Was denn zum Beispiel?«

»Denk mal nach, Maik«, schnaube ich.

Aber Maik ist nicht bereit nachzudenken. »Mach was du willst«, sagt er achselzuckend, »dann gehe ich eben nach oben zu Kirsten. Ich hab sowieso Hunger.« In aller Ruhe knöpft er seine Jeans wieder zu und latscht Richtung Wohnungstür.

»Guten Appetit!«, brülle ich Maik noch hinterher, doch er hat die Tür schon hinter sich ins Schloss fallen lassen. Das darf wirklich mal wieder nicht wahr sein! Mein Freund geht ein Stockwerk höher zu Mama Kirsten. Dass er seine Mutter beim Vornamen nennt, ändert nichts an der Tatsache, dass Maik ein Müttersöhnchen allererster Güte ist. Und nur weil Kirsten Knötterich zufälligerweise in der Wohnung über mir wohnt, freut sie sich noch lange nicht über meine Anwesenheit im selben Mietshaus und im Leben ihres Sohnes – im Gegenteil. Als Maik und ich uns noch gar nicht kannten, begnügte sie sich mit gelegentlicher Meckerei über das angeblich nicht perfekt gereinigte Treppenhaus. Doch inzwischen bin ich zu Staatsfeindin Nummer eins in Frau Knötterichs kleiner Welt geworden.

Als ich im Flur am Garderobenspiegel vorbeikomme, entdecke ich die roten Flecken an meinem Hals, die ich immer in Sekundenschnelle bekomme, wenn ich mich aufrege und ­wütend werde. In diesem Zustand hat es überhaupt keinen Zweck, mich noch mal an den Schreibtisch zu setzen und die Deutscharbeiten der Drittklässler zu korrigieren. Der Unterschied zwischen F und V ist mir momentan so schnuppe wie den meisten Kindern, die keinen Bedeutungsunterschied zwischen diesen beiden Buchstaben erkennen können. Wobei mir da leider sofort wieder zwei meiner Schüler aus der so unschuldig klingenden Marienkäfer-Klasse einfallen. Ich hatte Ahmed und Leon neulich dazu aufgerufen, ein paar einprägsame Merkwörter für diese Buchstabenregel zu finden. Was dann schließlich an der Tafel stand, hätte Maik sicherlich genauso gut gefallen wie Ahmed und Leon, die sich vor Lachen beinahe in die Hosen machten: vicken und fögeln.

Grimmig reiße ich die Kühlschranktür auf. Ich habe nämlich auch Hunger! Aber das interessiert ja hier keinen, geschweige denn dass Maiks Mutter mich je in ihre Wohnung eingeladen hätte. Ich könnte mir ein Omelett mit Champignons zubereiten. Alleine in der Wohnung zu sitzen, während Maik eine Etage höher von Mama gefüttert wird, macht mir aber auch keinen Spaß. Lieber rufe ich Sandra an. Ihren Laden wird sie in einer halben Stunde schließen, und Hunger hat sie dann bestimmt auch. Genug Zeit, mich noch mal umzuziehen, um den schöneren Teil des Abends einzuläuten.

Als ich in meinen pinkfarbenen Pumps und einem knielangen cremefarbenen Wollkleid die Wohnung verlasse, treffe ich vor den Briefkästen ausgerechnet Frau Knötterich. Das kostenlose Wochenblatt klemmt unter ihrem Arm. Etwas anderes werden wir Mieter auch niemals in unseren Briefkästen finden. Denn Hildegard Huckelmann hat die Angewohnheit, die Post ihrer Mieter eigenhändig aus den Briefkästen zu holen. Sie verfügt natürlich über einen Zweitschlüssel zu jedem Briefkasten und außerdem über die unerschütterliche Gewissheit, dass es ihr gutes Recht sei, ein wachsames Auge auf die Post zu haben. Ich vermute schon lange, dass Hilde Huckelmann selbst niemals Post bekommt und ihr Leben als Witwe und Hausbesitzerin einfach ein bisschen langweilig ist. Bis jetzt hat sich noch jeder Mieter mehr oder weniger zähneknirschend mit Hilde Huckelmanns Vorgehen abgefunden, denn die wirklich günstigen Mietpreise sprechen dafür, hier in der Poststraße zu verbleiben. Und für private Mitteilungen unter Freunden haben die meisten natürlich ihren E-Mail-­Account, der auch von Hilde nicht geknackt wird. Im Übrigen ist Frau Huckelmann letztlich eine herzensgute Seele. Ihre Sensationslust und Freude an der Einmischung ist meiner Einschätzung nach meist gepaart mit der Sorge um das Wohlergehen ihrer Mitmenschen. Für die Kinder in der Straße ist sie die Plätzchentante, die immer etwas Gutes im Bonbonglas oder in der Keksdose bereithält, und viele Nachbarn kommen gern auf ein Schwätzchen zum Fenster ihrer Küche, die praktischerweise genau wie meine im Erdgeschoss liegt und zur Straße hinausgeht.

»Ist Maik etwa schon gegangen?«, erkundige ich mich bei meiner Never-ever-Schwiegermutter.

»Es ist bezeichnend, dass du mich danach fragen musst, Carina«, entgegnet Frau Knötterich mit gehobenen Augenbrauen. »Du weißt, dass du nicht gerade mein Traum einer Schwiegertochter bist. Aber wenn du meinen Maik wenigstens glücklich machen würdest, dann würde ich mich aus reiner Mutterliebe ja damit abfinden! Stattdessen kommt der Junge ständig zu mir und braucht Trost, Essen und Alkohol, weil er bei dir nicht auf seine Kosten kommt!«

Leider bin ich damit beschäftigt, die Luft anzuhalten, denn eine Wolke von Kirsten Knötterichs Billigparfüm umnebelt mich, so dass mir schier die Sinne schwinden. Maiks Mutter eilt in ihren hässlichen gelben Frotteepantoffeln die Treppe hoch und ruft mir noch triumphierend zu: »An deiner Stelle würde mir das zu denken geben!« Dann lässt zum zweiten Mal für heute jemand aus der Familie Knötterich die Tür zufallen, bevor ich zu einer passenden Antwort ausholen kann. Übrigens habe ich Frau Knötterich nie das Du angeboten. Ich bin sicher, mein Hals sieht jetzt aus wie eine Ansammlung von Goji-­Beeren: rot und verschrumpelt. Dabei sollen die asia­tischen Wunderbeeren wenigstens für ein langes, gesundes Leben sorgen und dienen angeblich als Aphrodisiakum. Mein Liebesleben dagegen befindet sich unter dem Gefrierpunkt – und das, obwohl mein Freund vor einer halben Stunde noch Sex mit mir auf dem Küchentisch wollte. Oder gerade deswegen.

*

Zum Glück ist es bis zu Sandras kleinem Buchladen nicht so weit. Denn meinen Wagen aus der engen Hofeinfahrt herauszumanövrieren, ist für mich jedes Mal ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Drei Schrammen hat mein Fiat beim Rückwärtsrausfahren bereits abbekommen.

Meine Pumps kriegen nun auf dem kopfsteingepflasterten Teil der Fußgängerzone zwar auch ein paar neue Kratzer ab, aber die frische Luft tut mir gut – zumindest bis ein greller Pfiff mich zusammenzucken lässt. Aufgeschreckt blicke ich hoch. Auf dem Balkon des ersten Stocks am Gebäude der Stadtteil­apotheke stehen zwei glatzköpfige Typen in schwarzen Lederjacken, die jeder eine Dose Bier in der Hand halten und sich jetzt breit grinsend über die Brüstung beugen. »Willste nicht auf einen Schluck hochkommen?«, ruft der eine und schickt ein dreckiges Lachen hinterher.

Ich schaue stoisch geradeaus. Es hat erfahrungsgemäß nicht den geringsten Zweck, sich mit solchen Idioten auch nur auf das kürzeste Gespräch einzulassen.

»Ach, lass sie doch laufen«, grölt der andere. »Da gibt’s schön was zu gucken!«

Es gibt Momente, da wünsche ich, ich hätte mir einen Kartoffelsack übergestülpt und kein Kleid.

Sandra guckt unwirsch hoch, als ich den Laden betrete. Doch dann seufzt sie erleichtert: »Ein Glück, du bist es, ich hätte heute keinen weiteren von diesen Idioten ertragen.« Sie wirft mir ein Schlüsselbund zu. »Würdest du bitte abschließen?«

Dann wienert sie weiter wie besessen mit einem Baumwolltuch an der Ladentheke und der Kasse herum. »Du glaubst ja gar nicht«, zischt sie mir zwischen zusammengebissenen Zähnen zu, »was für Dumpfbacken heute hier wieder ihre ekeligen Fettfingerabdrücke hinterlassen haben!«

Sandra ist nicht kundenkompatibel. Dass ihr Laden das schon gute sieben Jahre lang überlebt, grenzt an ein kleines Wirtschaftswunder. Während andere Geschäfte ihren An­gestellten Verkaufscoachings angedeihen lassen und ihnen etwas über kundenorientierte Kommunikation beibringen, habe ich den Verdacht, dass Sandra einiges dafür tut, ihre Kunden eher zu vergraulen. Denn ihre schlechte Laune bei der Arbeit hat in meinen Augen längst überhandgenommen. Doch offenbar werden trotz allem noch genug Bücher gekauft. Sandras Laden ist mit seinen hellen Birkenholzregalen, den vielen dezenten Leuchten und edel gerahmten Zitaten bedeutender Schriftsteller jedenfalls wunderhübsch eingerichtet. Neben der Kasse steht heute eine Orchidee in einer schlanken Vase aus geschliffenem Glas.

»Ich bin ja immer noch davon überzeugt, dass du besser Innendekorateurin geworden wärst«, sage ich und nehme Sandra kurz in den Arm.

»Richtig!«, schnaubt Sandra dicht neben meinem Ohr. »Gegenstände sprechen wenigstens nicht mit einem.«

Mein Blick fällt auf die breite Auslage mit den Zeitschriften. »Willst du nicht mal die blöden Schmuddelblätter aussortieren?«, frage ich. »Dann kämen bestimmte Kunden schon mal nicht mehr.«

»Genau das habe ich heute beschlossen«, erwidert Sandra. »Diese bodenlose Idiotie der Themen ertrage ich einfach nicht länger, und die Idiotie der Kunden erst recht nicht. Und das wird ja nicht besser – im Gegenteil! Mit jeder Zeitung wird es schlimmer!« Sandra rubbelt über das Wechselgeldtellerchen, bis es glänzt. »Bringen wir es doch mal auf den Punkt«, sagt sie dann und schaut mich an. »Mit meiner Arbeit trage ich tagtäglich zur allgemeinen Verblödung bei. Schlimmer noch – über meinen Ladentisch geht die Grundausstattung der Verblödung!«

Ich räuspere mich und würde Sandra gern widersprechen, um sie zu trösten. Aber irgendwie hat sie ja recht. Mir geht es schon lange auf die Nerven, dass auf unzähligen Covern immer und immer wieder barbusige dralle Weibsbilder abgebildet sind. Allein bei der Vorstellung, wie Maik auf dem Weg zu seinen jeweiligen Baustellen an Kiosken vorbeiläuft, in deren Auslagen ihm ständig derartige Reize die Hirnbahnen verkleistern, steigt mein Wutpegel schon wieder rapide. Und mit den Zeitschriften ist es ja nicht getan! Mit jeder E-Mail, die man aus seinem Postfach holt, oder spätestens beim Aus­loggen werden einem doch heutzutage One-Night-Stands mit Fremden oder heiße Flirts angeboten. Wie oft ich in meiner Mailbox schon Angebote für Potenzmittel gefunden habe, kann ich schon gar nicht mehr zählen. Und wer den Fernseher zu späterer Stunde einschaltet, stößt garantiert auf eine Sex-Hotline und eine lüsterne Gestalt, die nachdrücklich verlangt, angerufen zu werden. Man muss wirklich nicht frigide sein, um das nervtötend zu finden.

»Maik wollte heute Sex auf dem Küchentisch«, informiere ich Sandra.

»Mach mich nur neidisch, das hat mir gerade noch zum Auftakt des Feierabends gefehlt«, knurrt Sandra.

Sandra ist seit drei Jahren unfreiwillig Single. Der Mangel an Freizeit gepaart mit zunehmend schlechter Laune hilft nicht unbedingt dabei, daran etwas zu ändern. Sandra ist außerdem der Ansicht, dass sie nur so aussehen müsste wie ich, um zehn Männer an jedem Finger zu haben. Das halte ich natürlich für einen großen Irrtum. Meine bisherigen Beziehungen waren schließlich auch nicht das reinste Paradies. Ich weiß, andere träumen von meiner blonden Lockenmähne, meinen blauen Augen und meiner Figur, die sich ohne strenge Diät auf schlanke eins achtundsiebzig verteilt. Aber ich träume nicht von den Pfiffen, die ich höre, wenn ich Bushaltestellen oder Kanalarbeiten passiere. Ich will nicht auf dem Weihnachtsmarkt ungefragt die Telefonnummer von Fremden in die Manteltasche geschoben kriegen. Und es gefällt mir nicht, wenn verheiratete Väter meiner Grundschüler nur in die Elternsprechstunde kommen, weil sie mal eine Viertelstunde mit mir allein verbringen wollen, statt sich dafür zu interessieren, warum ihr verkorkstes Kind in der Schule Probleme hat oder welche verursacht. Ich habe inzwischen das Gefühl, dass mit den meisten Männern kein vernünftiges Wort mehr zu reden ist, sobald sie mich erst mal erblickt haben. Und dummerweise habe ich dieses Gefühl zunehmend bei meinem eigenen Freund. Dabei hatte es recht vielversprechend zwischen uns begonnen.

»Kein Grund für Neid«, beruhige ich Sandra. »Ich bin ja nicht wahnsinnig und liefere das Gesprächsthema der Stadt. Ein dummer Zufall, und Hilde Huckelmann hätte uns vielleicht gesehen.«

»Der Nachteil von Erdgeschosswohnungen«, sinniert Sandra. »Aber es gibt Vorhänge!«

»Ich wollte so oder so nicht«, sage ich. »Maik gibt sich überhaupt keine Mühe mehr mit mir. Er will einfach nur seinen Spaß haben! Und er hatte schnell ein anderes Ziel: Mamas Abendessen. Du siehst also, dass auch ich nicht vor Konkurrenz gefeit bin. In diesem Fall waren es, dem Duft im Treppenhaus nach zu urteilen, Rouladen mit Sauerkraut, die mich in Rekordzeit ersetzt haben.«

Endlich stiehlt sich ein Grinsen auf Sandras Gesicht. »Ich hab dir ja von Anfang an gesagt, dass Maik höchstens dein Übergangsmann ist«, erinnert sie mich.

Vor einem halben Jahr fand ich Sandras These noch empörend. Ich musste zwar über den unschönen Abgang meines Exfreundes hinwegkommen, aber da ich gerne unbedingt an die Liebe fürs Leben glauben möchte, wollte ich damals vom Phänomen des Übergangsmanns nichts wissen. Mittlerweile sehe ich das leider mit anderen Augen.

Während Sandra noch ihre Kassenabrechnung erledigt, ­rücke ich die Taschenbuchstapel zurecht, die kreuz und quer auf der grünlackierten Holzrampe herumliegen. Die Kunden scheinen heute ausgiebig in den Krimis und den Liebesgeschichten gestöbert zu haben.

»Wollen wir ins Carlos gehen?«, schlage ich Sandra vor, die jetzt die Lichter löscht.

»Unbedingt«, stimmt sie zu. »Ich falle um vor Hunger.«

»Ciao, Bella!«, begrüßt Carlos mich charmant auf Italienisch, obwohl er Grieche ist. Und so charmant ist er bei genauerer Betrachtung auch wieder nicht. Denn ich bin schließlich nicht allein unterwegs. Sandra hat unser Lieblingslokal sogar vor mir betreten. Sie ist zwar einen halben Kopf kleiner als ich, ihre Körbchengröße ist zwei Nummern unter meiner, und sie ist brünett statt blond. Aber ihre dunkelbraunen Augen mit den langen Wimpern finde ich persönlich sehr ausdrucksvoll, und sie ist immer dezent, aber elegant gekleidet. Heute trägt sie eine enge Lederröhre und darüber einen weiten schwarzen Pulli mit raffiniertem Lochmuster. Und ihre glänzenden schulterlangen Haare hat sie mit zwei Silberspangen sehr apart hochgesteckt. Alles in allem gibt es nicht den geringsten Grund, Sandra zu übersehen.

»Eigentlich macht es keinen Spaß, mit dir auszugehen«, murrt sie dementsprechend, kaum dass wir an einem der runden Eichenholztische sitzen. Vom Tresen schauen gleich drei Mittvierziger zu uns herüber und tuscheln wie die Teenager. Ich zucke bedauernd mit den Schultern. »Vielleicht hätte ich keine pinkfarbenen Pumps anziehen sollen. Oder kein Kleid. Dabei ist es doch sogar hochgeschlossen. Und direkt darüber ist immerhin mein schrumpeliger Hals!« Ich beobachte nämlich schon seit längerer Zeit, dass mein Hals deutlich stärker altert als Sandras, obwohl uns nur zwei Jahre Altersunterschied trennen. Während ihr Hals immer noch glatt und ebenmäßig aussieht, haben sich bei mir faltige Jahresringe breitgemacht. Es sind noch keine 35 Stück, und es ist nicht so, dass mich das in Unruhe versetzt. Im Gegenteil – ich finde, die Männer könnten ruhig auch einen Blick auf meinen Hals werfen und nicht nur auf die Oberweite ein Stück weiter unten und die blonden Locken ein Stück weiter oben. Denn irgendwann werde ich mehr oder weniger am ganzen Körper so aussehen wie jetzt schon am Hals. Verschrumpelt eben. Falls es mir vergönnt sein sollte, das Verschrumpelungsalter lebendig zu erreichen. Eine Liebe fürs Leben sollte in meinen Augen eben genau diesem Zustand standhalten können, sonst ist es schließlich keine Liebe fürs Leben! Botox kommt für mich nicht in Frage. Abgesehen von meiner panischen Angst vor Spritzen kann ich kein Blut sehen und kriege schon beim Anblick von blauen Flecken eine unangenehme Gänsehaut. Der Rest ist Prinzip: Wie sollte ich mich je ans Altern gewöhnen, wenn ich mir dabei nicht im Spiegel zusehen kann?

Carlos stellt einen Gratisschnaps vor uns ab. »Geht aufe Haus!«, ruft er lächelnd.

Ich kippe das bittere Anis-Gesöff rasch runter. Im Augenblick ist ein Schnaps genau das Richtige. »Ich hätte mich wohl besser wie Aschenputtel angezogen«, seufze ich. »Männer scheinen geradezu reflexhaft auf Pink und Pumps zu reagieren. Dabei habe ich mich nun wirklich nicht für die Typen an der Bar hübsch gemacht, sondern für einen Abend mit dir!«

»Vergiss es!« Sandra winkt ab. »Die Idioten sind die anderen, und du musst dich nicht verstecken, nur weil die ihren Sabber nicht bei sich behalten können. Da wäre eh keiner für mich dabei. Im Grunde ist deine Anwesenheit wiederum ein gutes Kriterium: Wenn sie glotzen und sabbern, sind sie sowieso schon die Falschen. Ich meine – sie dürfen schon rüberschauen, aber nicht sabbern!« Sandra und ich gucken uns an und prusten los.

In der nächsten Stunde haben wir sehr viel Spaß. Das Sou­flaki, das Carlos persönlich serviert, ist köstlich, und die Männer am Tresen sind schnell vergessen. Sandra unterhält mich mit den neuesten Geschichten von ihren blödesten Kunden, und ich berichte von meinen nervigen Kolleginnen Martha Meierhans und Laura Lohner. Martha heißt bei mir insgeheim der Marterpfahl, denn Martha leidet. Grundsätzlich. An allem. Laura hat für alles den passenden pädagogischen Spruch parat, und ihre Besserwisserei lässt nicht den kleinsten Funken Humor zu. Mit Sandra dagegen kann man sich einfach herrlich kaputtlachen, sobald sie ihren beruflichen Stress nur hinter sich gelassen hat.

Etwas später schlendern wir Arm in Arm durch die nächtliche Fußgängerzone. »Wollen wir mal in der Steinstraße vorbeischauen?«, schlage ich vor.

»Gute Idee, ich hab Alina länger nicht gesehen«, antwortet Sandra.

Bei unserer gemeinsamen Freundin im Dachgeschoss brennt noch Licht. »Wahrscheinlich arbeitet sie mal wieder die halbe Nacht durch«, vermute ich.

»Ach, ein kleines Päuschen kann nie schaden«, sagt Sandra und legt entschlossen den Finger bei Rex auf die Klingel.

Ohne Nachfrage durch die Sprechanlage ertönt der Summer, und wir stiefeln durchs spärlich beleuchtete Treppenhaus bis ganz nach oben. Alina empfängt uns in einem knie­langen, ausgeleierten T-Shirt an der Wohnungstür, und ihr aschblonder Bubikopf ist noch verstrubbelter als sonst.

»Du siehst irgendwie fertig aus«, stellt Sandra zur Begrüßung fest. Ich hauche Alina ein Küsschen auf die Wange.

»Gut, dass ihr kommt, mein Leben ist zu Ende«, verkündet Alina mit hängenden Schultern.

Sandra runzelt die Stirn. »Alinchen, das habe ich von dir schon öfter gehört. Beim letzten Mal war es ein geplatztes Bilderbuchprojekt, das dann aber doch nur verschoben wurde.«

Auch ich weiß, dass Alina ein wenig zum Dramatisieren neigt. Allerdings will sie sich damit nicht wichtigmachen. Sie ist von manchen praktischen Anforderungen des Lebens einfach überfordert. Dafür ist sie eine wunderbare Künstlerin und Illustratorin. Außerdem wird sie schon einen Grund für ihre Aussage haben. »Was meinst du damit?«, hake ich nach. »Du bist hoffentlich nicht krank?«

»Meine Vermieter haben eine Mieterhöhung angekündigt«, antwortet Alina und wirft uns einen waidwunden Blick zu. »Das kommt aufs Gleiche raus, das überlebe ich einfach nicht.« Dann dreht sie sich um und läuft barfuß voran ins Wohnzimmer, das mit seiner Dachschräge und den vielen Grünpflanzen auf mich immer wie ein gemütliches Vogelnest wirkt.

Sandra verdreht die Augen. »Du übertreibst ja wieder mal ganz schön«, sagt sie. Fast gleichzeitig lassen wir uns links und rechts von Alina auf das durchgesessene graue Sofa fallen. Alina holt kraftlos einen Briefbogen vom Couchtisch.

Sandra nimmt ihr das Papier aus der Hand und beginnt vorzulesen: »Sehr geehrte Damen und Herren, … blablabla … Sanierungsarbeiten ungefähr vom … bis … blablabla … Umlegung von elf Prozent der zu erwartenden Kosten laut Vorkostenanschlag … verteilt auf zwei Jahre …«

Sandra lässt das Blatt sinken. »Du musst also demnächst ungefähr hundert Euro mehr bezahlen als bisher.«

Alina nickt und seufzt tief auf.

»Den Schreck spülen wir jetzt erst mal runter«, beschließt Sandra, springt auf und läuft rüber zur Küchenzeile. »Ein Dessert wäre auch nicht schlecht«, ruft sie und öffnet den Kühlschrank. Dann dreht sie sich langsam zu uns um. »Alina?«, sagt sie ungläubig. »Dein Kühlschrank ist ja vollkommen leer! Ist es wirklich schon so schlimm um dich bestellt? Dann musst du doch was sagen! Eine Portion Nudeln mit Gemüse kriegst du immer bei mir, gerne auch ein Schnitzel … das weißt du, oder?«

Alina hebt etwas verwirrt den Kopf. »Der Kühlschrank, ach so, nee, ich hatte bloß noch keine Zeit zum Einkaufen.«

»Aber du musst doch irgendwas Essbares im Haus haben, morgen ist Sonntag«, informiere ich Alina kopfschüttelnd.

»Echt?«, fragt sie und lässt sich gegen die Sofalehne sinken. »Morgen schon? Aber ich kann euch Kaffee anbieten. Kaffee ist immer da.«

Alinas Zeiteinteilung bezieht sich nicht auf Wochentage, sondern auf Abgabetermine.

»Wir sollten einen regelmäßigen Lieferservice für dich einrichten«, schlage ich vor.

»Das kostet bestimmt Geld«, wehrt Alina sofort ab.

»Wenn deine Vermieter das Dach dämmen und die Fenster austauschen, kannst du hinterher sicher Heizkosten sparen«, versucht Sandra sie zu ermutigen.

»Ich heize doch sowieso nicht!«, ruft Alina leicht verzweifelt aus. »Wie soll ich denn da etwas einsparen?«

»Du heizt nicht?«, fragt Sandra verwirrt nach. »Was soll das heißen?«

»Dieses gammelige Gebäude aus den Fünfzigern ist so altmodisch, dass hier und nebenan die Heizrohre direkt durch die Räume verlaufen. Ist dir das nie aufgefallen?« Tatsächlich hat Alina das schmucklose Heizrohr geschickt mit einem schmalen Holzregal und einer Zimmerpalme verdeckt. »Diese Rohre heizen, sobald im Herbst die Vermieter die Heiz­anlage anwerfen. Und das reicht. Meine Heizkörper stehen grundsätzlich auf null! Glaubst du, ich lasse mich von bösen Nachzahlungen durch unkontrollierbare Energiekosten überraschen? Im Zweifel mache ich mir eine Wärmflasche!«

Sandra nickt verstehend.

»Aber vielleicht machen sie ja auch hier im Innenbereich endlich mal was!«, werfe ich ein. Seit Jahren läuft Alina über einen abgenutzten Teppichboden, der wahrscheinlich auch schon seit den Fünfzigern hier liegt, und die Armaturen im Bad sind so veraltet, dass sie jedes Mal quietschen, wenn man die Hähne aufdreht.

»Davon stand aber nichts in dem Brief«, entgegnet Alina. »Und nun habe ich vorhin meinen Wichteln für die neuen Postkartenmotive grüne Hosen gemalt, obwohl sie blau werden sollten. Ich kann mich langsam schon gar nicht mehr konzentrieren.«

Sandra reckt entschlossen das Kinn. »Dann suchen wir eben eine neue Wohnung für dich.«

»Ich hab schon im Internet geguckt«, erwidert Alina dumpf. »Wahrscheinlich habe ich bis jetzt in der billigsten Wohnung der ganzen Stadt gewohnt. Es gibt keine billigen Wohnungen mehr. Außerdem hätte ich gar keine Zeit zum Umziehen … ich muss arbeiten! Wenn ich nicht arbeite, verdiene ich kein Geld mehr, und wenn ich kein Geld verdiene, kann ich die Miete nicht bezahlen. Aber wenn ich arbeite, kann ich sie bald trotzdem nicht mehr bezahlen. Wenn das nicht ungerecht ist!«

»Allerdings, das ist ungerecht«, bekräftige ich. »Vielleicht läuft es bald endlich mit deinen Aufträgen besser. Irgendwann muss die Verlagswelt doch merken, wie wunderbar deine Arbeiten sind.«

»Vielleicht, vielleicht«, murmelt Alina.

Sandra reibt sich grübelnd über die Stirn. »Wir brauchen entweder einen reichen Ehemann für dich oder einen Mäzen, den man heute wohl Sponsor nennt. Oder einen Manager, der den Verlagen so lange die Türen einrennt, bis sie einsehen, dass deine Arbeiten gedruckt werden müssen.«

»Pfff«, macht Alina. »Wer von uns beiden ist jetzt eigentlich noch mal unrealistisch?«

»Gut«, sagt Sandra, »fangen wir mit einem kleinen Schritt an: Ich schmeiße im Laden meine Zeitschriftenecke raus. Da stellen wir ab sofort Bilder von dir aus und bieten sie zum Kauf an. Einverstanden?«

Alina hebt den Kopf, und ein kleines Leuchten huscht über ihr Gesicht. »Die Idee ist gut«, gibt sie zu.

»Klasse!« Ich springe auf. »Und jetzt musst du wirklich was in den Magen kriegen, sonst nützen die vernünftigsten Gedanken nichts. Ich rufe im Carlos an, die sollen uns noch eine Portion Souflaki bringen, außerdem gebackene Banane im Honigmantel und einen guten Rotwein. Ihr seid eingeladen!«

*

Als ich kurz vor Mitternacht in die Poststraße einbiege, geht mir durch den Kopf, dass es schon mindestens vier Wochen her ist, seit Maik und ich mal den Samstagabend zusammen verbracht haben. Meist war uns kurz vorher ein Streit dazwischengekommen. Wenn ich es mir recht überlege, haben wir nicht nur aufgehört, die Samstagabende zusammen zu verbringen, vielleicht haben wir sogar schon aufgehört, eine Beziehung zu führen.

»Egal, was es is’. Den Kopp nicht hängen lassen!«, ertönt da plötzlich eine Stimme dicht über mir.

»Huch! Frau Huckelmann, jetzt haben Sie mich aber erschreckt!«, japse ich. Zu so später Stunde ist der Ausguck meiner Vermieterin am Küchenfenster normalerweise nicht besetzt.

»Hab gerade noch ’n Schwätzchen mit Herrn Hollentrupp gehalten. Dem seine Nichte studiert jetzt in Köln!«

»Seine Nichte«, verbessere ich automatisch.

»Sag ich doch«, entgegnet Hilde Huckelmann unbekümmert. »Die Telefonrechnung ist übrigens da. Noch ein Likörchen dazu?«

»Wenn Sie noch den mit Kirschgeschmack da haben …«

Ich schließe die Haustür auf, und Hilde Huckelmann öffnet ihre Wohnungstür. Ich folge ihr ins Wohnzimmer und lasse mich mit einem wohligen Seufzer in einen der beiden Sessel fallen, die mit grünem Samt bezogen sind und in denen man bis zum Brustbein versinkt. Hilde Huckelmann hat sich mit ihrer dunklen Schrankwand und den safrangelben Vorhängen zwar etwas altmodisch eingerichtet, aber irgendwie ist es bei ihr gemütlicher als bei meiner Mutter. Mama pflegt einen gewissen Kontrollwahn und passt permanent darauf auf, dass niemand Dreck in die Wohnung trägt, mein Vater auch nicht zu viel Fett zu sich nimmt oder einen Tropfen Alkohol zu viel trinkt oder zu spät ins Bett geht, was angeblich nicht gut sei für seinen Blutdruck. Um solche Dinge schert Hilde Huckelmann sich überhaupt nicht. Stattdessen schenkt sie Kirschlikör ein und stößt dann verschmitzt mit mir an. »So’n feucht-kühler Herbstabend braucht Gegenmittel«, sagt sie zufrieden und nimmt einen Schluck. Dann streckt sie mir meine Telefonrechnung entgegen. »Wieder einige Handys angerufen, was, Carina? Das macht die Sache unnötig teuer! Da hat man schon diese Pauschaltarife, und dann schröpfen die einen doch, wo sie nur können.« Tatsächlich liegt meine Telefonrechnung wieder gute fünfzehn Euro über dem Festbetrag. Maik ist praktisch nur auf seinem Handy zu erreichen, und auch meine Mutter hat sich neuerdings eins zugelegt. Sandra möchte tagsüber ebenfalls auf ihrem Handy angerufen werden, damit ihr Geschäftstelefon nicht mit Privatgesprächen belegt ist – da kommt so einiges zusammen.

»Sie wollen wohl kein Handy, Frau Huckelmann?«, erkundige ich mich.

»Auf keinen Fall«, erwidert meine Vermieterin entrüstet. »Alles Wichtige sagt man sich von Antlitz zu Antlitz, alles andere ist Quatsch mit Eierlikör.«

Grinsend lehne ich mich zurück. Hilde Huckelmann hat es wirklich drauf, gelegentlich äußerst vornehme Ausdrücke in ihre Sätze einzubauen, sie aber sofort wieder mit einem kernigen Spruch zu unterhöhlen. Als mein Blick den Tischkalender auf dem Nierentischchen neben meinem Sessel streift, fällt mein Grinsen in sich zusammen. Eine unangenehme Ahnung schleicht sich an. Den Kalender hat Hilde Huckelmann offenbar zuletzt im Mai umgeblättert.

Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre, lese ich. Der Spruch ist von Friedrich Schiller und stammt aus Die Räuber. Der Satz ist mir präsent. Maik hat mich damit beeindruckt, als wir uns im Frühsommer zum ersten Mal begegnet sind. Hilde Huckelmann hatte das Dach erneuern lassen, und Maik war als Dachdecker im Einsatz ge­wesen. Während er am Gerüst hochkletterte, lernten wir uns kennen. Maik sah gut aus, kräftig, aber schlank, und er gab mir bereitwillig über die anstehenden Arbeiten Auskunft und auch über die gesetzlichen Vorschriften, die so manchen Arbeitsschritt eher erschweren als erleichtern. Am Abend tranken wir hinter dem Haus auf dem kleinen Rasenstück und der dort aufgestellten Gartenbank zusammen ein Bier aus der Flasche. Von da an machte Maik bei jedem Einsatz einen kurzen Halt an meinem Fenster. Passenderweise hatte ich gerade zwei Wochen Ferien und freute mich zunehmend auf die morgendliche Plauderei und das gemeinsame Bier am Abend. Maik flirtete mit mir, aber er übertrieb es nicht. Und er schien sich für Schiller und Goethe zu interessieren. Das gefiel mir.

Gedankenverloren blättere ich zurück.

Aus den Wolken muss es fallen,

aus der Götter Schoß das Glück,

und der mächtigste von allen

Herrschern ist der Augenblick.

»Auch Schiller«, murmele ich vor mich hin. Dieses Zitat brachte Maik an, als er mich spontan zum ersten Mal zum Mittagessen einladen wollte und ich zufällig wirklich zu Hause war. Ich war beeindruckt. Ich war verknallt. Ich war bescheuert.

»Frau Huckelmann, als die Dachdecker hier im Sommer gearbeitet haben, waren da die Arbeiter manchmal in Ihrer Wohnung?«

»Na sicher doch, so’n paar Schnittchen mit Salami hatten die Kerle sich doch verdient. Ha’m ja ordentlich gearbeitet. Und wer malocht, muss essen.«

»Waren die hier im Wohnzimmer oder in der Küche?«, hake ich nach.

»Beides, manchmal waren’s ja gleich fünf Kerle. Maik immer mittendrin, übrigens.« Hilde grinst.

»Und der Kalender mit den Zitaten«, will ich jetzt wissen, »stand der immer schon hier?«

»Nee, der stand im Sommer noch in der Küche. Da hab ich immer zum Käffchen am Morgen einen Spruch gelesen. Sollte ich eigentlich wieder machen. Hab’s bloß vergessen, seit ich den Kalender mal umgeräumt habe.«

Ich schürze nachdenklich die Lippen und nicke bedächtig vor mich hin. »Maik und Schiller … im Grunde hat das nie wirklich gepasst«, sage ich leise vor mich hin.

Hilde Huckelmann kichert auf einmal. »Aber war doch ’ne prima Idee von mir, oder?«

»Was war eine prima Idee?«

»Dem Herrn Knötterich zu verraten, dass Sie eine ganz schlaue Lehrerin sind und ein bisschen Bildung nicht schaden kann, wenn man sich für Sie interessiert. Dass Sie aussehn wie’n Model brauchte ich dem ja nicht mehr zu erzählen, das hat er ja gleich selber gesehen. Die Stielaugen ha’m ja Bände gesprochen.«

»Sie haben Maik dazu geraten, mich mit Schiller-Zitaten zuzutexten?«, frage ich nach und sitze auf einmal so kerzengerade, wie es in dem weichen Sessel möglich ist.

»Sicher.« Hilde Huckelmann nickt zufrieden. »Und hat doch geklappt. Jetzt sind Sie ein schönes junges Paar.«

»Pfff …«, mache ich und lasse mich kraftlos wieder zurücksinken.

Meine Gedanken fahren Achterbahn. Nachdem Maik mich irgendwann auf der Gartenbank zum ersten Mal geküsst hatte, war ich vorübergehend noch verknallter. Die Schiller-­Sprüche ließen rapide nach, aber das ist mir damals gar nicht aufgefallen. Maik hatte mich ganz klassisch um den Finger gewickelt. Und ich hatte meinen Übergangsmann. Was Sandra sofort klar gewesen war. »Dachdecker sind zwar schwindelfrei«, hatte sie gesagt, »aber meistens nicht frei von Schwindeleien!«

Solche Vorurteile wollte ich nicht gelten lassen. Mit Dachdeckern hatte ich nie zuvor zu tun gehabt, Sandra meines Wissens aber auch nicht. Ehrlich gesagt hatte ich ihre Kritik damals sogar für eine kleine Neid-Attacke gehalten. Denn Maik kam, als Sven mich nur zwei Monate vorher gegen ein noch blonderes, noch vollbusigeres Modell eingetauscht hatte. Ich war anfällig gewesen für Trost, für Komplimente – und für Schiller-Zitate. Ich liebe Schiller. Und Maik schien mir der Himmel geschickt zu haben. Doch letztlich war er nur von seinem Dachdeckerbetrieb geschickt und wusste über Schiller nicht mehr als das, was in Hilde Huckelmanns Küchenkalender zu finden ist. Was ja an sich nicht weiter schlimm gewesen wäre. Schlimm ist, dass Schiller ihm letztlich schnurzegal ist und Maik die Zitate lediglich dazu benutzt hat, mich rumzu­kriegen. Letztlich ist Sex ihm doch das Wichtigste. Am allerschlimmsten ist aber, dass ich darauf reingefallen bin.

»Frau Huckelmann, haben Sie auch einen ordentlichen Schnaps da?«

Eine gute halbe Stunde und drei Schnäpse später verabschiede ich mich von Hilde Huckelmann und wanke nach nebenan. Aus dem Augenwinkel bemerke ich beim Aufschließen, dass Kirsten Knötterich mir mit Tesafilm eine Staubfluse an den Türrahmen geklebt hat. Ihr Vorwurf klebt unsichtbar daneben. Dabei bin ich in dieser Woche gar nicht mit Kehren dran! Im Flur streife ich mir die Pumps von den Füßen, im Schlafzimmer werfe ich mein Wollkleid über den Lesesessel. Dann kuschele ich mich ins Bett, ohne mir die Zähne zu putzen. Auf einmal bin ich hundemüde. Trotzdem greife ich noch zum Handy und versuche Maik zu erreichen. Doch er geht nicht ran. Wo mag er in einer Samstagnacht um diese Uhrzeit stecken? Warum geht er nicht ans Telefon? Ganz sicher hockt er nicht über den Werken von Schiller und Goethe.

Ich fürchte, zwischen Maik und mir hat es sich ausgeschillert.

*

Nach einem Sonntag, den ich voller Katzenjammer im Bett und auf dem Sofa verbracht habe, schleppe ich mich am Montagmorgen lustlos in die Schule. Maik hatte gestern den ganzen Tag über sein Handy ausgeschaltet. Und ich hätte mich natürlich lieber vom Dach des Mietshauses gestürzt, als bei Kirsten Knötterich anzufragen, wo ihr werter Sohn sich herumtreibt. So sehr ich mich bereits am Ende unserer Liaison angekommen fühle – einen Schlussstrich zu ziehen ist immer schwer. Und vielleicht können wir das Ruder ja doch noch mal herumreißen und über alles reden?

Als ich im Lehrerzimmer die Kaffeedose öffne und feststelle, dass sie gähnend leer ist, droht mein Energielevel noch sehr viel weiter abzusacken. Bevor ich mich ohne meinen morgendlichen Kaffee den lieben Kleinen stelle, frage ich lieber unseren Hausmeister in seinem Büro beim Haupteingang, ob er mir einen halben Becher aus seiner stets gut gefüllten Kanne abgeben kann.

Heinrich ist ein freundlicher Gemütsmensch und bringt für eine Grundschule das richtige Nervenkostüm mit. Als ich um die Ecke biege, fällt mir sofort das neue Schild über Heinrichs Büro auf. Fäcility Manager ist dort in sauber ausgedruckter Times-New-Roman-Computerschrift auf einem laminierten Blatt Papier zu lesen.

»Morgen, Heinrich, bist du irgendwie befördert worden?«, erkundige ich mich.

Heinrich lässt seinen Schraubenzieher sinken, mit dem er gerade an einer ausgebauten Steckdose herumgeschraubt hat. »Nö, ich war schon immer Fäcility Manager. Hab ich bloß ­selber nicht gewusst. Aber letzte Woche kam die Ehrgeizige, du weißt schon, die Mutter von der kleinen Sabrina, und die wollte von mir wissen, wo denn hier der Fäcility Manager ist.«

»Ach, Frau Möller.« Ich nicke. Frau Möller erwähnt jetzt schon jede dritte Woche, dass Sabrina unbedingt die Empfehlung fürs Gymnasium benötigt. Dabei ist Sabrina erst in der ersten Klasse. »Und was hast du geantwortet?«

»Ich hab ihr gesagt, so was gäb’s hier nicht. Da ist die mir aber fast ins Gesicht gesprungen! An jeder Schule müsste es ja wohl einen Hausmeister geben, wer sich denn sonst bitte schön um den abgebrochenen Kleiderhaken vor Sabrinas Klassenzimmer kümmern würde.«

Ich fange an zu kichern. Die Szene zwischen der aufgeregten Frau Möller und dem gemütlichen, des Englischen eher unkundigen Heinrich kann ich mir lebhaft vorstellen.

»Ja, da hab ich gesagt, einen Hausmeister gibt es natürlich, der würde persönlich vor ihr stehen. Da hat sie mich ganz verwirrt angeguckt, aber dann hab ich den Kleiderhaken repariert, und sie war zufrieden. Seit gestern weiß ich nu’ jedenfalls, dass ich Fäcility Manager bin.«

»Gratuliere, Heinrich. Hast du trotzdem einen Schluck Kaffee für mich? Ich revanchiere mich in der Pause mit einer Mohnschnecke.« Nach zwei Schlucken geht es mir irgendwie besser, und ich laufe summend in den ersten Stock. Vor dem Lehrerzimmer treffe ich auf den Marterpfahl.

»Morgen, Carina. Ich wünschte, ich könnte auch schon so früh am Morgen ein Liedchen singen.«

»Tu’s doch einfach, Martha«, empfehle ich freundlich und denke dabei innerlich, dass schon viel gewonnen wäre, wenn Martha nicht ständig schlammfarbene, beutelartige Hosen und Blusen tragen würde.

»Bei dem Wetter? Das gießt ja wie aus Eimern!«, entgegnet sie mit Leichenbittermiene.

»Nun ja, es ist eben Herbst«, sage ich leichthin.

»Da können wir mit den Kindern in der Pause aber nicht raus!«

»Dann bleiben wir eben drin«, antworte ich achselzuckend.

»Man hat wirklich keine Minute seine Ruhe an solchen Tagen«, jammert Martha.

»Bald sind ja Ferien«, biete ich als Lichtblick an.

»Pah, Ferien!«, macht Martha, als hätte ich etwas völlig Abwegiges gesagt. »Weißt du, wie viele Klassenarbeiten ich noch korrigieren muss? Und dann scheint bestimmt die Sonne! Wenn ich am Schreibtisch sitze und nicht rauskomme!«

»Sonne gibt einem Energie und Schwung«, wende ich ein, »und denk doch auch mal daran, dass das Schuljahr bis zu den Weihnachtsferien auch nicht mehr so lang ist.«

»Ich darf gar nicht dran denken!«, stößt Martha empört hervor. »In ein paar Monaten schon Weihnachten. Das ist doch Stress pur! Bis dahin müssen noch so viele Klassenarbeiten geschrieben werden.«

»Dafür haben wir sie dann hinter uns und können in den Weihnachtsferien entspannen«, gebe ich zurück.

»Hast du eine Ahnung. Von wegen entspannen …« Glücklicherweise erlöst mich die Klingel von diesem Gespräch. Martha hat mich wieder mal an den Punkt gebracht, an dem ich schier verzweifeln könnte. Martha lässt sich einfach nicht aufmuntern. Daran kann man sich die Zähne ausbeißen. Und wenn man ihr dann zahnlos gegenübersäße, würde sie einen noch darum beneiden, dass man mit Brei gefüttert wird, während sie selber kauen muss!

Ich presse meine Ledertasche an mich und stürme davon. »Bis später!« Da freue ich mich richtig auf meine Zweitklässler, die noch eine wahre Freude darüber empfinden, dass ihre gepressten Blätter so schön geworden sind und sie ihre Werke heute in ihr Herbst-Album einkleben dürfen.

»Guck mal, Frau Schmidt, mein erstes Blatt leuchtet irgendwie!«

»Ja, ein sehr schönes Orangerot«, bestätige ich und streiche Lisa kurz über den Blondschopf. Lisas Mutter war vor kurzem in der Elternsprechstunde und hat sich darüber beschwert, dass die Kinder zu viele Hausaufgaben machen müssen. Dabei macht Lisa ihre Hausaufgaben gerne und ist motivierter als jedes andere Kind in der Klasse. Wäre sie überfordert, dann würde ich das schnell mitbekommen. Manchmal frage ich mich wirklich, wie so nervige Eltern so süße Kinder hervorbringen können.

»Ich schenke mein Herbst-Album dir.« Lisa strahlt.

»Oh, das ist wirklich lieb von dir«, sage ich gerührt. »Aber wahrscheinlich freut sich deine Mama auch sehr darüber. Oder deine Oma.«

Lisa legt den Kopf schief. »Stimmt«, erklärt sie dann. »Aber die erste Seite, die mache ich einfach raus, das ist die mit dem Leuchtblatt, und die kriegst du.«

Bis zur großen Pause hat es aufgehört zu regnen. Martha hat Pausenaufsicht, und ich sehe sie von meinem Klassen­zimmer aus mit eingezogenem Hals missmutig neben der Rutsche stehen. Somit ist klar, dass ich den Vordereingang nehme, um rasch zum Bäcker zu laufen.

Nur noch eine Person ist vor mir dran, und die zweite Verkäuferin schaut mich schon erwartungsvoll an. Klappt ja wie am Schnürchen – immerhin sind unsere Pausen nicht sehr lang. »Zwei Mohnschnecken, bitte.«

In dem Moment dreht sich die Kundin vor mir um, und ich sehe erst jetzt, dass es sich dabei um meine Kollegin Laura handelt. Mit ihrer mausgrauen Prinz-Eisenherz-Frisur und dem immer gleichen wetterfesten Anorak in Dunkelblau ist sie aber auch leicht zu übersehen.

»Hallo, Carina, du weißt aber schon, dass wir den Kindern gerade die Sache mit dem gesunden Frühstück beibringen, oder?«

»Ja, sicher, warum?«

»Weil wir den Schülern da ein Stück weit schon ein Vorbild sein sollten. Muss es denn unbedingt ein süßes Gebäckteilchen mit weißem Zucker sein?«

»Das kriegen die Kinder doch gar nicht zu sehen«, verteidige ich mich, während Laura eine Tüte voller Dinkel-Vollwertbrötchen entgegennimmt. Ich beginne mich gerade darüber zu ärgern, dass Laura mir wieder mal eine Rechtfertigung abverlangen will, doch dann erwidere ich: »Die eine Mohnschnecke ist außerdem gar nicht für mich, sondern für einen Facility Manager, den ich zufällig persönlich kenne.«

»Wie du meinst«, sagt Laura nur achselzuckend und verabschiedet sich aus der Bäckerei.

Und ich beschließe, diese Schulpause einfach bei Heinrich im Hausmeisterbüro zu verbringen. Unsere Rektorin sieht es zwar eigentlich ganz gern, wenn sich während der Pause möglichst alle Lehrkräfte im Lehrerzimmer versammeln. Denn die Pausen werden oft zu Lagebesprechungen umfunktioniert. Aber für heute habe ich die Nase von Martha und Laura bereits gestrichen voll, selbst wenn ich natürlich auch noch nette Kolleginnen habe. Sabine ist heute aber krank, und Martina ist so heiser, dass man mit ihr sowieso kein Wort wechseln kann. Heinrich freut sich über seine Mohnschnecke, ich bekomme noch einen Becher Kaffee. Den Rest der Pause verbringen wir in schweigsamer, freundlicher Eintracht, während ein Herbststurm ums Gebäude pfeift.

Bis zum späten Nachmittag bin ich richtig erschöpft. Martha hat es irgendwie fertiggebracht, mit mir ihren Hausaufgabenbetreuungsdienst zu tauschen und mir gleichzeitig noch mal ausgiebig die Ohren darüber vollzujammern, dass das Wetter so schlecht ist, sie noch einen riesigen Berg Bügelwäsche zu erledigen hat, ihre Schwiegermutter ihr einen Besuch am Wochenende abverlangt, die Kinder wieder so laut waren, das Schneeschippen im Winter sicher eine Katastrophe wird, immer mehr Leute in ihrem Umkreis an unheilbaren Krankheiten leiden und schon so bald Weihnachten sein wird. Mit diesem Ohrwurm setze ich mich bestimmt nicht an den Schreibtisch! Lieber mache ich einen Abstecher zum Supermarkt und kaufe ein Kilo Obst, einen großen Kürbis, Pilze, Käse, Butter und ein Mehrkornbrot. Meine Beute schleppe ich auf dem direkten Weg in die Steinstraße. Heute überrasche ich die geplagte Alina mal mit einem ordentlichen Abendbrot.

»Du bist ein Engel«, sagt Alina strahlend, als ich schnaufend im Dachgeschoss angekommen bin. »Ich habe Rückenschmerzen und Hunger, und mein rechtes Handgelenk tut weh.«

»Das trifft sich gut, ich koche was für uns«, kündige ich an und wuchte die Einkaufstüten auf die Anrichte der Küchenzeile. »Du musst mir nur dein Rezept für Kürbissuppe ver­raten.«

Während ich zuerst einen Kaffee aufsetze und dann den Kürbis zerteile, erzählt Alina, dass sie weiterhin vergeblich auf Wohnungssuche ist.

»Vielleicht sollten wir bald mal wieder zusammen aus­gehen«, schlage ich vor. »Du kannst doch nicht die ganze Zeit um dieses Problem kreisen!«

»Ich muss arbeiten«, wiegelt Alina ab.

»Aber es wäre wirklich nicht schlecht, wenn du mal wieder einen Mann kennenlernen würdest, da hat Sandra schon irgendwie recht«, beharre ich.

»Ich habe gar keine Zeit für einen Mann«, entgegnet Alina. »Ich habe Abgabetermine. Und so richtig glücklich bist du mit Maik doch auch nicht, oder?«

»Das stimmt allerdings«, seufze ich. »Er will ständig mehr Sex als ich. Neulich hat er mich sogar als frigide bezeichnet. Dabei will ich einfach eine tiefergehende Beziehung und einen warmherzigen Mann, der sich wirklich für mich interessiert. Sonst habe ich auf alles andere tatsächlich auch keine Lust.«

»Siehst du«, sagt Alina, »mit einem Mann lösen sich nicht automatisch alle Probleme in Luft auf. Und ich habe schon reichlich Probleme. Ich bin nicht sicher, ob ich noch einen Mann dazu verkrafte. Aber was ist mit dir, willst du nicht eigentlich beizeiten mal eine Familie gründen?« Alina betrachtet mich forschend. Ich trinke einen Schluck Kaffee.

»Nicht um jeden Preis«, antworte ich dann langsam. »Du weißt, ich mag Kinder. Aber ob ich selbst welche bekommen will? Es fängt ja schon damit an, dass ich kein Blut sehen kann und panische Angst vor Spritzen habe. Selbst beim Anblick von blauen Flecken bekomme ich eine Gänsehaut. Was die Geburt betrifft, würde ich praktisch so oder so in Ohnmacht fallen, ob mit oder ohne Betäubung. Und wenn mein Kind sich mal das Knie aufschlägt, hat es eine schreiende, hilflose Mutter zu Hause. Ich bin ja schon immer froh, wenn sich in der Schule die Kolleginnen um solche Fälle kümmern.«

»Eine Adoption wäre in deinem Fall wohl besser«, sagt Alina grinsend.

»Stimmt«, bestätige ich und proste ihr mit der Kaffeetasse zu. »Und in der Zwischenzeit habe ich ja nun ausgiebig mit Kindern zu tun. Aber weißt du was? Mein nächstes Ziel sind erst mal richtig schöne Herbstferien, egal, was mit Maik ist oder nicht mehr ist.«

»Gut so.« Alina nickt. »Du hast ja in jedem Falle noch Sandra und mich.«

»Und außerdem strebe ich an, in Zukunft auf gar keinen Fall, also wirklich nie, niemals so zu werden wie Martha, der Marterpfahl!«

»So wirst du sowieso nicht.« Alina lacht. »Du kannst gleich zum nächstgrößeren Ziel übergehen.«

»Also gut, dann kümmere ich mich jetzt mal um unsere Kürbissuppe.«

Als ich nach zwei gemütlichen Stunden bei Alina in meine Wohnung zurückkomme, klingelt das Telefon. Ich hechte zum Hörer. Ob Maik endlich anruft?

»Carina Schmidt?«, melde ich mich atemlos.

»Hallo, Carina!«, höre ich meine Schwester Michaela in den Hörer trompeten. »Stell dir vor, ich gehe ins Kloster!«

2.

Ich schweige konsterniert. Ist meine Schwester jetzt völlig durchgedreht? Oder bricht doch eine latente Frigidität in meiner Familie durch? Aber sie hat zwei Kinder! Das geht doch gar nicht! Außerdem hätte sie sich das wirklich mal früher überlegen können. Deutlich früher. Dann wäre uns so einiges erspart geblieben. Michaela hat immer noch nicht hundertprozentig begriffen, dass ich ihr damals nicht den Freund ausgespannt habe, als ich während meines Studiums mit Michael zusammenkam. Besser gesagt, als Michael mit mir zusammenkam. Er war bis dahin ungefähr zwei Monate lang mit meiner Schwester liiert gewesen, doch als er mich kennenlernte, entschied er sich spontan anders. Seine Beziehung mit Michaela erwähnte er dummerweise gar nicht, als wir uns bei einem Konzert näherkamen. Da ich damals im Rahmen meines Studiums für ein paar Wochen nach Frankreich gegangen und gerade erst zurückgekommen war, wusste ich nichts von Michael und Michaela. Außerdem war meine Schwester mir gegenüber noch nie besonders mitteilsam, was ihre Beziehungen angeht. Irgendwie witterte sie in mir immer eine große Konkurrenz, wenn nicht gar eine Gefahr. Ärgerlicherweise wurde ich unwissentlich dann wirklich zur befürchteten Konkurrenz. Ich bekam damals zwar mit, dass meine Schwester aus Liebeskummer gerade Rotz und Wasser heulte, ahnte aber noch nicht, wer der Grund dafür war. Das wurde mir schlagartig klar, als Michaela eine Woche später feststellte, dass sie schwanger war – von Michael, der daraufhin reumütig zu ihr zurückkroch. Nun war ich diejenige, die Rotz und Wasser heulte. Etliche Wuttränen mischten sich allerdings auch darunter. Obendrein hatte Michaela bei einer schiefgelaufenen Aussprache zu mir gesagt: »Lüg mich nie wieder so an, Carina!« Und dieser Satz sitzt mir bis heute im Nacken.

Das Verhältnis zwischen Michaela und mir blieb lange abgekühlt. Erst wurde Lisa geboren, und es fiel mir wirklich schwer, überhaupt einen Glückwunsch auszusprechen. Mit Michael wollte ich sowieso nie wieder ein Wort wechseln. Ein Jahr später kam Max auf die Welt. Und noch ein Jahr später trennte Michael sich endgültig von Michaela, fand ein neues Glück mit irgendeiner Tina in Süddeutschland und zahlte fortan nur noch Unterhalt. Ich konnte nun wieder etwas unbeschwerter gelegentliche Tantenbesuche machen. Michaela jammerte dann oft über das anstrengende Leben als Alleinerziehende, aber dafür konnte ich diesmal ja nun wirklich nichts. Für alles andere aber auch nicht. Komischerweise tendieren sowohl Michaela als auch meine Mutter immer wieder dazu, mich für die Beneidenswertere zu halten.

»Carina, bist du noch dran?«

»Nein … äh, ja! Du willst doch nicht wirklich ins Kloster?«, frage ich ehrlich verwirrt. So begeistert hat Michaela schon lange nicht mehr geklungen. Vielleicht hat sie ein Burnout mit manisch-depressiven Phasen und erlebt gerade ein Hoch bei der Vorstellung, sich für immer in eine Zelle zurückzuziehen, in der kein Platz ist für Kinder, die sich ständig in den Haaren liegen und keine Hausaufgaben machen wollen?

»Geht’s dir irgendwie nicht gut?«, hake ich vorsichtig nach.

»Mir geht’s spitze, es ist so schön hier!«, schwärmt Michaela.

»Du bist schon da?«, frage ich entsetzt.

»Natürlich, und Mama ist auch hier. Sie will dich übrigens noch sprechen!«

»Mama ist auch da?« Allmählich bin ich fassungslos. Was ist denn eigentlich in meiner Familie los? Und warum erfahre ich erst jetzt davon?

»Hallo, Carina«, tönt jetzt meine Mutter aus dem Hörer. »Gut, dass du zu Hause bist, ich muss dich unbedingt sprechen.«

»Du bist auch ins Kloster gegangen?«, frage ich perplex.

»Genau!«, ruft Mama. »Soll dein Vater doch mal zusehen, wie er alleine zurechtkommt!«

»Das wird Papa schon hinkriegen«, murmele ich und denke mir, dass mein Vater womöglich regelrecht begeistert sein wird. Endlich ungestrafte Besuche an der Pommesbude und ein Fernsehprogramm seiner Wahl.

»Wenn es nur um ihn ginge«, sagt Mama bedeutungsvoll. »Aber nun muss er sich ja auch um die Kinder kümmern.«

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