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Der Stoff, aus dem Legenden sind - altbewährt und neu bewertet 2014 erschien mit "The Endless River" das letzte Album von Pink Floyd - eine Würdigung des 2008 verstorbenen Keyboarders Rick Wright, eine Rückbesinnung auf die gemeinsame Arbeit und ein Zeichen dafür, dass das letzte Wort über die britischen Rocklegenden eben doch noch nicht gesprochen wurde. Ganz genauso verhält es sich auch mit diesem Buch: Auch wenn man glaubte, schon alles über Pink Floyd zu wissen, beweist doch Mark Blake mit seinem breit angelegten, extrem gut recherchierten Werk das Gegenteil. Blake zeichnet nicht nur das Porträt einer Band, sondern das einer Generation. Die Stationen sind bekannt, aber der unverstellte, frische Blick, mit dem Blake sich dem Thema widmet, eröffnet neue Sichtweisen - auf den rätselhaften Syd Barrett und seinen Abstieg in den Wahnsinn, auf die Machtkämpfe innerhalb der Band und die so unterschiedlichen, schließlich nicht mehr miteinander zu vereinbarenden Persönlichkeiten. Blake konnte dabei auf eigene Interviews mit den Bandmitgliedern zurückgreifen, sprach aber auch mit Freunden, Tourbegleitern, musikalischen Zeitgenossen, ehemaligen Mitbewohnern und Studienkollegen. Und so folgt der Leser Pink Floyd durch ihre psychedelische Phase und die Nächte im Londoner UFO-Club, erlebt die Wandlung zu einer der größten Stadion-Rockbands der späten Siebziger und die bitteren Zerwürfnisse der Achtziger- und Neunziger, aber auch die angespannten Verhandlungen von der Reunion 2005 bei Live8 im Hyde Park. Blake entwirft dabei faszinierende Charakterstudien: Da ist Roger Waters, eines der wohl schwierigsten Rockgenies, und da sind Dave Gilmour und Nick Mason, beide nachgiebig und gelassen. Dabei bleibt er stets objektiv und beschränkt sich darauf, die unglaubliche Fülle an Fakten, die er zusammengetragen hat, ins Zeitgeschehen ebenso sauber einzuordnen wie in die spezielle Geschichte der Band. Damit ist "Pink Floyd - Die definitive Biografie" genau das, was ihr Titel verspricht: die umfassende Geschichte dieser außergewöhnlichen Band, die nichts auslässt, nichts beschönigt, aber auch nichts verteufelt, sondern erzählt, was geschah - gut informiert, farbig, facettenreich und ausgesprochen spannend.
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Seitenzahl: 932
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Aus dem Englischen übersetzt
von Paul Fleischmann
www.hannibal-verlag.de
IMPRESSUM
Der Autor: Mark Blake, www.markrblake.com
Deutsche Erstausgabe 2016
Englische Originalausgabe by Aurum Press Limited, www.aurumpress.co.uk
mit dem Titel „Pigs Might Fly: The Inside Story of Pink Floyd“
ISBN: 978-1781310571
© 2013 by Mark Blake
Lektorat: Verena Zankl
Übersetzung: Paul Fleischmann
Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com
Coverfotos: © Getty Images
Cover design: © keenan
© 2016 by Hannibal
Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen
www.hannibal-verlag.de
ISBN 978-3-85445-606-3
Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-605-6
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INHALT
1: ALS SCHWEINE FLIEGEN LERNTEN
2: DER ENDLOSE SOMMER
3: EIN SONDERBARES HOBBY
4: DIE GERÜCHTEKÜCHE BRODELT …
BILDSTRECKE 1
5: GRÄBEN ZWISCHEN FREUNDEN
6: NEUE AUTOS UND KAVIAR
7: AUF DER ÜBERHOLSPUR
8: WARUM LÄUFST DU DAVON?
BILDSTRECKE 2
9: UNVERBESSERLICHE TYRANNEN
10: DAS GRAS WAR SCHON MAL GRÜNER
11: OPERN UND ABSCHIEDE
12: WENN ICH GOTT GEWESEN WÄRE
DANKSAGUNGEN
AUSGEWÄHLTE BIBLIOGRAFIE
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1: ALS SCHWEINE FLIEGEN LERNTEN
„Es wäre fantastisch, wenn wir so etwas wie Live Aid machen könnten … Vielleicht bin ich aber auch nur verdammt sentimental. Ihr wisst ja, wie wir alten Schlagzeuger sind.“
Nick Mason
„Ich hoffe schwer darauf, dass wir uns noch einmal zusammentun.“
Richard Wright
„Ich glaube nicht, dass wir es länger als die erste halbe Stunde der Probe aushalten würden. Wenn ich Musik mache, dann will ich das mit Leuten tun, die ich liebe.“
Roger Waters
„Ich glaube, dass Roger Waters meine Telefonnummer hat. Allerdings habe ich kein Interesse daran, irgendetwas mit ihm zu besprechen.“
David Gilmour
Pink Floyd gelang es mit ihrer Wiedervereinigung das Establishment in Aufruhr zu versetzen – gerade zu dem Zeitpunkt, als es so schien, als hätte die Rockmusik ihre Fähigkeit zu provozieren endgültig eingebüßt. Wir schreiben den 2. Juli 2005 und die Band soll beim Benefizkonzert Live 8 im Londoner Hyde Park auftreten. Jedoch verzögert sich der Auftritt nun schon seit fast einer Stunde. Um es mit den Worten der Gegenkultur der Sixties auszudrücken: „The Man“ – also das Establishment – ist alles andere als glücklich über die Lage. In diesem Fall wird „The Man“ durch Tessa Jowell, die britische Ministerin für Kultur, Medien und Sport, verkörpert. Die Presse bekommt schließlich Wind davon, dass Jowell hinter der Bühne eine Notfallkonferenz einberufen hat. Sie droht damit, die Show abzusagen, da sie befürchtet, die 200.000 Konzertbesucher würden auf den Straßen der englischen Hauptstadt für chaotische Zustände sorgen.
Das letzte Mal, als David Gilmour, Richard Wright, Nick Mason und Roger Waters auch nur annähernd in Konflikt mit der Politik geraten waren, lag 25 Jahre zurück. Damals sang ein Chor bestehend aus Londoner Schulkindern auf Pink Floyds Hit-Single „Another Brick in the Wall Part 2“ die Textzeile „We don’t need no education“, was der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher sauer aufstieß. Doch in der Zwischenzeit hatte sich die politische Landschaft dramatisch verändert. Das Motiv, das hinter Live 8 steckte, bestand darin, Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse der Dritten Welt zu lenken sowie die Politiker auf dem gesamten Planeten dazu zu drängen, sich ernsthaft mit dem Thema Armut zu beschäftigen.
Jedoch hat einer dieser besagten Politiker – Premierminister Tony Blair – verkündet, dass er sich ganz unabhängig von der politischen Motivation der Band schon sehr auf den Auftritt von Pink Floyd bei Live 8 freue. Blair ist Rock-Fan, der gerne mal selbst zur Gitarre greift und während seiner Studienzeit sogar kurzfristig als Leadsänger einer Band fungiert hatte. Als Presseberichte über die Rock’n’Roll-Vergangenheit des Premiers erschienen, wurden sie wenig überraschend von einem Foto des jungen Blair aus dem Jahr 1972 begleitet, auf denen sich sein Gesicht hinter langen ungekämmten Haaren verbarg. Hätte er auf dem Schnappschuss nicht dermaßen gegrinst, dann hätte man ihn sogar für ein Bandmitglied von Pink Floyd oder zumindest einen Roadie halten können. Allerdings wäre er dann vermutlich entlassen worden, weil er zu fröhlich gewesen wäre und sich mit Roger Waters angelegt hätte. Wer weiß, ob der Floyd-Fan und Premierminister sich nicht gar in die Debatte eingemischt hat?
Nach dem eiligst einberufenen Meeting, an dem Vertreter der Metropolitan Police und der Royal Parks Agency teilnahmen, gibt Tessa Jowell nun jedenfalls grünes Licht für eine Fortsetzung der Show. Es heißt sogar, dass Decken an jene Konzertbesucher verteilt werden sollen, die sich dafür entscheiden würden, die Nacht im Park zu verbringen. Erst am nächsten Tag würde das Publikum aus den Zeitungen erfahren, dass das Konzert kurz vor dem Abbruch gestanden hatte.
Doch für jeden, der auch nur einen Hauch einer Ahnung von der Beziehung zwischen den einzelnen Bandmitgliedern von Pink Floyd hatte, bestand das eigentliche Wunder darin, dass die Gruppe sich überhaupt zu einem Auftritt überreden hatte lassen.
Live 8 war gekennzeichnet durch ein paar herausragende und ein paar weniger herausragende Auftritte. Auch gab es die üblichen peinlichen Momente, die sich ereignen, wenn Pop-Stars der guten Sache wegen zusammenkommen. Der Organisator des Events, Sir Bob Geldof, hatte den Hochadel der Popmusik zusammengetrommelt, wobei er auf dieselbe Überzeugungsarbeit wie schon bei Live Aid 1985 zurück gegriffen hatte. Er hatte nämlich angedeutet, dass jeder Act, der die Einladung ausschlug, seine Glaubwürdigkeit und seinen Ruf nachhaltig beschädigen würde. U2, Madonna, Sir Elton John, Sir Paul McCartney sowie eine Reihe jüngerer, noch nicht in den Adelsstand erhobener Rockstars folgten dem Aufruf, sich kostenlos in den Dienst der guten Sache zu stellen. Die Reihenfolge der Auftritte erschien willkürlich – Newcomer folgten auf alte Haudegen –, doch als die Uhrzeit voranschritt, offenbarte sich eine Art Hierarchie. Rund um den Globus fanden insgesamt zehn Konzerte in weiteren Metropolen wie Rom, Berlin und Philadelphia statt. Doch für viele, die sich zu diesen Events einfanden, war es der Auftritt einer einzigen Band in London, der sie dazu bewogen hatte. Wie Geldof widerwillig eingesteht: „In den Vereinigten Staaten wird dem Umstand, dass sich jene Band, deren Karriere nur so vor Durcheinander strotzt, bereit erklärt hat, bei Live 8 aufzutreten, viel mehr Aufmerksamkeit zuteil als dem Event selbst.“ An jenem Tag, an dem Pink Floyds Auftritt publik wurde, machte ein Gerücht die Runde, demzufolge ein Promoter 250 Millionen Dollar für eine vollständige Tour des Quartetts bieten würde.
Pink Floyds Laufbahn als Aufnahmekünstler begann im Jahr 1967. Seit damals haben sie allein 30 Millionen Exemplare ihres Albums von 1973, Dark Side of the Moon, verkaufen können. Trotz allem drohten ihre öffentlich ausgetragenen bandinternen Konflikte mitunter ihre künstlerischen Leistungen zu überschatten. Seit 24 Jahren hatten sie nicht mehr als Vierergespann gemeinsam auf einer Bühne gestanden. In der Zwischenzeit hatte das Trio Gilmour, Wright und Mason weiterhin als Pink Floyd Platten veröffentlicht und Tourneen absolviert, während der vormalige Bassist der Gruppe, Roger Waters, der auch als produktivster Songwriter und allgemein anerkannter kreativer Anführer fungiert hatte, von außen seinen Unmut darüber kundtat. Einmal verkündete er sogar, dass seine vormaligen Kollegen quasi sein Kind in die Prostitution verkauft hätten: „Und das werde ich ihnen niemals verzeihen!“
Vergebung mag zwar nicht auf dem Tagesprogramm gestanden haben, doch galt für diesen einen Tag eine Art Waffenstillstand zwischen den vier Musikern. Pink Floyd hatten seit 1994 kein Album mehr aufgenommen. Unter normalen Umständen hätte es einen beschwerlichen Prozess dargestellt, die Band, die Gitarrist David Gilmour als „schwerfälligen Giganten, der sich kaum aus seiner Starrheit holen lässt“, zu reaktivieren. Doch der gute Zweck und Geldofs Expertise als Überredungskünstler ermöglichten es, dass gerade einmal drei Wochen zwischen Gilmours zögerlicher Zusage und dem Auftritt der reformierten Pink Floyd im Hyde Park vergingen.
Um 22 Uhr 17 betritt Großbritanniens größtes Fußball-Idol, David Beckham, die Bühne, um Großbritanniens größtes Pop-Idol, Robbie Williams, anzukündigen. Robbies Stimme ist merklich angeschlagen, doch er schlüpft mühelos in seine Rolle, die zu gleichen Anteilen aus Teenieschwarm und Slapstick-Komiker zu bestehen scheint. Er legt sich fürwahr ins Zeug und man kann sich nur schwer vorstellen, dass sonst noch irgendwer das Publikum so für sich einnehmen würde können. Die Situation verheißt jedenfalls nichts Gutes für den nächsten Act, The Who. 1964 hatte sich „My Generation“ von The Who für Pink Floyds Drummer Nick Mason, der damals am Regent Street Polytechnic Architektur studierte, als eine Art Offenbarungserlebnis erwiesen: „Ja, das ist es, was ich machen möchte.“ Nachdem bereits zwei der ursprünglichen Besetzung das Zeitliche gesegnet hatten, liegt es nun an den verbliebenen Mitgliedern Roger Daltrey und Pete Townshend sich mithilfe von ein paar Begleitmusikern durch „Who Are You“ und „Won’t Get Fooled Again“ zu ackern. Sie scheinen das Publikum zu ignorieren und Pete Townshend, der sich hinter undurchsichtigen Sonnenbrillen verbirgt, vermeidet sogar jeglichen Augenkontakt. Ihre musikalische Darbietung ist makellos und vermittelt ansatzweise gar die glorreiche Widerborstigkeit vergangener Zeiten, doch ist ihr Auftritt auch schon wieder vorüber, noch bevor er richtig begonnen hat.
Der Event läuft nun schon seit fast zehn Stunden und der Park ist in tiefschwarze Dunkelheit getaucht. McCartney soll das Abschlusskonzert der Veranstaltung bestreiten und hinter den Kulissen werden vermutlich bereits die Decken für jene ausgepackt, die sich entschlossen haben, die Nacht unter den Sternen zu verbringen. Ohne jedes Intro oder irgendeine Ankündigung durch einen Prominenten erklingt um 22 Uhr 57 ein unheimliches, aber vertrautes Geräusch im Park. Plötzlich verziehen sich die Roadies von der Bühne in den Backstage-Bereich. Die Intensität des Geräuschs nimmt zu. Es ist ein beständiger, metronomischer Pulsschlag. Suchscheinwerfer schwenken über das Publikum und die Videoleinwand auf der Bühne wird in Betrieb genommen. Der Pulsschlag wird immer lauter. Schließlich ertönt eine Stimme: „I’ve been mad for fucking years.“ Es handelt sich dabei um einen Kommentar eines Roadies der Band, der fast 30 Jahre zuvor in den Abbey Road Studios mitgeschnitten wurde. Darauf folgt das ominöse Schwirren der Rotorblätter eines Hubschraubers, der Klang einer Registrierkasse sowie zusammenhangloses Gelächter. Diese Geräuschkulisse läuft in Endlosschleife, bevor sie in einen langgezogenen, hysterischen Schrei mündet, der auch das Ende des allerersten Tracks von Dark Side of the Moon, „Speak to Me“, markiert. Zuerst scheint der markerschütternde Schrei noch an Intensität und Lautstärke zuzunehmen. Dann erklingen die ersten beruhigenden Takte von „Breathe“. Als die Suchscheinwerfer gedimmt werden und die Bühne in hellem Licht erstrahlt, können die Konzertbesucher zum ersten Mal die vier Männer, die auf der Bühne stehen, genauer sehen. In einer kuriosen Umkehr des Dogmas aus Der Zauberer von Oz, „nicht hinter den Vorhang zu blicken“, konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf diese vier Männer. Die Bilder von vertrauten Pink-Floyd-Motiven, die hinter ihnen über die Videoleinwand ziehen, vermögen es nicht, uns von der Gruppe abzulenken. In der Vergangenheit hatte die Band in ihrer Anonymität geschwelgt.
Mit ihrer zunehmenden Popularität waren auch ihre Bühnenaufbauten immer größer geworden, um das Publikum von den vier unscheinbaren, langhaarigen Männern auf der Bühne abzulenken. Ab 1980 traten sie hinter einer speziell angefertigten Mauer auf, was Roger Waters’ hochmütigem Protest gegenüber der entmenschlichten Natur der Musikindustrie geschuldet war. Als Gilmour dem „schwerfälligen Giganten“ in den Achtzigern und Neunzigern neues Leben einzuhauchen versuchte, umgaben sich die drei verbliebenen Mitglieder mit jüngeren Studiomusikern und tänzelnden Hintergrundsängerinnen und verbargen sich hinter einer Lasershow, vor der auch ein Steven Spielberg seinen Hut gezogen hätte.
Heute Abend wirken Pink Floyd jedoch verblüffend real. Sie erinnern an eine leger gekleidete Gruppe von Geschäftsleuten, die den 50. Geburtstag bereits hinter sich gelassen haben – fast so, als ob sie sich in einem Clubhaus versammeln und nun darauf warten würden, dass der Regen nachließe, damit sie sich auf den Golfkurs begeben könnten. Allerdings würden ihre verwaschenen Jeans die Kleidungsvorschriften des Clubs dann doch ordentlich strapazieren.
Im Hintergrund trommelt Nick Mason, dessen Gesichtsausdruck sich irgendwo zwischen akribischer Konzentration und einem wissenden Lächeln eingependelt hat, auf sein Schlagzeug ein. Als Autor eines jüngst erschienenen Buchs über die Band steht Mason mittlerweile am ehesten im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung und ist am geübtesten im Umgang mit den Medien. Die Wunde, die durch seine Entscheidung, nach dem Ausstieg seines engen Freundes Roger Waters bei der Band zu bleiben, geschlagen wurde, ist gerade erst verheilt. Der selbsternannte Diplomat der Band (später bezeichnete er sich gegenüber Journalisten als „Kissinger der Rockmusik“) war auch ein wichtiger Unterstützer Geldofs bei den Verhandlungen gewesen, die schlussendlich zur Reunion führten. Mason hatte sein Architekturstudium 1966 abgebrochen, als Pink Floyd ihren ersten Management-Deal unterzeichneten. Falls sich der Posten als Schlagzeuger in einer Rockband doch nicht ausgezahlt hätte, hätte er ebendieses Studium wieder fortgesetzt. Mittlerweile – drei Jahrzehnte später – gehören der Walrossschnauzer und die langen Haare, die in den Siebzigerjahren sein Markenzeichen waren, längst der Vergangenheit an. Stattdessen ähnelt der glattrasierte, 60-jährige Schlagzeuger mit den etwas hängenden Backen und den nach wie vor vollen, aber kurzgeschnittenen grauen Haaren dem Architekten, der er fast geworden wäre. Sein Hemd wirft ein paar Falten, was nahelegt, dass es frisch aus der Verpackung stammt.
Auf der linken Bühnenseite beugt sich Richard Wright über seine Keyboards. Er trägt eine dunkle Leinenjacke über einem weißen Hemd. Sein leicht zerknautschtes Äußeres verleitete einen Beobachter einst dazu, ihn mit einem „inzwischen mittellosen ehemaligen Meister-Jockey“ zu vergleichen. Auch er hatte sich eine Zeitlang der Architektur gewidmet und strahlt immer noch das Flair eines Künstlers aus. In Wahrheit wirkt er mehr wie ein halbpensionierter Rockstar aus den Siebzigern als sein trommelnder Bandkollege. Wright, ein begnadeter Musiker, hat sich aufgrund seiner schweigsamen Art und der starken Persönlichkeiten, die ihn umgaben, vorrangig in der zweiten Reihe bei Pink Floyd wiedergefunden. 1979 musste er es sich gefallen lassen, von Roger Waters aus der Band geworfen zu werden, da er Waters zufolge nicht ausreichend zum aktuellen Album der Band, The Wall, beigetragen hätte. In weiterer Folge durchlebte Wright eine depressive Phase im Exil, bevor er unter Gilmours Regie langsam wieder eingeführt wurde. Schlussendlich erhielt er endlich Mitspracherecht in der Band, die er ja eigentlich mitgegründet hatte.David Gilmour, der abgetragene Jeans und ein schwarzes Shirt trägt, überblickt das Geschehen vor ihm. Mehr noch als die anderen Mitglieder seiner Band entsprach Gilmour stets dem Bild eines Hippie-Musikers aus den Siebzigerjahren: barfuß, relaxt und eine Strähne seines langen Haarschopfes hinter seinem Ohr, während er mit den Einstellungen seines Gitarrenverstärkers experimentierte oder mit seinen Zehen auf ein Effektpedal trat. Lange Haare hat er nun schon längst nicht mehr und die Überreste trägt er streng kurzgeschoren. Auch um die Hüften hat er zugelegt. Dennoch strahlt Gilmour inzwischen viel Selbstvertrauen aus. Er wiegt seine Gitarre und macht sich daran, Texte zu singen, die sein einstmaliger Widersacher – Roger Waters – geschrieben hat. Seit Mitte der Achtzigerjahre ist er der Frontmann der Band. Während sich Roger Waters’ Zorn in erster Linie gegen ihn gerichtet hatte, hatte er ohne seinen ehemaligen Partner die Fertigstellung zweier Floyd-Alben beaufsichtigt, die jeweils Platin-Status erreichten, sowie mehrere Touren, die neue Maßstäbe setzten. Er schenkt sowohl Mason als auch dem Publikum ein schmallippiges Lächeln. Vor der Bühne befinden sich in einem geschlossenen Bereich seine Ehefrau sowie ein paar seiner Kinder. Seinen Bassisten würdigt er hingegen kaum einmal eines Blickes. Roger Waters, der nur ein paar Schritte von Gilmour entfernt steht, verwaltet sein eigenes Revier. Sein ergrauendes Haar ist länger und reicht immer noch bis zum Kragen seines verwaschenen blauen Hemds. Die Ärmel hat er hochgekrempelt, wodurch eine teuer wirkende Uhr zum Vorschein kommt. Waters spielt seinen Bass nicht, nein, vielmehr scheint er ihn zu attackieren. Sein Kinn schiebt er majestätisch nach vorne, während er seinen Kopf im Rhythmus bewegt und den Hals seines Instruments umgreift. Gelegentlich lächelt er, wobei er seine Zähne entblößt. Dieses Grinsen wirkt auf beunruhigende Weise aggressiv. Waters scheint trotz seines bedrohlichen Erscheinungsbildes aber begeistert zu sein, mit jenen Männern, denen er 20 Jahre zuvor mit rechtlichen Schritten gedroht hatte, die Bühne teilen zu dürfen. Bezeichnenderweise bewegt Waters seine Lippen synchron zu Gilmours Gesang, als ob er alle Anwesenden daran erinnern möchte, dass das seine Songs sind.„Breathe“ fungiert als sanfte Ouvertüre. Die lieblichen Gitarrenklänge fordern es quasi heraus, dass etliche Konzertbesucher ihre Feuerzeuge über ihre Köpfe halten, während sich ein kollektives Lächeln auf den Gesichtern derer, die die letzten zehneinhalb Stunden auf diesen Moment gewartet haben, breitmacht. Der Song aus der Feder des damals 30 Jahre alten Roger Waters gab die textliche Ausrichtung vor, die auf Dark Side of the Moon verfolgt werden sollte – eine klagende Erkundungsfahrt durch die Ängste und Sorgen des frühen Erwachsenenalters. In den Worten des Bassisten: „Du hast die längste Weile herumgesessen und darauf gewartet, dass dein Leben endlich losgeht – und dann fällt dir plötzlich auf, dass es das längst getan hat.“ Dass der Song nun 30 Jahre später von denselben Männern gespielt wird, lässt ihn umso prophetischer wirken.
Ohne viele Worte zu verlieren, lässt die Band „Breathe“ schließlich hinter sich, um jenen Song zu spielen, der Pink Floyd einst zum Durchbruch in Amerika verholfen hatte – „Money“. Im Vergleich zur ersten Nummer ist es lauter, übersteuerter Hard-Rock. Die Lyrics sind seit damals ein vorhersehbares Ziel des Zornes jener geworden, die über Pink Floyds Status als Multimillionäre die Nase rümpften. Doch das Thema des Songs passt zu Live 8. Mason erklärt später außerdem: „Sir Bob wollte, dass wir ihn spielen.“ Sei’s wie’s sei, der Druck und das Tempo des Songs machen ihn zu einer idealen Nummer für einen Open-Air-Event. Gilmour spielt unermüdlich seine Solos, bis der Song schließlich von einem Saxofon-Solo Dick Parrys in zwei Stücke gehauen wird. Bei ihm handelt es sich um denselben Musiker, der schon auf der Originalaufnahme zu hören gewesen war. Als er die Bühne betritt, wirkt auch er, als sei er auf der Suche nach dem neunten Loch des Golfkurses. Während die beiden die Zielgerade des Songs unter sich ausmachen, kommt es für einen Sekundenbruchteil zum Augenkontakt zwischen Gilmour und Waters.
Vor dem Konzert hatte Nick Mason hinter der Bühne ausgerechnet, dass sie zusammen „über 300 Jahre Rock’n’Roll-Erfahrung“ auf die Bühne brächten. Allerdings ist es die Lebenserfahrung der Gruppe, die sie so relevant macht. Wie es ein Floyd-Insider einst ausdrückte: „Die Musik von Pink Floyd gleicht einem hübschen Mädchen, das nicht mit dir sprechen will.“ Im Falle dieser Band, die durch typisch englische Reserviertheit sowie die Unfähigkeit, unabhängig von der Musik miteinander zu kommunizieren, auffiel, brachte dieser plötzlicher Friede all die Menschlichkeit und Emotionen, die sich in ihren Songs verbargen, an die unmittelbare Oberfläche. Mit einem Schlag ergab alles einen Sinn.
Im Kontext dieses Auftritts klingt „Wish You Were Here“ wie das, was es ist: ein simples Liebeslied für einen abwesenden Freund. Gilmour und Waters greifen dafür beide zu Akustikgitarren, während ein weiterer alter Weggefährte, der zweite Gitarrist Tim Renwick, aus dem Schatten tritt, um die beiden zu unterstützen. Waters singt die zweite Strophe, wobei sich seine rauere Stimme von Gilmours lieblicherer Tonlage abhebt. Der Song ist kurz und einfach und wird frenetisch bejubelt. Das Publikum ist bezüglich der Herkunft und Bedeutung dieser Nummer im Bilde. Sie handelt unter anderem auch von jenem einen Mitglied der Originalbesetzung von Pink Floyd, das heute nicht auf der Bühne steht, Syd Barrett.
Die Schlussnummer ist ebenso unvermeidlich wie erwartet. Sie nicht zu spielen, würde einem Akt der Ketzerei gleichkommen. „Comfortably Numb“ ist ursprünglich auf The Wall, einem Konzeptalbum über den qualvollen Niedergang eines Rockstars, erschienen. Waters und Gilmour, die sich erneut den Leadgesang teilen, besingen den ausgebrannten Barden aus The Wall, der sich in einem kuschelweichen, von Drogen herbeigeführten Nirwana verliert, bevor Gilmour den Song mittels eines seiner Gitarrensolos zu einem großen Hollywood-Finale bringt, welches seitdem so inadäquat von so vielen Rockbands abgekupfert wurde. Die Darbietung ist grandios, spektakulär und auf seltsame Weise bewegend.
Als sich die vier zur Mitte der Bühne begeben, machen die zuvor noch so stoischen Mienen Platz für breitgrinsende Gesichter. Waters, der seine Arme bereits um Mason und Wright gelegt hat, gestikuliert in Richtung Gilmour, der sich unbehaglich zu fühlen scheint. Seine Lippen bewegen sich: „Na, komm schon!“ Zögerlich erlaubt es der Gitarrist, dass man ihn in die Arme schließt, während die reformierten Pink Floyd zu ihrer Verbeugung ansetzen. Ein Transparent im Publikum illustriert diesen Augenblick: „Pink Floyd wiedervereinigt! Wenn Schweine fliegen können, ist alles möglich!“
Um 23 Uhr 15 betritt Sir Paul McCartney die Bühne, um Live 8 mit seinem Auftritt würdig abzuschließen. Doch nicht einmal er vermag es, die allgemeine Aufmerksamkeit von den vorangegangenen Geschehnissen wegzulenken. In den USA wird prompt gemunkelt, dass es zu lukrativen Touren von Pink Floyd kommen könnte. Sogar ein neues Album steht im Raum. Währenddessen schreibt die britische Tageszeitung Guardian in Großbritannien weniger ehrerbietig: „Zwar sehen sie aus wie Seniorpartner einer Wirtschaftsprüfungsfirma … doch klingen sie auch 24 Jahre nach ihrem letzten gemeinsamen Auftritt immer noch fantastisch.“
Hinter der Bühne des kanadischen Ablegers von Live 8 in Barrie verfolgt inzwischen Bob Ezrin, Pink Floyds langjähriger Mitstreiter und Co-Produzent von The Wall, ihren Auftritt im Fernsehen. „Ich fand es umwerfend. Es war der Stoff, aus dem Legenden gemacht sind“, soll er wenige Wochen später enthusiastisch zu Protokoll geben. „Ich war so begeistert. Ja, ich gebe sogar zu, dass ich geweint habe. Dann wurde mir langsam bewusst, dass mich alle beobachteten, wie ich Pink Floyd zusah.“
Für die Anhängerschaft der Band, die Plattenfirmen, die blauäugigen Kollegen und auch alle anderen lieferte Live 8 die Hoffnung auf eine langfristige Aussöhnung der Gruppe. Doch David Gilmour ließ sich nicht lange Zeit, um allen Spekulationen einen Riegel vorzuschieben. „Das ist alles Schnee von gestern. Es liegt hinter mir. Ich habe kein Bedürfnis, noch einmal damit anzufangen“, sagt er. „Es ist großartig, dass wir einen Teil unserer Verbitterung hinter uns lassen können, aber das ist dann auch schon alles.“
Bis zu den Proben für Live 8 waren David Gilmour und Roger Waters zum letzten Mal am 23. Dezember 1987 aufeinander getroffen und zwar, wie es der Gitarrist formulierte, um „ihre Scheidung auszuverhandeln“. Bei einem Meeting auf dem Hausboot und Studio von Gilmour erstellte das Duo mithilfe eines Buchhalters und eines Computers ein Dokument, durch welches die Nutzung des Namens Pink Floyd geregelt wurde.
Zuvor hatte Waters Klagen sowohl gegen Gilmour als auch Mason angestrengt, da er der Ansicht war, dass der Bandname nach seinem offiziellen Ausstieg im Jahr 1985 zu Grabe getragen werden sollte. Über 20 Jahre lang war Waters der primäre Songwriter der Band gewesen, hatte die ursprünglichen Konzepte für Dark Side of the Moon und The Wall erstellt und den Großteil der Songtexte beigesteuert. Er sah sich als treibende Kraft hinter der Band. Gilmour und Mason weigerten sich, seinen Forderungen Folge zu leisten. Nein, sie wollten als Pink Floyd weitermachen. Drei Monate vor diesem finalen Zusammentreffen hatte das Duo ein neues Floyd-Album mit dem Titel A Momentary Lapse of Reason veröffentlicht und Richard Wright für eine daran anschließende Tour gewinnen können. Nach zwei Monaten hatte das Album, das Waters als „gelungenes Imitat“ verunglimpfte, Platin eingefahren. Damit bestätigte sich, dass die Marke Pink Floyd nichts von ihrem Glanz eingebüßt hatte und sogar der Verlust eines Schlüsselmitglieds verkraften konnte.
Andererseits war es auch nicht das erste Mal gewesen, dass der Band eines ihrer Mitglieder abhandenkam. Im Rahmen von Live 8 verwies Roger Waters auf das abwesende Bandmitglied, indem er „Wish You Were Here“ nicht nur allen Abwesenden, sondern „vor allem Syd Barrett“ widmete. Syd Barrett, dereinst Sänger, Gitarrist und richtungsweisende Kraft bei Pink Floyd, hatte sich drei Jahrzehnte zuvor nicht nur aus der Band, sondern überhaupt aus dem Musikgeschäft zurückgezogen. Während seine ehemaligen Bandkollegen vor über 100.000 Fans im Hyde Park und einem Fernsehpublikum, das über zwei Milliarden Menschen umfasste, auftraten, zog es Syd Barrett vor, zuhause zu bleiben. In seinem Fall war dies ein Doppelhaus an der Peripherie von Cambridge. Auf seinen eigenen Wunsch hin verzichtete Barrett auf jeglichen direkten Kontakt mit Pink Floyd und wünschte, nicht an seine Zeit in der Band erinnert zu werden. Für ihn war all dies längst vorbei.
2: DER ENDLOSE SOMMER
„Freiheit ist, wonach ich strebe.“
Syd Barrett
Erst vier Tage nach seinem Ableben erfuhr die Öffentlichkeit davon. Syd Barrett war am 7. Juli 2006 verstorben. Als Todesursache wurde Bauchspeicheldrüsenkrebs angegeben. Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich jedoch über viele Jahre hinweg stetig verschlechtert. Syds Familie informierte David Gilmour, der daraufhin die übrige Band sowie den Freundeskreis um Pink Floyd benachrichtigte. Aus Rücksichtnahme auf den Wunsch von Syds Familie hatte seit Jahren niemand mehr von Pink Floyd Syd gesehen oder mit ihm gesprochen. Als die Neuigkeit schließlich am Dienstag, dem 11. Juli, weltweit bekannt wurde, zierten Fotos von Barrett die Titelblätter vieler Tageszeitungen rund um den Erdball. Es war eine ungewöhnliche und so noch nicht dagewesene Reaktion auf den Tod eines Mannes, der seit über 30 Jahren kein Album veröffentlicht und fast ebenso lange über seine Zeit als Popstar geschwiegen hatte.
Die Wege von Pink Floyd und ihrem Freund und ersten Sänger seit Kindertagen hatten sich im Frühling 1969 getrennt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits David Gilmour der Band angeschlossen, um musikalische Stabilität zu garantieren, da Barretts Drogenkonsum und sein zunehmend labiler Geisteszustand ihn zu einer Belastung machten. Im Januar 1969 beschlossen die übrigen Bandmitglieder auf dem Weg zu einem Auftritt, Syd nicht abzuholen. Diese Entscheidung sollte sich massiv auf den Rest ihres Lebens auswirken.
In der Woche vor Pink Floyds Auftritt bei Live 8 entsandte der Londoner Evening Standard einen Journalisten zu Barretts Haus in Cambridge, um eventuell ein Interview mit dem zurückgezogen lebenden ehemaligen Sänger der Band zu ergattern. Dieser weigerte sich jedoch, die Türe zu öffnen. Barretts Schwester Rosemary gab preis, dass sie ihrem Bruder von der unmittelbar bevorstehenden Reunion von Pink Floyd erzählt habe. Er habe dies reaktionslos zur Kenntnis genommen. „Das ist ein anderes Leben für ihn“, erklärte sie. „Eine andere Welt und eine andere Zeit.“ Auch seinen Spitznamen, Syd, den er in ebendiesem vergangenen Leben getragen hatte, hatte er bereits seit geraumer Zeit abgelegt. Seit vielen Jahren hatte er nun wieder unter seinem bürgerlichen Namen Roger Barrett gelebt.
Das anonyme Doppelhaus am St. Margaret’s Square in Cambridge, wo Barrett seine letzten Lebensjahre verbrachte, verriet nur wenig über die wahre Identität seines einzigen Bewohners. So verzichtete Barrett auf die Statussymbole, mit denen Rockstars seit jeher ihren Wohnbereich ausschmückten: weder goldene Schallplatten, auf die man durch einen Spalt zwischen den Vorhang einen Blick hätte erhaschen können, noch teure Sportwägen, die sich in der Einfahrt drängten. Jedoch war das Domizil auch nicht verwahrlost, wie man es vielleicht hätte annehmen können, wenn man den Halbwahrheiten, die über die geistige Gesundheit seines Besitzers kursierten, Glauben geschenkt hätte. Seit dem Tod seiner Mutter 1991 hatte Barrett dort alleine gelebt. Er war nie verheiratet gewesen, hatte keine Kinder und war seit dem Ausscheiden seines Alter Egos bei Pink Floyd in den Sechzigerjahren auch für längere Zeit keiner Beschäftigung mehr nachgegangen.
Gelegentlich drang die Außenwelt in sein privates Universum ein. So tauchten Fotos der marineblauen Eingangstür sowie Bilder des Hausbewohners in Zeitungen auf. Syd, der unvorbereitet vor seinem Haus von Fotografen überrascht wurde, sah jedes Mal verblüfft aus, manchmal auch wütend oder verängstigt. Er war stets nur halb bekleidet und trug das Bäuchlein eines Mannes mittleren Alters vor sich her. Sein heruntergekommenes Äußeres trug das Seinige dazu bei, die Gerüchteküche um Syd Barrett am Laufen zu halten. Syd musste diese Verletzungen seiner Privatsphäre stets dann erdulden, wenn seine Vergangenheit in den Fokus rückte. Als sich nun Pink Floyd reformierten, um bei Live 8 aufzutreten, war klar, dass dadurch auch das Interesse der Presse an ihm wieder aufflackern würde. Zuletzt war er während der Medienhysterie rund um die Acid-House-Raves in den späten Achtzigerjahren von News of the World belästigt worden, wo man ihn als warnendes Beispiel für die Gefahren von LSD präsentierte. Selbstverständlich wussten sie, dass er sie niemals verklagen würde. Allerdings: Wer wusste schon, wozu er imstande wäre? Seine Nachbarn berichteten von schrecklichen Schreien mitten in der Nacht, wohingegen andere ihn wie einen Hund bellen gehört hatten.
Seit den frühen Neunzigern verbrachte Roger Barrett seine Tage mit seiner Malerei, Büchern sowie Radausflügen, auf denen er in den örtlichen Läden haltmachte. Er führte ein ruhiges Leben und war auch nicht völlig zurückgezogen. Nach jeder Verletzung seiner Privatsphäre löste sich das Interesse an ihm schnell wieder in Luft auf. Nur gelegentlich klopfte vielleicht einmal ein ungebetener Bewunderer an seine Tür.
Egal in welchem Kontext sie stehen mochten: Die Fotos des alten Syd Barrett von früher, die jene Zeitungsartikel oft begleiteten, hatten trotz allem etwas Faszinierendes an sich. Dieselben fast 40 Jahre alten Bilder sollten nach seinem Tod noch einmal abgedruckt werden. Sie zeigten Syd in seinen modischsten Klamotten mit welligem Haar, wie er mit stechendem Blick die Kamera fixierte. Er hatte den verlorenen Rockstar verkörpert, lange bevor zahllose Imitate seine Pose annahmen und zum Klischee machten. „Er war jemand, auf den die Leute auf der Straße mit dem Finger zeigten“, erinnert sich David Gilmour, der mit Syd seit Kindertagen befreundet war. „Syd hatte dieses besondere Charisma, diese Art Magnetismus.“
Die gemeinsame Geschichte der drei zentralen Protagonisten bei Pink Floyd – Barrett, Gilmour und Waters – ist unwiderruflich mit ihrer Heimatstadt, in der sie ihre Jugend verbrachten, verknüpft.
Der Ruf der Stadt Cambridge als Zentrum für Bildung lässt sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Die beeindruckende Architektur der Universitätsgebäude sowie der River Cam, dessen Windungen sich durch die Stadt ziehen, vermitteln etwas typisch Englisches. Wie ein Kontrast zum malerischen Stadtbild wirkt hingegen das raue Moorland, welches das Umland prägt. Dieses Ambiente schien sich von Anfang an in Pink Floyds Musik bemerkbar zu machen. Der Titel ihres erstes Albums, The Piper at the Gates of Dawn, stammte aus Der Wind in den Weiden, jenem Kinderbuch von Kenneth Grahame, welches 1908 veröffentlicht wurde und an einem Flussufer spielte. Im Kapitel selben Namens begaben sich zwei der tierischen Figuren auf eine bizarre spirituelle Suche. „Grantchester Meadows“, jenes sanfte Interludium aus der Feder von Roger Waters, das auf dem Album Ummagumma von Pink Floyd erschien, bezog ihren Titel von einem stark bewaldeten Flussufer, das sich im Süden der Stadt und unweit vom Zuhause der Gilmours befand.
Zu jener Zeit, als die drei wichtigsten Floyds das Licht der Welt erblickten, war Cambridge, wie es einer ihrer Bekannten aus Kindertagen heute formuliert, „ein Ort, wo verbriefte Verschrobenheit akzeptiert wurde. Man traf auf all diese brillanten, aber skurrilen Köpfe wie etwa Francis Crick, den Entdecker der DNA. Er radelte gerne einfach so die Straße hinunter.“ Auch Syds Vater war ein bekannter Exzentriker, den man ebenfalls nicht selten auf seinem Fahrrad die Hills Road hinunterfahren sah.
Dr. Arthur Max Barrett, von allen Max genannt, war University Demonstrator für Pathologie am örtlichen Addenbrooke’s Krankenhaus. Später übernahm er eine Stellung als pathologischer Anatom an der Universität. In seiner Freizeit war er ein renommierter Hobby-Maler und Botaniker, der über seine eigenen Schlüssel zum botanischen Garten der Stadt verfügte. Als Mitglied der Cambridge Philharmonic Society besaß auch Dr. Barrett musikalisches Talent, obwohl erst sein Sohn damit berühmt werden sollte.
Er war mit Winifred Garrett, der Urenkelin von Elizabeth Garrett Anderson, die 1865 die erste Ärztin des Landes wurde, verheiratet. Die Barretts hatten fünf Kinder: Alan, Donald, Ruth, Roger (Syd) und Rosemary. Syd kam am 6. Januar 1946 im ersten gemeinsamen Zuhause der Familie in der Glisson Road 6, im Stadtzentrum von Cambridge, zur Welt. Drei Jahre später zog die Familie in ein nahegelegenes Haus mit fünf Schlafzimmern in der Hills Road 183.
Nur wenige Gehminuten vom neuen Domizil der Barretts entfernt befand sich die Rock Road, wo sich die Familie von George Roger Waters angesiedelt hatte, als jener gerade zwei Jahre alt war. Rogers’ Vater, Eric Fletcher Waters, war im County Durham als Sohn eines Kohlengrubenarbeiters und Labour-Party-Funktionärs aufgewachsen. Er wurde schließlich Lehrer und strenggläubiger Christ. Auch weigerte er sich bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, sich dem Militär anzuschließen. Stattdessen erfüllte er ehrenamtliche Aufgaben, fuhr während der Luftangriffe einen Krankenwagen und trat schließlich der Kommunistischen Partei bei. Doch inmitten des Krieges änderte Eric seine Meinung und nahm als Soldat an den Kampfhandlungen teil, er schloss sich dem City of London Regiment, 8th Battalion Royal Fusiliers als Unterleutnant an.
Roger, der einen älteren Bruder namens John hat, kam am 6. September 1943 zur Welt. Seine Mutter, die im Mädchennamen Mary Whyte hieß, war Lehrerin von Beruf. Als Eric ins Kriegsgebiet versetzt wurde, zog Mary mit ihren beiden Söhnen von Great Bookham in Surrey nach Cambridge, da sie glaubte, dort sicherer vor den deutschen Bombenangriffen auf London zu sein. Eric Waters wurde nach der Landung der Alliierten auf den Stränden von Anzio an der italienischen Küste zuerst als vermisst gemeldet und am 18. Februar 1944 für tot erklärt. Roger war zu diesem Zeitpunkt gerade einmal fünf Monate alt.
David Jon Gilmour wurde am 6. März 1946 geboren. Damals lebten die Gilmours in Trumpington, einem Dorf außerhalb von Cambridge. Die Familie zog noch einige Male um, bevor sie sich schließlich in der Nähe des River Cam im Bezirk Newnham niederließ. Die Adresse lautete Grantchester Meadows 109. David war damals zehn Jahre alt. Sein Vater Doug und seine Mutter Sylvia hatten sich am Homerton College in Cambridge kennengelernt, wo beide zu Lehrern ausgebildet wurden. Sylvia sollte schließlich als Cutterin bei der BBC arbeiten, Doug Gilmour wurde hingegen Hochschuldozent an der Universität und unterrichtete Zoologie. Das Paar hatte vier Kinder: David, seine Brüder Peter und Mark sowie seine Schwester Catherine. „Cambridge war ein großartiger Ort, um aufzuwachsen“, sagt Gilmour. „Man befand sich in einer Stadt, die von Bildung geprägt war – man war umgeben von klugen Leuten. Dann war da aber auch noch dieser ländliche Touch, der sich bis ins Stadtzentrum hinein bemerkbar machte. Es gab tolle Plätze, wo man sich mit seinen Freunden verabreden konnte.“ Gilmour traf auf Barrett und Waters zum ersten Mal, als die drei Jungs von ihren Eltern für den Kunstunterricht am Homerton College eingeschrieben wurden, der jeden Samstagmorgen stattfand. Sowohl Waters als auch Barrett besuchten die Morley Memorial Grundschule in Blinco Grove, wo Mary Waters als Lehrerin angestellt war. Dort offenbarten sich auch bereits Syds Begabungen. Er war nicht nur ein talentierter Imitator, sondern gewann im Alter von sieben Jahren mit seiner Schwester Rosemary („Roe“) auch einen Preis fürs gemeinsame Klavierspielen. Nick Barraclough, der ebenso die Morley Memorial besuchte und später Musiker wurde und als Rundfunksprecher für die BBC arbeitete, erinnert sich an Syd als „hübschen Knaben, der unglaublich künstlerisch begabt war. Meine Schwester war in derselben Klasse. Sie waren damals vielleicht zehn oder elf und wurden gebeten, ihre Eindrücke eines heißen Tages zu verarbeiten. Die meisten Kinder zeichneten daraufhin einen Strand oder die Sonne. Roger – so wurde er ja damals noch gerufen – zeichnete aber ein Mädchen im Bikini, das sich mit einem Eis am Stiel ankleckerte. Das wirkte alles sehr fortgeschritten, wenn man an sein Alter denkt.“
Alle drei Jungs bestanden ihre 11-Plus-Examen, die damals verpflichtende Prüfung für britische Schulkinder, anhand welcher festgelegt wurde, wer intelligent genug für die Grammar School war. „Mein Vater unterrichtete an der Grundschule“, erinnert sich Barraclough, „und die beiden Rogers wurden ihm zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten zugeteilt, um auf ihre Prüfungen vorbereitet zu werden.“ Waters besuchte schließlich ab 1954 die Cambridgeshire High School for Boys (vormals Cambridge and County School vulgo „County“) in der Hills Road. Die Schule, die mittlerweile Hills Road Sixth Form College heißt, war damals, wie es ein ehemaliger Schüler beschreibt, „eine Grammar School, die sich selbst für eine Privatschule hielt – inklusive schulmeisterlichem Gehabe, Doktorhüten und Sadismus“. Die Schule rühmte sich auch für ihren hohen akademischen Standard, und eine beeindruckende Anzahl von ehemaligen Schülern schaffte es an die Elite-Unis in Cambridge oder Oxford.
Roger machte sich einen Namen als talentierter Sportler: Er brillierte nicht nur im Cricket-Team, sondern war auch ein beeindruckender Rugby-Spieler. Auch trat er widerwillig der Combined Cadet Force bei, einer Jugendorganisation, die vom Verteidigungsministerium unterstützt wurde, und verbrachte einige Wochenenden auf dem Trainingsschiff HMS Ganges. Seine Ausbildung bei der Force umfasste unter anderem auch Schießkunst und Treffsicherheit, wofür er sich durchaus erwärmen konnte. Allerdings war er auch clever und gewitzt – und seine scharfe Zunge brachte ihn mitunter in Schwierigkeiten. Zumindest einmal wurde er von seinen Mitschülern verprügelt. „Ich glaube, dass mich die meisten Leute, mit denen ich zu tun hatte, hassten“, gab Waters später zu.
„Roger war eine Klasse über mir an der County“, erinnert sich Seamus O’Connell. „Ich war mit einem Jungen namens Andrew Rawlinson befreundet, der auf den Spitznamen Willa hörte. Er war auch richtig dicke mit Roger. In der Schule war meine Beziehung zu Roger ein wenig getrübt, da er mitunter kein sehr angenehmer Zeitgenosse war. Aber dennoch waren wir Freunde.“
Etwas später wurde Roger der Cadet Force überdrüssig und gab seine Uniform im Zorn zurück. Er weigerte sich, an weiteren Trainingseinheiten teilzunehmen, weshalb er unehrenhaft entlassen wurde. Sein ehemaliger Mitschüler Tim Renwick, der Pink Floyd an der Gitarre unterstützen sollte, erinnert sich an den Skandal: „Ich war ein paar Jahre jünger als Roger, aber jeder in der Schule hatte von dem Vorfall gehört. Er sorgte für einen ziemlichen Aufruhr. Allerdings bin ich mir sicher, dass Roger seinen Ausstieg mit Gewissensgründen erklärte.“ Waters’ Kindheitserfahrungen sollten schlussendlich ihren Niederschlag in der Musik von Pink Floyd finden, wobei er auch den oberflächlichsten Zuhörer wissen ließ, wie er über den Alltag an der County dachte. „Roger arrangierte sich mit der Schule“, sagt Mary Waters. „Seine Einstellung war: ‚Du musst dich damit abfinden und das Beste daraus machen.‘“
„Ich hasste jede einzelne Sekunde, abgesehen von den Spielen eben“, meint hingegen Roger. „Die Schulleitung war sehr repressiv und orientierte sich an den Standards der Vorkriegszeit. Man tat verdammt noch mal das, was einem aufgetragen wurde. Natürlich blieb uns nichts anderes übrig, als dagegen zu rebellieren. Es ist schon komisch, dass sich diese Typen in der Schule immer das schwächste Kind aussuchen, um auf ihm herumzuhacken. Dieselben Kinder, die schon von ihren Mitschülern gequält werden, werden auch von ihren Lehrern malträtiert. Als hätte jemand Blut geleckt. Die meisten Lehrer waren absolute Schweine.“
„Ich ging stets davon aus, dass The Wall von den Schulmeistern an der County handelte“, sagt Nick Barraclough. „Der Direktor war ein Mann namens Eagling, der bis heute der angsteinflößendste Mann ist, den ich jemals kennengelernt habe. Die beiden Rogers – Waters und Barrett – dürften das ebenso erlebt haben.“
Obwohl das Schulsystem immer noch in der Zwischenkriegszeit festzustecken schien und sich kaum an den Bedürfnissen von Jugendlichen orientierte, denen der Friede und relative Wohlstand, der ihren Eltern verwehrt geblieben war, zuteilwurde, waren die Fünfzigerjahre wie keine Ära zuvor voller neuer Möglichkeiten für Teenager. Waters brachte später seine Verachtung gegenüber dem Schulsystem auf den Punkt, indem er eine Episode aus seiner Schulzeit beschrieb. Nachdem er beschlossen hatte, sich für eine tatsächliche oder auch nur eingebildete Kränkung am Gärtner der Schule zu rächen, kletterten er und seine Mitverschwörer mittels einer Stufenleiter in den Obstgarten und wandten sich dem Lieblingsbaum des Gärtners zu. Daraufhin aßen sie jeden einzelnen Apfel – ohne sie von den Ästen zu pflücken. Als er diese Anekdote 30 Jahre später gegenüber der Zeitschrift Musician zum Besten gab, erklärte Waters, wie stolz er auf seinen ausgeklügelten Streich gewesen war.
Syd Barretts Weg durch die County, an die er drei Jahre nach Waters wechselte, war gekennzeichnet von seiner großen Leidenschaft für Kunst und sein Interesse an Poesie und Schauspiel. Auch er lehnte sich gegen Autoritäten auf, war aber in der Lage, sich mithilfe seines Charmes, seiner Intelligenz und seines guten Aussehens aus Schwierigkeiten herauszumanövrieren. Wie sich Gilmour erinnert, war er „ein heller Kopf und auf vielen Gebieten sehr bewandert“. Jedoch verfolgte er einen konventionelleren Weg und stieg innerhalb seiner lokalen Pfadfindertruppe bis zum Anführer auf.
Im Juni 1961 begann der 15-jährige Syd eine Beziehung mit Elizabeth Gausden, die von allen Libby gerufen wurde. Sie war Schülerin an der nahegelegenen Cambridge Grammar School for Girls. „Syd hatte bereits eine Freundin – eine sehr hübsches, liebes Mädchen namens Verena Frances“, erinnert sich Libby. „Aber bei uns stimmte die Chemie einfach. Er hat immer gesagt: ‚Du bist zwar nicht das hübscheste, aber dafür das lustigste Mädchen aller Zeiten.‘ Er war ein wunderbarer Junge. Jeder liebte ihn.“
John Gordon traf zum ersten Mal im Kunstunterricht der County auf Syd. „Er brillierte vom ersten Tag an“, erinnert er sich. „Seine Haare waren länger als die der anderen Schüler. Er teilte den Lehrern offen mit, was er sich dachte, und verließ sogar das Klassenzimmer, wenn er zurechtgewiesen wurde.“ Syd weigerte sich regelmäßig, den Blazer seiner Schuluniform zu tragen. Außerdem war es bemerkenswert, dass er seine Schuhe ohne Schnürsenkel trug – eine Angewohnheit, die er auch als Erwachsener beibehalten sollte. Ermutigt von seinen Eltern, kultivierte Syd seine kreative Ader, die sich erstmals an der Grundschule bemerkbar machte, indem er öffentlich Gedichte vorlas und vor Publikum sprach. Doch es sollte ein Schatten auf seine Jugendjahre fallen. Am 11. Dezember 1961 verstarb Dr. Barrett. „Sein Vater war schon lange krank gewesen“, sagt Libby Gausden. „Er litt an Krebs und hatte starke Schmerzen. Ich glaube, dass es fast eine Erlösung für die Kinder war, da er vor seinem Tod so schwer hatte leiden müssen. Syd schrieb wunderbare Tagebucheinträge. Jeder war fast einen halben Meter lang – doch am Todestag seines Vaters schrieb er bloß: ‚Mein armer Dad ist heute gestorben.‘“
Viele Leute stellten bezüglich der Auswirkungen, die der Verlust des Vaters auf Syd hatte, Mutmaßungen an. David Gilmour, der während dieser Jahre viel Zeit mit seinem Freund verbracht hatte, sagt dazu: „Syd sprach nie darüber. Die Leute meinen, dass der Tod seines Vaters ihn verändert hätte, doch damals konnte man nicht wirklich irgendwelche Veränderungen feststellen.“
„Ich kannte weder Syds Vater noch seine Brüder und wusste nicht, welche Aufgaben die Männer in seiner Familie erfüllten“, erinnert sich John Gordon. „Syd wirkte stets weltlicher als ich. Er genoss mehr Freiheiten und war erfahrener. Als sein Vater starb, übernahm er bereitwillig viel mehr Verantwortung als zuvor.“
Nachdem seine älteren Geschwister ausgezogen waren, bewohnte Syd einen großen Raum an der Vorderseite des Hauses, während seine Mutter die anderen Schlafzimmer an Untermieter – in der Regel Studenten – vermietete. Unter ihnen waren auch ein Vertreter des niederen britischen Adels sowie ein zukünftiger japanischer Ministerpräsident.
Falls Waters und bis zu einem gewissen Grad auch Barrett eine obrigkeitskritische Neigung gehabt hätten, wäre ihnen nun auch noch ein amtliches Motiv geliefert worden. Mit dem Erscheinen der Hit-Single „Rock Around the Clock“ von Bill Haley and the Comets im Jahr 1955 verkündeten die Medien die offizielle Erfindung des Teenagers sowie ihres Soundtracks – Rock’n’Roll. Zwei Jahre später verlieh Elvis Presley dieser neuen Musik mit seinem ikonischen Antlitz ein Gesicht und wurde das Vorbild einer ganzen Generation. Syds Bruder Alan spielte Saxofon in einer Skiffle-Gruppe und Syd selbst versuchte sich an einer Ukulele, bevor er seine Mutter davon überzeugen konnte, ihm eine Akustikgitarre der Marke Hofner zu spendieren.
„Nach der Schule trafen Syd und ich uns auf dem Flur, um dann zu ihm zu gehen, schließlich wohnte er praktisch gegenüber von der Schule“, erinnert sich John Gordon. „Mein Vater war Musiker, aber zumindest ein Teil von mir wollte nicht so sein wie er, weshalb ich mich gegen das Klavier sperrte und stattdessen mit Syd lernte, Gitarre zu spielen. Er hatte auch ein paar amerikanische Import-Platten. Außerdem hatte ich einen Onkel, der ein paar 78er- und 45er-Scheiben von Bill Haley und Eddie Cochran beisteuerte. Ich nahm sie mit zu Syd und dann versuchten wir gemeinsam, anhand dieser Schallplatten Gitarre spielen zu lernen. Syd mochte alles. Heute redet jeder darüber, dass er so auf Bo Diddley abgefahren sei, aber in Wirklichkeit war er viel umfassender orientiert.“
Der 14-jährige Waters befand sich im idealen Alter für Rock’n’Roll, stand der Sache anfangs jedoch skeptisch gegenüber. Stattdessen tendierte er musikalisch zu Dixieland- und Blues-Musikern wie Bessie Smith. „Eigentlich alles“, bekannte er später, „außer Rock’n’Roll.“ Nachdem er sich die Gitarre eines Onkels zugelegt hatte, nahm er klassischen Unterricht bei einer ortsansässigen Lehrerin. Später gab er jedoch zu, bald schon wieder aufgehört zu haben, da ihm seine Finger wehtaten: „Ich fand es einfach viel zu schwer.“ David Gilmour teilte die Vorbehalte seines zukünftigen Bandkollegen in Bezug auf Rock’n’Roll kein bisschen. „Ich bin nicht sicher, ob ‚Rock Around the Clock‘ die erste Platte war, die ich mir kaufte, aber zumindest war es eine der ersten“, erinnerte er sich. (Später erwähnte er, dass die besagte 78er-Single zu Bruch gegangen sei, als das Au-Pair-Mädchen der Familie versehentlich darauf Platz genommen habe.) Doch Gilmour war ohnehin vielmehr von Elvis Presleys „Heartbreak Hotel“ angetan, das ein Jahr später folgte. Zuhause umfasste die Schallplattensammlung seiner Eltern außerdem noch zahlreiche Blues-78er. Wie Waters und Barrett entdeckte auch Gilmour Radio Luxemburg für sich und wurde von diesem Sender mit einem abwechslungsreichen Musik-Mix versorgt, der auf keiner britischen Radiostation zu hören gewesen war. Er war nicht allein: Außer ihm lauschte noch eine ganze Generation englischer Rockmusiker den wunderlichen Klängen, die von der anderen Seite des Kanals ausgestrahlt wurden.
Obwohl sich auch Gilmours musikalische Ausbildung nun in vollem Gange befand, hatte sein formeller Bildungsweg bereits im Alter von fünf Jahren begonnen, als er ins Internat geschickt wurde. Doug Gilmour hatte beschlossen, einen sechsmonatigen Forschungsurlaub von der Cambridge University anzutreten und diesen mit Sylvia im Mittleren Westen der USA zu verbringen. Die Kinder wurden inzwischen nach Steeple Claydon in Buckinghamshire geschickt, wo sie das folgende Schuljahr verbringen sollten. „Meine Eltern liebten einander und genossen ihre gemeinsame Zeit, und wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass sie uns als eher unpraktisch empfanden“, erzählt Gilmour 2006 in Mojo. „Als wir noch sehr klein waren, machten wir noch zusammen Ferien, doch sobald wir alt genug waren, wurden wir bei den Pfadfindern oder so geparkt. Wir fuhren nie wieder gemeinsam in den Urlaub.“
Jahre später stieß Gilmour auf Briefe und ein Tagebuch aus jener Zeit, als er und seine Geschwister auch nach der Rückkehr der Eltern noch in Steeple Claydon blieben. „Damals kam einem das völlig normal vor. Erst später denkt man sich, dass das gar nicht so toll war.“
Im Alter von elf Jahren, als Barrett gerade an der County eingeschrieben wurde, landete Gilmour an der Perse School for Boys, die sich nur einen Steinwurf vom Haus der Barretts entfernt befand. Die Perse war eine gebührenpflichtige Grammar School, die auf die Einhaltung strikter Verhaltensregeln achtete. Unter ihren Alumni befanden sich Sir Peter Hall, der Gründer der Royal Shakespeare Company und Direktor des Royal National Theatres. Bis ins 17. Jahrhundert zurück waren ein Viertel der Schüler Internatszöglinge und jeder musste verpflichtend am Samstagmorgen dem Unterricht beiwohnen, was dazu beitrug, dass die Schule im Ruf stand, „eine eher versnobte Privatschule“ zu sein, wie es ein ehemaliger Schüler ausdrückte. Obwohl von Natur aus aufgeweckt, ließen Gilmours schulische Leistungen zu wünschen übrig. „Ich war faul“, gesteht er mittlerweile ein. Elvis mag zwar ein erster Einfluss gewesen sein, aber es waren zwei Gitarre spielende, Harmonien singende Geschwister und ihr erster großer Hit von 1957, „Bye Bye Love“, die eine entscheidende Rolle dabei hatten, dass Gilmour die Gitarre für sich entdeckte. „Ich liebte die Everly Brothers. Als ich 13 war, bekam der Nachbarsjunge eine Gitarre. Allerdings war er komplett unmusikalisch und hatte überhaupt kein Interesse daran. Deshalb borgte ich sie mir aus und gab sie nie wieder zurück. Ich fing an, darauf herumzuschrammeln, was meine Eltern ziemlich freute. Sie kauften mir daraufhin ein Pete-Seeger-Gitarrenbuch und eine dazugehörige Schallplatte. Diese ersten Lektionen waren einfach wunderbar.“
Auch Gilmours Freund Rado Klose ackerte sich fleißig durch Seegers Lehrbuch. Später sollte er unter seinem zweiten Vornamen, Bob, Mitglied bei den frühen Pink Floyd werden. „David und ich kannten uns praktisch von Geburt an“, sagt Klose. „Unsere Väter hatten sich kennengelernt, noch bevor sie überhaupt Familien gründeten. Ich weiß nicht mehr, ob David sich von mir etwas beibringen ließ, aber ich erinnere mich daran, wie wir beide die Platte von Pete Seeger und Radio Luxemburg hörten. Da waren Songs, die uns gefielen, und wir fragten uns, wie man sie spielte. Dann machten wir uns daran, es herauszufinden. Bei ‚Walk Don’t Run‘ von den Ventures war das etwa der Fall. David wusste sofort, wie der ging, während wir anderen länger dafür brauchten.“ Klose war ebenso Schüler an der County: „In diesem Alter ist die Schule der absolute Lebensmittelpunkt. Syd war eine Klasse unter mir und Roger eine über mir. Wir hatten alle einen ähnlichen Musikgeschmack. Eine Zeitlang fuhr ich voll auf Jazz ab – aber nur auf den Jazz aus der Zeit vor 1935! Dann Django Reinhardt. Roger stand auf Jimmy Dufree. Den Blues für mich zu entdecken, war wie ein Moment der Offenbarung. Ich erinnere mich daran, wie ich nach der Schule in den Plattenladen ging und eine LP von Leadbelly sah. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, mir gefiel nur der Name. Der Verkäufer ließ mich in das Album reinhören. Es war wie die Essenz von allem, was ich an Musik mochte – nur in konzentrierter Form.“ Leadbelly wurde zu einem gemeinsamen Favoriten des Trios Klose, Gilmour und Waters.
Seitdem Roger zwölf war, hatte er regelmäßig Jazz-Konzerte im lokalen Corn Exchange besucht, doch anders als etwa Syds Mutter, hatte Mary Waters nicht viel für Musik übrig. „Sie behauptete, kein musikalisches Gehör zu haben“, erinnert sich ihr Sohn. „Sie machte sich nicht viel aus Kunst. Sie war ein sehr politischer Mensch. Politik stand bei ihr an erster Stelle. Auf jeden Fall wurde ich weder zuhause noch in der Schule ermutigt, mich mit Musik zu befassen.“
1961, dem Jahr, in dem Syd Barrett seinen Vater verlor, kam auch Gilmours Familienleben in eine beträchtliche Schieflage. Seinem Vater Doug Gilmour wurde im Rahmen des sogenannten „Brain Drain“, bei dem britische Akademiker mit hochdotierten Lehrposten ins Ausland gelockt wurden, eine Stelle an der New York University angeboten, wo er schließlich zum Professor für Genetik wurde. Er und Sylvia entschieden sich, für ein Jahr nach New York zu gehen. David Gilmours zehn Jahre alter Bruder Mark begleitete sie, während die anderen Geschwister in England blieben. Davids Schwester Catherine besuchte bereits die Universität. Dem 15-jährigen David wurde angeboten, seinen Eltern und seinem Bruder in die USA zu folgen, doch entschied er aufgrund der musikalischen Möglichkeiten, die er ihn Cambridge vorfand, in seiner angestammten Umgebung zu bleiben. Während dieser Zeit kam er bei einer Familie in Chesterton unter. Unbeaufsichtigt schlich sich Gilmour zu Konzerten, anstatt für seine O-Level-Prüfungen zu lernen.
Waters, Barrett und Gilmour hatten nun zwei Dinge gemeinsam: ihren schulischen Hintergrund sowie die Abwesenheit ihrer Väter. Auf sich selbst gestellt, schickten sie sich an, ihrer Zukunft als Pink Floyd entgegenzustreben.
Auch wenn Gilmour der erste der drei war, der sich für Rock’n’Roll begeisterte, so waren seine zukünftigen Partner auch ohne Elvis nicht untätig darin, gegen das restriktive Klima an der Schule aufzubegehren. Wenn etwa Waters’ akribisches Vorgehen gegen den Obstgarten seiner Schule mehr wie ein kunstvoller Streich als ein einfacher Vandalenakt erscheint, so darf einen dies nicht weiter wundern.
Als Universitätsstadt bot Cambridge auch einen fruchtbaren Boden für die neue Garde nonkonformistischer amerikanischer Autoren und Dichter der Beat Generation. Die betreffenden Schreiber – Allen Ginsberg, Jack Kerouac und William Burroughs – wehrten sich stets gegen diese Bezeichnung und protestierten: „Drei Freunde ergeben noch lange keine Generation.“ Trotzdem gab es zwischen ihnen ausreichend Gemeinsamkeiten in Bezug auf ihre Sichtweisen, um den Begriff zu rechtfertigen. Ginsbergs Geheul und andere Gedichte von 1956 sowie Burroughs’ 1959 erschienenem Roman Naked Lunch wurde große Aufmerksamkeit zuteil, nachdem sie in das Visier der Sittenwächter geraten waren. Und doch war es Kerouacs Roman Unterwegs – 1957 nach einem Gerichtsverfahren, in dessen Fokus Geheul gestanden hat, veröffentlicht –, der der Beat Generation zu größerer Bekanntheit verhalf. Die Geschichte eines poetischen Wandervogels, der mittels Güterzügen und anderer Mitfahrgelegenheiten durch die USA reist, Pillen einwirft und zu einem Soundtrack von Bebop-Jazz dem Gelegenheitssex frönt, wurde zur Pflichtlektüre für smarte Teenager, die in einer Universitätsstadt heranwuchsen.
Die ungezügelte Kreativität der Beats, ihre nonkonformistische Haltung und ihre Abenteuerlust sprachen sowohl Barrett als auch Waters an. In Briefen an seine Freundin Libby Gausden schwärmte Barrett von Unterwegs. Er experimentierte mit seinem Outfit und entschied sich schließlich für schwarze Hosen und einen Fischer-Pullover, wie er bei Kunststudenten und Jazz-Fans angesagt war. Einige Zeit nach dem Tod seines Vaters begann er, sich gelegentlich „Syd, der Beat“ zu nennen. „Syd“ leitete sich von Sid Barrett ab, einem nicht mit ihm verwandten Jazz-Drummer, dem er im örtlichen CVJM sowie im Anchor-Pub begegnet war.
„Damals“, so erinnerte sich Waters Jahre später, „gab es diese Vorstellung, ostwärts zu reisen, um Abenteuer zu erleben.“ Andrew „Willa“ Rawlinson begleitete Waters und noch andere auf ihren zahlreichen Trips durch Europa. „Wir fuhren mit dem Auto von Rogers Mum über Frankreich, Italien und Griechenland nach Istanbul“, erinnert er sich. „Wir waren circa drei Monate unterwegs.“ Mit 19 fuhren Waters, Rawlinson und noch weitere in den Nahen Osten. „Wir fuhren in einem alten Rettungswagen, den wir Brutus getauft hatten“, berichtet Rawlinson. „Wir wussten nichts über Motoren, füllten keine Kühlerflüssigkeit nach, und schließlich verreckte unser Wagen in Beirut. Also trennten sich dort unsere Wege. Roger trampte alleine zurück nach England.“ Es war dieser Trip, der seinen Solo-Song von 2003, „Leaving Beirut“, inspirieren sollte. Die erste Textzeile lautete: „So we left Beirut, Willa and I …“
Spätestens ab 1962 hatte sich Syd Barretts Skepsis gegenüber Rock’n’Roll verflüchtigt. Seine musikalischen Vorlieben umfassten mittlerweile amerikanische Interpreten wie Chuck Berry und Bo Diddley, aber auch heimische Acts wie die Instrumental-Band The Shadows, die in den frühen Sechzigerjahren zu den maßgeblichen Einflüssen jedes ambitionierten Gitarristen zählten. Die Veröffentlichung der ersten Beatles-Single „Love Me Do“ im Jahr 1962 sowie das Erscheinen ihres Debüt-Albums Please Please Me im Jahr darauf verliehen der Musikszene von Cambridge einen weiteren Schub. Die Beatles waren Engländer, boten daher mehr Identifikationspotenzial und sogar der sonst stets skeptische Roger Waters meinte: „Die Songs auf ihrem ersten Album waren einfach so gut.“ Barrett wurde zu einem inbrünstigen Beatles-Jünger und fing nach dem Erwerb seiner ersten E-Gitarre sowie des Heiligen Grals unter den diesbezüglichen Lernmaterialien – Pete Seegers Platte und Buch – an, sich Gedanken über eine eigene Gruppe zu machen. Zwar hatte Syd schon gemeinsam mit John Gordon Gitarren-Sessions abgehalten, doch sein erster ernsthafter musikalischer Gehversuch war eine Gruppe mit dem Namen Geoff Mott and the Mottoes, die sich um den geselligen Geoff Mottlow formiert hatte. Geoff besuchte ebenfalls die County und war ein Rugby-Teamkamerad von Roger Waters. Der Band stand mit Syds Schlafzimmer der ideale Raum zur Verfügung, wo sie sich regelmäßig an Sonntagnachmittagen zum Proben einfand. Barrett und ein Junge namens Nobby Clarke spielten Gitarre, Mottlow gab den Leadsänger, während Clive Welham, der 2012 verstarb, hinterm Schlagzeug Platz nahm. „Es ist durchaus möglich, dass ich damals, als Syd und ich anfingen zusammen zu spielen, noch nicht einmal ein vernünftiges Schlagzeug besaß und stattdessen mit Messern auf ein paar Keksdosen trommelte“, verriet Clive. „Aber dann kaufte ich mir ein Schlagzeug, nahm Stunden und wurde sogar ganz gut. Ich weiß allerdings nicht einmal mehr, wer unser Bassist war.“ Welham meinte im Gegensatz zu dem, was in den meisten Büchern zu diesem Thema steht, dass es nicht Tony Sainty gewesen sei, dieser jedoch gemeinsam mit David Gilmour in Bands gespielt habe. „Ich spielte später mit Tony in Bands zusammen“, betonte Clive, „aber nicht in jener mit Syd. Es gab viele, die mal vorbeikamen. Roger Waters trieb sich immer bei Syd zuhause herum, aber das war noch bevor er selbst Musik machte.“
Das Repertoire der Mottoes umfasste Coverversionen von Buddy Holly, Chuck Berry, den Shadows und Eddie Cochran. Jahre später sollte Barrett der Musikpresse mitteilen, dass die Band oft bei privaten Partys aufgetreten sei. Vor zahlendem Publikum spielte sie jedoch nur ein einziges Mal und zwar bei einem Benefizkonzert für die Campaign for Nuclear Disarmament (CND), welches im lokalen Friends Meeting House stattfand. Das zugehörige Konzertplakat entwarf Roger Waters. Die Verbindung war sowohl politisch als auch musikalisch. Roger teilte das Interesse seiner Mutter für linksorientierte Politik und war inzwischen Spendensammler für den Morning Star sowie Vorsitzender der Jugendorganisation des ortsansässigen CND geworden. Später beteiligte er sich auch an Märschen des CND nach Aldermaston, einem Stützpunkt der Royal Air Force. „Wenn Roger Waters da war, rissen wir uns alle am Riemen“, lacht Libby Gausden. „Es war, als ob ein Lehrer den Raum betreten würde. Da er etwas älter war, kaufte man ihm diese Rolle auch ab. Er hatte schon ein Motorrad, bevor wir anderen überhaupt den Führerschein hatten. Und außerdem besaß er noch eine Lederjacke.“ Die Band sollte sich irgendwann zwar auflösen, doch hatte Mottlow 1965 mit seiner nächsten Gruppe, den Boston Crabs, mit „Down in Mexico“, einem zukünftigen Klassiker des Northern Souls, einen kleineren Hit, während Clive Welham sich zum festen Inventar der Szene in Cambridge entwickelte.
Als er 16 war, näherte sich Syds Zeit an der County ihrem Ende und er verkündete, zur Kunstschule gehen zu wollen. Seine Mutter arbeitete im Büro der Cambridge School of Art und um das Vorhaben ihres Sohnes zu fördern, arrangierte sie, dass er und John Gordon an einem außerplanmäßigen Kunstunterricht, der am Samstagmorgen stattfand, teilnehmen durften. Ihr Fleiß sollte sich schlussendlich auszahlen. Im Sommer 1962 schrieben sich beide Jungs an jener Schule ein, wo Syd zwei Jahre lang Kunst und Design studieren würde, wobei er sowohl bei den Lehrern als auch seinen Mitschülern einen bleibenden Eindruck hinterlassen sollte. „Syd war eine große Persönlichkeit“, erinnert sich John Watkins, der mit ihm die Schule besuchte. „Aber er hatte eine ganz schön große Klappe. Ich meine das auf eine nette Art und Weise. John Gordon glaubt, dass das wahrscheinlich mit dem Tod seines Vaters zu tun hatte. Syd forderte es stets heraus, er ließ sich nichts gefallen und ließ auch niemanden im Unklaren darüber.“
Die Cambridge School of Art, die sich in der East Road befindet, war im 19. Jahrhundert gegründet worden. Zu den Absolventen zählten unter anderem der Karikaturist und Illustrator Ronald Searle, bekannt für seine St. Trinian’s-Buchreihe, sowie die Erfinder der Puppen von Spitting Image, Peter Fluck und Roger Law.
„Syd erinnerte mich an einen spanischen Zigeuner“, sagt Richard Jacobs, der zusammen mit Barrett den Zeichenkurs besuchte. „Später behauptete er gerne, dass seine Großmutter eine Zigeunerin gewesen sei. Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir ihm das abkauften. Zum ersten Mal sah ich ihn im Sommer 1962. Er hatte eine Akustikgitarre und trug eine Levi’s. Ich war sehr beeindruckt. Zu jener Zeit kleideten wir anderen uns noch sehr proper. Im Keller des Schulgebäudes gab es einen Aufenthaltsraum, in dem Syd während der Pausen Hof hielt. Er saß stets auf einem Fensterbrett und spielte auf seiner Gitarre. Er sang diesen alten Music-Hall-Song, ‚just because my hair is curly, just because my teeth are pearly …‘.“ (Ein Jazz-Song von 1910, der später auch von Ella Fitzgerald und Louis Armstrong aufgenommen wurde.)
Durch die Schule kam Barrett auch erneut in Kontakt mit David Gilmour. Gilmours Eltern waren für einen kurzen Besuch aus den USA heimgekehrt und er selbst studierte mittlerweile Neuphilologie am Cambridgeshire College of Arts and Technology, das sich gleich neben Barretts Schule befand. Laut John Watkins verbrachte er die meiste Zeit zwischen den einzelnen Vorlesungen in der Kunstschule. „Ein paar von uns spielten Gitarre. Ich allerdings eher schlecht als recht. Aber wir fingen an, uns zur Mittagszeit in der Kunstschule zu Sessions zu verabreden“, sagt Watkins. „David fing an, sich daran zu beteiligen, und verbrachte mehr und mehr Zeit mit uns. Vor Cambridge war ich in Ägypten und auf Zypern, weshalb ich nicht wusste, was in der englischen Musikszene so vor sich ging. Ich besaß eine Gitarre und fing an, mir Sachen von Syd abzuschauen. Er brachte mir ein paar Sachen bei und auch David bettelte ich stets um ein paar neue Akkorde an. Die Beatles standen noch ganz am Anfang und Syd hatte sich gerade Songs wie ‚Twist and Shout‘ beigebracht. David machte mich mit Bob Dylan vertraut.“ Gilmour hatte den amerikanischen Sänger und Songwriter für sich entdeckt, als seine Eltern ihm aus den USA ein Exemplar seines jüngsten Albums mitbrachten. In der ganzen Zeit, die ich ihn dort sah“, sagt Stephen Pyle, ein anderer Schüler, „sah ich ihn niemals ohne eine Gitarre. Er war schon damals sehr zielstrebig, was das anging.“