Pioniere der deutschen Wirtschaft -  - E-Book

Pioniere der deutschen Wirtschaft E-Book

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Beschreibung

Der beispiellose Wirtschaftsaufschwung in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hat Deutschland tief geprägt. Die Pioniere dieser Zeit haben Großes geleistet und uns noch heute viel zu sagen. Von ihren Erfolgen können wir lernen.

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Ziesemer, Bernd

Pioniere der deutschen Wirtschaft

Was wir von den großen Unternehmerpersönlichkeiten lernen können

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40251-2

|7|Einleitung

Das Wirtschaftswunder

Wie es wirklich entstand – und wie es sich wiederholen könnte

Wer sich die Deutungshoheit über die Geschichte verschafft, bestimmt auch ein großes Stück Zukunft. Im kollektiven Gedächtnis der (West-)Deutschen sind die Nachkriegsjahrzehnte heute vor allem mit politischen Chiffren besetzt, die in weiten Teilen erst nach 1968 geprägt worden sind. Das gilt besonders für den Begriff der »Adenauer-Zeit«, der im Nachhinein als Sinnbild für eine enge und gleichsam vormoderne Gesellschaft herhalten muss, die sich angeblich erst durch die Studentenrevolte und die nachfolgende Ära der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt öffnete und liberalisierte. In Wahrheit waren die fünfziger und sechziger Jahre in Deutschland jedoch vornehmlich eins: Dekaden eines bis heute beispiellosen wirtschaftlichen Modernisierungsschubs in der deutschen Wirtschaft, der bis weit in die Gesellschaft ausstrahlte.

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war »vor allem ihre Wirtschaftsgeschichte«, schrieb der Bielefelder Historiker Werner Abelshauser schon 1983 zu Recht. »Nichts hat den westdeutschen Staat stärker geprägt als seine wirtschaftliche Entwicklung. Auf keinem anderen Gebiet sind seine Leistungen greifbarer als dort: Ihnen verdankt die zweite, die westdeutsche Republik jene Stabilität und Handlungsfreiheit, die der Republik von Weimar fehlte.« Lange Zeit glich Deutschland sogar, fügte Abelshauser hinzu, »einer Wirtschaft auf der Suche nach ihrem politischen Daseinszweck«.1 Wie die meisten Historiker befasst sich jedoch auch Abelshauser in seinem Standardwerk Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945 in erster Linie mit den ordnungspolitischen Weichenstellungen |8|, den Konjunkturzyklen und langfristigen volkswirtschaftlichen Trends. Wirtschaftsgeschichte ist jedoch vor allem anderen die Summe vieler Unternehmensentwicklungen. Die Politiker konnten Rahmenbedingungen setzen, aber die Unternehmer »machten« die Wirtschaftsgeschichte. Das gilt gerade für die beiden entscheidenden Dekaden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Die Adenauer-Zeit war die Zeit der Konzernschmiede und Pionierunternehmer, der Gründer und Erfinder, der innovativen Geschäftsideen und neuen Exportstrategien. Einige dieser Pioniere der deutschen Wirtschaft, die unmittelbaren Zeitzeugen der wirtschaftlichen Modernisierung in den fünfziger und sechziger Jahren, leben noch und können über ihre Erfahrungen berichten: Männer wie Werner Otto, der Gründer des gleichnamigen Versandhauskonzerns, oder Dübelerfinder Artur Fischer, der als genialer Tüftler den Grundstein für eine der erfolgreichsten Firmengruppen in Deutschland legte. Männer wie der Schraubenfabrikant Reinhold Würth, der seine mittelständische Unternehmensgruppe in wenigen Jahrzehnten zum Weltmarktführer machte, oder Roland Berger, der Ende der sechziger Jahre erst eine Wäscherei und dann eine der ersten Unternehmensberatungen in Deutschland gründete, die heute zu den erfolgreichsten internationalen Consulting-Firmen gehört. In diesem Buch sprechen sie in und aus ihren Porträts über weite Strecken selbst, ein Stück Wirtschaftsgeschichte als »oral history«.

Reporter des Handelsblatts machten sich vor mehr als einem Jahr auf die Suche nach den Männern, die Deutschlands Unternehmen über weite Strecken zu dem gemacht haben, was sie heute sind. Einige dieser Männer stehen auch hochbetagt noch immer in engem Kontakt mit ihren Unternehmen und wirken in der Öffentlichkeit, andere zogen sich bereits vor vielen Jahren völlig ins Privatleben zurück. Einige von ihnen waren sofort begeistert, an diesem Projekt mitzuarbeiten. Andere wollten mühsam überzeugt werden, bevor sie sich oft nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder zu einem Gespräch mit Journalisten bereit erklärten. Einige Gesprächspartner, die bereits feste Termine mit uns vereinbart hatten wie der Bertelsmann-Patriarch |9|Reinhard Mohn, mussten in letzter Minute krankheitshalber wieder absagen. Die Entstehungsgeschichte dieses Buches wurde damit fast so spannend wie sein eigentlicher Inhalt. Einige unserer Gesprächspartner stellten uns die Fragmente ihrer Lebenserinnerungen und umfangreiche Dokumentensammlungen zur Verfügung. Anderen liegt nichts ferner als die Idee, Memoiren zu verfassen. Alle aber opferten uns ihre Zeit: Denn wir wollten nur die Unternehmer porträtieren, mit denen wir auch selbst (oft viele Stunden) über ihre eigenen Erfahrungen sprechen konnten. Ergänzt wurden diese Gespräche durch akribische Archivrecherchen, bei denen wir auf die umfangreichen Datensammlungen des Handelsblatts zurückgreifen konnten, das seit seiner Gründung 1946 die Entwicklung der deutschen Unternehmen begleitet.

Die Auswahl der auf diese Weise entstandenen Geschichten kann deshalb zwar nicht im engeren Sinne als repräsentativ für eine ganze Unternehmergeneration gelten: Viele prägende Gestalten der Nachkriegswirtschaft sind gestorben, wie Josef Neckermann oder Aenne Burda. Andere wie die Gebrüder Albrecht beantworten grundsätzlich keine Fragen von Publizisten oder Historikern. Trotzdem ergeben sich aus der Gesamtschau der vorliegenden Porträts erstaunliche Parallelen, die den Begriff der Repräsentativität durchaus rechtfertigen. Die Lebensleistung dieser Unternehmer, die heute im siebten, achten oder gar neunten Lebensjahrzehnt stehen, verdichten sich zu einem erstaunlichen Ausschnitt der deutschen Wirtschaftsgeschichte.

Die Porträts von 15 deutschen Pionierunternehmern, die in diesem Buch nach monatelanger Arbeit versammelt sind, unterscheiden sich von vielen anderen Schilderungen aber nicht nur durch die unmittelbare Nähe, die wir herstellen konnten. Sie unterscheiden sich auch in einem anderen wichtigen Punkt: In allen Gesprächen mit diesen Ausnahmeunternehmern ging es nicht nur um die Vergangenheit der deutschen Wirtschaft, sondern auch um Lehren für die wirtschaftliche Zukunft eines Landes, das sich seit nunmehr mindestens zehn Jahren im Teufelskreis sinkender Wachstumsraten |10|und steigender Arbeitslosigkeit dreht. Gerade diese Frage reizte viele hochbetagte Unternehmer zur Mitarbeit an diesem Projekt.

Wir fragten alle unsere Gesprächspartner: Stimmt möglicherweise die bekannte Diagnose des Bundespräsidenten, Deutschland sei sich in den letzten Jahren »selbst untreu geworden«? In seiner oft zitierten Berliner Grundsatzrede vom 15. März 2005 betonte Horst Köhler: »Wir vernachlässigen schon lange das Erfolgsrezept, das der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg Zuversicht und Wohlstand, Stabilität und Ansehen gebracht hat. Es gab Zeiten, da sprach noch niemand von Globalisierung, aber der VW lief in aller Welt – und lief und lief. Damals galt in der Bundesrepublik eine Ordnung, die Leistung ermutige und sozialen Fortschritt brachte.« Diese »Ordnung der Freiheit« sei im Niedergang, fügte der Bundespräsident hinzu, »weil immer neue Eingriffe sie schleichend zersetzt haben, selbst wenn sie gut gemeint waren.

Seit Jahrzehnten fallen Bundes- und Landesregierungen und nicht zuletzt Brüssel immer neue Auflagen und Regulierungen für die Wirtschaft ein, Wirtschafts- und Sozialverbände haben das Ihre dazu getan, die Tarifpartner schlossen Verträge zu Lasten von Dritten, und die Bürger ließen sich gern immer neue Wohltaten versprechen und Geschenke machen.« Notwendig sei daher in Deutschland eine Rückbesinnung auf Ordnungspolitik: »Die Ordnung der Freiheit bedeutet: Die Bürger beauftragen den Staat, die Spielregeln zu setzen. Aber das Spiel machen die Bürger. Die Regeln lauten: Privateigentum und Vertragsfreiheit, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und ein stabiles Geldwesen, eine Sicherung vor den großen Lebensrisiken für jeden und Haftung aller für ihr Tun und Lassen. Der moderne Sozialstaat schützt vor Not; aber er gaukelt nicht vor, dem Einzelnen den einmal erreichten Lebensstandard garantieren zu können.«2

Eine erheblich sparsamere Regelungsdichte für die Wirtschaft im Ganzen und eine geringere Belastung der Unternehmen durch Sozial- und Steuerlasten standen auf jeden Fall am Anfang des deutschen Wiederaufstiegs nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Staatsquote |11|, also der Anteil der öffentlichen Hand an der gesamten Wirtschaftsleistung, lag weit unter den Werten in den achtziger und neunziger Jahren. Dieser Zustand war jedoch weniger politisch gewollt, als das Ergebnis wirtschaftlicher Prozesse. Unternehmer nutzten die Freiräume, die in der »Stunde Null« entstanden waren, ohne lange zu fragen und auf regierungsamtliche Vorgaben zu warten. Die Bürokratien funktionierten noch nicht wieder, selbstverliebte politische Detailregelungen wie heute waren noch die Ausnahme. Die Ingenieure des Sozialstaats, die heute immer kompliziertere Systeme konstruieren und das Land so in die Komplexitätsfalle treiben, steckten noch in den Kinderschuhen. Die Brüsseler Kommission mit ihrer Dauerproduktion an Regelungen für den europäischen Wirtschaftsraum existierte noch nicht. Die Wirtschaftstätigkeit wuchs schon bald so schnell, dass der Staatsanteil am Bruttosozialprodukt schon fast zwangsläufig zurückbleiben musste. Der Boom nährte den Boom. So lange offene Not in Deutschland herrschte, hielten die Finanzminister außerdem die öffentliche Verschwendung im Zaum. Die Bürger konsumierten munter, der Staat sparte eisern und erwirtschaftete Haushaltsüberschüsse – heute ist es genau umgekehrt.

Die bewussten Verfechter einer freien Marktwirtschaft wie Ludwig Erhard gerieten jedoch in Deutschland trotzdem schon bald in die politische Defensive, wie der amerikanische Historiker Alfred C.Mierzejewski in seiner vor kurzem erschienen brillanten Biografie über den ersten Bundeswirtschaftsminister nachgewiesen hat: »In Deutschland gab es eine lange Tradition antikapitalistischer Ressentiments, die von der verbreiteten Auffassung, die Ära des Kapitalismus sei mit der Wirtschaftskrise zu Ende gegangen, noch verstärkt wurde«, schreibt der Erhard-Biograf. »Lediglich kollektivistische Lösungen, die den Einzelnen vor Wettbewerb schützen, hatten Aussicht auf Unterstützung.«3 Was das politisch-gesellschaftliche Gesamtklima betraf, hatten es die Unternehmer in den fünfziger Jahren also auch nicht leichter als heute.

Der Bundeswirtschaftsminister war nach der Währungsreform |12|persönlich in der Bevölkerung überaus populär, politisch aber feindete man ihn schon bald von allen Seiten an. Bundeskanzler Konrad Adenauer, ein begnadeter Taktiker der Macht, führte Deutschland in die Westbindung und festigte die neue Demokratie. »Wir aber wählen die Freiheit«, verkündete der wichtigste deutsche Nachkriegspolitiker immer wieder. Ordnungspolitisch aber dachte Adenauer nicht, die Wirkungsweisen einer freien Marktwirtschaft blieben ihm in vieler Hinsicht fremd. Ähnlich wie Bismarck im 19. Jahrhundert mit der Einführung der Sozialversicherung, wollte der Bundeskanzler die Sozialdemokraten mit den eigenen Waffen schlagen und baute den Sozialstaat selbst schnell und massiv aus. Das Ergebnis waren nur allzu oft falsche wirtschaftspolitische Weichenstellungen.

Oft kämpfte Erhard, unterstützt von nur wenigen ordoliberalen Professoren, ganz allein auf weiter Flur gegen die mächtigsten Interessengruppen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie verteidigte unter seinem autoritären, mit Adenauer durch allerlei Kungeleien und Ränkespiele eng verbundenen Präsidenten Fritz Berg mit aller Macht die wettbewerbsfeindlichen Kartellstrukturen, die in der Kriegswirtschaft entstanden waren. Die Gewerkschaften mit ihrem nicht minder einflussreichen DGB-Vorsitzenden Hans Böckler setzten 1951 gegen den erbitterten Widerstand Erhards die Mitbestimmung im Montanbereich durch, die schon bald auf die gesamte Industrie ausgedehnt wurde. Und Adenauer brachte gegen jegliche ökonomische Vernunft schon bald ein dynamisches Rentengesetz ein, das die Alterseinkünfte fest an die Lohnentwicklung koppelte und damit die Basis für eines der größten Probleme schuf, unter denen Deutschland heute leidet. In einem Brief an den Bundeskanzler prophezeite Erhard bereits am 24.Mai 1955 das Abgleiten in einen Subventions- und Wohlfahrtsstaat, der sich nur dadurch am Leben erhalte, »dass er den verschiedenen Wählerschaften Vergünstigungen zukommen lasse«.

Die Wirkungen falscher ordnungspolitischer Weichenstellungen entwickelten sich jedoch nur sehr langsam und mit erheblicher Zeitverzögerung |13|– oft erst nach Jahrzehnten. Die Konjunkturzyklen überdeckten kurzfristig die unmittelbaren Folgen staatlichen Handels. Am Ende aber waren die Wirkungen nicht zu übersehen: In den fünfziger Jahren wuchs die deutsche Wirtschaft um phänomenale 107 Prozent, in den sechziger Jahren um 55 Prozent, in den siebziger Jahren trotz Ölkrise immerhin um 31 Prozent, in den achtziger Jahren (also noch vor der Wiedervereinigung) nur noch um 23 Prozent. Seitdem verringerten sich die Zuwächse weiter. Schon 1982 forderte der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff in seinem berühmten »Wendepapier« vergeblich eine Diskussion über die Erosion der deutschen Wettbewerbskraft. Die wachsende Arbeitslosigkeit, die unkontrollierbare Eskalation der Haushaltsprobleme und die mangelnde Finanzierbarkeit der Sozialsysteme führten über kurz oder lang in eine »Systemkrise«, prophezeite der FDP-Politiker schon damals. Erst in den letzten Jahren setzt sich in allen etablierten Parteien allmählich die Erkenntnis durch, dass Lambsdorff richtig lag. Die Kraft zu einschneidenden Reformen in Deutschland aber fehlt. Das maximale Wachstumspotenzial der deutschen Wirtschaft liegt heute bei gerade 1 Prozent pro Jahr – viel zu wenig, um die Etatprobleme zu lösen und das langfristige Überleben der Sozialsysteme zu sichern.

Wieso lag das Wachstum aber in den fünfziger und sechziger Jahren so viel höher als heute? In dieser Boomphase kamen in Deutschland gleich mehrere objektive und subjektive Faktoren zusammen, die sich in den nachfolgenden Jahrzehnten immer weiter abschwächten oder sogar in ihr Gegenteil verkehrten. So profitierte die westdeutsche Wirtschaft damals von einer schnell wachsenden Bevölkerung: Erst zogen Hunderttausende von Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches in die junge Bundesrepublik, dann sorgten ein Babyboom und die Massenflucht aus der DDR für weiter steigende Kopfzahlen und ein stetiges Angebot an neuen Arbeitskräften. Später kamen die Gastarbeiter hinzu. Im Inland war der Warenhunger so groß – man denke nur an die berühmte »Fresswelle« in den fünfziger Jahren –, dass die Binnenkonjunktur |14|nahezu von selbst lief. Der niedrige Außenwert der D-Mark machte deutsche Waren zugleich überall auf den Weltmärkten im höchsten Maße konkurrenzfähig. Der Koreakrieg führte zu einem besonderen Nachfrageboom in der Eisen- und Stahlindustrie, den traditionellen Eckpfeilern der deutschen Wirtschaft.

Genauso wichtig aber waren die subjektiven Faktoren: Die Leistungsbereitschaft in der Bevölkerung war ungebrochen, die 35-Stunden-Woche und die »Freizeitgesellschaft« lagen noch in weiter Ferne. Der Zukunftshunger der Kriegsüberlebenden prägte die gesellschaftlichen Erwartungen. Die Unternehmerinitiative stieß noch auf wenig Hindernisse. Und der bereits erwähnte Modernisierungsschub trug in der gesamten Wirtschaft zu erheblichen Rationalisierungsgewinnen bei. Soviel Zukunft wie damals war selten in Deutschland: Der Anteil neuer Produkte und neu gegründeter Unternehmen am Wachstum der deutschen Volkswirtschaft lag in den Jahrzehnten danach nie wieder so hoch wie in der viel gescholtenen und als altmodisch verlachten Adenauer-Zeit. Wer sie als restaurativ oder sogar reaktionär beschreibt, missachtet also die wirtschaftlichen Fakten. Das gilt auch für die innere Entwicklung der Unternehmen.

In den ersten Jahren nach 1945 übernahmen in vielen Unternehmen zwar noch einmal die »überlebensgroßen Führungspersönlichkeiten der Zwischenkriegszeit« (so der Historiker Harold James4 ) das Ruder – Männer wie zum Beispiel Hans-Günther Sohl bei Thyssen. Sie bemühten sich mit eisernem Willen vor allem darum, das zusammenzuhalten, was Krieg, Demontage und Entflechtungspolitik der Besatzungsmächte von den alteingesessenen Vorkriegskonzernen übrig gelassen hatten. Das beste Beispiel dafür war Krupp: Nach dem »Gesetz Nr.27 der Alliierten Hohen Kommission« vom Mai 1950 sollte der Essener Konzern wesentliche Betriebsteile verkaufen, sodass seine Überlebensfähigkeit auf dem Spiel stand. Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, der letzte Familieneigentümer, wollte die Einheit des Unternehmens dagegen um jeden Preis erhalten. Von den Alliierten zunächst als Kriegsverbrecher in Festungshaft |15|genommen, widmete er sich nach seiner Entlassung pausenlos diesem Ziel. Was folgte, war ein jahrelanges Ringen zwischen Krupp, der Bundesregierung und den Alliierten, das erst am 31.Juli 1968 offiziell endete: Die Siegermächte Frankreich, Großbritannien und die USA erklärten in gleichlautenden diplomatischen Noten an den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger, dass sie die Verkaufsauflagen für Krupp nicht länger verfolgten und damit einer Reintegration des Konzerns nicht mehr im Wege ständen.

Ähnlich wie Berthold Beitz bei Krupp bemühten sich auch Vorstände in der Chemiebranche jahrelang, aus den Resten der Vergangenheit wieder lebensfähige Unternehmen zu konstruieren. Die Alliierten zerschlugen nach dem Krieg die IG Farben. Nun entstanden aus dem Chemiekartell die drei Konzerne BASF, Hoechst und Bayer, die nach neuen Strategien suchten. Diese Konzernentwicklung prägte die Nachkriegswirtschaft erheblich. Eine neue Rolle suchten aber beispielsweise auch die Banken, die ebenfalls große Teile ihres traditionellen Vorkriegsgeschäfts im In- und Ausland verloren hatten. Die Deutsche Bank, 1957 als Aktiengesellschaft aus drei Regionalbanken wiederauferstanden, stieg zwei Jahre später ins Privatkundengeschäft ein, um sich neben dem traditionellen Kreditgeschäft mit den Unternehmen ein zweites Standbein zu schaffen. Die Zahl ihrer Filialen verdreifachte sich im Zuge dieser Expansion in gut zehn Jahren auf mehr als 1000. Erst Ende der sechziger Jahre wurde die Deutsche Bank damit zu dem führenden Kreditinstitut, wie wir es heute kennen.

Neben die Konzernschmiede traten in der Nachkriegszeit jedoch sehr schnell die Selfmade-Unternehmer der erste Stunde, die sich oft durch Schwarzmarktgeschäfte oder schnellen Tauschhandel das erste Startkapital für die D-Mark-Zeit besorgt hatten: Unternehmer wie die Verlegerin Aenne Burda, die mit ihren Schnittmusterbögen in Zeitschriftenform ein großes Bedürfnis unter den Nachkriegsfrauen befriedigte. Oder Männer wie Max Grundig, der bis 1949 schon 110000 Stück seiner berühmten Radios Marke »Heinzelmann« und »Weltklang« verkaufte. Grundig betrieb zwar schon |16|seit 1930 ein Handelsunternehmen, der eigentliche Durchbruch für ihn kam jedoch erst mit dem Einstieg in die Fabrikation von Unterhaltungselektronik. Mit der schnellen Expansion seiner Unternehmensgruppe, die er 1984 an den niederländischen Philipps-Konzern verkaufte, gilt er bis heute als Musterbeispiel für die Wirtschaftspioniere der Nachkriegszeit. Für die meisten von ihnen galt, was das Handelsblatt am 29. September 1950 über den Bremer Autofabrikanten Carl F.W.Borgward schrieb: »Der Optimismus, den Borgward ausstrahlt, ist der Grundzug seines Charakters«.

Trotzdem waren viele der ersten Nachkriegsunternehmer und Konzernvorstände nur Übergangsgestalten in der deutschen Wirtschaft. Viele scheiterten bereits in den ersten großen Anpassungskrisen der sechziger Jahren. So meldeten die Bremer Borgward-Werke am 11.September 1961 Konkurs an. Die Renommiermarke, die in der Nachkriegszeit nur noch mit Mercedes vergleichbar war, verschwand auf Dauer vom Markt. Selbst Grundig konnte sein Vermögen nur durch den Verkauf retten, sein Konzern starb langsam unter den neuen Eigentümern. Nur die besten Geschäftskonzepte überlebten, nur wenige Männer der ersten Stunde blieben bis in die siebziger Jahre oder gar länger am Ruder und prägten die Konzerne bis heute nachhaltig. Als Alfried Krupp von Bohlen und Halbach 1967 starb, erschien sein Tod wie der endgültige Abschied einer Unternehmergeneration. In den meisten Unternehmen war in den sechziger Jahren bereits »eine neue, tatkräftige Generation« nach vorn getreten, wie Harold James bemerkte, um die »Fesseln der Vergangenheit abzustreifen«5. Während radikalisierte Studenten in den Hörsälen der Berliner Universitäten vom Umsturz träumten, fand die wirkliche Revolution an der ökonomischen Basis statt: in den Unternehmen. Und man kann die These wagen, dass diese Revolution auch den gesellschaftlichen Überbau in Deutschland letztlich stärker veränderte als Rudi Dutschke und die Achtundsechziger.

Bahnbrechende Erfindungen ebneten in nur zwei Jahrzehnten weltweit den Weg für neue Produkte. Die Pille, der Videorekorder, das Transistorradio, die Solarzelle und die Satellitentechnik entstanden |17|bereits in den fünfziger Jahren in internationalen Labors und Forschungseinrichtungen. In den sechziger Jahren kamen der Herzschrittmacher, der Laser, die Computermaus, der Taschenrechner, die Glasfaseroptik und der Vorläufer des Internets dazu. Ganz neue Geschäftsideen, Branchen und Vertriebsformen etablierten sich auf dieser Basis in Deutschland. Findige junge Manager brachten viele Innovationen von einem Besuch aus dem amerikanischen Mutterland des Kapitalismus mit und kopierten sie für den deutschen Markt. Gleichzeitig zog es immer mehr US-Gesellschaften nach Deutschland, die kostbares Know-how der damals fortgeschrittensten Wirtschaftsnation in die deutsche Wirtschaft transferierten. 1968 arbeiteten bereits wieder 420 amerikanische Firmen mit eigenen Niederlassungen und Vertriebsorganisationen im Land des ehemaligen Kriegsgegners.

Die deutschen Unternehmen nahmen Abschied von dem, was der langjährige Vorstandsvorsitzende des Thyssen-Konzerns, Dieter Spethmann, das Ancien Régime in der deutschen Wirtschaft nannte: Sie trennten sich von überzentralisierten Organisationsmodellen und dem autokratischen Stil des »deutschen Direktors«. Die Konzerne führten stattdessen moderne Führungsstrukturen und amerikanische Managementmethoden, fortgeschrittene Steuerungsinstrumente und betriebswirtschaftliche Kontrollmechanismen ein. Die elektronische Datenverarbeitung veränderte die Finanzabteilungen, der Controller ersetzte den Buchhalter. Erstmals tummelten sich in vielen Konzernzentralen Unternehmensberater, die bis dahin in der deutschen Wirtschaft eine weitgehend unbekannte Spezies gewesen waren. Sie bemühten sich gemeinsam mit den Vorständen, die Geschäftsprozesse nach dem Vorbild der US-Wirtschaft zu beschleunigen und kostengünstiger zu gestalten. Die Unternehmen eroberten schneller als alle ihre europäischen Konkurrenten neue Absatzmärkte (zum Beispiel im arabischen Raum, in Afrika und in den Ostblockländern) und wurden so zu den Gewinnern der ersten großen Globalisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg – die damals allerdings noch niemand so nannte.

|18|Als »Wirtschaftswunder« gilt in der deutschen Erinnerung jedoch gemeinhin immer noch die unmittelbare Phase des Wiederaufbaus Ende der vierziger Jahre, als sich nach Ludwig Erhards mutiger Währungsreform und der (teilweisen) Freigabe der Einzelhandelspreise gleichsam über Nacht die Läden mit begehrten Waren aller Art füllten und das Geld wieder etwas wert war. Die meisten Bundesbürger denken an die Zeit zurück, als die Fabriken wieder notdürftig liefen und die ehemaligen Messerschmidt-Flugzeugwerke den Kabinenroller auf den Markt brachten. Ökonomisch gesehen geschah das eigentliche Wirtschaftswunder, mit dessen Hilfe Deutschland zur führenden Exportnation der Welt aufstieg und wirklich »Wohlstand für alle« schuf, jedoch viele Jahre später. Und es waren nicht Politiker, die dafür die Weichen stellten, sondern in aller erster Linie Unternehmer, die neu entstandene politische und gesellschaftliche Spielräume nutzten.

Die deutsche Wirtschaft verzweigte sich auf diese Weise in neue Branchen, die schnell zusätzliche Arbeitsplätze schufen und für Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik sorgten. Schon 1956 gründete die Deutsche Bank beispielsweise die erste deutsche Fondsgesellschaft DWS, die schnell zum Vorbild für eine ganze Multimilliardenbranche wurde und das Sparverhalten der Deutschen grundlegend revolutionierte. 1959 begann mit dem Werk von Hewlett Packard in Böblingen der Siegeszug der Kugelkopfschreibmaschine durch die deutschen Büros, der Startschuss zu einer Welle der Büroautomatisierung. 1960 eröffnete in Dortmund der erste »Albrecht-Discount-Laden« und schon bald breiteten sich mit großer Geschwindigkeit die so genannten Aldi-Geschäfte über ganz Deutschland aus. 1964 erfand Otto Beisheim die Metro, die mit ihrem Cashand-carry-Konzept den gesamten Handel und die Distributionsketten revolutionierte. 1967 etablierte sich in Düsseldorf die erste McKinsey-Niederlassung in Deutschland. 1968 baute der junge Willy Korf das erste Ministahlwerk mit neuer Elektrolichtbogentechnik am Rhein, der erste Herausforderer der alteingesessenen Stahlkonzerne im Ruhrgebiet seit über 50 Jahren.

|19|Für Egon Zehnder waren die späten fünfziger und die sechziger Jahre eine Ära der Pionierunternehmer. Umgekehrt spricht der Doyen der Personalberater und Kenner der deutschen Vorstandslandschaft von den »verwöhnten Achtzigern«6, die Deutschland viel Unternehmerinitiative kosteten. Der Unterschied zeigte sich vor allem auf den Auslandsmärkten. In der Ära der Pionierunternehmer spielten hungrige deutsche und japanische Konzerne die Rolle, die in den achtziger Jahren die koreanischen Chaebol übernahmen: Kein Land war ihnen zu entfernt, kein Auftrag zu schwierig, um Umsatz und Beschäftigung zu sichern.

Alfried Krupp brachte das Credo der deutschen Konzerne am 17. Januar 1954 in seiner traditionellen Ansprache vor den Pensionären des Unternehmens auf den Punkt: »Wir müssen exportieren, um Beschäftigung für unsere Werke zu haben, Rohstoffe und Lebensmittel einzuführen. Wir tun das im ehrlichen Wettbewerb mit deutschen und ausländischen Konkurrenten, vielfach unter schwierigsten Bedingungen, denn durch Kriegs- und Nachkriegszeit sind wir vielen anderen gegenüber im Nachteil. Wenn wir nicht alle Arbeiten und Aufträge hereinholen, wie sie sich uns bieten, können wir auf Dauer nicht bestehen.«7 Exportierte Krupp 1951 Waren im Wert von 150 Millionen D-Mark (bei einem Gesamtumsatz von 1,385 Milliarden), so waren es 1954 bereits 334 Millionen D-Mark. Eines der eindrucksvollsten Fotos aus der Unternehmenschronik stammt aus dem April 1961: Damals versammelten sich vor der einschüchternden Kulisse der Villa Hügel 200 Direktoren aus 53 Ländern zum Gruppenfoto der ersten Auslandsvertretertagung – im respektvollen Abstand zum Eigentümer Alfried Krupp, seinem Sohn Arndt und dem Generalbevollmächtigten Berthold Beitz im Vordergrund.

Schon am 14. September 1954 hatte das Krupp-Direktorium Beitz beauftragt, mit Bundeskanzler Adenauer über eine politisch überaus heikle Reise deutscher Industrieller in die Sowjetunion zu reden, um neue Absatzmärkte hinter dem Eisernen Vorhang für Krupp zu erobern. Diplomatische Beziehungen zwischen beiden |20|Ländern existierten auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs noch nicht. Jede Kontaktaufnahme mit den Sowjets wurde von den Amerikanern argwöhnisch beäugt. Nun wurden Männer wie Beitz zu den ersten Protagonisten des »Wandels durch Annäherung«, noch bevor Egon Bahr diesen politischen Begriff überhaupt erfand. Sie stellten unter schwierigsten Rahmenbedingungen funktionierende Geschäftsbeziehungen mit den Staatsunternehmen im Ostblock her und ebneten damit zugleich den Weg für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1955. Gefeiert wurde von der deutschen Öffentlichkeit jedoch nicht Beitz, sondern Adenauer. Dabei hätte der Bundeskanzler die Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen bei den Sowjets niemals ohne die Vorarbeit der deutschen Wirtschaft durchsetzen können.

Die ersten Großaufträge aus der Sowjetunion, zum Beispiel für eine große Petrochemieanlage, trafen schon bald bei Krupp in Essen ein. Gleichzeitig engagierte sich der Konzern mit Großprojekten wie dem schlüsselfertig übergebenen Stahlwerk Rourkela in Indien auch immer stärker in der Dritten Welt – lange vor den meisten europäischen Konkurrenten. Wie Krupp verhielten sich viele Konzerne: Die schnell wachsenden Exporte der Unternehmen (und bald auch eine Welle von Direktinvestitionen zur Absicherung der Märkte) zogen die gesamte deutsche Wirtschaft mit. Volkswagen exportierte den Käfer 1959 bereits in 29 Länder – trotz gelegentlicher Boykottaufrufe in den USA und anderswo wegen der Verstrickung des Konzerns in die Verbrechen der Nazis. Im gleichen Jahr gründete der Selfmademan Korf in Chicago mit amerikanischen Partnern das erste Joint Venture im Stahlbereich, 1967 folgte sogar sein eigenes Stahlwerk in den USA, die Georgetown Steel Corporation. Sein Engagement in den USA galt damals als Sensation und brachte ihn auf die Titelseiten deutscher und amerikanischer Wirtschaftsmagazine.

Die Grundmuster der internationalen Verflechtung, die bis heute zu den absoluten Stärken der deutschen Wirtschaft gehört, entstanden in dieser Zeit. Sicherlich wurden die Außenwirtschaftsbeziehungen |21|in den folgenden Jahrzehnten ausgebaut und ergänzt. Vor allem durch die Liberalisierung der Kapitalmärkte in den siebziger Jahren ging ein weiterer Internationalisierungsschub durch die Industrie. Der Historiker Harold James schreibt zu Recht über die siebziger Jahre: »Die traditionsreichen deutschen Großunternehmen wie Siemens, Daimler-Benz und Bosch verwandelten sich in multinationale Konzerne, und diejenigen, die dies nicht taten, wie etwa AEG, gingen unter.«8

Trotzdem eroberte die deutsche Wirtschaft nie wieder in so kurzer Zeit so viele neue Märkte wie in den fünfziger und sechziger Jahren. Eine vergleichbare Pionierrolle, wie sie die deutsche Wirtschaft damals im Geschäftsaustausch mit dem Ostblock spielte, konnte sie später nie wieder erringen – beispielsweise bei der Öffnung der Volksrepublik China nach 1979 oder der Reintegration der mittel und osteuropäischen Länder in die Weltwirtschaft nach 1989. Eine große gesellschaftliche und kulturelle Rückkoppelung aus Asien findet in Deutschland jedoch bisher nicht statt. Auch das unterscheidet Deutschland heute von den sechziger Jahren, als die »Amerikanisierung der westdeutschen Wirtschaft« (Volker Berghahn) alle anderen externen Einflüsse verdrängte. Das Leben der Pionierunternehmer, die wir in diesem Buch porträtieren, liefert die besten Beweise für die These, dass die kulturelle Rückkopplung aus den USA zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren für das deutsche Wirtschaftswunder gehörte. Deutschland verstand noch zu lernen – und damit auch aufzuholen im Wettbewerb.

Die Verbindung der späteren Pionierunternehmer zum amerikanischen Kulturkreis kam auf ganz unterschiedliche Weise zustande. Für einige wie den späteren Bertelsmann-Gründer Reinhard Mohn bringt die amerikanische Kriegsgefangenschaft schon 1945 das demokratische und marktwirtschaftliche Erweckungserlebnis. Andere kommen im Zuge der »Reeducation« nach dem Krieg als High Potentials aus Deutschland über den Atlantik. Manche weitsichtige Familienunternehmer schickten ihre Söhne aus eigenem Antrieb als Praktikanten ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Oft waren |22|es aber auch reine Zufälle, die einige künftige Führungskräfte der deutschen Wirtschaft schon in den frühen fünfziger Jahren in die USA brachten. Und einige schafften es zwar nicht selbst ins Land der Träume, aber sie sogen aus Büchern und Begegnungen »alles Amerikanische« auf, dass sie bekommen und für ihre eigenen Geschäfte nutzen konnten.

Nur einige Beispiele von vielen: Den jungen Erivan Haub schicken die Eltern mit 100 Dollar in der Tasche nach Illinois und Kalifornien, wo er mit einem Lastwagen um fünf Uhr früh Milch und Cornflakes in die Supermärkte ausliefert. Wenig später steuert Haub mit seinem Know-how aus dem amerikanischen Handel die deutsche Tengelmann-Gruppe auf einen gewaltigen Expansionskurs, der sie heute zu einem Giganten mit 184000 Mitarbeitern und einem Umsatz von fast 27 Milliarden D-Mark gemacht hat. Dieter Spethmann reist als junger Rechtsanwalt mit 27 Jahren zum ersten Mal in die USA, um im Hauptquartier der National City Bank of New York am Exchange Place 20 in Manhattan mit amerikanischen Bankern über die Rückzahlung von Vorkriegsanleihen des Thyssen-Konzerns zu verhandeln. Zwei Jahrzehnte später krempelt er den reinen Stahlbetrieb mit amerikanischen Managementmethoden zu einem zukunftsfähigen Mischkonzern um. Der junge Roland Berger, der gerade sein Betriebswirtschaftsstudium beendet und erste praktische Erfahrungen als selbstständiger Kleinstunternehmer in München gesammelt hat, lässt sich von einer Unternehmensberatung in Boston anwerben. Nach fünf Jahren macht er sich 1967 mit einer eigenen Unternehmensberatung in Deutschland selbstständig, die heute über 35 Büros in 22 Ländern verfügt.

Die amerikanischen Erfahrungen haben nicht nur Haub, Spethmann und Berger nachhaltig geprägt. In den meisten Lebensläufen der großen deutschen Unternehmerkarrieren nach dem Krieg finden sich größere oder kleinere Spuren der Amerika-Verbundenheit oder sogar der Amerika-Begeisterung. Den heutigen Führungskräften, die ihre Prägung nach 1968 erfuhren, fehlt oft dieses amerikanische Gen – bei aller Weltläufigkeit, die sie sich viel stärker als frühere |23|Generationen durch Studien- und Berufsjahre im Ausland erworben haben. Ausnahmen wie der neue Siemens-Vorstandsvorsitzende Klaus Kleinfeld, der seine prägenden Jahre als Nordamerika-Chef des Konzerns in den USA verbrachte, bestätigen die Regel.

Wenn man die Unternehmer- und Managergeneration der Adenauer-Zeit mit der heutigen vergleicht und dabei die generelle Unvergleichbarkeit der unterschiedlichen Zeitläufe (beispielsweise die Kriegserfahrung) extrapoliert, fallen trotzdem auch andere Unterschiede auf. Die damaligen Männer der Wirtschaft (Frauen wie die Verlegerin Aenne Burda blieben die absolute Ausnahme) waren in einem weitaus höheren Maße Erfinderunternehmer und Unternehmererfinder als ihre heutigen Nachfolger. Ihr Verhältnis zur Technik und zu den Technikern in ihren Konzernen gestalteten sie enger als heute. Die damalige Begeisterung in der ganzen Gesellschaft für futurologische Lösungen prägte die Führungsetagen der Wirtschaft in einem viel größeren Maße als in den Jahrzehnten danach. Die spätere Auslagerung des technischen Fortschritts in spezielle Forschungs- und Entwicklungsabteilungen erschien vielen Unternehmern in den sechziger Jahren noch als völlig undenkbar. Technische Entscheidungen standen im Mittelpunkt der Unternehmensstrategie, sie gehörten zum persönlichen Kerngeschäft des Vorstandsvorsitzenden. Obwohl sich an der Spitze der deutschen Konzerne weitaus mehr Juristen als Ingenieure fanden, pflegten sie doch ein überaus enges Verhältnis zu ihren Technikvorständen. Der frühere Thyssen-Chef Spethmann hält dieses Vertrauen in den »technischen Genius« der Deutschen noch heute für eine der wichtigsten Voraussetzungen seines eigenen unternehmerischen Erfolgs.

Niemand verkörpert den Typus des Erfinderunternehmers besser als Artur Fischer, den wir in diesem Buch ebenfalls porträtieren. Am 8. November 1958 erwirbt der Bauernsohn aus Tumlingen persönlich das Patent Nummer 1097117, das ihn später weltberühmt machen sollte: Die »Fischer-Dübel« treten ihren Siegeszug in der Bauwirtschaft an, während ihr Erfinder weiter selbst den grauen Meisterkittel überstreift und mit der Feile in der Hand an anderen |24|Prototypen werkelt. Seine Unternehmensgruppe schafft er fast nebenbei quasi aus dem Nichts. Der elektrische Blitzwürfel für den Fotoapparat und die Fischer-Technik für Kinder sind nur einige Beispiele für die Erfindungen, die Fischer in marktfähige Produkte umsetzt. Eine große Managementphilosophie hat sich der schwäbische Unternehmer niemals zurechtgelegt. »Geht nicht gibt’s nicht. Es geht so nicht, das gibt’s«, sagt Fischer noch heute und bastelt weiter unermüdlich an der Verwirklichung seiner Ideen. Schon 1991 wurde er mit dem Werner-von-Siemens-Ring ausgezeichnet, dem »Nobelpreis für Techniker«, der seit 1916 nur alle drei Jahre vergeben wird. Fischer steht damit in einer Reihe mit Erfinderunternehmern wie Carl Bosch oder Carl von Linde.

Natürlich beschäftigen sich Unternehmer und Konzernvorstände auch heute immer wieder mit komplexen technischen Problemen. Die überbordende Technikbegeisterung der fünfziger Jahre findet sich heute jedoch nur noch in relativ wenigen großen Unternehmen wie beispielsweise BMW. Insgesamt prägt sie die Unternehmenskulturen in Deutschland immer weniger. In den achtziger Jahren machte sich der Irrglaube breit, viele deutsche Produkte seien »over-engineered«. General Manager und Marketingexperten liefen den Ingenieuren den Rang ab. Das Verkaufsgenie galt plötzlich mehr als das technische Genie. Diese Entwicklung mag man über weite Strecken als natürlichen Prozess in einer reifen Marktwirtschaft empfinden, in der Markenwerte mindestens genauso über den unternehmerischen Erfolg entscheiden wie technischer Vorsprung. In vielen anderen Industrieländern war ein ähnlicher Kulturwechsel zu beobachten.

Trotzdem ging diese Entwicklung gerade in Deutschland auch mit einem ungeheuren Verlust an unternehmerischem Potenzial einher. Anders als die angelsächsischen Länder, die schon immer mehr durch »Financial Engineering« glänzten, bildeten Ingenieurleistungen in Deutschland das Rückgrat der ganzen Wirtschaft. Heute sind es eher Länder wie Südkorea oder Taiwan, in der wir die Erfinderunternehmer unserer Zeit finden. Sie stützen sich, ähnlich wie die |25|deutschen Pionierunternehmer der fünfziger und sechziger Jahre auf eine breite Zukunftsbegeisterung in der Bevölkerung. »Early Adopter« nehmen in Asien elektronische Neuheiten in Windeseile auf. Was beispielsweise die Alltagsdurchdringung mit moderner Mobilfunktechnik betrifft, muss sich der Exportweltmeister Deutschland heute hinter einem Schwellenland wie Südkorea verstecken. Während sich die Chinesen für ihre »Taikonauten«, die ersten Raumfahrer aus dem Reich der Mitte, begeistern, fehlen in Deutschland heute Leuchttürme einer Technikbegeisterung wie in den fünfziger und sechziger Jahren.

In Deutschland verlassen immer weniger Ingenieure die Universitäten, während sich Länder wie Indien langsam an die Spitze der Absolventenzahlen schieben. Durch politische Fehlentscheidungen und die technikfeindliche Ökowelle der achtziger Jahre (die auch in dieser Hinsicht eine Hochzeit der falschen Weichenstellungen in Deutschland waren) sind viele fortgeschrittene Technologien aus Deutschland verdrängt worden. Früher war die Technische Hochschule in Aachen beispielsweise weltweit führend in der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Heute spielt Deutschland auf diesem Gebiet genauso wenig eine Rolle wie in der Gentechnik. Mit den restriktiven Beschlüssen zur Stammzellenforschung sind wir in Deutschland auf dem besten Wege, eine weitere wissenschaftliche Revolution zu verpassen, die unsere gesamte Pharmaindustrie und Medizintechnik verändern könnte.

Immer weniger ausländische Studenten zieht es an die technischen Hochschulen in unserem Land. In den fünfziger und sechziger Jahren studierten dagegen in Deutschland mehr indonesische Studenten als in den USA. Einer von ihnen, Bacharuddin Jusuf Habibie, stampfte in den siebziger und achtziger Jahren eine moderne Flugzeugindustrie in Indonesien aus dem Boden. 1998 stieg er nach dem Sturz des Diktators Suharto zum Präsidenten der Inselrepublik auf. In allen seinen Ämtern bemühte sich Habibie um den Ausbau der deutsch-indonesischen Wirtschaftsbeziehungen. Heute wiederholen sich solche Karrieren, die an deutschen Universitäten beginnen |26|und in höchsten Führungspositionen in Schwellen- und Entwicklungsländern enden, kaum noch.

Die künftigen Eliten aus China studieren beispielsweise fast ausnahmslos an amerikanischen Universitäten. Deutsche Unternehmen gehen gleichzeitig immer mehr Partnerschaften mit ausländischen Universitäten ein, um Anschluss an den technischen Fortschritt zu halten. Die schnelle Umsetzung von Erfindungen in neue Produkte, die so typisch für die deutschen Unternehmen in den fünfziger und sechziger Jahren war, wird in vielen Konzernen schwieriger statt leichter. Die Technik des MP3-Players entstand in Deutschland, die ersten erfolgreichen Produkte brachten japanische und südkoreanische Konzerne auf den Markt der Unterhaltungselektronik.

Neben dem unterschiedlichen Verhältnis zur Technik ist ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen früheren und heutigen Managergenerationen zu beobachten: Die Pionierunternehmer der fünfziger und sechziger Jahren sahen »unternehmerische Freiheit« als allerwichtigste Voraussetzung für ihren Erfolg. Kein Stichwort fällt so häufig wie dieses, wenn man heute mit ihnen über ihre Lebenserfahrungen spricht. »Ich habe die Freiheit der Demokratie erlebt an der Freiheit, arbeiten zu dürfen. Das habe ich tief eingesogen«, sagt beispielsweise der Banker Ludwig Poullain. Als Gründer der Westdeutschen Landesbank (WestLB) lebte er unternehmerische Freiheit in den sechziger Jahren in einem Maße, die in der damaligen öffentlich-rechtlichen Sparkassenlandschaft als ganz unerhört empfunden wurde. Erich Sixt, der seine Autovermietung aus einem Krisenbetrieb zum europäischen Marktführer hoch boxte, zieht das gleiche Fazit aus seinem Unternehmerleben: »Ich habe als Unternehmer stets darauf geachtet, mir einen bestimmten Handlungsspielraum zu erhalten, um schnell und unbürokratisch Entscheidungen treffen zu können. Es reicht, wenn schon externe Faktoren die Handlungsspielräume der Unternehmer einschränken.« Werner Otto fürchtet bis heute nichts mehr als die Einschränkung der unternehmerischen Freiheit – sei es von außen oder sei es aus dem Inneren des Unternehmens: »Bürokratische Gängelung erstickt |27|den Pioniergeist«, sagt der Versandhausgründer, und: »Leider baut sich die Bürokratie ständig von allein auf.«

Die ersten materiellen Erfolge waren für die Pionierunternehmer in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem die Voraussetzung, um sich noch mehr unternehmerische Freiheit zu sichern. Artur Fischer sah in seiner ersten großen Erfindung in den fünfziger Jahren vor allem den Garanten für das, was er sich damals am meisten ersehnte: Unabhängigkeit. Dieter Spethmann lehnte den mehrmaligen Ruf in die Politik ab, weil er seine materielle Unabhängigkeit als noch nicht gesichert ansah und keineswegs in Abhängigkeit geraten wollte. Roland Berger antwortet heute auf die Frage, was in den fünfziger und sechziger Jahren für Unternehmer anders war als heute: »Es gab weniger Vorschriften. Wenn man als Unternehmer gegen eine Vorschrift verstoßen hatte, brachte man es eben wieder in Ordnung.«

Die erfolgreichsten Konzernvorstände der Fünfziger und Sechziger betrachteten sich niemals als angestellte Manager im heutigen Sinne, die von Job zu Job weiterziehen, sondern als Unternehmer, die ihr Leben an eine Aufgabe in einem Unternehmen banden. Für Berthold Beitz war die Zusicherung Alfried Krupps, den Essener Konzern als Generalbevollmächtigter wie ein Unternehmer führen zu können, der entscheidende Grund zum Wechsel aus einem sicheren Direktorenamt in einer Hamburger Versicherung in ein damaliges Krisenunternehmen ohne sichere Zukunft. Spethmann, sein Konkurrent und Widersacher bei Thyssen, sah seine Rolle Jahre später nicht sehr viel anders: Die Freiheit, schnelle Entscheidungen zu treffen, sei die Bedingung jeglichen unternehmerischen Erfolgs, sagt er bis heute. An andere »Wunderrezepte des Managements« glaubt Spethmann nicht. Managementliteratur interessiert ihn wie die meisten anderen noch lebenden Pionierunternehmer herzlich wenig. Unternehmerischer Erfolg sei stets der Saldo vieler Entscheidungen, die auf einem glücklichen Zusammenspiel vieler Menschen und den Optionen eines konkreten Marktumfelds basierten.

Eine erfrischende Theoriefeindlichkeit kann man fast schon zum |28|verbindenden Merkmal der Beitz-und-Spethmann-Generationen erklären. In den USA sind viele Spitzenunternehmer in den letzten Jahrzehnten durch ausgefeilte Bücher über Managementstrategien aufgefallen. Vom IBM-Gründer Thomas Watson bis zum General-Electric-Manager Jack Welch reicht die lange Liste der Autoren. Viele dieser Bücher aus Unternehmerhand wurden internationale Bestseller. Die »Six-Sigma-Strategie« von General Electric wird heute sogar an vielen Business Schools gelehrt. Den deutschen Unternehmern fällt die abstrakte Denkweise der MBA-Programme dagegen erwiesenermaßen schwer. Wenn sie zur Feder greifen, dann um persönliche Erinnerungen oder eine Unternehmensgeschichte zu verfassen. Den meisten von ihnen geht völlig der Glaube ab, man könne gutes Management lehren oder in Sechs-Punkte-Programmen zusammenfassen.

Unternehmer zu sein, heißt für die meisten Angehörigen dieser Generation, aus dem Bauch heraus zu entscheiden und Risiken einzugehen. Managementtheoretiker würden die meisten Männer, die wir in diesem Buch porträtieren, bei aller Unterschiedlichkeit wohl dem Phänotypus des »charismatischen Führers« zuordnen, der weniger durch klare Grundsätze als durch persönliches Beispiel führt. Offenbar gehören solche Menschen nicht zu den schlechtesten Managern, auch wenn sie zwischenzeitlich im Zuge wechselnder Managementmoden als arg altmodisch galten.

Die politischen und publizistischen Kritiker haben die deutschen Pionierunternehmer immer als Autokraten beschrieben, die mit dem heutigen Prototyp des Managers als smartem Team-Player nichts im Sinn hatten. Die Gewerkschaftslinke prägte in den siebziger Jahren den Begriff, »Entscheidungen nach Gutsherrenart« passten nicht mehr zu einer modernen Wirtschaft. Aber das Patriarchalische und Hemdsärmelige, das so stark in die Kritik geriet, war möglicherweise nur die andere Seite unternehmerischer Entscheidungsfreude und sozialer Verantwortung für die Beschäftigten. Die Pionierunternehmer rieben sich nicht an starren Regeln wie heute, sondern an konkreten Personen und Problemen. Sie waren |29|näher an ihren Kunden, weil sie noch wirklich entscheiden konnten und sich weniger mit internen Diskussionen aufhalten mussten.

Erivan Haub sieht heute umgekehrt große Gefahren für die unternehmerische Freiheit in Deutschland: »Unser Land verknöchert bürokratisch.« Dabei geht es nicht nur um die politische Bürokratisierung der Wirtschaft, sondern auch um die Bürokratisierung der Unternehmen von innen, für die niemand anders als das Führungspersonal der Konzerne selbst verantwortlich zu machen ist. Als Unternehmer überleben heute diejenigen am besten, die sich durch die zahlreichen Hürden winden, die unser überkomplexes Wirtschaftssystem errichtet. Mitbestimmung, Umweltvorschriften, Arbeitsschutz, Baurecht, die Auflagen der Banken, Börsenvorschriften – das Netz, das Unternehmer fesselt, weben wir immer dichter. Gefordert werden von heutigen Managern außerordentliche Fähigkeiten der Political Correctness, die in früheren Generationen so gut wie keine Rolle spielten. Mit ihren vielfältigen Rücksichtnahmen auf Gewerkschaften, Gemeinderäte und Verbraucherschützer wirken viele Vorstände heute im Vergleich zu ihren Vorgängern merkwürdig feige und lendenlahm. Wer sich auf den Ethos der unternehmerischen Freiheit beruft, gerät dagegen unter den Generalverdacht, nur seinen Eigennutzen maximieren zu wollen.

Gesellschaftlich gilt als weitgehender Konsens in Deutschland, das unternehmerische Freiheit durch den Staat beständig zu zügeln und in ihrem natürlichen Lauf zu korrigieren sei. Nur so lasse sich ein vernünftiger Interessenausgleich zwischen Wirtschaft und Bevölkerung gewährleisten. Der soziologische Vordenker der rotgrünen Regierungskoalition, Ulrich Beck, versah eines seiner bekanntesten Bücher im Jahr 2000 mit dem bezeichnenden Titel Freiheit oder Kapitalismus. Seiner Meinung nach muss man die wirtschaftlichen Freiheiten eindämmen, um die politische Freiheit zu erhalten. Kein Wunder: Die unternehmerische Freiheit vermindert sich in einem solchen gesellschaftlichen Umfeld beharrlich und viele heutige Manager, die mit diesem System der öffentlichen Rücksichtnahmen zu leben gelernt haben, messen ihr daher auch geringere Bedeutung |30|zu als ihre Vorgänger. Möglicherweise ist zwischen den fünfziger Jahren und heute tatsächlich eingetreten, was der Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman in seinem Standardwerk Capitalism and freedom prophezeite, dessen Titel Beck offenbar bewusst paraphrasierte: Die »kumulative Wirkung einer Folge kleiner Modifikationen« kann das Wesen einer Wirtschaftsordnung, so folgerte Friedman schon Ende der vierziger Jahre, »drastisch verändern«9.

Unter den größten Konzernen in Deutschland, den so genannten Dax 30, findet sich heute ein einziges jüngeres Pionierunternehmen im echten Sinne: der 1976 von ehemaligen IBM-Managern in Walldorf gegründete Softwarekonzern SAP. Alle anderen Konzerne (oder ihre jeweiligen Vorläufer) existierten schon in den fünfziger Jahren oder gar vor dem Zweiten Weltkrieg. Die kapitalistischen Gründerzeiten sind in Deutschland offenbar irgendwann in den achtziger Jahren zu Ende gegangen und bis heute trotz aller »Startup-Programme« nicht wieder zum Leben erwacht. Unter den größten und erfolgreichsten US-Konzernen stechen dagegen viele neue Firmen hervor, die erst in den siebziger, achtziger oder gar neunziger Jahren entstanden sind. Man denke nur an Microsoft, Ebay, Dell, Amazon oder Starbucks. Einige von ihnen schufen ganz neue Wirtschaftszweige. All diese Pionierunternehmen wären ohne charismatische Führungspersönlichkeiten wie Bill Gates oder Michael Dell, die gerade in ihrer Anfangszeit über große Spielräume für Unternehmerinitiative verfügten, kaum entstanden.

SAP-Mitbegründer Dietmar Hopp, den wir in diesem Buch ebenfalls porträtieren, macht die gewachsene Rolle des Staates und die Allmacht der Banken mitverantwortlich für die Schwierigkeiten neuer Unternehmen in Deutschland. Unser leistungsfeindliches Steuersystem macht Kapitalbildung durch hohe Pioniergewinne, wie sie gewöhnlich mit technischen Innovationen einhergehen, faktisch unmöglich. Der frühe Börsengang bleibt vielen deutschen Unternehmen anders als in den USA versperrt, weil deutsche Anleger höhere Risiken scheuen und sich von den Aktienmärkten fernhalten|31|. Damit wächst die Rolle der Kreditinstitute in der Unternehmensfinanzierung – und damit auch ihr Einfluss auf die Firmen selbst. »Wenn die Geldgeber zwei Tage in der Woche beim Chef am Schreibtisch sitzen, kann der keine Firma führen«, sagt Hopp zu Recht.

Dicke Bücher und politische Abhandlungen, die neue Gründerzeiten beschwören, werden seit vielen Jahren in Deutschland verfasst. Im Zuge einer »Innovationsoffensive« wollte Bundeskanzler Gerhard Schröder beispielsweise in seiner zweiten Amtsperiode den technologischen Fortschritt fördern. In einem 576-seitigen Buch mit dem modernistischen Titel Made in Germany 21 sammelte Schröders Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier Dutzende von Beiträgen mit Hunderten von Vorschlägen ein, wie Innovationen in Deutschland zu fördern seien. Die Aufsatzsammlung überschlug sich mit technokratischen Visionen: Innovationskultur, Strukturrevolution, digitaler Kapitalismus, Nanokosmos, strategische Forschungsförderung – so lauten einige der wichtigsten Schlüsselbegriffe in dieser exemplarischen Studie. Man kann diese Begriffe zugleich (frei nach Jürgen Habermas) als Stichwörter zur geistigen Situation einer Zeit lesen, in der die Rolle des Unternehmers hinter einem technokratischen Nebel der kollektiven Machbarkeitsideologie verschwindet.

»Innovation« führen alle politischen Entscheidungsträger jeglicher Couleur im Munde. Die wenigen Ausnahmeunternehmer, die in den letzten Jahren in Deutschland an den Schaltstellen der Unternehmen tatsächlich für Innovationen sorgten, waren dagegen bis auf sehr wenige Ausnahmen im höchsten Maße unpopulär. Was soll man davon halten, wenn beispielsweise ein Banker, der wie Josef Ackermann ein deutsches Kreditinstitut mit beharrlicher Arbeit in die Weltliga führte, in der Öffentlichkeit zugleich als schlimmste Charaktermaske des Kapitalismus verunglimpft wurde? Wieso verstehen so wenig Menschen in Deutschland den Zusammenhang zwischen Unternehmerfreiheit und Beschäftigungswachstum?

Professor Frieder Meyer-Krahmer vom Fraunhofer-Institut für |32|Systemtechnik und Innovationsforschung prophezeite 2004 eine »Dekade der neuen Märkte«10. Technologiesprünge in der Medizintechnik, in der Nanowissenschaft oder bei Brennstoffzellen könnten in den nächsten Jahren ganz neue Absatzmärkte schaffen, ähnlich wie die Computer in den siebziger Jahren oder das Internet in den neunziger Jahren. Wenn diese Prognose stimmt, dann wird Deutschland allerdings keineswegs zu den Gewinnern der nächsten Globalisierungswelle gehören, wenn wir auf staatliche Förderung von Forschung und Innovationen im Sinne einer dirigistischen Industriepolitik setzen. Alle diese Instrumente waren in den fünfziger und sechziger Jahren kaum bekannt; ihre Abwesenheit verhinderte keineswegs die Eroberung neuer Märkte, sondern erleichterte sie sogar. Nur der Markt, nicht die Politik kann Pionierunternehmungen von illusionären Geschäftsideen trennen. Die Befürworter staatlicher Industriepolitik argumentieren deshalb im Wesentlichen mit einem klassischen Zirkelschluss, den auch alle Protektionisten dieser Welt in der Handelspolitik bemühen: Wenn andere Länder Technologien fördern und Industriepolitik betreiben (oder sich vom Weltmarkt abschotten), dann müssen es alle anderen angeblich auch tun, wenn sie im weltweiten Wettbewerb nicht zurückfallen wollen.

Wenn wir eines aus dem deutschen Wirtschaftswunder lernen können, dann vielleicht das genaue Gegenteil: Die beste Innovationspolitik wäre eine Politik, die größere Spielräume für unternehmerische Freiheit eröffnete. Von dem großen Historiker Jacob Burckhardt stammt die Erkenntnis, Schicksale von ganzen Völkern könnten davon abhängen, »dass ein außerordentlicher Mensch zu gegebener Zeit gewisse Seelenspannungen aushalten könne«11. Für die Unternehmen gilt offenbar Ähnliches: Ihr Gedeih und Verderb wird oft von wenigen Menschen bestimmt, die im richtigen Augenblick unter schwierigsten Bedingungen richtige Entscheidungen fällen und sie danach gemeinsam mit vielen anderen Menschen begeistert umsetzen. Was wir Wirtschaft nennen, ist letztlich nichts anderes als die Summe von Unternehmerinitiativen. Ohne die großen |33|Unternehmer, die in den fünfziger und sechziger Jahren große Anspannungen »aushalten« mussten, wäre Deutschland nicht zu Wohlstand gelangt.

Der große österreichische Ökonom Joseph Alois Schumpeter beschreibt die »schöpferische Zerstörung« in seinem 1912 erschienen Meisterwerk Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung als eigentliche Triebkraft des modernen Kapitalismus. Die Marktwirtschaft entwickele sich in stetigen Ungleichgewichten weiter, weil Unternehmer auf der Suche nach Pioniergewinnen immer wieder aufs Neue alte Geschäftsideen und veraltete Produkte verdrängten. In seinem weitaus weniger bekannten zweibändigen Nachfolgewerk von 1939 (Business Cycles) stellte Schumpeter die Theorie auf, relativ wenige Pionierunternehmer zögen in einer Volkswirtschaft viele andere Unternehmer gleichsam mit – sei es als Zulieferer oder als Nachahmer. Diese »dynamischen Unternehmer« wirkten »geballt« auf die Konjunktur eines Landes und erzeugten so durch ihr Wirken letztlich den Aufschwung, der allerdings von vielen anderen Unternehmern mitgetragen werde. Deutschlands Nachkriegsboom in der Adenauer-Zeit wirkt im Nachhinein wie die empirische Bestätigung dieser Ideen Schumpeters.

Man muss die Pionierunternehmer der Nachkriegsjahrzehnte nicht zu menschlichen Heroen ohne Fehler stilisieren. Der Historiker Harold James schrieb, unternehmerische Visionen seien etwas sehr Persönliches und enthielten vielfach sogar ein »dämonisches Element«12. Viele Ausnahmeunternehmer waren keine leichten Partner für ihre unmittelbaren Mitarbeiter und schon gar nicht für ihre Familienangehörigen. Manch einer von ihnen riss im Alter wieder in den Abgrund, was er in seiner Jugend geschaffen hatte. Reinhard Mohn scheiterte beispielsweise bei Bertelsmann letztlich mit seiner Idee, mit wissenschaftlich ausgeklügelten Mechanismen die ideale Unternehmensnachfolge zu sichern.

Ihr Geschäft trieb die großen Unternehmergestalten um und verdrängte über große Strecken alles andere aus ihrem Leben. Viele Unternehmer in der Frühzeit der Bundesrepublik scheiterten erbärmlich|34|, bevor sie sich schließlich doch durchsetzten. In gewisser Weise gehörte die »Kultur des Scheiterns« (ein Begriff des Historikers Wolfgang Schivelbusch) sogar zu den konstituierenden Elementen eines typischen Unternehmerlebens nach dem Kriege.

Viele Jahre lang bestimmten härteste Auseinandersetzungen das Leben dieser Unternehmer, fast jeder von ihnen machte viele Fehler – auch und gerade gegenüber fähigen Mitarbeitern. Viele dieser Kämpfe sind vergessen und tauchen in den heutigen Erinnerungen der handelnden Personen in ein altersmildes Licht. Die Erinnerungen, die aus den Porträts dieses Buches sprechen, sind deshalb keine objektive Geschichtsschreibung. Konkurrenten und Kritiker, ja vor allem die Betroffenen unternehmerischer Entscheidungen, werden vieles anders sehen als die handelnden Personen selbst. Unser Blickwinkel auf die Pioniere der deutschen Wirtschaft bleibt daher weitgehend subjektiv, aber vielleicht erweist er sich gerade deshalb auch im besten Sinne als lehrreich.

Deutschland wird die wirtschaftlichen Herausforderungen nur dann meistern und seinen Spitzenplatz unter den Industrieländern verteidigen (oder wiedererlangen, wo es ihn bereits verloren hat), wenn unser Land wieder mehr von seinen erfolgreichsten Unternehmern lernt. Ihre Würdigung fehlt in unseren Lehrbüchern an den Schulen. Dabei sollten uns die Pioniere der deutschen Wirtschaft mindestens genauso Vorbild sein wie die großen Staatsmänner, denen wir Deutschlands Weg in die westliche Demokratie und zur Wiedervereinigung verdanken.

Bernd Ziesemer

|35|Kapitel 1

»Geht nicht gibt’s nicht«

Der Erfinder Artur Fischer

Es knirscht. Und dann zerreißt es den Beton. Das Knattern der Winde unter der 5 Meter hohen Hallendecke erstirbt. Mit bis zu 50 Tonnen Zugkraft hat die Winde an dem Dübel gezerrt, den Werner Heinzelmann in die 40 Zentimeter dicke Betonplatte auf dem Boden gesteckt hat. Der Prüffeldleiter der Fischer-Werke ist zufrieden: Wieder einmal war ein Fischer-Dübel stärker als Beton – dieses Mal ein Zyklon-Bolzenanker Typ FZA.