Plötzlich Stiefmutter - Marica Schroeter-Francesevic - E-Book

Plötzlich Stiefmutter E-Book

Marica Schroeter-Francesevic

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Beschreibung

Bäm! Hinterrücks erwischt sie die große Liebe. Doch der Auserwählte ist nicht nur groß, gutaussehend und charmant ⋯ sondern hat auch ein Kind mit seiner Ex-Frau. Dabei hatte es sich die Mittdreißigerin Alexa in ihrem Leben mit Partys, Katze und gelegentlichen Affärchen eigentlich nett eingerichtet, als es unverhofft passiert: Plötzlich ist sie Stiefmutter. Stiefmutter! Der hässlich belegte Begriff will so gar nicht zu Alexas Wahrnehmung von sich selbst passen, und eigentlich wollte sie gar keine Kinder – schon gar nicht die von anderen Leuten! Doch es ist, wie es ist, durch Sven samt Stieftochter Mathilda wird Alexa bald Teilzeit-Erziehungberechtigte wider Willen. Und damit nimmt eine wildromantische Achterbahnfahrt der Gefühle voller Überraschungen und fein beobachteter Alltagsdramen ihren Lauf. Stets mehr oder weniger hilfreich begleitet von Alexas herrlich verschrobenen Freundinnen Paulina und Nora ⋯ Ein Buch für unfreiwillige Stiefmütter und solche, die es nicht werden wollen. Gleichzeitig aber auch ein Roman für alle, die Spaß daran haben, in die humorigen Abgründe der weiblichen Seele zu blicken.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 378

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Es ist alles gut!Wenn wir denken, dass alles schief und krumm ist und wir wieder mal daneben liegen, dann sollten wir uns daran erinnern, dass auch auf schiefen Linien gerade geschrieben werden kann. Alles ist gut!

Kapitel 1

Ausgerechnet ein Krawattenträger

Als ich ein Kind war, also so mit zwanzig, hatte ich mir mein Leben ganz anders vorgestellt. In mei­ner Vorstellung hatte ich zwei eigene, ganz entzückende, hübsche, wohlerzogene, mich über alles liebende, kluge und beliebte Superhelden-Kinder. Ich stellte mir vor, dass ich einen supercoolen Job hätte, viel reisen würde, viel Geld hätte, einen sexy Typen als Ehemann, ein riesengroßes Haus - natürlich mit Haushaltshilfe. Ich würde Stöckelschuhe und Kostüme tragen, toll aussehen und selbstverständlich toll sein, und auch sehr beliebt. Und auf gar keinen Fall kamen in meinen Träumen je ein Stiefkind und eine Exfrau vor. Na gut, ich habe auch davon ge­träumt, Model zu werden oder Sängerin. Eine ganze Weile wollte ich Entwicklungshelferin in Afrika werden, eine Weltreise machen, ich wollte Party-Animateurin auf Ibiza sein und auch mal Konditorin. Die meisten Tagträume hatte ich dann schnell zu den Akten gelegt.

Nur die Sache mit den Stöckelschuhen und den eigenen Kindern hatte sich doch irgendwie fest in mir verankert. Ganz tief im Inneren hatte ich das wirklich irgendwie geglaubt. Dass ich Stöckelschuhe und Kostüme eigentlich gar nicht mag und dazu auch noch ganz schön unbequem finde, ganz zu schweigen von Feinstrumpfhosen, hatte ich dabei ganz vergessen. Dass ich beim Anblick von Säuglingen völlig kalt blieb und sich die Eierstöcke nicht sofort zurechtdrehen wollten … auch vergessen.

Letztlich war ich Eventmanagerin geworden. Das war gerade sehr hip. Und außerdem hatte ich eine heimliche Affäre mit einem älteren, verheirateten Mann. Ich hatte irgendwie kein gutes Beuteschema. Nicht jede ­meiner Entscheidungen war wohlüberlegt, ich machte mir oft keine großen Gedanken über mögliche Konsequenzen, sondern handelte einfach aus einem Gefühl heraus. Wobei, „Gefühl“ ist hierfür vielleicht ein zu mächtiges Wort. Große Gefühle gab es zwischen mir und meiner Affäre irgendwie gar nicht. Es war halt einfach schön. So, wie man sich das klassisch vorstellt: Man ist ungebunden, hat aber trotzdem jemanden, mit dem man sich hin und wieder dem Spaß hingibt, niemand verpflichtet sich zu irgendetwas, und das ist auch für alle Beteiligten wunderbar so. Jeder fühlt sich vogelfrei.

Ich hatte eine Katze, eine kleine Wohnung, einen Garten, in dem ich alles Mögliche anzupflanzen versuchte. Meistens ging das dann daneben, und ich buddelte eben neue Löcher und pflanzte was anderes an. Bis mich ein Insekt berührte und meine Lust zu gärtnern wieder nach­ließ. Ich hatte viele Freunde und allen voran zwei beste Freundinnen, Nora und Paulina, die mir lieber waren als alle Schwestern, die ich nicht hatte. Irgendwie war ich glücklich, aber irgendwo angekommen war ich noch lange nicht.

Manchmal spielte ich meinem Arzt Grippesymptome vor, um drei Tage Extra-Urlaub zu bekommen, und die verbrachte ich dann mit Filme gucken, Kuchenessen, Fingernägel lackieren und Katze streicheln. Ich brauchte halt hin und wieder Regenerationsphasen, um die Nächte in den Bars und Clubs gut zu überstehen.

Kurzum: Ich hatte alle Freiheiten, die eine normalverdienende, europäische, alleinstehende Frau in den 30-ern im 21. Jahrhundert so haben konnte. Und ich hatte Träume. Mein aktueller Tagtraum war der einer langen Weltreise. Gedanklich ging ich mehrmals am Tag meine Reiseroute durch. Manchmal recherchierte ich auch im Internet. Ich hatte zwar nicht die finanziellen Mittel für eine ausgedehnte Weltreise, aber das war zum Träumen auch nicht so wichtig.

Ich bin nicht so der Typ, der sich gern festlegt, und ich langweile mich schnell. Mein Sternzeichen ist Zwilling. Anscheinend ist das ganz typisch für uns Zwillinge. Ich habe mal ein Buch über Zwilling-Frauen zum Geburts­tag bekommen; darin stand, dass sie an anspruchsvollen Beziehungen nicht interessiert seien. Ganz meine Rede. Wir sind freie Geister: ankommen, wann es uns gefällt, wieder gehen, wenn es uns nicht mehr passt. 100 Punkte! Wir sind Vollweiber! Sehr gern. Wir versuchen uns stetig zu verändern und brauchen ständig neue Zerstreuung. Ganz ehrlich, das Buch beschrieb mich schon sehr exakt. Es standen natürlich auch einige negative Eigenschaften drin, auf die wir aber nicht weiter eingehen müssen. In der Astrologie nehme ich mir das, was mir passt.

Als ich Sven kennenlernte, war ich also gerade dabei, einfach zu leben. Ich war nicht auf der Suche nach einem Mann oder einer Beziehung. Er war ein Kunde und ich einer seiner Dienstleister. Nicht mehr und nicht weniger. Eigentlich eine dieser Begegnungen, an die man sich in ein paar Jahren nur noch flüchtig erinnern sollte. Aber es kam ganz anders.

Wir trafen zum ersten Mal in einem Besprechungsraum in einer Anwaltskanzlei aufeinander. Meine Event-Agentur wurde von seiner Kanzlei gebucht. Es sollte ein großes Angeber-Event werden. Eine Fusions-Party von zwei Anwaltskanzleien, mit dem Ziel, noch weitere ­reiche Geschäftspartner zu gewinnen. Eine der Gelegenheiten, bei denen ich mich in Strumpfhosen quetschte und Stöckelschuhe trug. Sven war einer der Angeber, äh, einer der Auftraggeber, denen wir hin und wieder einen Status-Bericht geben sollten. Ein Anwalt im Anzug, der durch seine reine Aura schon deutlich machte, dass er eigentlich Wichtigeres zu tun hatte, als unsere Partyplanung zu überwachen. Und ich war eine der Klemmbrett-Eventmanagerinnen, deren nicht ganz so bedeutsamer Job darin bestand, diese Party zu organisieren. Ich sollte mir etwas Lockeres und Lustiges für Menschen in Anzügen ausdenken, bei dem sie immer noch würdevoll aussahen, aber entspannt genug wurden, um im besten Falle jede Menge Kohle locker zu machen. Das war der Plan.

Während der Geschäftsführer unserer Eventagentur die ersten Vorschläge zur Party von sich gab, trafen sich Svens und meine Blicke und ich nahm ihn wahr: Er hatte braune Augen und sah sehr gut aus in seinem Anzug, wie er sich da lässig in seinem Stuhl zurücklehnte. Eine Strähne hatte sich aus seinem perfekten Anwaltshaarschnitt gelöst, die ihm nun ein wenig unperfekt und sympathisch im Gesicht hing.

Wir saßen uns fortan bei einigen weiteren Meetings gegenüber. Ich als eine der Vertreterinnen der dienst­leistenden Agentur präsentierte Möglichkeiten und Ideen, und wir sprachen über Kosten, gute Weinauswahl und das grafische Konzept der Veranstaltung.

„Ich weiß, Ihre Zeit ist kostbar, vielen Dank, dass wir dieses Treffen so kurzfristig arrangieren konnten“, fing ich an, als wir mal wieder am Besprechungstisch Platz genommen hatten. Dann fing ich an zu erzählen und be­eilte mich, damit ich auch bis zum Ende kommen ­konn­te, bevor er wieder wegmusste.

„Das sind tolle Ideen“, sagte Sven. „Ich mag Ihre Art zu denken.“ Oh! Ein Kompliment, das mich sehr freute. Dann fuhr er fort: „Wir sollten vielleicht mit Du weitermachen. Wir planen ja schließlich eine Party und gehen nicht vor Gericht.“ Er grinste.

„Sehr gerne!“, antwortete ich und lächelte ihn an.

„Ich muss jetzt leider los, aber wie wäre es, wenn unser nächstes Meeting ein Geschäftsessen wird?“, fragte Sven. „Dann haben wir auch ein bisschen mehr Zeit.“

„Das können wir machen“, antwortete ich. „Ich melde mich bei deiner Sekretärin wegen eines Termins.“

„So machen wir das! Bis dann, Alexa.“ Er schüttelte mir die Hand, lächelte ein charmantes Lächeln und verließ den Besprechungsraum. Ich packte grinsend meinen Kram zusammen.

Ab dem Moment hatte ich Schmetterlinge im Bauch.

Oh je! Ich fand einen Krawattenträger toll!

Ich beschloss, dieses anscheinend nicht nur flüchtige Gefühl am Abend mit meinen Freunden in einer Cocktailbar zu ertränken und so schnell wie möglich wieder zu vergessen. Das Ergebnis war ein Anwalts-Vergessens-Rausch, der dummerweise am nächsten Tag für enorme Kopfschmerzen sorgte. Und der Teil mit dem Vergessen klappte leider nicht.

Der Tag unseres Geschäftsessen kam und ich nahm mir fest vor, äußerst professionell zu sein und auf gar ­keinen Fall zu zeigen, dass ich ihn auch nur ein klitzekleines bisschen attraktiv fand. Wir nahmen Platz und bestellten unser Essen. Ich erzählte ihm von den neuesten Entwicklungen in Sachen Event und stellte ihm meine Ergebnisse vor. Als ich fertig war, wusste ich nicht mehr, was ich noch sagen sollte. Seine Gegenwart war mir auf einmal sehr bewusst.

Er lächelte mich an: „Einen Penny für deine ­Gedanken“, sagte er.

Ich fühlte mich ertappt. „Ach, ich denke gar nichts“, log ich, „Soll ich dir die Ergebnisse noch einmal per E-Mail schicken? Dann hast du es schriftlich.“

Kurz herrschte Schweigen. Hätte möglicherweise ein Keim von Romantik aufsteigen können, hätte ich ihn mit dieser Antwort auf jeden Fall erstickt. Trotzdem schafften wir den Bogen und sprachen ab da nicht mehr über die Arbeit, sondern über alles Mögliche. Als es Zeit war zu gehen, fragte er mich, ob er mich noch nach Hause bringen sollte, schließlich sei es ja spät und dunkel und er sei ein perfekter Gentleman.

Ich lachte. „Musst du denn in meine Richtung fahren? Wo musst du hin?“

Er antwortete: „Wenn es so spät wird und ich morgens früh ins Gericht muss, bleibe ich in der Stadt.“

„Im Hotel?“, wollte ich wissen.

„Im Hotel“, bestätigte er.

„Und in welchem Hotel?“, fragte ich.

Er drehte sich um zeigte auf die helle Leuchtschrift eines Business-Hotels. „In diesem da.“

„Nicht dein Ernst.“

„Ich muss morgen früh raus. Sehr früh! Und ich wusste nicht, wie spät es heute bei unserem Geschäftsessen wird.“

Er berührte zufällig meine Hand und mein Herz machte einen kleinen Sprung.

„Hast du noch Lust auf einen kleinen Spaziergang?“, fragte er mich.

„Ja.“

Er reichte mir seinen Arm und ich hakte mich unter. Wir gingen eine Weile schweigend durch die Straßen. Ich genoss seine Nähe und als wir wieder auf dem Rückweg waren, blieb er auf einmal stehen und sah mich an. Ein Lächeln huschte über seine Lippen und ich erkannte ein Grübchen. Ich wollte mich jetzt noch nicht verabschieden, ich wollte den Augenblick festhalten. Er offenbar auch.

Und dann küsste er mich. Und ich erwiderte den Kuss und schwebte dabei auf Wolke Sieben.

Unsere Geschäftsessen wiederholten wir von da an regelmäßig. Nur, dass ich mir dann irgendwann auch sein Hotelzimmer ansah. Ich gehe jetzt nicht näher darauf ein, was dort geschah, aber meine Strumpfhosen hatte ich jeweils am Ende nicht mehr an. Wir verstehen uns, ja?

Wenn wir auseinandergingen, dachte ich mir: „Was tue ich nur? Was in aller Welt passiert hier eigentlich gerade?“ Da ich ja eigentlich ganz zufrieden mit meiner Affäre und überhaupt allem war, wie es gerade lief, hatte ich so gar nicht mit so etwas gerechnet. Es hatte mich kalt erwischt, dass ich überhaupt auf so einen Anzugträger stand, und zwar in einem so zuvor noch nie gekannten Ausmaß. Ich hatte diesen Gefühlen absolut nichts entgegenzusetzen. Und ihm ging es anscheinend genauso.

„Du siehst wunderschön aus!“, sagte er zu mir.

Wir lagen nebeneinander im Bett, wieder in seinem Hotelzimmer. Denn weder kam er auf die Idee, mich mit zu sich nach Hause zu nehmen, noch hatte ich es ihm andersherum angeboten. Rückblickend hätten da schon die Alarmglocken läuten sollen. Aber über so etwas habe ich mir an der Stelle noch gar keine Gedanken gemacht. Mit ihm zusammen lebte ich nur den Moment. Nichts war wichtiger als diese Stunden allein mit ihm. Ohne Kla­motten, unter einer Bettdecke.

Er sah so sanft aus. Er nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich. Es fühlte sich echt an. Nichts daran war falsch. Alles war genau richtig.

„Ich sehe wahrscheinlich gerade ganz schlimm aus“, mutmaßte ich.

„Alexa, du kannst gar nicht schlimm aussehen.“

Ich unterdrückte ein Lachen, denn wahrscheinlich hatte sich ein absoluter Gothic-Look um meine Augengegend herum gebildet.

„Ich weiß gar nichts über dich“, fuhr ich fort.

„Ich weiß auch nichts über dich. Außer, dass ich deine Gesellschaft unglaublich genieße.“ Er sah mir in die Augen und in meinem Bauch kribbelte es wieder.

„Ich frage mich, ob irgendjemand etwas von uns ahnt“, sagte ich.

Er lachte. „Ich denke nicht. Solange dein Name nicht auf der Hotelrechnung auftaucht, wird das auch so ­bleiben.“

„Wir sind also ein Geheimnis?“

„Ja, das sind wir wohl. Wie findest du das?“, wollte er wissen.

„Ich weiß es nicht. Ich schätze, ganz okay. Vielleicht macht es das unkomplizierter, zumindest bis die Veran­staltung beendet ist“, fand ich.

„Ja, das wird wohl so sein“, flüsterte er. „Du bist ein absolut wundervolles Geheimnis. Das sollst du wissen.“

Wir zogen uns etwas über und bestellten uns Sandwiches aufs Zimmer. Dann stellte er seine Playlist an. „Willst du mit mir tanzen?“ Sven lächelte verschmitzt und ­reichte mir seine Hand. Ich nahm sie und dann tanzten wir in T-Shirt und Unterwäsche durch das Hotelzimmer. Es hätte schöner nicht sein können. In diesem Moment ­blieb die Welt einfach stehen. Es zählte nur das Hier und Jetzt. Alles andere war unwichtig.

Und dann war das Angeber-Großevent vorbei. Sven und ich hatten nicht mehr automatisch miteinander zu tun und eigentlich hätte sich jetzt alles wieder entspannen können. Er konnte wieder seiner wichtigen Anwalts­tätigkeit nachgehen und endlich wieder ein paar ordentliche Verbrecher raushauen, statt schnöde Partyplanungen zu beaufsichtigen. Als ich ihm das sagte, meinte er, ich würde zu viel fernsehen. Er lasse keine Verbrecher ungestraft davonkommen. Das wäre ihm noch nie passiert. Wir lassen das mal so stehen.

Und ich? Ich hätte weiter mein Katzenmutter-und-Single-Dasein genießen können wie zuvor. Aber ich fühlte mich ganz komisch. Nicht so glücklich, wie ich es sonst war, wenn eine größere Veranstaltung ohne Zwischenfälle gelaufen war und die Kunden mit mir zufrieden waren. Mit meinem Bauchgefühl stimmte etwas nicht. Die angemessene Zufriedenheit wollte sich einfach nicht einstellen.

Möglicherweise vermisste ich ihn.

Erstmal versuchte ich, an etwas anderes zu denken. Ich legte mich auf mein Sofa, zog mir die Decke über den Kopf und legte wieder mal eine Reiseroute für meine imaginäre Weltreise fest. Ich versuchte, von Australien und Neuseeland zu träumen, aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Meine Gedanken machten sich einfach selbständig und ich dachte an Sven, versuchte, innerlich ganz nah an ihn dran zu sein. Ich konnte einfach nicht aufhören damit. Und schließlich gestand ich es mir ein: Ich war wohl verliebt! Eigentlich sogar bis über beide Ohrenspitzen.

Ein wohliges, warmes Gefühl breitete sich in mir aus. Die Tagträume veränderten sich. Ich war zwar immer noch in Neuseeland unterwegs, jetzt aber Hand in Hand mit Sven, natürlich am Strand, natürlich einem Sandstrand und ich natürlich barfuß und in einem traumhaften Sommerkleid, natürlich bei Sonnenuntergang.

Und da ich Single war und ungebunden und frei und ich nichts zu verlieren hatte, schrieb ich Sven eine Nachricht: „Hey! Na, schon wieder einen Verbrecher frei bekommen? Wie läuft es denn gerade so bei dir? Vielleicht bis bald, Alexa“

Abgeschickt!

Oh nein, abgeschickt!

Kurz darauf kam aber schon die Antwort. „Hallo Alexa, schön von dir zu hören. Ich habe auch schon an dich gedacht. Hast du vielleicht Zeit und gehst mit mir essen?“

Mein Herz schlug dogong-dogong. Essen, er will essen. Wir gehen essen. Wow! Ok. So etwa meine tief philosophische Gedankenkette.

„Klingt gut!“

Wir gingen also essen. Er sagte mir, dass er ständig an mich denken müsse. Das fand ich gut. Er sagte mir, dass er verheiratet sei und eine Tochter habe. Das fand ich nicht so gut.

Er erzählte mir von seiner Frau. Von seiner Tochter. Von seinem Haus. Seinem Familienauto. Dem Hamster. Dem Garten, in dem eine Schaukel stand.

Kleiner Einschub an alle Frauen und Mädels da draußen: Wenn ein Typ anfängt, von der Schaukel seines Kindes, das nicht eures ist, zu erzählen, dann wäre das der passende Augenblick, schnellstmöglich das Weite zu suchen. Steht auf, lasst euch durch nichts aufhalten und haut einfach ab. Lasst das Schnitzel auf dem Teller einfach Schnitzel sein und rennt, so schnell ihr könnt. Wenn ihr das nicht tut, weil ihr verliebt seid oder euch irgendetwas anderes zum Bleiben bewegt, dann könnte das schlimme Folgen haben.

Eigentlich ist der einzige Grund, sitzen zu bleiben, unglaubliche, tief empfundene Liebe. Da ich mir dieser Lie­be allerdings noch nicht so bewusst war, war ich eine von denen, die aufgestanden und gegangen sind. Zumindest vorerst.

Das Schicksal wollte es also so, dass ich mich in ­einen verheirateten Mann verliebte. Mancher wird sich nun fragen: „Na und, diese letzte Affäre war doch auch verheiratet?“

Ja, war er. Aber das war was ganz anderes. Bei der Affäre hatte ich mir nie die Decke über den Schädel gestülpt und von peinlich-romantischen Strandspaziergängen ge­träumt. Die Affäre war jemand, den ich anziehend fand, und es machte Spaß, mit ihm zusammen zu sein. Es tat mir aber nicht das kleinste Bisschen weh, wenn er wieder ging. Ich ließ ihn gelegentlich ein wenig an meinem Le­ben teilhaben und das war es eigentlich auch schon.

Bei Sven war das anders. Wenn ich wusste (oder auch nur hoffte), dass ich ihn treffen würde, dann machte ich mich schön, dann versuchte ich, natürlich und ganz ich selbst zu sein, war dabei aber total unnatürlich. Ich war aufgeregt und voller Vorfreude, und wenn er wieder weg war, dann dachte ich ständig an ihn. Ich malte mir verschiedene Situationen aus und schmückte diese immer weiter aus, bis es dann so unrealistisch wurde, dass ich mir eine neue Situation ausdachte.

Nachdem ich also an diesem Abend nach der Sache mit der Kinderschaukel das Restaurant überstürzt verlassen hatte, ging ich nach Hause. Auf dem Weg kaufte ich noch Zigaretten und Wein und setzte mich dann in einen Sessel auf meiner Terrasse. Es war kalt, aber ich merkte es nicht. Oder nein, eigentlich merkte ich es schon, aber es war mir egal. Ich fand es irgendwie passend. Alles war blöd und kalt und Kälte auf der Haut fühlte sich in dem Moment ganz richtig an.

Kapitel 2

Er ist verheiratet

Und was machen wir, wenn etwas Neues und eventuell Schwerwiegendes in unserem Leben passiert? Natürlich rennen wir zu unserer besten Freundin und erzählen ihr alles.

Ich hatte gleich zwei davon. Zwei wundervolle Frauen. Paulina und Nora. In unserem 32-jährigen Leben hatten wir schon viel miteinander erlebt und durchgestanden. Sie waren mein innerer Kreis, meine Therapeutinnen, meine Saufkumpaninnen, meine Freundinnen seit dem ersten Tag in der Kinderkrippe.

Nicht, dass das alles immer so harmonisch abgelaufen war. Wir heulten damals um die Wette und angeblich hat mich Paulina mehrmals zu Boden geworfen, um mir meine Hausschuhe wegzunehmen, während sich Nora parallel dazu regelmäßig totstellte. Es muss wahnsinnig schön gewesen sein mit uns in dieser Kindereinrichtung. Wahnsinnig schön!

Wir begleiteten uns durch das ganze Leben, gingen gemeinsam in die Schule, machten gleichzeitig das Abi. Danach ging Nora für ein Jahr nach Australien, erntete dort Gemüse und reiste durch das Land, während Paulina und ich in einer Restaurant-Kette jobbten und keinerlei wei­teren Ambitionen hatten, wie zum Beispiel, etwas Sinnvolles mit unserem Leben anzufangen. Wäre Nora nicht irgendwann wieder zurückgekommen, würden wir wo­möglich immer noch in diesem Restaurant arbeiten. Also, zumindest ich, denn Paulina war einer dieser Menschen, denen gern mal die tollsten Gelegenheiten ungefragt zuflogen, wohingegen ich schon etwas für mein Glück tun musste. Keine Ahnung, woran das lag.

Vielleicht am äußeren Erscheinungsbild? Ich hatte immer schon ein bisschen zu volles Haar gehabt und wusste nichts damit anzufangen, deshalb trug ich fast mein ­ganzes Leben lang einen kinnlangen Bob. Und mein Kleidungsstil war eher lässig und bequem, während Paulina neben mir wie eine Grazie wirkte. Groß und schlank, mit dunkelbraunen Augen und einer langen, fast schwarzen Mähne, die sie, anders als ich, wunderbar im Griff hatte. Dazu kamen noch ihr natürlicher Charme und ihre absolute Dreistigkeit, die ihr stets alle Türen öffnete.

Nora hingegen war eine kleine natürliche Schönheit, ein nordischer Typ: blond, große blaue Augen und Sommersprossen. Sie liebte Kunst und Bücher. Während ich dann völlig planlos Paulina folgte und wir beide Medien- und Eventmanagement studierten, einfach mal so, weil das interessant klang: „Mal sehen, wird sicher witzig“ …, träumte Nora immer davon, einen eigenen kleinen Buchladen zu eröffnen. Deshalb studierte sie Buchwissenschaften, arbeitete nach dem Studium erstmal in einer Bibliothek … und lernte dort ihren zukünftigen Ehemann Felix kennen. Paulina und ich suchten mit ihr das Hochzeitskleid aus, später warteten wir mit ihr auf das Ergebnis des Schwangerschafts-Tests, und nach neun Monaten übelster Schwangerschaftsgelüste harrten wir im Krankenhaus-Café darauf, dass Felix uns als frischgebackener Vater der kleinen Mia entgegenkam. Wir waren da, als Nora ihm in Sachen Baby-am-Leben-erhalten rein gar nichts zutraute, und wir waren da, als sie entschied, erstmal nicht mehr arbeiten zu gehen und sich voll und ganz in ihre Mutterrolle zu stürzen.

Felix sah ihr dabei zu, wie sie ihr gemeinsames Baby permanent mit sich rumtrug, als wäre es noch Teil ihres Körpers. Er war total entzückt von Baby Mias kleinen Knödelkopf und hatte unendlich viel Verständnis für Noras hormongesteuertes Muttertier-Verhalten, während ebendieses Verständnis bei Paulina und mir, kinderlos, wie wir waren, langsam und stetig dahinschmolz. Ganz klar: Für seine Nora wäre Felix auch barfuß über Legosteine gelaufen. Was er vielleicht auch in naher Zukunft tun würde.

Und jetzt brauchte ich meine Freundinnen.

„Er ist verheiratet“, brach es aus mir hervor, sobald wir in der Küche Platz genommen hatten und die Miracoli-Nudeln im Topf weich wurden.

„Wer ist verheiratet?“, wollte Nora wissen.

„Der Anwalt ist verheiratet“, sagte Paulina für mich.

„Ist nicht dein Ernst! Das kann doch wohl nicht wahr sein. Was fällt dem Typen ein. Bist du dir sicher, dass er verheiratet ist?“, bohrte Nora nach.

„Er hat es mir erzählt. Er ist verheiratet und hat eine Tochter“, jammerte ich.

„Oh!“, sagte Paulina.

„Oh!“, wiederholte Nora.

„Ja genau. Oh!“, schloss ich mich an.

„Das war es dann also?“, fragte Nora mich.

„Wie es aussieht, schon.“

„Gut, dass du nicht schon zu sehr auf ihn eingelassen hast. Was für ein mieser Typ.“

Ich erzählte ihnen von unserem Date, das eigentlich romantisch hätte sein sollen und sicher nicht hier im Kreise meiner Freundinnen, sondern mindestens im Schlafzimmer nebenan enden sollte. Aber dann musste er mir ja unbedingt von seiner Frau und von seiner Tochter erzählen.

„Na ja, es ist schon gut, dass er es dir gleich erzählt hat und nicht erst vor seinem zehnten Hochzeitstag“, fand Paulina.

„Oder vielleicht hätte er es gar nicht so weit kommen lassen sollen, denn zu Hause wartet einfach eine Familie auf ihn“, unterbrach Nora, die selbst verheiratet war und ein Kind hatte und deshalb an die andere Seite dachte.

„Vielleicht hat sich der Typ einfach auch haltlos in ­Alexa verliebt“, gab Paulina zu bedenken.

„Oder vielleicht sieht er sich auch als Mittelpunkt der Erde und alles andere ist ihm egal!“, gab Nora mit nervösem Augenzucken zurück.

Paulina und Nora waren wie Engelchen und Teufelchen, die auf meinen Schultern saßen. Paulina, in der Rolle des Teufelchens, war stets sprudelnd und inspirierend und sah in jeder Gelegenheit die Chance, ein neues Abenteuer zu erleben. Über mögliche Folgen machte sie sich meist keine großen Gedanken. Es zählte das, was im Moment passierte. Um den Rest konnte man sich später kümmern. Diese Einstellung mochte ziemlich arrogant sein, hinderte die Menschen aber nicht daran, Paulina zu lieben oder zumindest tierisch neidisch auf sie zu sein.

Nora, das Engelchen, war mein Gewissen. Sie war ja vor kurzem erstmals Mama geworden und seitdem war sie ein wenig übergeschnappt. Aber sie war auch schon immer diejenige gewesen, die sich um uns kümmerte, das Wohl aller im Blick hatte und stets ein positives Umfeld kreieren wollte. Und noch mehr, seit ihre Hormone die Kontrolle übernommen hatten.

Ich starrte auf den Nudeltopf, der fröhlich vor sich hinköchelte. „Es war so schön, als wir noch freundliche Fremde waren und ich ihn einfach nur anziehend fand“, sagte ich unglücklich.

„Und jetzt findest du ihn mehr als nur anziehend?“, fragte Nora.

„Ich fürchte, ja.“

„Du kannst dich nicht in einen Familienvater verlie­ben.“ Nora beugte sich zu mir rüber und sah mich besorgt an. „Das geht nicht, Alexa. Er ist Vater. Das kannst du seinem Kind nicht antun.“

„Ach, hör auf, sie so in die Mangel zu nehmen“, sagte Paulina. „Das Problem ist doch, dass sie sich in ihn verliebt hat. Wobei wir noch rausfinden müssen, ob das tatsächlich ein Problem ist.“

„Es ist ein Problem“, warf Nora ein.

„Dich hat keiner gefragt.“

„Meine Meinung zählt hier genauso wie deine.“

„Du bist nicht objektiv.“

„Warum?“

„Weil du eine Mutter bist.“

„Deine Arroganz kennt keine Grenzen.“

„Damit kann ich umgehen.“

„Würde er dein Leben bereichern?“, wollte Nora von mir wissen.

„Ich fürchte, ja“, antwortete ich.

„Und was machen wir jetzt? Wie lautet jetzt der Plan?“

Ich stand auf und siebte die Nudeln ab. „Es waren sozusagen wunderschöne zwölf Sekunden in meinem ­Leben. Aber ich muss ihn wohl vergessen. Wir essen jetzt Nudeln. Das ist der Plan.“

Er hat nicht gesagt, dass er mich so super findet, dass er Frau, Kind und Schaukel verlassen würde, damit er bei mir sein kann. Blödmann!

Eins war klar: Mit Sven konnte ich nicht Affäre Nummer zwei führen. Ich hatte versucht mir das vorzustellen. Vielleicht war es ja besser, als gar nicht mehr mit ihm zusammen zu sein? Aber es war unmöglich. Nicht auszudenken. Ich wusste genau, dass ich nicht damit le­ben könnte, wenn er immer wieder zurück zu seiner Fa­milie gehen würde.

Und so entschied ich mich dazu, mich wieder voll und ganz Affäre Nummer eins zuzuwenden. Und natürlich meiner Katze. Ich würde einfach alles so weitermachen wie bisher, bevor Svens Anwesenheit alles verändert hatte. Ich ging zur Arbeit, organisierte Weihnachtsfeiern, Semi­nare und Hochzeiten. Noch nie war ich so gut und so sorgfältig in meinem Job gewesen. Immer, wenn ich an Sven dachte, arbeitete ich noch ein bisschen länger oder fragte, ob Affäre Nummer eins Zeit für mich hatte. Leider konnte er aber dieses leere Gefühl in mir nicht mehr auffüllen. Im Gegenteil, ich fühlte mich so wie noch nie: einsam.

Ständig versuchte ich, mir etwas einfallen zu lassen, nur um nicht allein zu sein. Oder wenn es nicht anders ging, beschäftigte ich mich hektisch. Stricken, nähen, putzen, Bilder malen, kochen, backen und sämtliche Ergebnisse dann den Nachbarn schenken. Die Katze verwöhnen. Wenn ich schlafen sollte, dann ließ ich den Fernseher laufen, bis ich einschlief. Alles, nur nicht nachdenken. Ich befand mich in einem seltsamen Zustand, einer Art Nicht-Verarbeitungsprozess, der nicht enden wollte. Wie es Vermeidungsversuche halt so an sich haben.

Und wie sollte es anders sein: Genau in diesem Verarbeitungsprozess verließen mich alle. Meine Freundinnen fuhren in den Urlaub. Ich wünschte ihnen aufrichtig viel Freude dabei. Mein Lieblings-Arbeitskollege kündigte, um nach Mallorca auszuwandern. Mallorca! Ich ­wünschte ihm aufrichtig viel Glück dabei. Mein Frauenarzt ging in Rente. Ich wünschte ihm aufrichtig viel Glück dabei. Mein Nachbar zog aus, weil er sich eine Eigentumswohnung gekauft hatte oder weil er keine Muffins mehr von mir haben wollte. Man weiß es nicht genau. Ich wünschte ihm aufrichtig viel Glück dabei. Meine Affäre versuchte, wieder mit seiner Frau zusammen­zufinden. Ich wünschte ihm aufrichtig viel Glück dabei. Aber das mich dann auch noch diese dumme Katze verließ, die ich vom Bauernhof geholt und aufgepäppelt hatte, ständig zum Tierarzt schleppte und der ich gegen ihren Willen ­Flüssigkeiten und Pillen aufzwängte, dass diese fiese Kat­ze einfach nicht mehr nach Hause kam, das traf mich am härtesten. Nicht nur waren mir alle Männer abhanden­gekommen, nun wollte nicht mal mehr die Katze bei mir sein.

Da war er jetzt also, der Augenblick des Kummers und der Hoffnungslosigkeit. Ich heulte und heulte und heulte und es hörte nicht mehr auf. Ich konnte mich einfach nicht mehr beruhigen, so sehr ich mich auch anstrengte. Es ging die ganze Nacht lang so. Als ich mich am nächsten Morgen bei der Arbeit krankmeldete, hörte ich mich so fertig an, dass es kein Problem war, meinem Chef glaubhaft zu machen, dass ich einen grippalen Infekt hatte.

Das verschaffte mir erst einmal drei Tage Luft. Ich schob mir zum Frühstück eine Fertigpizza in den Ofen und holte mir Eiscreme. Ich finde, wenn man traurig ist, ist Fast Food das beste Heilmittel, das es gibt.

Nach zwei Tagen Katzentrauer, Fernsehen und Pizza hielt ich es dann aber nicht mehr aus. Ich schrieb ihm: „Meine Katze ist weg. Ich bin so traurig.“

Sven kam sofort herbeigeeilt und ließ sich ab da einfach nicht mehr fortschicken. Er druckte Suchplakate aus und setzte einen Finderlohn von 50€ für die Katze aus. Nicht, dass es dieses treulose Tier verdient hatte. Sven verteilte die Plakate überall in der Nachbarschaft. Schön, wie er war, im Anzug und mit einer Rolle Tesafilm bewaffnet.

Tatsächlich kam am nächsten Tag ein Kind und klopfte an meiner Tür. Das Mädchen hatte meine Katze unter den Arm gequetscht und verlangte die versprochenen 50€. Doch mein Katzenglück hielt nicht lange. Kurze Zeit später war sie wieder weg.

Sven aber blieb.

Ich hatte nämlich eine Eingebung, die ich gerne bereit bin, mit euch allen zu teilen. Es ist so: Wenn zwei Menschen füreinander bestimmt sind, dann sollte sie niemand mehr voneinander trennen. Gemeinsam kann man sich allen Widrigkeiten stellen. Egal, was da kommt.

Und so begann er, der Start in ein neues Abenteuer. Mein Abenteuer als Stiefmutter.

Kapitel 3

Die Vorgeschichte

Bevor ich aber wirklich zur Stiefmutter wurde, gab es noch eine ganze Menge zu tun. Stiefmutter sein will gelernt sein. Und die ganze Situation war reichlich verworren.

Sven und ich kannten uns eigentlich noch gar nicht so richtig. Es galt aber schon jede Menge wichtiger Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel Svens Trennung von seiner Ehefrau. Denn dass er zweigleisig fahren könnte, stand von Anfang an außer Frage. Für uns beide. Was für ein Wahnsinn! Ich wusste noch nicht mal, wann er Geburtstag hatte, und verlangte jetzt schon von ihm, seine Familie zu verlassen. Näher betrachtet bin ich ein schrecklicher Mensch. Aus der Ferne betrachtet erst recht.

Ich bekam es auch echt mit der Angst zu tun, denn was wäre, wenn … wenn ich in einem Jahr nicht mehr so verliebt wäre? Ich war mir zwar sicher, dass das nicht passieren würde, aber hatte ich hellseherische Fähigkeiten? Ich zwang mich, mir diese Situation vorzustellen: Wenn das mit uns nicht klappen sollte, dann hieße das, dass ich dazu beigetragen hätte, dass es eine oberflächlich glückliche Familie weniger auf der Welt gibt. Hier konnte man leider nicht sagen: Eine mehr oder weniger ist jetzt auch nicht mehr der Rede wert.

Nein, das ging nicht. Für mich hieß es: ganz oder gar nicht. Entweder war ich ganz und für immer mit Sven zusammen oder nicht. Entweder bestand der Schein der glücklichen Familie noch weiter oder nicht. Hier gab es kein „Mal gucken, ob wir zusammenpassen!“, „Wir werden sehen“, „Abwarten und Tee trinken“, „Wir lassen es langsam angehen, Baby!“. Nein, mit Sven zusammen zu sein, hieß volles Karacho den Beziehungszug fahren, über Brücken und durch Täler hindurch und ohne Verschnaufpausen. Entweder, ich stieg ein … oder ich ließ es bleiben. Nicht mehr und nicht weniger.

Total ätzend!

Ich wollte gar nicht auf einen Zug aufspringen, bei dem ich mir beim Versuch, wieder abzuspringen, alle Knochen brechen würde. Viel lieber wäre ich mit einer Bimmelbahn gefahren. Gemütlich und stressfrei. Ich wollte, dass wir uns langsam kennenlernten, viel Zeit zu verplempern hatten, bevor wichtige Entscheidungen fielen. Und dann, wenn die erste wichtige Entscheidung getroffen wurde, dann sollte es die sein, ob wir nun fest zusammen wa­ren oder nicht: Sind wir so richtig Freund und Freundin? Ja oder nein? Vielleicht? Verschieben wir diese Entscheidung lieber auf später?

Dann sollten wir uns das gegenseitig erst einmal mit „Ja“ bestätigen und uns anschließend glücklich um den Hals fallen und einen gemeinsamen Urlaub planen, irgendwo in einem Clubhotel mit Meeresblick. Diese gemeinsame Reise wäre quasi der erste Beziehungstest. Die Frage, ob wir uns auf den Keks gehen, wenn wir tagein, tagaus aufeinandersitzen, wäre nach dem Urlaub geklärt. Wenn wir das überstanden hätten, könnten wir unseren Status in den sozialen Medien auf „in einer Beziehung“ setzen und uns über die vielen Likes und Kommentare freuen.

Als nächster Schritt würde dann das Eltern-Kennenlern-Abendessen kommen. Mit Blumen für meine Mutter und Schweinebraten auf dem Teller. Und weil sich alle so toll verstanden, zum Dessert, vorzugsweise Apfelkuchen, noch ein Schnäpschen. Als Zeichen des Zuspruchs und Wohlwollens.

Wenn das alles erfolgreich absolviert wäre, dann wäre mal der erste handfeste Streit fällig. Vielleicht etwa so: Ich habe PMS, er hält mir nicht die Tür auf, ein Wort folgt auf das andere, die Situation eskaliert. Zack-bumm, Streit, Tränen, Versöhnungssex. Streit abgehakt.

Er müsste noch meine Freunde kennenlernen, einer von uns müsste noch krank werden, der andere müsste ihn dann pflegen, wir müssten wenigstens einmal unser Lieblingsessen füreinander kochen, beziehungsweise wissen, was das jeweilige Lieblingsessen überhaupt ist, ja, wenigstens einmal miteinander im Supermarkt gewesen sein, um zu erfahren, 1.) wie stressresistent er ist und 2.) wieviel Ausdauer er hat.

Und das alles, bevor er seiner Familie sagen würde, dass er wegen mir nicht mehr nach Hause kommen wird.

Kann man doch nachvollziehen, oder?

War aber leider nicht so. Die Realität sah ganz anders aus. Mir hatte man mal gesagt, dass man erst mal einen ganzen Sack Salz miteinander verspeist haben muss, bevor man sich richtig kennengelernt hat. Sven und ich mussten hier die Zügel ein bisschen anziehen. Bei uns musste ein Teelöffel Salz reichen statt dem erforderlichen Sack. Trotz des Drucks, den ich in dieser Jetzt-Schon-Beziehung verspürte, war ich mir zu dem Zeitpunkt aber sicher, dass das gut war zwischen uns beiden. Wird schon irgendwie werden. Wir müssten nur diese ganze Kennenlern-Orgie ein bisschen beschleunigen.

Wir nahmen uns ein paar Tage frei und fuhren in die Berge. Berge statt Strand ist auch okay. Der nichtsahnenden Ehefrau erzählte er, dass er auf Geschäftsreise sei. Es hatte ja keiner behauptet, dass wir ohne Lügen zurechtkommen würden. Wir würden das später irgendwann mal mit einer anderen Aktion wieder ins Lot bringen müssen, damit unser Karma-Konto wieder ausgeglichen war.

In diesen Tagen versuchten wir jetzt aber erst mal, unsere bisherigen Lebensgeschichten füreinander zusammenzufassen. Die Regel war, nichts zu beschönigen. Nur blanke Tatsachen zählten. Ich wollte alles wissen: Wie war er aufgewachsen? Wie hatte sein Kinderzimmer ausgesehen? Wann hatte er seinen ersten Kuss bekommen? Von wem? War er in Mathe eine Niete gewesen? Hatte er schon mal die Windpocken gehabt? Was war sein Lieblingsbuch? Las er überhaupt? Was war sein Lieblingsfilm? Bitte bloß kein Sylvester-Stallone-Streifen! Welches Po­ster hing in Jugendjahren an seiner Wand? Hatte er schon mal was geklaut? Wenn ja, was? Mochte er Comics? Wie viele Freundinnen hatte er gehabt? Mochte er Fußball? Wenn ja, hatte er dann so einen albernen Schal? Würde er diesen albernen Schal mir zuliebe auch verbrennen? Wer war sein Vorbild? Bitte bloß nicht Sylvester Stallone! Warum hatte er seine Frau geheiratet? Warum funktio­nierte das mit ihr nicht mehr? Warum mochte er mich? Mochte er Pizza? Schnarchte er? Hatte er studiert? Na gut, das war wahrscheinlich, er war ja schließlich Anwalt. Wie oft putzte er sich am Tag die Zähne? Konnte er auch mit Licht einschlafen? Fand er auch, dass Brad Pitt besser zu Angelina Jolie gepasst hatte als zu Jennifer Anniston? Glaubte er an Gott? Kannte er sein Sternzeichen? Wollte er auch gerne Astronaut werden?

So ging das.

Über seine Beziehung zu seiner Ehefrau, die hier schändlich hintergangen wurde, erfuhr ich Folgendes:

Er hatte damals eigentlich gerade eine kurze Liebschaft mit einer Mitstudentin, als er sie - Linda - kennenlernte. Offenbar hatte er nichts anbrennen lassen. Hielt sich für James Dean oder so ähnlich. Er fand es extrem cool, am Lagerfeuer am See zu sitzen, seine Gitarre auszupacken und Lagerfeuerlieder zu schmettern. Die Mädchen fanden das süß, dabei weiß doch jede, dass Typen mit Gitarre am Lagerfeuer mit Vorsicht zu genießen sind. Die gehören in die gleiche Kategorie wie Skilehrer oder Party-Animateure. Trotzdem fallen früher wie heute reihenweise Mädchen darauf herein. Man sollte hinter dieser Art Typen immer ein Warnhinweis-Schild aufstellen, auf dem „Vorsicht, Halunke!“ steht. Zumindest sollte man gewarnt sein. Was man dann daraus macht, bleibt jedem weiblichen Wesen selbst überlassen.

Sven war also so einer. Und Linda war so eine, die darauf hereinfiel. Er fand sie auch ganz süß, also war die Mitstudentin von nun an Geschichte und Linda die aktuelle Eroberung. Das hätte er wohl auch noch eine ganze Weile so weitergetrieben. Gott weiß, wir Frauen sind gegen Typen mit Gitarre am Lagerfeuer nicht gewappnet. Linda wurde irgendwie schwanger, und Sven konnte nun kein Halunke mehr sein. Aus der Traum!

Da Linda aus einem gutbürgerlichen Ärzte-Elternhaus kam, war Ärger vorprogrammiert. Sie war damals erst 21 Jahre alt, hatte ihr Studium gerade begonnen und war nun also schwanger, ohne vorher auch nur in die Nähe eines Brautschleiers gekommen zu sein. Von „Enttäu­schung“ war die Rede und davon, wie die beiden sich das denn vorstellen. Es sollte auf jeden Fall geheiratet werden. Da gab es nichts zu diskutieren. Wenn man schwanger ist, muss man verheiratet sein. Punkt. Ein Kind braucht schließlich Mutter und Vater. Dass sich „so etwas“ in einem guten Hause nicht schickt, schwang bei dem Ganzen auch noch irgendwie mit. Was sollen denn die Nachbarn denken?

Die beiden heirateten also pflichtschuldig. Sie gingen zum Standesamt. Die Eltern und neuen Schwiegereltern waren mit dabei, Geschwister und eine Handvoll allerengster Freunde. Danach ging es in den Gasthof. Da gab es Hochzeitssuppe und Braten und Dessert. Keinen Apfelkuchen. Irgendwas mit Schoko. Er wusste es nicht mehr so recht. Was Cremiges. Der Vater hielt eine Ansprache, der Bruder betrank sich, die Mutter weinte ein bisschen, die Hochzeitstorte war groß und Sven hatte, kaum konnte er zweimal blinzeln, ein neues Leben als Ehemann und werdender Vater.

Sie zogen in eine hübsche kleine Wohnung und hatten noch ein paar Wochen Zeit, um Prüfungen zu schreiben und sich auf das Baby vorzubereiten. Er hatte das alles damals gar nicht als so schlimm empfunden. Es hatte ihn sicher alles ein bisschen überrumpelt, aber es war auch aufregend. Er wurde schließlich Vater und freute sich auf sein Baby. An der Uni hatte er noch viel zu tun, musste Hausarbeiten abgeben, an Seminaren teilnehmen. Und sie mussten ja eine Wohnung einrichten. Also richtig einrichten. Mit Sofa und Küche und so. Kinderzimmer, Babybett. Nichts im Vergleich zu vorher, wo er in sei­ner Studentenbude eine Bettcouch hatte, zwei Handtü­cher, eine Tasse und eine dreckige Mikrowelle. Jetzt baute er Kommoden zusammen und hatte einen richtigen Couchtisch statt eines umgedrehten Bierkastens mit Holz­brett drauf. Er betrachtete Ultraschall-Bilder und erfuhr, dass das Baby ein Mädchen war. Er informierte sich über die sichersten Babyschalen fürs Auto. Sie liehen sich aus der Bibliothek nun Bücher über Babys aus und kauften sich vom Geld ihrer Eltern und von ihrem rest­lichen Konfirmationsgeld Kinderwagen und Hochstuhl. Sie versuchten, alles gut vorzubereiten. Da war viel Vorfreude. Sven hatte sich mit der Situation arrangiert. Er mochte Linda ja auch.

Und dann kam das Baby. Die kleine Mathilda war auf der Welt und eine Woge des Glücks überschwemmte ihn. Er wickelte und gab Fläschchen für sein Leben gern. Er holte auch die verhängnisvolle Gitarre wieder heraus und sang Lieder für die Kleine. Er fuhr sie im Kinderwagen spazieren und holte sich viele Komplimente dabei ein. Sein Studium beendete er, so schnell es ihm möglich war, damit er sich einen Job suchen konnte und seine Familie auch ohne die Hilfe von Eltern und Schwiegereltern, versorgen zu können. Nach dem Studium arbeitete er immer sehr viel, war sehr kreativ, wurde bald befördert. Wenn er nicht arbeitete, war er zu 100 Prozent für seine Tochter da. Er unternahm viel mit ihr, ließ sich lustige Abenteuerspiele einfallen, tanzte und sang mit ihr. Er war der Hit auf dem Spielplatz und tauschte sich mit den Müttern über die Fortschritte ihrer gleichaltrigen Kinder aus. Die Familie zog in eine größere Wohnung. Jetzt sogar mit Garten. Garten mit Schaukel, Garten mit Sandkasten. In der Nachbarschaft war er sehr beliebt, der gutaussehende junge Mann, der sich so reizend um seine kleine Tochter kümmerte.

Auch Linda schloss ihr Studium ab. Irgendwas mit BWL. Sie führten dann ein Leben mit klassischer Fa­milienaufteilung. Sie war die Familienmanagerin. Er ging arbeiten und brachte das Geld mit nach Hause, sie blieb zu Hause und versorgte Haushalt und Kind. Na ja, nicht gerade sehr emanzipiert. Aber als er mir davon erzählte, behielt ich meine Vorurteile vorerst noch für mich. Später irgendwann konnte ich ihm ja immer noch ausführlich meine Meinung dazu sagen.

Sie fuhren zweimal im Jahr in den Urlaub, einmal im Sommer ans Meer, einmal im Winter zum Skifahren. Gähn! Insgesamt richteten sie sich ihr Leben ganz nach dem klassisch-spießigen Modell ein, das in den 70-ern so gut funktioniert hatte. Nur dass damals die Frauen gestärkte Kleider und weiße Schürzen trugen und heute Leggins und übergroße Band-T-Shirts. Zumindest stelle ich mir das so vor.

Das Problem war nur, dass Sven eigentlich gar nicht in so ein Lebensmodell hineinpasste. Er war eher einer der Wilden, gerne auch mal über die Stränge schlagenden Männer, die das Leben genießen wollen, die den Hemdkragen öffnen und die Krawatte lockern. Männer wie er gehen viel zu spät ins Bett. Männer wie er führen leidenschaftliche nächtliche Gespräche. Männer wie er erleben Abenteuer. Er spielte zu Hause eine Rolle - die des Vorzeige-Vorstadt-Ehemannes. Dabei lebte er gar nicht in einer Vorstadt. Allerdings in einer verkehrsberuhigten Zone, was näher betrachtet wohl auf das Glei­che hinausläuft.

Er spielte diese Rolle lange Zeit sehr erfolgreich. Eigent­lich bis zu dem Zeitpunkt, als wir uns kennenlernten. Aber es schlich sich immer mehr ein Gefühl der Unzufriedenheit bei ihm ein. Das musste ja irgendwann zwangs­läufig so kommen, wenn man sich vor sich selbst ver­steckt. Er begann eine Art Doppelleben zu führen, teilte es ein in Privatleben und Berufsleben. Im Privatleben war er für sein Kind da, kümmerte sich um die Belange seiner Ehefrau, brachte den Müll raus, trank nur selten ein Glas Wein, rauchte nicht, ging mit den Schwiegereltern sonn­tags in die Kirche und klopfte anschließend noch zum Sonntagsbraten an. Er feierte Weihnachten im Familienkreis, Silvester im Familienkreis, Geburtstage im Fami­lienkreis. Alles war sehr gesittet und behütet … und hatte rein gar nichts mit dem Mann zu tun, der hier neben mir unter der Bettdecke lag.

Ich kannte einen Sven, dessen Geschäftsmeetings in teuren Restaurants bei Wein und 5-Gänge-Menü statt­fanden. Weit weg von Kartoffelbrei mit Erbsen. In seinem anderen Leben gab es verrauchte Bars und ausschwei­fende Partys. Er war auch hier sehr beliebt, denn er war witzig, er war wortgewannt, er war charmant und er war der perfekte Junggeselle. So hatte ich ihn kennengelernt, und ich wäre wirklich nie auf die Idee gekommen, dass er verheiratet war und ein gutbürgerliches Leben führte. Ganz im Gegenteil! Wollte man was erleben, sollte am besten Sven mit dabei sein. Hätte ich anfangs gewusst, dass er nach den Dinner-Meetings mit viel Wein und lautem Gelächter nach Hause ging und dort Seepferdchen auf Badeanzüge nähte, ich hätte es nicht geglaubt. Lange Abende gehörten berufsbedingt dazu, deshalb kam er auch bis zuletzt damit durch.

Tatsache ist, dass sich das Band der Ehe still und langsam, beinahe unbemerkt auflöste. Die beiden führten eigentlich nur noch organisatorische Gespräche, die darum kreisten, wer wann wie das Kind zum Kindergeburtstag bringt und welche Glühbirne ausgetauscht werden sollte. Gespräche über gute Filme oder Belanglosigkeiten, die einem das Leben so wunderbar verschönerten, fanden kaum noch statt. Dabei gab es noch nicht mal viel ­Streit. Aber das änderte nichts daran, dass er sich mehr und mehr seinem anderen Leben zuwendete. In dieser Phase kam ich dann ins Spiel und zerschnitt das Band vollständig.

Wenn man es nun nicht so gut mit ihm meinte, könnte man sagen, er schwängerte erst ein unschuldiges nettes Mädchen, machte seiner treuen, anständigen Ehefrau jahrelang etwas vor, belog sie über Jahre, um sie dann zu betrügen - mit einer, die er kaum kannte –, um sie letzt­endlich auch noch zu verlassen. Für eine Frau, der nichts heilig schien, noch nicht einmal der Bund der Ehe.

Und da war was dran.

Kapitel 4

Die Trennung

Es war ein schönes Wochenende. Ich genoss es wirklich, ständig mit Sven zusammen zu sein. Er war übrigens ein ausgiebiger Zähneputzer. Hatte sich ausgezahlt, seine Beißer sahen top aus. Wir liefen den ganzen Tag in Bademantel und Hotel-Schlappen herum, gingen ins Schwimmbad und auch mal zu einer Massage und dufteten nonstop nach Pfirsichen und anderen Aromen.

Als die Tage vorbei waren und wir mit gepackten Koffern an der Rezeption standen und er unseren Aufenthalt dort bezahlte - darüber war ich sehr froh, denn so viel gab mein aktueller Kontostand im Moment gar nicht her -, hatten wir eine Entscheidung getroffen: Er würde Linda reinen Wein einschenken, sich möglichst sofort eine neue Bleibe suchen, und wir würden es miteinander versuchen. Versuchen! Es war schon süß, wie er mir damit klarmachen wollte, dass ich mich zu nichts gedrängt fühlen sollte. Haha, so ein Witzbold! Aber trotzdem danke, sehr fürsorglich.

Er war auch ganz aufgeregt. Wegen des neuen Lebens, das er beginnen wollte, wegen unserer Beziehung, die in den Startlöchern stand und noch sehr leidenschaftlich war, wegen des Gefühls, dass der weitere Lauf seines Le­bens jetzt nicht mehr klar vorgegeben war. Jetzt konnte alles passieren. Das war wohl sein kurzer Moment der Freiheit.

Je näher der Moment der Wahrheit aber kam, an dem er mit vollem Lügengepäck, das er jetzt gestehen sollte, nach Hause fuhr, merkte er, dass Freiheit auch etwas mit Ungewissheit zu tun hat und dass das auch alles recht ungemütlich werden könnte. Er würde seine Tochter nicht mehr täglich sehen und ihr keine Gutenacht-Geschichte mehr vorlesen. Und das nie mehr. Nur noch dann, wenn sie ihn besuchen würde. Bei diesem Gedanken stieg Angst in ihm auf. Ich wollte ihn beruhigen, ihm sagen, dass alles gut werden würde. Aber konnte ich das?

Ich sagte also nichts. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus und auch ich verspürte ein nervöses Bauchgrummeln. War es das womöglich auch schon wieder? Kriegt er doch noch kalte Füße? Ist es einfach vielleicht doch besser, alles so zu lassen, wie es war und die letzten Tage einfach in schöner Erinnerung zu behalten?

Bei mir zu Hause angekommen saßen wir eine Weile schweigend nebeneinander im Auto. Was nun? Schließlich verabschiedete er sich von mir mit den Worten „Du musst wissen … ich glaube, ich liebe dich!“.