Point of Slow Return - Karin Suer - E-Book

Point of Slow Return E-Book

Karin Suer

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Beschreibung

2077. Ich verfasse einen Brief an eine besondere Gruppe von Kindern. Ihre Wege und meiner kreuzten sich auf Mallorca, wo ich mich als deutsche Auswanderin niedergelassen habe, weil ich das Meer so liebe. Sie haben das Meer überquert mit nichts als dem nackten Wunsch, zu überleben. Während wir zusammen finden uns eine Gemeinschaft bilden, gerät die Welt um uns herum in eine multiple Krise. Und es formiert sich eine mysteriöse Aktivistentruppe, der alles zuzutrauen ist. Ein alltagsphilosophisches Gesellschaftsdrama zum Mit- und Weiterdenken.

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“This is not the end, and this is not the beginning of the end, but this is perhaps the end of the beginning.”

Winston Churchill

FürLEON RAHEL HADASSA JIN ETLY YUNA...

INHALT

Liebe Kinder

Heile Welt

Nio

Keine Panik

1,5 Gratwanderung

Die längste Nacht

Im Osten geht die Sonne auf

Im Untergrund

Gefährliches Spiel

Heimat

Jäger und Sammler

PS

Nachwort

LIEBE KINDER,

Die meisten von euch kenne ich schon euer ganzes Leben. Und ihr kennt euch alle untereinander. Einige unter euch sprechen nicht nur sehr gut meine Sprache, sondern auch die eine oder andere Muttersprache eurer Geschwister. Und keiner von euch hatte es je leicht, nicht alle haben bis heute überlebt. Manche konnten das Leid, das sie erlebt haben, nie ganz hinter sich lassen. Doch ich sehe noch viele mehr, wenn ich mich unter euch umschaue, die sehr stark sind, die ungeheuren Mut haben, und die ganz bestimmt eine wunderbare Zukunft vor sich haben. Ich bin auf jeden Einzelnen von euch unendlich stolz. Und vielmehr noch, ich bin dankbar, für euch alle, für unsere gemeinsame Zeit, für alles, was ich mit euch erleben durfte, wie ihr mich verändert und mein Leben bereichert habt. Ich kenne euch, und ihr kennt mich. So wisst ihr auch eines über mich, nämlich dass ich es stets vermeide, zurückzublicken. Aber auch wenn wir einen langen Weg gemeinsam gegangen sind, ihr kennt nicht die ganze Geschichte. Und darum will ich, solange mir noch die Zeit dazu bleibt, euch davon erzählen.

Die Älteren unter euch können davon ein Lied singen: Dieser unglaublich große Baum, an dem man als Kind noch glaubte, bis in den Himmel hinaufklettern zu können, kommt einem, wenn man als Erwachsener dann nochmal davorsteht, einfach nur noch vor wie ein Baum. Wenn er denn überhaupt noch steht. Bei mir war das genau andersherum. Meine Welt wurde mit der Zeit nicht kleiner, sondern immer größer. Und langsamer. Natürlich ist der Planet nicht gewachsen, und er hat sich auch früher nicht schneller gedreht. Aber es ist wie mit dem Baum, der wird ja auch in Wahrheit nicht kleiner, sondern wir werden größer. Und die Welt kommt einem heute auch nur größer vor, weil man selbst sich nicht mehr so schnell auf ihr bewegt.

Doch ich kann euch sagen, früher waren wir wahnsinnig schnell. In der Zeit, die es braucht, für euch alle zu kochen, war man damals schon in Ägypten bei den Pyramiden. Und bis die Wäsche getrocknet ist, wäre man schon in Thailand gewesen und würde auf Elefanten reiten. Es gab sogar ein paar, die sind nur zum Vergnügen ins Weltall geflogen und wieder zurück, und das alles in nur einer halben Stunde. Vergnügen war damals für die Menschen überhaupt das Allerwichtigste. Weil man doppelt oder sogar dreimal so lange gearbeitet hat wie die meisten heute, hatten die Menschen in ihrer knappen freien Zeit gar nichts anderes im Sinn als Vergnügen.

Eine sehr beliebte Freizeitbeschäftigung war Einkaufen. Das tat man nicht etwa, weil man Dinge brauchte, sondern weil es gut fürs Wohlbefinden war. Männer gingen gerne in den Baumarkt, manche fanden Freude daran, sich regelmäßig neue Uhren zu kaufen, immer die neuesten Telefone und technischen Spielereien, Frauen liebten es, sich alles zu kaufen, das versprach, sie schöner oder jünger aussehen zu lassen, am besten jedoch ganz genau so, wie alle anderen auch aussahen.

Und Kleidung. Die kam bei Männern und Frauen gleichermaßen gut an. Aber Kleidung war nicht schön, solange sie in einem guten Zustand war, sondern solange sie in Mode war. Zum Glück waren Klamotten so billig, dass man sie schon nach ein paar Mal tragen wegwerfen und sich dann eben kaufen konnte, was als nächstes angesagt war. Und die Mode änderte sich schnell, mehrere Male im Jahr. Was dann in den Läden nicht verkauft worden war, das brachte man in ärmere Länder, denen gab man ein bisschen Geld dafür, dass sie es bei sich verbrannten, damit das bei uns nicht so einen Gestank gab.

Ganz besondere Freude bereitete es den Menschen, neue Autos zu kaufen. Nicht, weil das alte, das man hatte, kaputt war. Kaum jemand hatte überhaupt ein altes Auto. Aber die allermeisten hatten ein eigenes Auto für sich ganz allein. Oft hatten sogar zwei erwachsene Menschen, die zwar zusammen wohnten, aber eben an verschiedenen Orten arbeiteten, jeder ein eigenes Auto, und man fuhr ganz allein darin, auch wenn noch für viel mehr Menschen Platz gewesen wäre. Das war zwar nicht unbedingt praktisch, denn dadurch gab es viel zu viel Verkehr in den Straßen und es kam ständig zu Staus. Aber ein Vorteil war, dass man auf dem Weg in seine Firma einmal allein sein konnte, und zum Beispiel in Ruhe, mehr oder weniger jedenfalls, seinen Kaffee trinken und mit Freunden telefonieren konnte.

Die Menschen liebten ihre Autos mehr, als manch einer seinen Hund lieben würde. Jedoch anders als bei einem Hund, den man bis zu seinem Lebensende liebt, liebte man sein Auto nur, solange es angesagt war. Und wenn es aus der Mode geraten war, weil es wieder neue Modelle gab und alle Freunde und Bekannten diese bereits hatten, dann ging man los und kaufte sich eines, das am besten noch neuer und größer und mit noch besserer Technologie ausgestattet war als die der Freunde und Bekannten. Irgendwann hatte sich dann herumgesprochen, dass man damit der Umwelt keinen Gefallen tut, aber daraufhin wurden einfach Autos gebaut, die keinen Auspuff mehr haben. Da kam nämlich eine Menge Dreck raus. Den Dreck, der bei der Herstellung dieser neuen Autos ohne Auspuff entstand, bekamen dann wieder die ärmeren Länder ab, und man gab ihnen dafür natürlich wieder ein bisschen Geld.

Schöne und immer neue Dinge zu besitzen, das war den Menschen damals extrem wichtig. Daran, wie viel jemand besaß, konnte die ganze Welt erkennen, ob er Zutritt zu den Cocktailpartys hatte oder nicht, und das war von großer Bedeutung. Allerdings war es nicht der Besitz allein, manchen ging es dabei tatsächlich ums Kaufen an sich. Wenn man etwas kaufte, dann tat man seiner Seele gut. Beim Einkaufen konnte man den Stress des Berufslebens vergessen und sich gut fühlen.

Weil aber dieser ganz alltägliche Ausgleich zur harten Arbeit auf Dauer auch nicht glücklich machte, mussten die Leute von früher mindestens einmal im Jahr etwas ganz besonders Schönes erleben. Um all die Arbeit und alle Sorgen für eine kurze Zeit komplett auszublenden. Und das ging am besten, wenn man möglichst weit weg von zu Hause war. So oft sie konnten, flogen sie daher mit Flugzeugen in Länder, die sich von ihrem eigenen so sehr unterschieden, wie es nur ging. Wo die Menschen anders aussahen, anders aßen, wo das Wetter besser war und die ganze Kultur eine andere.

Die Menschen aus diesen fernen Ländern hatten wir alle auch bei uns, hier haben wir sie aber lieber nicht wahrgenommen. Es galt allgemein als unfein, sich mit ihnen abzugeben. Bei denen zu Hause, da war das etwas anderes, da waren sie irgendwie interessanter. Und wir haben Fotos von ihnen gemacht und uns mit diesen Einheimischen fotografieren lassen, und ihnen manchmal natürlich auch ein bisschen Geld dafür gegeben. Und das war ja auch wirklich nett von uns, denn was für uns ein bisschen war, war für die ein ganzer Tageslohn. Und was für uns ein Wochen-lohn war, davon konnten wir bei ihnen einen ganzen Monat leben wie im Paradies, also hatten alle was davon.

Selbstverständlich konnte sich nicht jeder diese ganzen Fernreisen leisten. Aber auch für Reiselustige mit weniger Geld war gesorgt. Zum Beispiel gab es da die Kreuzfahrtschiffe. Das waren im Grunde sehr dicht besiedelte, schwimmende Städte. Man konnte darauf wohnen, wie in einer Stadt mit tausenden von kleinen Wohnungen, jede von ihnen hatte sogar ein eigenes Badezimmer, und obwohl darin gut und gerne Platz für eine ganze Familie gewesen wäre, wurden sie meistens nur paarweise belegt.

Auf diesen wandernden Ferieninseln gab es alles, was das Herz begehrte. Es gab Schwimmbecken, Wasserrutschen, Spielplätze, Sportplätze, Kart-Rennbahnen, sogar Spielcasinos und, sonst hätte es wohl kaum jemand je für eine ganze Woche oder sogar mehrere Wochen dort ausgehalten, natürlich immer auch viele verschiedene Bekleidungsgeschäfte. Da waren Kinos und Theater, es wurden Konzerte gegeben und man konnte seine Kinder in den Kindergarten geben, wenn man zum Yoga ging oder in die Sauna, und das alles kostete nicht viel mehr als die Miete für eine ganz normale Wohnung.

Essen gab es praktisch zu jeder Zeit und in sehr großer Auswahl. Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, darum sollte für jeden etwas dabei sein. Ob asiatisch, italienisch, griechisch, amerikanisch oder gutbürgerlich deutsch, von Pommes und Pizza über vegan und glutenfrei bis hin zu gigantischen Fleischbergen, gegrillt, gebraten, geräuchert und verwurstet war alles dabei. Und es war auch kein Problem, wenn man sich den Teller vollgeladen hatte mit etwas, das man dann doch nicht mochte, man ging einfach zurück zum Buffet und holte sich etwas anderes.

Das Buffet, das waren lange Reihen von Tafeln, auf denen Essen ausgebreitet wurde, für das man nicht einmal zusätzlich bezahlen musste. Und das rund um die Uhr. Es gab Schokoladenbrunnen und Etageren, beladen mit Kuchen und bunten Törtchen und wahren Kunstwerken, gebastelt aus frischen exotischen Früchten, die aber niemand aß; die waren nur zum Anschauen da. Und so wurde an Lebensmitteln für gewöhnlich nach nur einer Woche Fahrt mit so einem Schiff mehr weggeworfen, als ihr alle zusammen in einem ganzen Jahr essen könntet.

Natürlich waren das keine Segelschiffe, so wie wir sie heute kennen. Die waren riesengroß, und die Masten dafür hätten bestimmt so lang sein müssen wie von hier bis zum Cap Formentor. Sie hatten Motoren, in denen hochgiftiges Schweröl verbrannt werden musste, um sie von einer sehenswürdigen Stadt zur anderen zu bringen. Und auch, um den benötigten Strom für die vielen tausend Menschen an Bord zu erzeugen. Diese Motoren liefen also auch, wenn das Schiff im Hafen lag, was natürlich die Bewohner der Städte ärgerte, weil ihnen die Luft zum Atmen verpestet wurde.

Darum dachte man sich, warum probieren wir nicht was Neues aus, waschen den ganzen Qualm mit Wasser und ein paar Chemikalien und leiten das dann ins Meer, so sieht es keiner. Was natürlich nicht gut geklappt hat, irgendwann wurden auch im Meer die Schäden sichtbar und Schiffe mit dieser Technologie an Bord wurden später als erste stillgelegt. Auch wenn ich nicht weiß, wo die tatsächlichen Gründe dafür lagen. Heute dienen die meisten von ihnen als Transitlager für Flüchtlinge in den Häfen entlang der afrikanischen Grenze, mit den großen Buffets ist es vorbei und die Motoren schweigen nun für immer.

Bis dahin war es allerdings ein sehr, sehr langer Weg. Denn die Menschen konnten nicht leben ohne ihre Reisen, mit denen sie sich für all die viele Arbeit wenigstens ein kleines bisschen Belohnung spenden konnten. Und vielen Menschen gaben sie damit ja auch Arbeit. Auch diese konnten unmöglich darauf verzichten, denn wie hätten sie sonst ihre Familien ernähren können? Und am Ende waren da natürlich auch noch die Konzerne. Das klingt immer nach einem so bösen Wort, aber die Konzerne, das waren schließlich auch Menschen. Die ebenso hart arbeiteten, auch wenn viele das nicht erkennen wollten. Alle sahen sie auf Cocktailpartys große Reden schwingen und wichtige Kontakte pflegen und waren oft sehr neidisch, dabei waren das genau genommen Überstunden. Also brauchten auch die Konzerne einen Ausgleich zu ihrem mühsamen Alltag und konnten auf das Geschäft mit der Kreuzfahrt auf keinen Fall verzichten.

Allen war im Grunde klar, dass man auf diese Weise dem Klima schadete. Und das wurde auch mehr und mehr zum Thema auf den Cocktailpartys. Alle sprachen davon, und sehr viele machten sich große Sorgen, denn die Stimmen, die behaupteten, dass der Klimawandel wahnsinnig teuer werden könnte, wurden von Jahr zu Jahr lauter. Das konnte manchem wirklich die Laune verderben, und die Stimmung auf den allabendlichen Partys ging langsam, aber sicher, in den Keller. Bis bei einem dieser Abende ein paar Jungs von den Konzernen gemeinsam mit dem einen oder anderen hohen Tier aus der Politik eine großartige Idee hatten: Wir bauen einfach noch schönere, prunkvollere Schiffe, damit auch wirklich jeder noch so sture Nörgler nur begeistert sein kann, und geben den Hafenstädten ein bisschen Geld, dann meckern sie nicht mehr über die dreckige Luft. Und der Klimawandel hat ja auch Vorteile, immerhin gibt es durch ihn bald viel mehr warme Urlaubsziele.

Ihr lacht, aber genauso war es.

Jedoch ging jeder Urlaub, ob nah oder fern, ob mit dem Flugzeug oder mit dem Schiff, einmal zu Ende. Und dann war man wieder für ein halbes Jahr oder ein Jahr in seinem Alltag gefangen. Da begann jeder Tag wie der Tag davor und wie der Tag davor, und die Tage begannen meistens sehr früh morgens. Als erstes duschen, und zwar jeden Morgen. Dann wurden mehrere verschiedene Kosmetikprodukte verwendet, damit man trotz Schlafmangels immer frisch und munter aussah. Anschließend musste man sich überlegen, was man heute anziehen soll.

Selbstverständlich, auch wenn alles sauber geblieben war, nicht das vom Vortag, denn dann dachten die Leute, man wäre arm und hätte nur das eine Teil im Schrank. Auch Schuhe, davon hatte jeder mindestens fünf oder zehn Paare, durften niemals an zwei Tagen aufeinander getragen werden. Wer mehrmals hintereinander in den selben Schuhen gesehen wurde, der war in der Regel nicht zu den erwähnten Partys eingeladen.

Sobald man fertig war, machte man sich auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle. Das geschah normalerweise mit dem Auto. Wer eine eigene Garage hatte, der hatte es besonders gut. In den großen Städten mussten die Leute dagegen oft weite Strecken zu ihrem Auto laufen, denn es gab nie genug Parkplätze, um den Wagen in der Nähe seiner Wohnung für die Nacht abstellen zu können. Es gab auch die Möglichkeit, mit dem Zug zu fahren. Wer das aber tat, der wurde ebenfalls nicht zu den Partys eingeladen, denn das waren oft die Menschen mit weniger Geld, und die wollte man da nicht haben. Wer es sich leisten konnte, hatte darum besser ein eigenes Auto.

Und wenn man dann, meistens allein, auf dem Weg zur Arbeit war, stand man oft erstmal im vorhin genannten Stau. Weil die Straßen einfach viel zu voll waren und alle zur gleichen Zeit ihr Ziel erreichen mussten. Dann hing dichter Qualm aus Millionen Auspuffrohren über der Stadt, dröhnender Lärm von Motoren und Hupen und den Sirenen der nicht durchkommenden Rettungswagen drang durch die Straßen und wütende Autofahrer lehnten sich zu ihren Fenstern raus, um lautstark ihrem Ärger über die verlorene Zeit Luft zu machen. Was natürlich zu nichts führte, als nur noch mehr Lärm, denn alle anderen steckten ja genauso fest.

So kam man dann bei seinem Büro oder seiner Firma an und hatte vom Tage eigentlich schon längst die Nase voll. Um trotzdem noch irgendwie bis zum Abend durchzuhalten, gab es literweise Kaffee. Der selbe Kaffee, den einige von euch auch bei besonderen Gelegenheiten schon mal probiert haben. Ich freue mich ab und zu sehr über eine schöne Tasse von diesem kostbaren Getränk. Aber die Menschen damals mussten ihn trinken, das war in erster Linie kein Genussmittel, sondern eine Notwendigkeit, um durch den Alltag zu kommen. Allerdings kostete er früher nur einen Bruchteil dessen, was er heute kostet, und jeder noch so kleine Lohnarbeiter konnte sich seine anregende Wirkung leisten.

Berufe waren, als ich noch ein Kind war, etwas ganz anderes. Gearbeitet wurde doppelt oder dreimal so lange wie heute, aber man blieb normalerweise auch sein ganzes Leben, wenn nicht gar über Generationen, im selben Beruf. Wie die Millionen kleiner Bauern in meinem Land, die hatten ihr Handwerk sogar von den Eltern gelernt und gaben es traditionell auch an die eigenen Kinder weiter. Oder die Schuhmacher, die Schneider, die Krämer, die das genauso taten. Die Fernsehtechniker, deren Väter nicht selten Radiotechniker waren, die Bäcker, die die Backstube ohne große Widerworte erbten, denn so war es Tradition.

Es ist jedoch auch Tradition, dass jede Generation die Konzepte ihrer Vorgänger infrage stellt. Schließlich gab es Jobs, die wirklich nicht mehr in die Zeit passten. Spätestens seit dem Vietnamkrieg waren Gehorsam und bedingungsloses Befolgen von Befehlen sowieso nicht mehr der letzte Schrei. Und so mancher Lohnerwerb konnte auch in einer verdammt spärlichen Witwenrente für die hinterbliebene Gattin nebst Kindern münden. Da gab es zum Beispiel die Bergarbeiter, die gingen einer sehr gefährlichen Beschäftigung nach, denn immer wieder stürzten Schächte ein oder irgendwo trat plötzlich entzündliches Gas aus und viele Menschen starben bei Explosionen.

Dann hatten die Betreiber des Bergwerks mal wieder einen Streik am Hals, der Betrieb stand still und ihnen ging an jedem einzelnen Streiktag ein ganzes Vermögen durch die Lappen. Das war nicht so wie in den Diamantenminen, in denen eure Väter geschuftet haben. Bei uns in Europa waren Streiks erlaubt, und Arbeiter liebten es, zu streiken. Jedoch nicht nur an Streiktagen, sondern auch wenn alles normal verlief, so ein Bergwerk war teuer, und das Teuerste daran waren die ständig um noch mehr Geld und noch mehr Sicherheit streikenden Arbeiter. Also, und dank großartiger neuer Technologien, baute man Maschinen, die die Arbeit viel billiger erledigen konnten, und bald brauchte man nur noch eine Handvoll Angestellte, um die Maschinen zu überwachen.

So waren da die Bäcker, die schon mitten in der Nacht beginnen mussten, Brote und Brötchen zu backen, bevor alle anderen Menschen frühstücken wollten. Auch diese mühevolle Tätigkeit wurde schließlich von Maschinen übernommen, die Tag und Nacht backten, ohne müde zu werden, und nur noch wenige Menschen wurden benötigt, um die stählernen Bäcker zu kontrollieren. Genauso geschah es im Maschinenbau, bei der Herstellung von Medikamenten und sogar bei den Bauern auf dem Felde. Und ja, da fielen Arbeitsplätze weg, und viele Menschen waren ziemlich sauer. Gingen auf die Straßen, beschwerten sich über Lohnkürzungen und Stellenabbau, aber das war natürlich nicht aufzuhalten, denn das Sagen hatten am Ende immer die Konzerne.

Man könnte meinen, dass es uns damals schlecht ergangen wäre. So war das aber nicht. Viele, die in dieser immer moderneren Welt ihre klassischen Berufe verloren hatten, erfanden sich eben neu. So begann einer, der seine kleine Backstube an einen Mammutbetrieb verloren hatte, weil er es nicht geschafft hatte, mit der Zeit zu gehen, nun Programme und digitale Anwendungen zu schreiben, die wiederum andere Arbeitsplätze überflüssig machen würden. Oder ein Postbote, dessen Stelle eingekürzt wurde, weil niemand mehr Briefe schrieb, lernte, wie man digitale Werbung macht. Und wer für sich gar keinen Weg fand, wieder am Berufsleben teilzunehmen, dem gab man einfach ein bisschen Geld, damit er weiter einkaufen konnte, denn da hatten schließlich alle was davon. Das Geld musste nur immer in Bewegung bleiben, dann ging es allen am Ende gut.

Uns ging es wirklich sehr gut. Wir hatten gar keine Ahnung, wie gut es uns ging. In der Welt, in der ich aufwuchs, hatten wir allmählich alles erreicht. So gut wie jeder Mensch oder jede Familie hatte eine Wohnung oder sogar ein Haus ganz für sich allein, man konnte wohnen, wo man wollte und in seinen eigenen vier Wänden war man frei, zu tun und zu lassen, was einem gefiel. Wir konnten Lebensmittel kaufen, so viel wir wollten, alles war für jedermann bezahlbar, und da war es ganz gleich, ob es Bananen aus Kolumbien waren, Avocados aus Mexiko oder Schokolade, für die der Kakao übrigens aus Westafrika geliefert wurde. Ich weiß, dort wurden nicht nur die Böden und das Grundwasser ausgebeutet, sondern auch ein paar von euch, die ihr heute diesen Brief lest, oder euren Eltern, die euch hierher gebracht haben, um euch das Schicksal auf den Plantagen dort zu ersparen. Aber darauf kommen wir später noch zurück.

Jedenfalls, auch Wasser war für uns in Europa selbstverständlich. Ich selbst habe es immer geliebt, so lange zu duschen, bis das Wasser kalt war. Es war auch noch ganz normal, selbst nach einem “kleinen Geschäft” die Klospülung zu betätigen. Wir hatten nicht einmal Steine oder Wasserflaschen in den Spülkästen, wir haben sie jedes Mal komplett volllaufen lassen, stellt euch das nur vor. Oder seine Kleidung nach nur einmal Tragen zu waschen, das gehörte sich im Grunde so, und niemand machte sich ernsthafte Gedanken über den Verbrauch seiner Waschmaschine. Und wenn es im Sommer sehr warm wurde, dann hatten wir Badeanstalten und Swimmingpools, in denen wir uns jederzeit Kühlung verschaffen konnten. Manche Menschen hatten sogar einen eigenen Pool, so groß wie ein ganzer Gemüsegarten. Die waren bis obenhin mit Wasser befüllt, das so sauber war, dass Kinder gefahrlos darin plantschen konnten. Ich erinnere mich; als Kind bin ich immer mit meinen Geschwistern durch den Wasserstrahl gehüpft, wenn mein Vater, wie jeden Samstag, in unserer Hofeinfahrt mit dem Gartenschlauch das Auto wusch. Mein Vater war ein sparsamer Mann, und so hat er zuerst immer geschimpft, weil das nun mal auch alles Geld kostet. Wirklich teuer war Wasser aber letztlich nicht, und weil wir Kinder so eine Freude daran hatten, hat er dann am Ende meistens doch selbst angefangen, zu lachen, und uns stundenlang damit nassgespritzt.

Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viel Wasser wir täglich verbrauchten. All die Kleider, die immer neuen Telefone und Computer, die vielen neuen Autos, unser Essen, unsere Schminke, sogar die Medikamente, es brauchte Unmengen an Wasser, um das alles herzustellen. Und das Erstaunliche war, es war kein Problem! Wenn man Erdbeeren in Ländern anbauen wollte, in denen Erdbeeren eigentlich nicht wachsen konnten, und diese auch zu Jahreszeiten ernten wollte, in denen sie eigentlich gar nicht reif sein konnten, grub man eben immer tiefere Brunnen, um die Felder zu bewässern. Irgendwann später wurde das zwar dann doch hier und da zu einem Problem, weil der Regen immer öfter ausblieb und das Grundwasser nicht mehr zurückkam, aber da konnte man erstmal noch mit Kläranlagen und Meerwasserentsalzung Abhilfe schaffen. Und den Bauern, deren Ernten trotz aller guten Ideen ausblieben, denen gab man ein bisschen Geld, und sie blieben ruhig und geduldig. Alles würde ganz bestimmt besser werden, und eigentlich ging es uns ja wirklich richtig gut.

Wenn wir nicht gerade morgens im Stau, am Flughafen in der Schlange oder am Bahnhof ungeduldig auf die andauernd verspäteten Züge wartend standen, dann standen wir so gut wie nie still. Wir waren von früh bis spät in Bewegung, waren zu jeder Zeit fleißig, außer im Urlaub, und mit unserer Leistung schufen wir uns eine nahezu perfekte Welt. In Allem waren wir unglaublich schnell, von Fastfood über Fast Fashion bis hin zu Swipe, Match und - im Falle des Missfallens, Ghosting bei der Partnerwahl; wir konnten im Gehen unseren eigenen Schatten überholen.

Selbst Kinder zu haben, war dabei kein großes Problem. Wer Kinder hatte, meistens waren es eines oder zwei, der brachte sie morgens in den Kindergarten und ging zur Arbeit. Auch kleine Babys konnte man dort abliefern. Denen, die Kinder hatten, ging es aus unserer heutigen Sicht wahrscheinlich noch am besten von allen. Die kamen am Abend zusammen, aßen gemeinsam und brachten anschließend ihre Kinder ins Bett. Viele von ihnen lasen den Kleinen vor dem Einschlafen Geschichten vor und gingen dann selbst in ihr Bett. Das war ein gutes Leben. Während die, die keine Kinder hatten, und die allermeisten von ihnen auch keinen Lebenspartner, noch lange keine Ruhe finden konnten.

Wer unter denen nicht zu den großen Cocktailpartys eingeladen war, und das waren nur die, die besonders viel Geld hatten, besonders dicke Bäuche und die dicksten oder längsten Zigarren, der musste sich eben woanders vergnügen. Da gab es zum Beispiel die Bars. Die waren sowas ähnliches wie unsere Hitzeschutzräume, Säle, in denen nur schwaches Licht brannte, jedoch nicht um Strom zu sparen, sondern um eine gemütliche Stimmung zu erzeugen. Es wurde Musik gespielt, meistens von Datenträgern, manchmal aber auch von richtigen Musikern. Oder auf einem, oft auch mehreren Fernsehern wurden Sportereignisse übertragen, das waren dann, je nach Anzahl der Fernsehgeräte, ziemlich langweilige Treffpunkte, wo die Leute nur schweigend dasaßen, an ihrem Getränk nuckelten und nur ab und zu jemand irgendetwas rief, das wahrscheinlich mit dem Verlauf des Spiels zu tun hatte, jedoch nicht unbedingt einen Sinn ergeben musste. Mancherorts ging es lebhafter zu, das gab es keine Fernseher, und die Leute haben wild diskutiert, meistens über Politik. Doch wirklich neue, oder gar extreme Ansichten wurden da kaum geäußert, denn man kannte sich in der Regel und würde sich auch tagsüber, nüchtern, auf der Straße begegnen können und auch wollen, und zwar am liebsten ohne Scham. Deshalb drang aus solchen Bars zwar immer ein lautes Stimmengewirr, aber in ihrem Inhalt waren derartige Diskussionen überwiegend harmlos.

Und jeder Mensch, überwiegend jedoch waren dort Männer, konnte ohne besondere Einladung oder Genehmigung einfach reingehen und sich etwas zu trinken bestellen. Nicht jedoch Wasser, wie ihr vielleicht jetzt denkt, sondern viele verschiedene, seltsam schmeckende Getränke mit Alkohol darin. Wasser wurde auch angeboten, das hat aber selten jemand bestellt. Die Gäste kamen auch nicht etwa, weil sie Durst hatten. Der Alkohol hatte zweierlei Wirkung: Die eine war gut für die, die mit Freunden in diese Räumlichkeiten gingen. Er wirkte nämlich sehr anregend, und man konnte gemeinsam ausgelassen sein, so wir ihr es seid, wenn es regnet. Er lockerte auch die Zunge, was sehr von Vorteil sein konnte, wenn man sich dem anderen Geschlecht annähern wollte. Zu viel des Elixiers konnte aber auch zu peinlichen Entgleisungen führen, womit man schwerlich neue Freunde fand, ganz zu schweigen von der großen Liebe. Wer alleine ging und es trotz aller noch so einfallsreichen Anbahnungsversuche auch blieb, und darüber traurig war, schon wieder einen Abend allein verbringen zu müssen, den konnte der Alkohol ein wenig trösten oder auch noch trauriger machen. Je nach dem, wie es einem gerade lieb war.

Wenn dann zu späterer Stunde und nach vielen Gläsern voll dieser alkoholischen Flüssigkeiten sich zwei trafen, von denen einer sehr ausgelassen war und der andere eher sehr traurig, dann ging das oft für beide nicht gut aus. Nicht selten führte es zu Streitereien, manchmal prügelten sich die Leute sogar und schlugen sich gegenseitig an die Köpfe, was sie gerade nur finden konnten. In manchen Nächten hatte die Polizei gar nichts anderes zu tun, als Betrunkene auseinandertreiben, und Ärzte nichts anderes, als anschließend deren Wunden zu versorgen. Und manch eine Studentin musste auf ihrem nächtlichen Heimweg von der Bibliothek um ihr Leben fürchten wegen denen, die um diese Zeit ganz besonders traurig oder wütend darüber waren, allein zu sein. Insofern hatten es die wirklich sehr viel besser, die mit ihren Kindern zuhause blieben. Das Einzige, das sie stören konnte, waren das andauernde Geheul der Sirenen von Polizei und Rettungswagen draußen und die eigene, nie nachlassende Unzufriedenheit.

Diese Unzufriedenheit kam nicht zuletzt auch von einem weiteren Hobby, dem vor allem diejenigen nachgingen, die ihre Abende zu Hause verbrachten – ob nun mit Familie oder ganz allein auf der Couch: Das Fernsehen. Gestern wie heute wurden dort rund um die Uhr Werbesendungen gezeigt, und man konnte unter verschiedenen, mit den Jahren immer mehr werdenden Kanälen das Programm aussuchen, das zwischen den immer länger werdenden Werbepausen gezeigt werden sollte.

Dabei hatte beides, die Werbung, wie auch die Ausschnitte der Fernsehsendungen dazwischen, den selben Sinn und Zweck: Die Zuschauer sollten sich schlecht fühlen. Und dennoch nicht genug davon bekommen können. Extremer Beliebtheit bei den Frauen, zum Beispiel, konnten sich Bewerber von Haarpflegeprodukten erfreuen. In diesen Spots hatten die Models natürlich perfekt gestyltes, kerngesundes, wallendes Haar, wie man es im besten Fall während der ersten Stunde nach einem sehr teuren Frisörbesuch haben konnte. Aber in den spannenden, tiefen Einblicken in das luxuriöse Privatleben von irgendwelchen Delta-Promis, die dazwischen eingeblendet wurden, schienen eben Diese Tag und Nacht, bei Wind und Wetter genauso perfekt gestylt zu bleiben. Da konnte nicht einmal Eine mithalten, die ständiger Gast auf allen Cocktailpartys war. Das war frustrierend, und gegen den Frust und das unbehagliche Gefühl der Minderwertigkeit half nur Shoppen, bis die Kreditkarte glühte.

Ebenso erging es Männern, die sich Abend für Abend die Präsentationen der neuesten Automodelle ansahen, und dazwischen Sendungen, in denen irre coole Typen mit näselnder Stimme ihre Expertenmeinung zu den jeweiligen Modellen zum Besten gaben. Fast zu emotional geladen für das männliche Selbstverständnis der damaligen Zeit, aber das erzeugte Nähe. Und um jeder aufkommenden homophoben Regung gleich entgegenzuwirken, waren all diese Expertisen mit derart deftigen Sprüchen gespickt, dass sich selbst der gestandene, erfolgreiche Mann ziemlich uncool vorkommen musste und sein Vorgängermodell am liebsten in der Garage versteckt halten wollte.

Wenn man sich das alles ansah, war es eigentlich unmöglich, glücklich oder wenigstens zufrieden zu sein. Und umso weniger, je weiter man von diesen Scheinidealen entfernt lebte. Nicht ständig durch die Welt jettete, in feinen Villen wohnte, auf schicken Yachten feierte und dabei stets die neueste Modekollektion trug. Wenn man sich nicht einmal den Lippenstift seines Lieblings-Promis leisten konnte, oder auch nur die Felgen seines Traum-Autos. Aus diesem Grund mussten sich schließlich immer mehr Menschen Geld bei den Banken leihen, um wenigstens einigermaßen mithalten zu können.

Die Banken fanden das großartig, denn mit diesen Krediten verdienten sie ihr Geld. Und sie sahnten kräftig ab. An jeder Shoppingtour mit der Kreditkarte, an jedem Ratenkauf eines Neuwagens, an jedem vorfinanzierten Bau eines Fertighauses mit einem Hauch von Villen-Charme verdienten sie mit. Doch immer noch war anscheinend niemand zufrieden. Die Menschen kauften ein, buchten Reisen, Kreuzfahrten und derlei Vergnügungen auf Pump, und wenn sie dann im Urlaub waren, konnten sie sich gar nicht entspannen. Denn sie mussten die ganze Zeit darüber nachdenken, wie sie jemals ihren Kredit abbezahlen würden. Und das meiste von dem, was sie besaßen, gehörte in Wahrheit der Bank. Gefreut haben sich wieder nur die Jungs von den Cocktailpartys.

Während ich euch diese Zeilen schreibe, blicke ich in Gedanken in eure wahrscheinlich zum Teil erschrockenen Gesichter. Mich selbst schaudert es manchmal ein bisschen, wenn ich an diese Zeiten zurückdenke. Und ich kann mir ungefähr ausmalen, wie schrecklich und ungastlich ihr euch nun meine Welt von damals vorstellt. Aber es war nicht alles schlecht! Wir hatten die Aufklärung, die industrielle Revolution, Feminismus, die freie Marktwirtschaft, freie Presse, die Demokratie und ein geeintes Europa, Gesundheit für die meisten, wir hatten die alles, alles versüßende Digitalisierung und mehr oder weniger soziale Sicherheit; man musste sich eigentlich überhaupt keine Gedanken mehr machen. Das Leben war sowas wie eine Fahrt in einem offenen Ford Mustang aus den 1960ern. Kennt ihr nicht, aber da habt ihr echt was verpasst. Jedenfalls, jeder, der es sich leisten konnte, hatte dieses nur ganz leicht holprige Gefühl, frei zu sein. Und denen, die es sich nicht erlauben konnten, ihr wisst schon, gab – oder lieh man einfach ein bisschen Geld, und das Leben ging für alle so weiter.

Eine Sache, über die sich zumindest bei uns in Europa fast alle gleichermaßen freuen konnten, war das Internet. Und das war wirklich eine ganz fabelhafte Erfindung. Ihr wisst ja, dass ich in Deutschland aufwuchs. Und als ich noch in die Grundschule ging, da hatte dort zwar schon fast jede Familie ein Telefon, allerdings waren die ganz anders als heute. Ein Telefon, das war ein großer Kasten mit einem halbrunden, über ein Kabel mit dem Apparat verbundenen Griff, den man abnehmen konnte, und in die eine Seite dieses Griffs konnte man sprechen, aus der anderen Seite kam die Stimme des Angerufenen. Um jemanden anzurufen, drehte man an einem Rad an dem Kasten, auf dem die Zahlen von null bis neun markiert waren, und man drehte der Reihe nach jede Ziffer der gewünschten Telefonnummer bis zum Anschlag. War man damit fertig, wurde man sogleich mit einer Zentrale verbunden, und von dieser Zentrale aus ging der Anruf dann über sehr lange und weit verzweigte Kabel zum ausgewählten Apparat am anderen Ende der Leitung.

So ein Telefonat war eine kostspielige Sache, und es wurde immer teurer, je weiter der Angerufene entfernt wohnte. Aber wie ihr wisst, meine Eltern waren sparsame Leute. Und wenn ich also nach der Schule, aber vor den Hausarbeiten mich mit einer Freundin zum Spielen verabreden wollte, die nur einen halben Kilometer von meinem Elternhaus entfernt lebte, dann bestanden sie darauf, dass ich persönlich zu ihr lief. Um mich mit ihr zu verabreden, dann wieder nach Hause zu gehen, meine Hausaufgaben zu erledigen und mich später wieder mit ihr zu treffen. So teuer war es, auch nur jemanden in der unmittelbaren Nachbarschaft anzurufen. Ich habe natürlich schnell gelernt, mich dann mit ihr zu verabreden, wenn die Zeit dafür am geeignetsten war, nämlich während der Schulzeit.

Aber noch etwas anderes am Telefonieren von damals war umständlich, nämlich das Besetztzeichen. Das bekam man dann zu hören, wenn derjenige, mit dem man sprechen wollte, sich bereits in einem anderen Telefonat befand. Und nun war es schließlich so, dass man sich noch nicht allzu lange Zeit auf diese Weise, so bequem, obwohl an ganz unterschiedlichen Orten, unterhalten konnte. Mit dieser Möglichkeit war ein neuer, ganz famoser Zeitvertreib geboren, dem besonders Frauen gerne stundenlang nachgingen. Das Problem war nur, dass man so ein Gespräch nicht unterbrechen konnte. Man musste es einfach immer wieder aufs Neue versuchen, und so konnte es passieren, dass man zwei Stunden lang alle paar Minuten nicht “Tuuut, tuuut” hörte, was bedeutete, dass es am anderen Ende klingelte, sondern immer wieder nur “Tut tut tut tut”, was bedeuten konnte, dass der arme Bursche, dem in der Schule schlecht geworden war, sehr lange darauf warten musste, von seiner Mutter abgeholt zu werden. Aber so war das. War besetzt, wartete man eben.

Die Nummer meiner Freundin hatte ich im Kopf. Telefonnummern von Nachbarn, also ohne Landes- und Ortsvorwahl, waren damals bei Weitem nicht so lang wie unsere heute, die konnte man sich noch merken. Wenn einer mehr Kontakte hatte, als er sich Nummern merken konnte, dann führte er ein Adressbuch. Darin waren, oft nach alphabetischer Ordnung, alle Namen und die dazugehörigen Telefonnummern handschriftlich eingetragen. Es galt auch als schick, möglichst viele Einträge darin zu haben, man kann sagen, je dicker so ein Adressbuch war, desto wichtiger war sein Besitzer. Und wollte man jemanden anrufen, der nicht in diesem persönlichen Adressbuch stand, dann gab es dafür das Telefonbuch. Telefonbücher waren Sammlungen sämtlicher Adressdaten derjenigen, die einen Telefonanschluss besaßen. Wenn man also wusste, wen man anrufen wollte, und auch ungefähr, wo derjenige wohnte, dann fand man dort dessen Nummer. Das waren natürlich abertausende Namen, Adressen und Zahlen, und ihr müsst euch vorstellen, so ein Buch, wenn darin auch nur alle Bewohner einer Kleinstadt mit Anschluss ans Telefonnetz verzeichnet waren, konnte so dick sein wie mein Unterarm.

Den Namen der Person, die man anrufen wollte und die dazugehörige Nummer im Telefonbuch zu finden, war ein Leichtes für jeden, der das ABC beherrschte. Aber damit war man noch lange nicht am Ziel. Diese Bücher wurden ja nur einmal im Jahr neu gedruckt, und wenn einer im Laufe dieses Jahres umgezogen war, dann konnte es passieren, dass die Nummer nicht mehr gültig war. Oder es geschah, was ähnlich ärgerlich war, dass man Alexandra Sommer anrufen wollte, und es meldete sich “Anschluss Familie Engelmann”, und nicht etwa weil Alexandra umgezogen war, sondern schlicht, weil man sich verwählt hatte.

Und nun wohnte Alexandra aber eben nicht nebenan, sondern