Poison Princess - Kresley Cole - E-Book

Poison Princess E-Book

Kresley Cole

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Beschreibung

Die rote Hexe, der Tod, ein Heer aus Blüten und Dornen … düstere Bilder und Stimmen suchen Evie vor ihrem sechzehnten Geburtstag heim – und nach einer Katastrophe werden diese Visionen wahr. Als eine der wenigen Überlebenden bleibt sie zurück in einer öden Welt aus Asche und Verderben, an ihrer Seite der undurchsichtige Bad Boy Jack. Als klar wird, dass in Evie der Schlüssel zu neuem Leben verborgen liegt, müssen sie fliehen. Doch Evie ahnt, es ist nicht nur ihre Bestimmung, Leben zu geben, sondern auch den Tod zu säen. Nie darf Jack davon erfahren, denn längst hat sich Evie unsterblich in ihn verliebt …

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Seitenzahl: 603

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DIE AUTORIN

Foto: © Deanna Meredith Studios

Kresley Cole lebt mit ihrem Mann in Florida. Mit ihrer paranormalen Serie Immortals after Dark eroberte sie die Bestsellerlisten und gewann gleich zweimal den RITA Award. Poison Princess ist ihr erster Jugendroman.

Kresley Cole

Poison

Princess

Band 1

Aus dem Englischen

von Kathrin Wolf

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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4. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juni 2014

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2012 by Kresley Cole

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Poison Princess. The Arcana Chronicles« bei Simon & Schuster,

Children’s Publishing Division, a trademark of

Simon & Schuster, Inc., New York.

© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Kathrin Wolf

Lektorat: Ivana Marinovic´

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins,

unter Verwendung eines Bildes von

Shutterstock © Vita Khorzhevska

he · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-10151-0V002

www.cbt-buecher.de

Für Zareen Jaffery,

meine unglaubliche Young-Adult-Lektorin,

für all deine Hilfe bei der Poison Princess.

Du hast einen himmelweiten

Unterschied gemacht.

TAROT(subst., nt): spezieller Kartensatz, der inzwischen vor allem zur Wahrsagerei benutzt und oft mit Okkultismus in Verbindung gebracht wird. Die 22 Trumpfkarten, die Großen Arkana, haben einen klaren Symbolcharakter und stellen Szenen und Figuren aus vergangenen Zeiten dar.

Prolog

TAG 246 N. D. BLITZ

Requiem, Tennessee

Vorgebirge der Smoky Mountains

Sie ist so schön, so zerbrechlich. Diese gequälten Augen. Diese Rosenknospenlippen … ich kann sie bereits schreien hören.

Ich starre durch den Spion meiner Tür und will, dass das Mädchen näher kommt. Ein weibliches Wesen, so nah! Komm zu mir.

Im aschegeschwängerten Zwielicht geht sie den Weg vor meinem kohlschwarzen viktorianischen Haus entlang und kämpft mit der Entscheidung, ob sie es wagen soll oder nicht.

Ein eisiger Wind zaust ihr die schwere blonde Mähne. Sie trägt ausgefranste Jeans und abgetragene Wanderstiefel. Ihre Hände sind in den Taschen einer fadenscheinigen Kapuzenjacke vergraben.

Ihre Kleidung passt nicht zu den Temperaturen, die da draußen herrschen und erst seit Kurzem nicht mehr so schrecklich warm sind wie schon den ganzen Winter über. Das Wetter wird schlechter, je näher der Sommer rückt …

Sie blickt auf. Hat sie den Essensgeruch wahrgenommen, der von meinem Haus ausgeht? Auf meinem Holzofen köchelt Rindereintopf aus der Dose. Bemerkt sie den Rauch, der sich aus dem Schornstein emporkräuselt?

Sie sieht hungrig aus. Seit dem Blitz sind sie immer hungrig.

Alles an meinem Versteck soll sie zu mir locken. Und für den Fall, dass Reisenden das helle Licht der Petroleumlampe nicht einladend genug ist, habe ich noch eine mit einer Plastikhülle überzogene Plakattafel, auf der mit Filzstift geschrieben steht:

STIMMEN DES BLITZES

WARME MAHLZEITEN,

SICHERE UNTERKUNFT –

ERZÄHLT MIR EURE

GESCHICHTE DER APOKALYPSE.

Mein Haus ist ideal gelegen, an einer Kreuzung in dieser Geisterstadt. Die meisten meiner Gäste erzählen, dass ihr Leben an einem Scheideweg angelangt ist. Das des Mädchens offensichtlich auch.

Vorhin ist sie mir in einiger Entfernung gefolgt. Sie hat mir dabei zugesehen, wie ich verwilderte Pflanzen zurückgestutzt habe, um das angesengte Willkommensschild des Örtchens freizulegen.

Requiem, Tennessee, 1212 Einwohner.

Der Blitz hat diese Zahl auf eine Ziffer schrumpfen lassen, jetzt gibt es nur noch mich und die meinen.

Während ich mich an dem Schild zu schaffen gemacht habe, habe ich zur Untermalung eine beschwingte Melodie gepfiffen. Sie wird mich für einen anständigen Menschen halten, redlich um Normalität bemüht.

Jetzt bleibt sie stehen und blickt direkt zu meiner Tür. Sie hat eine Entscheidung getroffen. Das sehe ich an der Haltung ihrer zierlichen Schultern.

Als sie sich dem Vordereingang nähert, kann ich sie etwas besser erkennen. Sie ist kaum größer als ein Meter sechzig. Ihrer gertenschlanken Gestalt und dem zarten Gesicht nach zu urteilen, kann sie eigentlich höchstens sechzehn sein. Doch die Andeutung weiblicher Kurven, die ich unter ihrer Kapuzenjacke erahne, deutet darauf hin, dass sie vielleicht doch älter ist.

Ihre Augen sind kornblumenblau und heben sich kühn von der Blässe ihrer Wangen ab – aber in ihnen liegt Trauer. Diese heimatlose Seele weiß, was Verlust bedeutet.

Doch wer weiß das seit der Apokalypse nicht?

Gleich wird sie mehr herausfinden. Komm näher.

Sie zögert, die Veranda zu betreten. Nein, komm zu mir! Nachdem sie tief Luft geholt hat, begibt sie sich schließlich zu meiner Tür. Ich erschauere vor Vorfreude. Eine Spinne, angriffsbereit in ihrem Netz.

Schon jetzt fühle ich eine Verbindung zu dem Mädchen. Zugegeben, das habe ich früher schon gesagt – und auch andere meiner Art haben von einer Verbindung zu ihren Probanden gesprochen –, doch diesmal verspüre ich eine nie da gewesene Spannung.

Ich will sie so sehr besitzen, dass ich ein Stöhnen nur mit Mühe unterdrücken kann.

Wenn es mir gelingt, sie nach drinnen zu lotsen, sitzt sie in der Falle. An der Tür fehlt innen der Knauf, sodass ich sie nur mit meinen Zangen öffnen kann. Die Fenster bestehen aus unzerbrechlichen Kunststoffplatten, alle anderen Ausgänge nach draußen sind zugenagelt.

Sie streckt die Hand aus, klopft zaghaft an und tritt dann einen Schritt zurück. Ich warte ein paar Sekunden – eine Ewigkeit – und trete dann fest mit den Füßen auf dem Boden auf, so als würde ich näher kommen.

Als ich die Tür mit einem breiten Lächeln öffne, entspannt sie sich ein wenig. Ich bin nicht der, den sie erwartet hat. Ich wirke nicht viel älter als Anfang zwanzig.

Eigentlich bin ich sogar noch jünger, näher an ihrem Alter dran, schätze ich. Doch der Blitz hat meine Haut gegerbt und meine Experimente haben ebenfalls ihren Tribut gefordert.

Und dennoch, die Mädchen dort unten, meine kleinen Ratten, versichern mir, ich sei der attraktivste Junge, den sie je gesehen hätten. Und ich habe keinen Grund, etwas anderes zu glauben.

Aber ach, mein Geist fühlt sich alt an. Ein weiser Mann in Gestalt eines Jungen.

»Bitte, komm herein«, sage ich und deute mit dem Arm ins Haus. »Meine Güte – du musst völlig durchgefroren sein!«

Misstrauisch späht sie herein, ihr Blick huscht von Wand zu Wand. Das Innere des Raums wirkt freundlich und wird von Kerzenschein erhellt. Eine selbst genähte Steppdecke liegt über der Armlehne einer Couch und direkt vor dem knisternden Feuer steht ein Schaukelstuhl.

Mein Versteck strahlt Geborgenheit aus, wirkt warm und großmütterlich. Das sollte es auch, denn früher hat hier eine alte Frau gelebt – das heißt, bevor ich sie abgeschlachtet und das Haus zu meinem gemacht habe.

Voller Sehnsucht betrachtet das Mädchen den Schaukelstuhl und das Feuer, doch ihre Muskeln sind immer noch angespannt, zur Flucht bereit.

Ich setze eine traurige Miene auf. »Ich fürchte, ich bin allein hier. Seit dem Blitz …« Meine Stimme bricht ab und lässt vermuten, meine Lieben seien während der Apokalypse ums Leben gekommen.

Bemitleide mich. So lange, bis du zum ersten Mal dein neues Halsband zu Gesicht kriegst.

Endlich, sie tritt über die Schwelle! Um nicht vor Genugtuung aufzuschreien, muss ich mir auf die Innenseite meiner Wange beißen, bis ich den bitteren Geschmack von Blut auf der Zunge spüre. Irgendwie gelingt es mir, einen gleichmütigen Tonfall anzuschlagen, als ich mich vorstelle. »Ich bin Arthur. Bitte, setz dich doch ans Feuer.«

Ihre zerbrechliche Gestalt zittert. Etwas Ernsthaftes liegt in ihren Augen, als sie zu mir aufblickt.

»Da… danke.« Sie geht zu dem Schaukelstuhl. »Ich bin Evangeline. Evie.«

Hinter ihr schiebe ich die Zangen verstohlen in meine Hosentaschen und mache die Tür zu. Als sie klickend ins Schloss fällt, muss ich lächeln.

Sie gehört mir. Sie wird diesen Ort nie verlassen.

Ob sie am Leben bleibt oder stirbt, hängt nur von ihr ab. »Bist du hungrig, Evie? Ich lasse gerade einen Eintopf ziehen. Und wie wär’s mit einer Tasse heißer Schokolade?« Ich kann förmlich hören, wie ihr das Wasser im Mund zusammenläuft.

»Ja, bi… bitte, wenn es nicht zu viele Umstände macht.« Sie setzt sich und hält die Hände über das Feuer. »Ich sterbe vor Hunger.«

»Ich bin gleich wieder da.« In der Küche gebe ich etwas von dem Eintopf in eine Schüssel und richte das Abendessen behutsam auf einem Tablett an. Ihre erste Mahlzeit mit mir. Sie muss perfekt sein. Bei so etwas bin ich äußerst penibel. Meine Kleidung ist makellos, mein Haar sorgfältig gekämmt. Mein fein säuberlich sortiertes Skalpellset steckt in der Innentasche meines Blazers.

Mit dem Verlies hingegen verhält es sich anders.

Neben die Schüssel stelle ich eine Tasse Kakao, angerührt mit meinen schwindenden Wasservorräten, und lasse einen Teelöffel weißes Pulver aus dem Zuckerspender rieseln – definitiv kein Süßstoff. Nach jedem Schluck wird sie sich mehr und mehr entspannen, so lange, bis ihre Muskeln versagen und nur noch ihr Kopf funktioniert.

Regungslos und doch bei vollem Bewusstsein. Es ist wichtig, dass sie unsere Vereinigung mit jeder Faser erlebt. Und mein hausgemachtes Gebräu verfehlt seine Wirkung nie.

Genau genommen ist es auch an der Zeit für mein Elixier. Ich nehme ein zugestöpseltes Fläschchen aus dem Schrank und kippe den klaren, sauren Inhalt hinunter. Meine Gedanken werden noch fokussierter, ich bin voll konzentriert.

»Bitte sehr«, sage ich, als ich zurückkomme. Ihre Augen weiten sich angesichts solcher Großzügigkeit. Als sie sich über die volle Unterlippe leckt, scheppert das Tablett in meinen zittrigen Händen. »Wenn du den Klapptisch kurz nehmen könntest …«

Sie stürzt herbei, um mir zu helfen, den Tisch aufzustellen, und schon langt sie zu, was das Zeug hält. Ich setze mich auf die Couch – nicht zu nah, darauf bedacht, sie in keinster Weise zu bedrängen.

»Also, Evie, ich bin sicher, du hast das Schild draußen vor dem Haus gesehen.« Sie nickt, zu sehr mit Kauen beschäftigt, um zu antworten. »Ich möchte, dass du weißt, dass es mir eine Freude ist, dir zu helfen. Alles, worum ich dich bitte, ist, ein paar Informationen mit mir zu teilen.« Und zu weinen, wenn ich mich dir nähere, zusammenzuzucken, wann immer ich dich berühre. »Ich archiviere die Geschichten einfacher Leute und versuche, sie für künftige Generationen zu erhalten. Wir müssen dokumentieren, wie die Katastrophe das Leben der Menschen erschüttert hat.«

Das stimmt im Wesentlichen. Ich nehme die Geschichten meiner Mädchen auf Band auf – als Zusatzmaterial gewissermaßen – und später ihre Schreie. »Wärst du daran interessiert, sie mit mir zu teilen?«

Sie beäugt mich verschlossen, während sie ihren Eintopf fertig isst. »Was möchtest du denn wissen?«

»Ich hätte gerne, dass du mir erzählst, was in den Tagen vor dem Blitz passiert ist. Und wie du mit den Folgen zurechtgekommen bist. Hiermit würde ich dich aufnehmen.« Ich deute auf einen batteriebetriebenen Kassettenrekorder, der auf einem Beistelltisch steht, und grinse entschuldigend. »Altmodisch, ich weiß.«

Sie greift nach ihrer Tasse, hebt sie hoch und bläst hinein.

Trink, mein Mädchen, trink.

Als sie einen Schluck zu sich nimmt, atme ich aus, Luft, die ich angehalten habe. Sie trinkt auf ihren eigenen Untergang, auf unseren Anfang.

»Du wirst mich also nur beim Sprechen aufnehmen?«

»Genau.« Als ich mich erhebe, um nach dem Tablett zu greifen, schnappt sie sich die Tasse und hält sie an ihre Brust. »Evie, ich habe noch mehr davon in der Küche. Ich kann dir eine ganze Kanne bringen.«

Als ich mit einer Kanne und meiner eigenen Tasse zurückkomme, trinkt sie gerade ihren Kakao aus. Ihre Kapuzenjacke hat sie jetzt um ihre Taille geschlungen, ihr kurzärmliges Shirt schmiegt sich an ihre Brüste. Sie schürt das Feuer.

Ich umklammere meine Tasse so fest, dass ich Angst habe, sie könne zerbersten. Dann runzle ich die Stirn. Normalerweise bin ich nicht so gierig nach meinen Probanden. Geschäft und Vergnügen zu vermischen ist … unschön. Doch ihre Anziehungskraft ist berauschend.

Vorher in der Stadt, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, habe ich sie schon begehrt, sie mir in meinem Bett vorgestellt, wie sie die Arme nach mir ausstreckt.

Könnte sie diese eine sein?

Sie geht zu ihrem Stuhl zurück und unterbricht mein Starren. »Warum willst du ausgerechnet über mich Bescheid wissen?« Eine weicher Südstaatenakzent liegt in ihrer Stimme.

Nachdem ich mich geräuspert habe, antworte ich: »Jeder, der es hierherschafft, hat die Geschichte seines Überlebens zu erzählen. Du eingeschlossen.« Ich setze mich wieder auf meinen Platz auf der Couch. »Ich möchte alles über dein Leben wissen. Vor und nach dem Blitz.«

»Warum denn über mein Leben davor?«

Um den Werdegang meines neuen Versuchskaninchens nachzuvollziehen. Stattdessen sage ich: »Die Apokalypse hat Leben auf den Kopf gestellt und Menschen verändert. Um zu überleben, mussten sie jede Menge Dinge tun, von denen sie nie gedacht hätten, dass sie sie tun würden. Ich will so viele Details wie möglich … Und wenn dir das lieber ist, musst du mir deinen Nachnamen nicht nennen.«

Über den Rand ihrer Tasse hinweg murmelt sie: »Mein Leben wurde schon lange vor dem Blitz auf den Kopf gestellt.«

»Wie meinst du das?« Ich strecke den Arm aus und drücke den Aufnahmeknopf. Es scheint ihr nichts auszumachen.

»Ich hatte den Sommer woanders verbracht und war in den Wochen vor der Apokalypse gerade erst zurück nach Hause gekommen. Die Lage war etwas angespannt.«

»Wo war dein Zuhause?«, frage ich und seufze fast, während ich das Mädchen fixiere. Ihre Lider sind schon ein wenig schwerer geworden. Ihr blondes welliges Haar glänzt im Feuerschein. Sie streicht sich über eine Strähne auf ihrer Schulter und ich erhasche einen Hauch ihres Duftes – außergewöhnlich, blumig.

Auch acht Monate nach dem Blitz, nachdem alle Seen und Flüsse verdunstet sind, schafft sie es, wie frisch aus der Badewanne zu riechen. Erstaunlich. Und ganz anders als die stinkenden kleinen Ratten in meinem Verlies.

»Mein Zuhause war in Louisiana, auf einer wunderschönen Zuckerrohrplantage, die sich ›Haven‹ nannte.« Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und blickt verträumt an die Decke. Sie erinnert sich. »Ein Meer aus grünem Zuckerrohr erstreckte sich überall um uns herum, unendlich weit.«

Plötzlich erscheint es mir absolut notwendig, alles über dieses Mädchen in Erfahrung zu bringen. Warum ist sie allein? Wie konnte sie ohne männlichen Schutz so weit nach Norden gelangen? Wenn die Wiedergänger sie schon nicht erwischt hatten – die Mädchenhändler oder die Milizsoldaten hätten es bestimmt.

Mir wird klar, dass sie ihren Beschützer erst kürzlich verloren haben muss – nur aus diesem Grund wäre ein so hübsches Mädchen allein unterwegs.

Umso besser für mich.

»Inwiefern war die Lage bei dir zu Hause angespannt?« Was wird es wohl sein – die Geschichte, wie sie sich mit ihren Eltern gestritten hat oder von ihnen bestraft wurde, weil sie erst nach der vereinbarten Zeit nach Hause gekommen ist? Oder wie sie sich vom örtlichen Highschool-Schwarm getrennt hat? »Du kannst es mir sagen.« Ernst nicke ich ihr zu.

Sie atmet tief ein und knabbert auf ihrer Lippe herum. In diesem Moment weiß ich, dass sie sich entschieden hat, mir alles zu erzählen.

»Arthur, ich … ich wurde gerade erst aus einer Nervenheilanstalt entlassen.« Unter ihren Wimpern blickt sie zu mir auf. Sie versucht, meine Reaktion einzuschätzen, und scheint sie gleichzeitig zu fürchten.

Ich kann gerade noch verhindern, dass mir die Kinnlade herunterklappt. »Aus einer Nervenheilanstalt?«

»Ich war die letzten Monate der zehnten Klasse krank, also hat mich meine Mom in eine Klinik nach Atlanta geschickt.«

Dieses Mädchen hat mir der Himmel geschickt! Auch ich war krank, bis ich meine Tinkturen an mir selbst ausprobiert und irgendwann ein Heilmittel entdeckt habe.

Allerdings werden ihre und meine Vorstellung von Krankheit mit Sicherheit geradezu mörderisch voneinander abweichen … Doch ich könnte ihr beibringen nachzugeben, die Dunkelheit willkommen zu heißen.

»Ich kann nicht glauben, dass ich dir das anvertraue.« Sie runzelt die Stirn und flüstert dann: »Ihm konnte ich meine Geheimnisse nie erzählen.«

Ihm? Ihrem früheren Beschützer? Ich muss all ihre Geheimnisse erfahren!

Sie schenkt mir ein sanftes Lächeln. »Warum fühle ich mich bei dir so wohl?«

Weil bereits eine Droge am Werk ist, die dich entspannt. »Bitte, fahr fort.«

»Ich war erst seit zwei Wochen zu Hause und schon wieder begannen seltsame Dinge zu passieren. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren, hatte Albträume und so realistische Halluzinationen, dass ich nicht wusste, ob ich wach war oder träumte.«

Der Geist dieses Kindes ist so zerbrechlich wie ihr Körper. Sie gehört mir. Vom Himmel gesandt. Ich weiß, ich kann den kleinsten Funken Irrsinn zu Wahnsinn aufflammen lassen. Vor lauter unterdrückter Aggression beginne ich zu schwitzen.

Sie merkt es nicht, denn sie betrachtet erneut die Decke und denkt an vergangene Zeiten zurück. »Eine Woche vor dem Blitz war der erste Schultag nach den Sommerferien gewesen, sieben Tage vor meinem sechzehnten Geburtstag.«

»Du hattest am ersten Tag nach dem Blitz Geburtstag?«, frage ich. Meine Stimme ist ganz hoch vor lauter Aufregung. Sie nickt. »Was ist passiert?«

Sie zieht den Fuß an und setzt ihn auf dem Stuhl ab, während sie sich mit dem anderen sanft vor- und zurückwiegt. »Ich weiß noch, dass ich mich am Montagmorgen für die Schule fertig gemacht habe. Meine Mom hat sich Sorgen gemacht, dass ich noch nicht bereit sein könnte, dorthin zurückzukehren.« Sie seufzt. »Mom hatte recht.«

»Warum?«

Evie erwidert meinen Blick. »Ich erzähle es dir. Alles, meine ganze Geschichte. Und ich werde versuchen, mich an so viel wie möglich zu erinnern. Aber, Arthur …«

»Ja?«

Ihre Augen glänzen und ein verlegener Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht. So wunderbar elend. »Es könnte sein, dass es sich nicht wirklich so zugetragen hat, wie ich glaube.«

1

TAG 6 V.D. BLITZ

Sterling, Louisiana

»Wie fühlst du dich?«, fragte Mom und musterte mich prüfend. »Bist du sicher, dass du bereit bist?«

Ich frisierte mein Haar fertig, setzte ein Lächeln auf und log ihr ins Gesicht. »Absolut.« Obwohl wir schon einige Male darüber gesprochen hatten, erklärte ich geduldig: »Die Ärzte meinten, für jemanden wie mich wäre es gut, mich wieder in einen normalen Tagesablauf einzugliedern.« Nun ja, zumindest drei von fünf Psychiatern hatten das gesagt.

Die anderen beiden hatten darauf beharrt, dass ich noch nicht stabil genug sei. Eine tickende Bombe. Mit Aussicht auf Schwierigkeiten, wenn nicht gar ein Trümmerfeld.

»Ich muss einfach nur wieder zurück in die Schule und Zeit mit meinen Freunden verbringen.«

Sobald ich Mom gegenüber Psychiater zitierte, entspannte sie sich etwas, so als würde das beweisen, dass ich ihnen tatsächlich zugehört hatte.

Ich konnte mich an vieles erinnern, das die Ärzte gesagt hatten – denn von meinem Leben vor dem Klinikaufenthalt hatten sie mich eine Menge vergessen lassen.

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, begann Mom in meinem Zimmer auf und ab zu gehen. Ihr Blick flatterte unruhig über meine Sachen – ein hübscher blonder Sherlock Holmes, der nach Geheimnissen schnüffelte, die er noch nicht kannte.

Sie würde nichts finden. Ich hatte meine Schmuggelware schon in meiner Schultasche versteckt.

»Hattest du letzte Nacht einen Albtraum?«

Hatte sie gehört, wie ich schreiend hochgeschreckt war? »Nein.«

»Als du dich mit deinen Freunden getroffen hast, hast du ihnen da gesagt, wo du wirklich warst?«

Mom und ich hatten allen erzählt, ich sei auf eine Art spezielle Sommerschule für »höhere Töchter« gegangen. Schließlich konnte man nie früh genug damit anfangen, die eigene Tochter auf eine der vielen konkurrierenden Studentinnenverbindungen hier im Süden vorzubereiten.

In Wirklichkeit hatte man mich ins Children’s Learning Center gesperrt, eine Klinik für Jugendliche mit Verhaltensstörungen, auch bekannt als Child’s Last Chance.

»Ich habe niemandem vom CLC erzählt«, erwiderte ich, entsetzt bei dem Gedanken, meine Freunde oder mein Freund könnten von meinem Aufenthalt dort erfahren.

Vor allem nicht er. Brandon Radcliffe. Haselnussbraune Augen, Filmstar-Grinsen und lockige honigfarbene Haare.

»Gut. Das geht nur uns etwas an.« Sie blieb vor meinem großen Wandgemälde stehen und neigte missbilligend den Kopf. Statt eines hübschen Aquarellbilds oder eines Retro-Funk-Musters hatte ich eine düstere Landschaft voller verschlungener Ranken, bedrohlich aufragender Eichen und einen dunklen Himmel gemalt, der über den Zuckerrohrhügeln hängt. Ich weiß, sie hatte überlegt, das Ganze einfach übermalen zu lassen, dann jedoch befürchtet, eine Grenze bei mir zu überschreiten und mich gegen sie aufzubringen.

»Hast du heute Morgen deine Medizin genommen?«

»Ja, wie immer, Mom.« Ich konnte nicht behaupten, die bitteren kleinen Pillen hätten viel gegen meine Albträume genutzt, aber wenigstens hatten sie die Wahnvorstellungen eingedämmt, die mich letzten Frühling geplagt hatten.

Diese schrecklichen Halluzinationen waren so realistisch gewesen, dass ich vorübergehend blind für die Welt um mich herum geworden war. Ich hatte es gerade noch geschafft, mein zweites Highschool-Jahr abzuschließen, indem ich die Visionen ausgeblendet und mir beigebracht hatte, so zu tun, als sei nichts.

In einer der Wahnvorstellungen hatte ich Flammen in den Nachthimmel lodern sehen. Unter den Feuerwellen waren fliehende Ratten und Schlangen über den Rasen in Havens Vorgarten geschwärmt, bis es aussah, als würde sich der Boden kräuseln.

In einer anderen hatte die Sonne geschienen – und zwar bei Nacht – und den Menschen die Augen versengt, bis Eiter daraus hervorrann. Sie hatte ihre Körper verdorren und ihre Hirne verwesen lassen. Sie verwandelten sich zu zombieartigen Bluttrinkern mit einer Haut, die knittrigen Papiertüten glich und die einen widerlichen Schleim absonderte. Ich hatte sie die Schwarzen Männer getauft …

Mein kurzfristiges Ziel war recht simpel: Nie wieder ins CLC verbannt werden. Mein langfristiges Ziel hingegen war schon eine etwas größere Herausforderung: Den Rest der Highschool überstehen, um mich danach aufs College zu flüchten.

»Und du und Brandon seid nach wie vor zusammen?« Mom klang beinahe ungläubig, als könne sie nicht verstehen, weshalb er noch mit mir ausging, nachdem ich drei Monate weg gewesen war.

»Er kommt gleich vorbei«, erwiderte ich nachdrücklich. Jetzt hatte sie mich nervös gemacht.

Nein, nein. Den ganzen Sommer über hatte er mir treu gesimst, obwohl ich nur zweimal im Monat hatte antworten dürfen. Und seit ich letzte Woche zurückgekommen war, hatte er sich einfach wundervoll verhalten – mein gut gelaunter, lächelnder Freund, der mir Blumen brachte und mich ins Kino ausführte.

»Ich mag Brandon. Er ist ein so lieber Junge.« Endlich beendete Mom das Verhör des heutigen Morgens. »Ich bin froh, dass du wieder da bist, Schatz. In Haven war es so still ohne dich.«

Still? Am liebsten hätte ich erwidert: »Ach wirklich, Karen? Hast du eine Ahnung, was noch schlimmer ist als still? Die Neonröhren in der Anstalt, die vierundzwanzig Stunden am Tag knacken. Oder vielleicht die Geräusche, die meine sich ritzende Zimmergenossin von sich gibt, wenn sie ihren Oberschenkel mit Essbesteck attackiert? Und wie wär’s mit sinnlosem Gelächter ohne jegliche Pointe?

Wobei, Letzteres war ich gewesen.

Am Ende sagte ich nichts über die Anstalt. Nur noch zwei Jahre und dann nichts wie weg.

»Mom, heute ist mein großer Tag.« Ich schulterte meine Tasche. »Wenn Brandon kommt, will ich ihn draußen in Empfang nehmen.« Ich hatte ihn schon den ganzen Sommer lang auf mich warten lassen.

»Oh, natürlich.« Sie folgte mir die breite Treppe hinunter. Unsere Schritte hallten im Gleichklang wider. An der Tür strich sie mir das Haar hinter die Ohren und gab mir einen Kuss, als wäre ich ein kleines Mädchen. »Dein Shampoo riecht gut. Ich werde mir wohl etwas davon borgen müssen.«

»Klar.« Erneut zwang ich mich zu einem Lächeln und ging dann nach draußen. Die neblige Luft stand reglos, als hätte die Erde ausgeamtet und vergessen, wieder einzuatmen.

Ich lief die Stufen vor der Eingangstür hinunter und drehte mich um, um mein imposantes Zuhause zu betrachten, das ich so schmerzlich vermisst hatte.

Haven war eine hochherrschaftliche Südstaatenvilla mit zweiundzwanzig Zimmern und zwölf stattlichen Säulen vor dem Eingang. Ihre Farben – die cremefarbene Holzverkleidung und das dunkle Waldgrün der schweren Fensterläden – waren unverändert geblieben, seitdem das Haus für meine Ur-Ur-Ur-Ur-Großmutter erbaut worden war.

Zwölf mächtige Eichen umgaben das Gebäude und reckten ihre stellenweise zusammengewachsenen Äste in die Höhe wie gigantische Hydras, die ihre Beute in eine Falle gelockt hatten.

Die Leute aus dem Ort fanden, Haven House würde aussehen, als ob es darin spukte. Und jetzt, wie es so in den Nebel getaucht vor mir lag, konnte ich das durchaus nachvollziehen.

Während ich auf Brandon wartete, schlenderte ich über den Rasen zu einer nahe gelegenen Reihe von Zuckerrohrhalmen und beugte mich vor, um an einer der violetten Blütenrispen zu riechen. Frisch und doch süß. Eines der federleichten grünen Blätter war eingerollt, sodass es aussah, als würde es meine Hand umfassen. Ich musste lächeln.

»Bald bekommst du Regen«, murmelte ich und hoffte, die Dürre in Sterling würde endlich ein Ende haben.

Mein Lächeln wurde noch breiter, als ich den wendigen Porsche Cabrio erblickte, einen verschwommenen roten Klecks, der über unsere mit Austernschalen bedeckte Auffahrt schoss.

Brandon. Der beneidenswerteste Fang in unserer Gegend. Abschlussklasse. Quarterback. Reich. Der dreifache Hauptgewinn unter den Jungs.

Als er anhielt, öffnete ich die Beifahrertür und grinste. »Hey, mein Großer.«

Er runzelte die Stirn. »Du siehst … müde aus.«

»Ich bin spät ins Bett gegangen«, sagte ich und warf einen Blick über die Schulter, während ich meine Tasche auf den winzigen Rücksitz warf. Als sich der Küchenvorhang bewegte, konnte ich mir ein Augenrollen gerade noch verkneifen. Noch zwei Jahre und dann nichts wie weg …

»Geht es dir gut?« Besorgnis lag in seinem Blick. »Wir können uns auf dem Weg einen Kaffee holen.«

Ich schloss die Autotür. »Ja klar. Gerne.« Er hatte mir kein Kompliment für meine Frisur oder mein Outfit gemacht – ein ärmelloses hellblaues Chloé-Kleid, dessen Saum gerade so bei den zehn vorschriftsmäßigen Zentimetern über dem Knie endete, ein schwarzes Seidenband, das mein zu einem lockigen Pferdeschwanz hochgestecktes Haar zurückhielt, und dazu passende schwarze High Heels mit Riemchen von Miu Miu.

Der einzige Schmuck, den ich trug, waren meine Diamantohrringe und die Armbanduhr von Patek Philippe.

Ich hatte Wochen damit zugebracht, dieses Outfit zu planen, zwei Tage, um es in Atlanta zu kaufen, und jetzt eben eine Stunde, um mich davon zu überzeugen, dass ich noch nie besser ausgesehen hatte.

Er zuckte die breiten Schultern und hatte die Angelegenheit bereits vergessen, als er Havens Auffahrt hinunterbrauste, wobei seine Reifen Muschelsplitter aufspritzen ließen, während wir Feld um Feld an Zuckerrohr vorbeisausten.

Als wir auf dem Highway angekommen waren, einem zerfurchten alten Straßenabschnitt in Louisiana, sagte er: »Du bist heute Morgen so still.«

»Ich habe letzte Nacht etwas Komisches geträumt.« Albträume. An dieser Front nichts Neues.

Wenn ich etwas Schönes träumte, kamen ausnahmslos Pflanzen darin vor. Ich hatte Efeu und Rosen vor meinen Augen wachsen sehen, außerdem Feldfrüchte, die überall um mich herum hervorsprossen.

Doch in letzter Zeit suchte eine wild gewordene rothaarige Frau mich in meinen Albträumen heim und benutzte ebendiese Pflanzen, um … um Menschen auf die grässlichste Weise zu quälen. Und während ihre Opfer um Gnade winselten, kicherte sie vor Entzücken.

Sie war mit einem Mantel bekleidet. Eine Kapuze verhüllte ihren Kopf, sodass ich nie ihr ganzes Gesicht erkennen konnte, doch ihre Haut war bleich. Grüne Efeu-Tattoos schlängelten sich ihre Wangen hinab und ihr wildes rotes Haar war mit Blättern übersät.

Ich nannte sie die Rote Hexe. »Tut mir leid«, sagte ich schaudernd. »So was schlägt mir immer ein wenig auf die Stimmung.«

»Oh.« Seine Reaktion bewies, dass er keinen Schimmer hatte, wovon ich sprach. Als ich ihn einmal gefragt hatte, ob er ab und an Albträume habe, hatte er mich nur verständnislos angeschaut und sich an keinen einzigen erinnern können.

Das war noch so etwas an Brandon – er war der unbeschwerteste Junge, den ich je getroffen hatte. Obwohl er wie ein Bär – oder eben wie ein Footballspieler – gebaut war, entsprach sein Temperament eher dem eines treuen Hundes als dem eines Grizzlys.

Insgeheim setzte ich eine Menge Hoffnungen in ihn. Ich hoffte, seine Normalität würde mich vom Abgrund meiner wüsten Visionen wegschleifen. Auch deshalb hatte ich mir solche Sorgen gemacht, er könnte ein anderes Mädchen finden und mit mir Schluss machen, während ich noch im CLC eingesperrt war.

Doch jetzt schien es, als würde zumindest eine Sache in meinem Leben funktionieren. Brandon war mir treu geblieben. Und mit jedem Kilometer, den wir uns von Haven entfernten, schien die Sonne heller und der Nebel lichtete sich.

»Na, ich weiß doch, wie ich mein Mädchen auf andere Gedanken bringen kann.« Verschmitzt grinste er mich an.

Gegen seinen Charme war ich machtlos. »Ach ja? Und wie?«

Er fuhr an den Straßenrand und lenkte seinen Wagen in den Schatten eines Pekannussbaums. Die Reifen ließen heruntergefallene Nüsse aufplatzen. Er wartete, bis der aufgewirbelte Staub sich gesetzt hatte, und klappte dann das Verdeck auf. »Wie schnell sollen wir fahren, Evie?«

Es gab nur wenig, was mich so berauschte, wie mit heruntergelassenem Verdeck über den Highway zu fliegen. Ungefähr eine Nanosekunde lang überlegte ich, wie ich meine ruinierte Frisur danach würde retten können – du flechtest dir einfach einen lockeren Fischgrätenzopf über die Schulter –, dann sagte ich: »Gib Gas!«

Er fuhr los, der Motor heulte kraftvoll auf. Mit nach oben gereckten Armen und zurückgeworfenem Kopf rief ich: »Schneller!«

Bevor er schaltete, fuhr er jeden Gang vollständig aus, so lange, bis es nicht mehr ging. Ich lachte übermütig, während die Häuser an uns vorbeischossen.

Im Vergleich dazu waren die vorangegangenen Monate nichts als eine verschwommene Erinnerung. Sonne, Wind und Brandon, der mir hin und wieder ein aufgeregtes Grinsen zuwarf … Er hatte recht. Das hier war genau das, was ich brauchte.

Überlasst es doch einfach meinem Teddybär von einem Footballspieler, mich wieder sorglos und gesund werden zu lassen.

Verdiente er dafür nicht einen Kuss?

Ich öffnete meinen Gurt, kletterte auf den Sitz und schob mein Kleid dabei ein paar Zentimeter nach oben, um mich auf Knien zu ihm hinüberlehnen zu können. Ich drückte meine Lippen auf die glatt rasierte Haut seiner Wange. »Genau, was der Doktor angeordnet hat, Brand.«

»Du sagst es!«

Während er das Tempo etwas drosselte, küsste ich seinen breiten Kiefer, strich sanft mit meinen Lippen über sein Ohr, genau wie es mir meine erfahrene Freundin Melissa beigebracht hatte, und ließ ihn meinen Atem spüren.

»Gott, Evie«, sagte er heiser. »Du machst mich verrückt, weißt du das?«

Ja, so langsam bekam ich eine Vorstellung davon. Ich wusste, dass ich mit dem Feuer spielte, wenn ich ihn so heiß machte. Er hatte mich bereits an das Verspechen erinnert, das ich ihm gegeben hatte, bevor ich zur Schule für höhere Töchter aufgebrochen war: Wenn wir an meinem sechzehnten Geburtstag immer noch miteinander gingen, würde ich mit ihm mein erstes Mal haben. Mein Geburtstag war nächsten Montag …

»Was zur Hölle will der Typ?«, rief Brandon plötzlich aus.

Ich wich zurück und sah, dass er an mir vorbeiblickte. Ich warf einen Blick über die Schulter und mein Magen zog sich zusammen.

Ein Typ auf einem Motorrad hatte direkt neben uns aufgeschlossen, hielt mit unserem Wagen Schritt und musterte mich von Kopf bis Fuß. Sein Helm hatte ein getöntes Visier, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte, doch ich wusste, er glotzte auf meinen Hintern.

Mein erster Impuls? Mein Hinterteil auf den Sitz fallen zu lassen und im Polster zu versinken. Der zweite? Genau dort zu bleiben, wo ich war, und den Perversling ebenfalls anzuglotzen. Das hier war mein Morgen, mein Lachen, meine Spritztour im luxuriösen Sportwagen meines Freundes.

Ich verdiente diesen Morgen, nachdem ich einen ganzen Sommer in einer Hölle aus Neonlicht verbracht hatte.

Als ich mich also noch einmal umwandte, um einen Blick nach hinten zu werfen, sah ich, dass das Visier des Typen etwas nach unten zeigte und sein Blick definitiv auf meinem Allerwertesten ruhte. Dann hob er langsam den Kopf, als wolle er jeden Zentimeter von mir abchecken. Gereizt strich ich mir das Haar aus dem Gesicht, und wir starrten einander so lange an, dass ich mich fragte, ob er von der Straße abkommen würde.

Schließlich nickte er mir kaum merklich zu und schoss an uns vorbei, wobei er gekonnt einem Schlagloch auswich. Zwei weitere Motorräder folgten ihm, beide trugen zwei Leute. Sie hupten und johlten, während Brandon so rot wurde wie sein Auto.

Ich tröstete mich mit der Gewissheit, dass ich die Typen aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder sehen würde.

2

Brand stellte seinen Wagen im hinteren freien Teil des Parkplatzes der Sterling High ab, um den Lack nicht zu beschädigen. Sogar zwischen den vielen Mercedes und BMWs erregte sein Auto noch Aufmerksamkeit.

Ich stieg aus, nahm meine Tasche und stöhnte unter der Last der Bücher, wobei ich hoffte, Brand würde den Wink verstehen. Tat er nicht. Also schleppte ich mein Zeug an einem ohnehin schon schwülen Morgen allein.

Ich fand es gut, dass er mir nicht mit den Büchern half, sagte ich mir. Brand war eben ein moderner Mann, der mich gleichberechtigt behandelte.

Nun ja, auch gut. Mein Skizzenbuch befand sich in meiner Tasche, und ich hatte auf die harte Tour gelernt, es nie aus der Hand zu geben.

Als wir am Schulhof anlangten, förderte irgendjemand einen Football zutage. Brand fixierte ihn wie ein Retriever, doch irgendwie gelang es ihm, seinen Expertenblick von dem Ball loszureißen und mich fragend anzusehen.

Ich seufzte und strich mir übers Haar, das ich mir rasch zu einem Zopf geflochten hatte, als wir die in Sterling vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeitsgrenze erreicht hatten. »Geh nur. Wir sehen uns dann drinnen.«

»Du bist die Beste, Evie.« Er grinste mich an. Seine Grübchen wurden sichtbar und seine haselnussbraunen Augen strahlten. »Ich schätze, von hier aus findest sogar du den Weg.«

Ich hatte in der Tat keinen besonders guten Orientierungssinn. Für jemanden, der so von Grund auf nett war wie Brad, ließ er ein paar ganz schön spitze Bemerkungen vom Stapel.

Ich ermahnte mich, dass Brandon ein gutes Herz hatte. Er wusste es eben einfach nicht besser. So langsam begriff ich, dass er zwar ein netter Junge war, aber noch kein richtig toller Typ.

Doch vielleicht würde ich ihn, was das betraf, noch über die Ziellinie schleifen können.

Er drückte mir einen süßen Kuss auf die Lippen und trabte von dannen, eine Hand nach dem Ball ausgestreckt.

Als ich zur Eingangstür ging, kam ich an einem Rosenbusch mit mohnroten Blüten vorbei – meine Lieblingsfarbe. Eine leichte Brise kam auf, und es sah fast aus, als würden die Blumen herumschwenken, um mich anzusehen.

Seit ich denken konnte, hatte ich alle Pflanzen geliebt. Fast schon zwanghaft malte ich Rosen, Eichen, Weinranken und Beerensträucher, fasziniert von ihren Formen, ihrer Blütenpracht, ihrer Wehrhaftigkeit.

Beim Geruch von frisch gemähtem Weideland gingen meine Lider auf Halbmast.

Und genau das war Teil des Problems. Es war nicht normal.

Mädchen im Teenageralter sollten von Kleidern und Jungs besessen sein, nicht vom Geruch nach Erde oder der verführerischen Tücke dorniger Rosen.

Komm, berühre mich … aber du wirst einen Preis dafür zahlen.

Ein metallicblauer BMW kam mit quietschenden Reifen in einer Parklücke ein paar Meter neben mir zum Stehen. Die Fahrerin drückte auf die Hupe.

Es war Melissa Warren, meine beste Freundin und so etwas wie eine Schwester für mich. Ein hyperaktiver Wildfang, dem Scham und Verlegenheit völlig fremd waren und der grundsätzlich alles überstürzte. Im Prinzip war ich überrascht, dass es ihr gelungen war, den Sommer ohne mich zu überstehen.

Seit zehn Jahren waren wir beste Freundinnen – aber ganz ohne Zweifel war ich die Vernünftige von uns beiden.

Ich hätte sie nicht mehr vermissen können.

In Anbetracht ihrer Größe von einem Meter achtzig sprang Mel erstaunlich behände aus dem Auto, streckte die Arme über den Kopf und schnippte mit den Fingern. »So parkt man ein, ihr Bitches.« Mel hatte seit Neuestem eine Phase, in der sie alles und jeden »Bitch« nannte.

Ihre Mutter war Vertrauenslehrerin an unserer Schule, weil Mels Vater die neue Bibliothek der Sterling High bezahlt hatte – und weil Mrs Warren ein Hobby brauchte. Wenn Melissa Warren das Ergebnis ihrer Erziehung war – so dachten die meisten Eltern –, sollten sie sich besser nicht allzu viele Hoffnungen in Bezug auf Mrs Warrens beraterische Fähigkeiten machen.

Heute trug Mel einen knallengen marineblauen Rock und ein rotes Babydoll-Shirt, das aller Wahrscheinlichkeit nach an die fünfhundert Dollar gekostet hatte und nie wieder getragen werden würde. Ihr dazu passender Lippenstift, üblicherweise von Dior, war von einem klassischen Rot. Das kastanienbraune Haar wurde von einer dunkelblauen Schleife zusammengehalten. Prepster-Chic.

Sie öffnete den Kofferraum, zerrte ihre Designertasche hervor und knallte ihn lautstark wieder zu.

Mit einem Achselzucken kam sie zu mir. »Hey, guck mir mal unauffällig über die Schulter. Ist das Spencer, da im Pausenhof mit Brand?« Spencer Stephens III war Brands bester Freund.

Als ich nickte, sagte sie: »Er schaut mich an, oder? So richtig schmachtend, oder?«

Er sah Mel nicht an.

»Dieses Jahr katapultiere ich unser Geflirte auf eine ganz neue Ebene«, informierte sie mich. »Er braucht einfach nur einen Stups in die richtige Richtung.«

Leider war Mel nicht besonders gut im Stupsen. Vielmehr boxte sie einen aus Spaß, und zwar richtig fest, kniff einem in die Nase und war sich hin und wieder nicht zu schade, ihr Gegenüber in den Schwitzkasten zu nehmen. Und das auch nur, wenn sie einen mochte.

»Vorausgesetzt dein Freund bringt uns endlich zusammen«, fügte sie schmollend hinzu.

Als ich ihn das letzte Mal gefragt hatte, hatte Brandon gelacht und gesagt: »Sobald du sie stubenrein bekommen hast.« Notiz an mich selbst: Heute einen neuen Antrag stellen.

In diesem Moment entdeckten uns zwei unserer anderen Freundinnen. Grace Ann hatte ein gelbes Satinkleid an, das ihre makellose Café-au-lait-Haut wundervoll zur Geltung brachte. Catherine Ashleys Schmuck sah man schon aus zwei Kilometer Entfernung funkeln. Wir vier waren die beliebten Cheerleader-It-Girls unserer Schule.

Die beiden lächelten und winkten aufgeregt, als hätten wir uns letzte Woche nicht jeden einzelnen Tag gesehen und uns bis ins kleinste Detail über unsere Ferien ausgetauscht. Mel hatte in Paris gemodelt, Grace war auf Hawaii gewesen und Catherine war durch Neuseeland getourt.

Nachdem ich wiederholt erklärt hatte, mein Sommer sei der langweiligste aller Zeiten gewesen, hatten sie endlich keine Fragen mehr gestellt. Ich hatte kein einziges Foto von den drei Monaten, nicht auf dem iPhone, nirgends.

Als hätte ich in der Zeit gar nicht existiert.

Doch ich machte pflichtschuldigst »aaah« und »oooh«, während ich mir die Bilder der anderen ansah, verschwommene, abgeschnittene Schnappschüsse von Eiffelturm & Co.

Brands Fotos – auf denen er lächelnd am Strand oder bei einer der schnieken Gesellschaften sitzt, die seine Eltern organisiert hatten, oder wo er auf einer Yacht die Küste am Golf von Mexiko entlangschippert –, all diese Fotos waren wie ein Messerstich ins Herz, denn ich hätte ebenfalls auf ihnen sein sollen.

Letzten Frühling war ich das. Auf seinem iPhone gab es einen ganzen Ordner, der vollgestopft war mit Bildern und Videos, auf denen wir gemeinsam abhingen.

»Tolles Kleid, Evie«, bemerkte Catherine Ashley.

Grace Annes analytischem Blick entging wieder mal nichts. »Tolles alles. Legerer Boho-Zopf, schlichtes Kleid und sehr neckische Absätze. Gut gemacht.«

»Wenn meine Freundinnen doch auch nur wüssten, wie man sich richtig anzieht«, zog ich sie auf und seufzte.

Während wir auf den Eingang zuschlenderten, blieben andere Schüler stehen und drehten sich nach uns um. Die Mädels musterten unser Outfit, die Jungs prüften, ob wir über den Sommer vielleicht ein paar Kurven mehr bekommen hatten.

Das Lustige an unserer Schule war, dass es keine richtigen Cliquen gab, wie man es im Fernsehen immer sah, sondern lediglich Abstufungen im Beliebtheitsgrad.

Wieder und wieder winkte ich den verschiedensten Leuten zu, sehr zur Belustigung meiner Begleiterinnen. Ich war so gut wie mit jedem befreundet.

Niemand saß allein herum, wenn ich Mittagspause hatte, und unter meiner Aufsicht ging kein Mädchen mit schlecht sitzender Kleidung den Gang entlang. Ich hatte sogar den Verkauf von Pässen für einen nichtexistenten Fahrstuhl in unserer einstöckigen Schule an ahnungslose Highschool-Anfänger unterbunden.

Als wir den Eingang des mit weißem Stuck verzierten Hauptgebäudes erreicht hatten, wurde mir klar, dass Schule genau das war, was ich brauchte: Routine, Freunde, Normalität. Hier konnte ich alles Verrückte und all die Albträume vergessen. Dies hier war meine Welt, mein Königinnenreich …

Das plötzliche Aufheulen von Motorrädern ließ mein Umfeld verstummen, wie eine Nadel, die über eine alte Schallplatte kratzt.

Auf keinen Fall konnten das die schrägen Typen von vorher sein. Die hatten zu alt ausgesehen, um noch in die Highschool zu gehen. Und wären wir sonst nicht an ihnen vorbeigekommen?

Andererseits gab es in der vornehmen Kleinstadt von Sterling nicht besonders viele Motorradfahrer. Ich warf einen Blick hinter mich und sah dieselben fünf Typen von vorhin.

Jetzt war ich definitiv bereit, im Polster eines Autositzes zu versinken.

Sie alle trugen dunkle Kleidung. Unter den allgegenwärtigen Kaki- und Pastelltönen der Schülerschaft stachen sie wie blaue Flecken heraus.

Der größte von ihnen – der, der mich so unverschämt abgecheckt hatte – bretterte über den Bordstein auf den Hof und hielt auf der Seite des Parks. Die anderen folgten. Ich bemerkte, dass ihre Motorräder aus lauter nicht zusammenpassenden Einzelteilen bestanden. Gestohlen wahrscheinlich.

»Wer sind denn die?«, fragte ich. »Wollen die irgendwelchen Ärger machen?«

Grace antwortete: »Hast du es nicht gehört? Das sind ein paar vorbestrafte Typen, die vorher auf der Basin High waren.«

Basin High? Die lag in einem ganz anderen Bezirk, auf der anderen Seite des Damms. Basin hieß bei uns so viel wie Cajun, und das war wiederum der Name für die Nachfahren der französischstämmigen Einwanderer hier im Süden. »Und weshalb sind sie jetzt hier?«

»Sie gehen ab sofort auf die Sterling!«, erwiderte Catherine. »Seit die neue Brücke über den Damm führt, ist unsere Schule für die Jugendlichen, die am Flussbecken wohnen, näher als ihre eigene.«

Vor dem Bau der Brücke hätten die Cajuns die ganze Strecke um den Sumpf herumfahren müssen, um hierherzukommen – achtzig Kilometer mindestens.

Bis vor etwa zehn Jahren waren die Leute, die in den sumpfigen Bayous lebten, völlig isoliert, sprachen lediglich Cajun-Französisch und aßen Froschschenkel.

Obwohl ich nie selbst in Basin Town gewesen war, stammten sämtliche Hilfsarbeiter der Haven-Plantage aus der Gegend um das Flussbecken dort, und meine verrückte alte Großmutter hatte nach wie vor Freunde in der Stadt. Ich wusste so einiges über die Gegend, ein Ort, von dem es hieß, dass dort viele heißblütige Frauen und toughe Männer lebten … und wo unglaubliche Armut herrschen sollte.

Mel sagte: »Meine Mom musste zu einer Krisenlehrerkonferenz, in der es darum ging, wie man die Typen bei der Eingewöhnung unterstützen kann oder irgend so was.«

Das Grüppchen tat mir fast leid. Aus ihrem Cajun-Bezirk – arm und gnadenlos katholisch – in unser reiches Städtchen zu kommen, das nur aus Louisiana-Protestanten bestand …?

Da prallten Welten aufeinander.

Und das hier passierte also wirklich. Nicht nur, dass ich den Kerl wiedersah, der mich so schamlos angegeifert hatte, nein, jetzt gingen wir auch noch auf dieselbe Schule.

Ich kniff die Augen zusammen und wartete voller Ungeduld, dass er endlich den Helm absetzte. Er war mir gegenüber im Vorteil und das gefiel mir nicht.

Er richtete sich auf. Er musste über einsachtzig groß sein, größer noch als Brand, trug abgewetzte Stiefel, verschlissene Jeans und ein schwarzes T-Shirt, das über der Brust spannte.

Neben ihm saß ein Pärchen auf einem Motorrad – ein Junge in Tarnhose und ein Mädchen in einem Kunstleder-Minirock. Der große Typ half ihr von der Maschine, hob sie mühelos hoch …

»Okaaay«, sagte Catherine. »Gut zu wissen, dass ihr Slip neonpink ist. Wenn ich’s mir recht überlege, wundert es mich, dass sie überhaupt einen anhat. Äußerst stilvoll, wirklich.«

Mel nickte nachdenklich. »Jetzt weiß ich endlich, wer sich diese selbstklebenden Glitzersteinchen für den Intimbereich kauft.«

Grace Anne, stolze Trägerin eines Keuschheitsrings, zog eine angewiderte Grimasse. »Mit einem so kurzen Rock wird sie doch sicher nach Hause geschickt!«

Ganz abgesehen von ihrem bauchfreien Shirt, auf dem der knallige Schriftzug Hot Bourbon Street Girl prangte.

Sie nahm ihren Helm ab und gab den Blick frei auf langes kastanienbraunes Haar und ein Gesicht, das sie viel zu prollig mit pinkfarbenem Lippenstift angemalt hatte.

Der dürre Junge, der sie gefahren hatte, nahm ebenfalls seinen Helm ab. Er hatte dunkelblondes Haar und ein längliches Gesicht, das nicht gerade unattraktiv war, mich aber dennoch unweigerlich an einen Fuchs denken ließ.

Er ließ sein Motorrad aufheulen und erschreckte zwei vorbeischlendernde Schüler. Seine Freunde lachten.

Vielleicht erinnerte er mich doch eher an ein schmieriges Wiesel. Vergiss das mit dem Leidtun.

Endlich griff der Große nach seinem Helm. Ich wartete. Er zog ihn sich vom Kopf, schüttelte sein Haar und blickte auf. Meine Lippen öffneten sich.

Mel sprach aus, was ich dachte: »Das hätte ich jetzt irgendwie nicht erwartet.«

Widerspenstiges pechschwarzes Haar fiel ihm wild in die Stirn. Tiefbrauner Teint, schmales Gesicht und ein markantes Kinn.

Er sah älter aus als achtzehn. Alles in allem hatte er ansprechende, ja sogar richtig attraktive Züge. Obwohl er Brandon und dessen Abercrombie-&-Fitch-Outfit nicht das Wasser reichen konnte, war er auf seine eigene ungeschliffene Weise gut aussehend.

»Er ist umwerfend«, stellte Catherine fest. Interesse leuchtete in ihren Augen auf. Wir nannten sie Cat-o-gramm, weil sie ihre Reaktion nie verbergen konnte, sondern sie stattdessen für alle sichtbar zur Schau stellte.

Schüler strömten durch den Eingang an uns vorbei und stellten Vermutungen über die Neuankömmlinge an:

»Unser Dienstmädchen stammt aus Basin. Sie sagt, alle fünf hätten im Jugendgefängnis eingesessen und seien vorbestraft.«

»Ich habe gehört, der große Typ soll zwei Jungs im French Quarter erstochen haben.Jetzt,nach einem Jahr, ist er gerade erst aus einer Anstalt für Aggressionsbewältigung entlassen worden.«

»Der Blonde macht die Zehnte jetzt schon zum dritten Mal …«

Das Wiesel und der Große wandten sich Richtung Eingang und ließen das Mädchen und die beiden anderen ganz alleine auf feindlichem Gebiet zurück.

Der Große zog einen Flachmann aus seiner Jeanstasche. Auf dem Schulgelände? Mir fiel auf, dass seine Finger aus irgendeinem Grund mit medizinischem Klebeband bandagiert waren.

Während das Wiesel alle, an denen er vorbeikam, spöttisch angrinste, verengten sich die Augen seines Freundes zu Schlitzen, und er schien den anderen nichts als Ablehnung entgegenzubringen, als würden ihn die Leute dieser Schule durch und durch anwidern.

Als die Jungs näher kamen, fing ich ein paar Brocken ihrer Unterhaltung auf. Sie sprachen Cajun-Französisch.

Meine Großmutter hatte es mir beigebracht, bevor man sie weggeschickt hatte, und ich hatte den Hilfsarbeitern auf der Farm Jahr für Jahr zugehört. Wenn sie mit ihren Arbeitsstiefeln durch Havens Felder gestapft waren, war ich ihnen in meinen Kinderstiefeln gefolgt und hatte begierig ihren wilden Geschichten über das Leben in den Bayous, den abgelegenen Sumpfgebieten, gelauscht.

Ich verstand den Dialekt recht gut. Nicht, dass es mir was gebracht hätte, normales Französisch beherrschte ich kaum.

Ich sah, wie das Wiesel ein Grüppchen Amateur-Cheerleader, das sich in der Nähe aufhielt, finster musterte. Als er sich ihnen mit steifen Schritten näherte, wurden die Mädchen sichtlich nervös. Plötzlich brüllte er »Buu!« und sie kreischten erschrocken auf.

Das Wiesel kicherte angesichts der Reaktion der Mädchen, doch der andere Typ blickte nur abfällig in ihre Richtung und murmelte: »Couillonnes.« Er sprach es coo-yôns aus. Idiotinnen.

Jeder noch so kleine Impuls, freundlich zu den Neuankömmlingen zu sein, wie es sonst meine Art war, wurde im Keim erstickt. Sie wollten meinen Mädels blöd kommen?

Mit dreckigem Grinsen nahm mich das Wiesel ins Visier. »Hey, du bist doch die süße Schnecke aus dem Porsche?« Sein Cajun-Akzent war stärker, als ich es je bei jemandem gehört hatte. »Dreh dich um und zieh das Kleid ein bisschen hoch, damit ich ganz sicher sein kann.«

Die schockierten Gesichter meiner Freundinnen brachten mich dazu, die Schultern zu straffen. Ich weigerte mich, mich von einem dieser Kerle einschüchtern zu lassen. Sie drangen einfach so in unser Hoheitsgebiet ein und taten so, als würde alles hier ihnen gehören.

Mit einem sonnigen Lächeln erwiderte ich: »Willkommen in unserer Schule.« Mein Ton war gleichzeitig quirlig und schneidend – eine Mischung aus zuckersüßer Freundlichkeit und Hohn, so perfekt, dass ich sie mir eigentlich patentieren lassen sollte. »Ich bin Evie. Wenn ihr Hilfe bei der Orientierung auf unserem Campus braucht, dann sagt doch einfach … jemand anderem Bescheid.«

Das anzügliche Grinsen des Wiesels wurde noch breiter, sofern das überhaupt möglich war. »Scheiße, bist du süß, Evie. Ich bin Lionel.« Er sprach es Lay-nell aus. »Und das hier ist mein podna Jackson Deveaux, auch Jack Daniels genannt.«

Wegen des Flachmanns? Entzückend.

Jacksons Augen waren von einem klaren Grau und hoben sich gegen seine gebräunte Haut ab. Sie wanderten über mein Gesicht und meinen Körper, als hätte er seit Jahren keine Frau mehr zu Gesicht bekommen – als hätte er mich nicht vorhin schon ausgiebig angeglotzt.

Lionel fuhr fort: »Wir brauchen keinen Hintern, pardon, keine Hilfe, um uns zu orientieren, aber du könntest uns bei ein paar anderen Dingen behilflich sein …«

Jackson stieß Lionel mit der Schulter an und zwang ihn weiterzugehen. Als sie über den Korridor schlurften, zischte der groß gewachsene Cajun: »Coo-yôn, tu vas pas draguer les putes inutiles?«

Meine Augen weiteten sich, als ich die Bedeutung seiner Worte begriff.

Catherine sagte: »Habt ihr gesehen, wie der Typ Evie angeschaut hat?«

»Ich hab kein Wort von dem Geschwafel verstanden, das die da geredet haben«, meinte Mel. »Dabei bin ich gerade erst aus Paris zurückgekommen.« Sie wandte sich an mich: »Also, was hat der Große gesagt?«

»Du sprichst Cajun?«, fragte Grace entgeistert.

»Ein bisschen.« Ziemlich gut. Obwohl ich nicht unbedingt wild darauf war, alle in Sterling wissen zu lassen, dass ich »die Sprache des Flusses« beherrschte, übersetzte ich: »Idiot, du willst doch nicht etwa diese nichtsnutzigen Schlampen anmachen?«

Catherine schnappte nach Luft: »Das hat er nicht gesagt!«

Während ich Jackson beobachtete, wie er mit großen Schritten über den Korridor lief, bemerkte ich zu meiner Verwunderung, dass der Flachmann nicht das einzige war, was er in seiner Jeanstasche stecken hatte.

Deutlich konnte ich ein Messer erkennen, die Umrisse einer eingeklappten Klinge unter dem ausgewaschenen Jeansstoff.

Plötzlich runzelte ich die Stirn: Ging er da etwa zu meinem Unterrichtsraum?

»Warte mal«, sagte Grace plötzlich. »Was hat der Kerl damit gemeint, als er sagte, du hättest dein Kleid in einem Porsche hochgezogen?«

3

TAG 5 V.D. BLITZ

Während der Mittagspause lagen Mel und ich mit aufgekrempelten Ärmeln und hochgeschobenen Röcken auf einer Decke an einem sonnigen Fleckchen im Eden Courtyard.

Überall um uns herum standen die Rosen und Gardenien des Parks in voller Blüte. Der marmorne Springbrunnen plätscherte. Brand und Spencer spielten auf dem angrenzenden Schulhof mit ein paar anderen Jungs spontan eine Runde Football und lachten.

Und Jackson Deveaux?

Der lungerte mit den anderen Cajuns direkt vor dem Hof herum und nippte an seinem Flachmann, während der Rest rauchte. Und starrte mich an.

Ignorier ihn einfach. Ich war fest entschlossen, den Rest der Mittagspause mit meiner besten Freundin zu genießen und auszuspannen. Nie wieder würde ich diese kostbare Freiheit für selbstverständlich halten.

Ich seufzte. Okay, vielleicht spannte ich nicht so richtig aus. Seit ich heute Morgen aus einem weiteren Albtraum von der roten Hexe erwacht war, war ich fertig mit den Nerven.

In jedem meiner Träume schien ich genau wie sie unmittelbar dabei zu sein und das Geschehen aus nächster Nähe zu verfolgen, gezwungen, ihre bösen Taten mit anzusehen. Letzte Nacht hatte sie in einem wunderschönen goldenen Feld gestanden, umgeben von einer Gruppe in Mäntel gehüllter Gestalten, die auf der Erde knieten. Sie war groß und ragte hoch über ihren gesenkten Köpfen auf.

Lachend verstreute sie blutiges Korn vor den Leuten und befahl ihnen, es aufzulecken. Andernfalls würde sie ihr Fleisch in Fetzen schneiden und sie mit Ranken erdrosseln.

Als sie ihre Klauen entblößte – lilafarben und tückisch wie Rosendornen –, winselten ihre Opfer um Gnade. Doch die hatte sie ihnen nicht gewährt.

Am Ende hatte ihre geschundene Haut tatsächlich nur noch in Fetzen an ihnen gehangen.

In der Hoffnung auf Ablenkung wandte ich mich zu Mel um, doch sie hatte Stöpsel in den Ohren und sang abwesend einen wütenden Girlie-Rocksong mit. Sie liebte es zu singen. Ihre Stimme klang wie zwei läufige Katzen, die sich in einem Verkehrshütchen zankten.

Mit dem entsprechenden Make-up und der richtigen Beleuchtung sah ihr Gesicht umwerfend elegant aus. Hohe Wangenknochen und makellose Haut … Im Moment hingegen wirkte sie eher niedlich, mit diesem Mund, der eine Spur zu groß war, den weit geöffneten Augen und dem eher lustigen als verführerischen Gesichtsausdruck.

Wir waren beste Freundinnen seit dem Kindergarten, als mir so ein kleiner Satansbraten gegen das Schienbein getreten hatte. Mel war mir sofort zu Hilfe geeilt. Durch ihre nicht vorhandenen Schneidezähne lispelnd, hatte sie gefragt: »Hat er dich sehr geärgert?«

Nickend hatte ich zu ihr aufgeblickt und eine mitfühlende Umarmung gewittert. Doch stattdessen war sie von dannen stolziert, um den Jungen so richtig plattzumachen.

Jetzt stützte sie sich auf ihren Ellbogen und zog sich stirnrunzelnd die Stöpsel aus den Ohren. »Okay, mir hat noch niemand vorgeworfen, besonders feinfühlig zu sein, aber sogar ich spüre, dass dieser Cajun-Typ dich anstarrt.«

Das tat er nun schon seit anderthalb Tagen. »Stell dir vor, du hättest auch noch drei Fächer mit ihm.« Englisch, Geschichte und Geografie. Ganz zu schweigen davon, dass sich unsere Spinds quasi direkt nebeneinander befanden.

»Und die tägliche Orientierungsstunde.« Mel war immer noch sauer, dass wir in keinem Fach zusammen waren und man mich von all meinen Freunden getrennt hatte.

Aber hey, mit Jackson und Clotile Declouet, dem Cajun-Mädchen, hatte ich einen Volltreffer gelandet.

Ich setzte mich auf, zwirbelte mein Haar zu einem Dutt und riskierte einen Seitenblick. Und schon wieder fand ich mich in seinem Blickfeld wieder. Er saß auf einem Metalltisch, seine Freunde um sich geschart, die Füße ruhten in abgewetzten Biker-Stiefeln auf einer anmontierten Bank.

Jackson hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und fixierte mich, während er sich laut auf Französisch mit den anderen unterhielt. Hin und wieder beugte sich Clotile zu ihm hinüber, um ihm etwas zuzuflüstern.

»Meinst du, das ist seine Freundin?«, fragte ich und bereute es sogleich, denn Mel hielt sich die Hand über die Augen, um die beiden unverhohlen anzustarren.

»Normalerweise würde ich sagen, die beiden sind wie füreinander geschaffen.«

Ja, Stilbewusstsein trifft auf gute Manieren.

»Aber wenn sie zusammen sind, warum starrt er dich dann die ganze Zeit an? Hat er nicht schon genug Bilder von dir als mentale Wichsvorlage abgespeichert?«

»Jetzt fühl ich mich doch gleich viel besser, Mel.«

»Worüber reden sie?« Sie war völlig aus dem Häuschen gewesen, als ich alle möglichen schmutzigen Details über unsere liebreizenden Neuankömmlinge aufgedeckt hatte.

Obwohl ich mich selbst nie für eine große Lauscherin gehalten hatte, konnte ich das Französisch, das die Cajuns in meinem Beisein völlig unbedacht sprachen, nicht ausblenden. »Sie diskutieren darüber, ob sie ihre Schul-Laptops verpfänden sollen.«

Mel schnaubte und wurde dann ernst. »Was meinst du, wie viel wollen sie dafür …?«

Gestern in der Orientierungsstunde, als der Hilfslehrer die Computer ausgeteilt hatte, hatten Clotile und Jack sie voller Staunen angestarrt. Dann war Clotile mit den Fingern über ihren Laptop gefahren und hatte sehnsüchtig gemurmelt: »Quel une chose jolie« – was für ein hübsches Ding. Ganz so, als sei es das Kostbarste, was sie je besessen hatte.

Es versetzte mir unwillkürlich einen Stich, als mir klar wurde, dass es das vermutlich auch war. Ihr Dorf bestand aus einem großen Sumpfgebiet und Bretterbuden mit schlecht isolierten Dächern, viele davon ohne Strom. So unglaublich es mir auch vorkommen mochte – diese Leute hatten keine Computer und schon gar keine eigenen. Als ich begriff, wie schwer es für sie sein musste, sich in der neuen Schule zurechtzufinden, fing ich ihren Blick auf. Meine Lippen formten ein lautloses Hi und ich lächelte.

ENDE DER LESEPROBE