Endlose Nacht - Kresley Cole - E-Book

Endlose Nacht E-Book

Kresley Cole

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Beschreibung

Josephine war schon immer eine Außenseiterin, doch sie hat geschworen, ihren kleinen Bruder mit dem Leben zu beschützen. Als dieser entführt wird, zerbricht etwas in Jo: Ihre Wut verwandelt sich in etwas Dunkleres, in etwas Abgründiges. Als der Assassine Rune ihren Weg kreuzt, ist sie von dem charismatischen Bogenschützen fast um den Verstand gebracht. Aber sie ist ein Hindernis, um seinen Auftrag - die Eliminierung der ältesten Walküre - erfolgreich ausführen zu können. Schnell geraten beide in einen Kampf zwischen ultimativer Treue und ungezähmter Lust ...

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Seitenzahl: 667

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howard

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Prickelnde Lektüre. Einfach Klasse. Ich liebe diese Buchreihe von Kresley Cole.
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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungAuszug aus dem LebendigenBuch des Mythos12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758596061626364656667686970717273EpilogDie AutorinDie Romane von Kresley Cole bei LYXImpressum

KRESLEY COLE

Endlose Nacht

Roman

Ins Deutsche übertragen von Bettina Oder

Zu diesem Buch

Ohne Gedächtnis und nur mit ihrem kleinen Bruder Thaddie im Schlepptau, so hat man Josephine vor vielen Jahren von der Straße aufgelesen. Auch wenn Jos rebellische Art und ihre sauertöpfische Miene viele Menschen verprellt, floss ihr Herz stets über vor Liebe zu Thaddie. Doch nach einem lebensbedrohlichen Angriff gehen in Jo gravierende Veränderungen vor. Sie erlangt Unsterblichkeit und … Superkräfte (inklusive Unsichtbarkeit, Blutdurst und Klauen und Fänge). Zugleich wird Jo das genommen, was ihr stets am wichtigsten war: ihr kleiner Bruder. Seither fristet sie ein ziemlich einsames Dasein und verbringt ihre Zeit damit, den bösen Buben von New Orleans das Leben ordentlich schwer zu machen. Eines Tages kreuzt sich ihr Weg mit dem Dunkelfeyden Rune. Jo ist völlig hingerissen von dem attraktiven Mann mit der rätselhaften Aura. Aber schon bald wird klar, dass Rune einen Auftrag hat – und Jo scheint das Zünglein an der Waage, das über Gedeih und Verderb entscheiden wird. Es dauert nicht lang, und beide geraten in einen Kampf zwischen absoluter Treue und ungezähmter Lust …

Für Nancy Tonik, in tiefer Dankbarkeit. Du bist ein Genie, und auf dich ist stets Verlass, meine Bücher noch zu verbessern.

Auszug aus dem LebendigenBuch des Mythos

Der Mythos

»… und jene empfindsamen Geschöpfe, die nicht der menschlichen Rasse angehören, sollen in einer Sphäre vereinigt sein, die neben der der Menschen besteht, ihnen jedoch verborgen bleibt.«

Die meisten Geschöpfe sind unsterblich und können sich nach Verletzungen regenerieren. Sie können nur durch mystisches Feuer oder Köpfen getötet werden.

Primordial

»Die Mächtigsten von allen – erfüllt von Macht, Magie und Würde.«

Dies sind die Erstgeborenen einer Spezies, die älteste Generation.

Die Møriør

»In der Sprache der Anderreiche kann Møriør sowohl ›das Dutzend‹ als auch ›Untergang der Seele‹ bedeuten.«

Dies ist eine Allianz übernatürlicher Wesen, die von Orion dem Zerstörer angeführt werden.In den meisten Existenzebenen haben sie die Macht an sich gerissen.

Die edlen Feyden des Grimm-Dominions

»Eine Schicht adliger Krieger, die über alle unfreien Dämonen ihres Reiches herrschten.«

Ursprünglich wurden sie Féodale genannt, ein altertümlicher Ausdruck für feudale Lehnsherren, aus dem mit der Zeit die Bezeichnung Feyden entstand.Ihre Ursprungsdimension ist Draiksulia, ihr Reich das Grimm-Dominion.

Die Dunkelfeyden

»Sprösslinge von Licht und Dunkelheit. Sie verfluchten die Feyden.«

Halblinge, die zur einen Hälfte von Feyden und zur anderen Hälfte von Dämonen abstammen.Ihr schwarzes Blut ist giftig und wird Bannblut genannt.

Die Dämonarchien

»Die Dämonen sind so mannigfaltig wie die Stämme der Menschen …«

Sie sind eine Ansammlung dämonischer Dynastien.Die meisten Dämonenrassen sind in der Lage, sich an Orte, an denen sie sich früher schon einmal aufgehalten haben, zu teleportieren bzw. translozieren.Ein Dämon muss mit einer potenziellen Gefährtin schlafen, um sich zu vergewissern, dass sie wahrhaftig die Seine ist – ein Prozess, der als Erprobung bezeichnet wird.

Die Akzession

»Und es wird eine Zeit kommen, da alle unsterblichen Kreaturen des Mythos – von den Walküren, Vampiren, Lykaen und Dämonengruppen bis hin zu den Hexen, Gestaltwandlern, Feyden und Sirenen – kämpfen und einander vernichten werden.«

Eine Art mystisches System zur gegenseitigen Kontrolle innerhalb einer beständig wachsenden unsterblichen Bevölkerung.Vollzieht sich alle fünfhundert Jahre – oder genau in diesem Augenblick …

Wer sich uns widersetzt, ist dem Untergang geweiht.

Rune Dunkellicht (alias Rune das Bannblut und Rune der Unersättliche), Assassine und Meister der Geheimnisse der Møriør

Plagen dich Zweifel, drück zu, bis etwas zerbricht.

Josephine Doe (alias Lady Shady)

1

Houston County, Texas

Vor vierzehn Jahren

Als Jo erwachte, hatte sie einen metallischen Geschmack im Mund.

Vorsichtig bewegte sie Lippen und Zunge. Was ist da in meinem Mund?

Blitzartig riss sie die Augen auf. Im nächsten Moment setzte sie sich kerzengerade hin und spuckte zwei Stücke zerdrücktes Metall aus. Was zum Teufel ist das denn?

Sie hielt sich den schmerzenden Kopf und blickte sich um, rümpfte die Nase, als sie den antiseptischen Geruch wahrnahm. Wo bin ich? Im sie umgebenden Dämmerlicht konnte sie alles nur verschwommen wahrnehmen, glaubte aber zu erkennen, dass der Raum gefliest war.

Mist, war sie in einem Krankenhaus? Gar nicht gut, das würde bedeuten, dass Thaddie und sie wieder in einer Pflegeunterbringung und von der Straße runter waren. Was wiederum bedeutete, dass sie ihn noch einmal da rausholen musste.

Wo befand er sich aber genau? Warum konnte sie sich nicht mehr erinnern, was passiert war?

Denk nach, Jo. DENK NACH! Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?

Langsam begannen die Bilder dieses Tages an die Oberfläche zu steigen …

Langsam wird es echt zu riskant, hierzubleiben.

Jo, die sich immer weiter der Bibliothek näherte, suchte die Straßen nach dem Chevrolet Monte Carlo des Bandenoberhauptes ab. Sie glaubte, den eben erst eingebauten Motor des Wagens ein paar Blocks weit entfernt röhren zu hören.

Die Straßen dieses Viertels waren ein Labyrinth, der Monte Carlo ein Drache. Sie war eine mutige Heldin, die ihren zuverlässigen Kumpan und Helfer auf dem Rücken trug.

Aber die letzte Nacht war kein Spiel gewesen.

Sie wandte den Kopf, um Thaddie zu fragen: »Was denkst du?« Sein kleiner Körper saß sicher in dem geklauten Rucksack, den sie für ihn umgerüstet hatte, indem sie Löcher für seine Beine hineingeschnitten hatte. »Wir haben sie abgehängt, oder?«

»Appehängt!« Zur Feier ihres Sieges schwenkte er sein einziges Spielzeug, eine Spiderman-Puppe.

Thaddie und sie sollten sich lieber schleunigst aus dem Staub machen. Vielleicht sollten sie sich auf den Weg nach Florida machen, in Key West noch mal von vorne anfangen.

Ein letztes Mal musterte sie ihre Umgebung, ehe sie durch die Hintertür der Bibliothek schlüpfte, die Mrs Brayden – Teilzeitbibliothekarin und Ganztagswichtigtuerin, alias MizB – für sie offen gelassen hatte.

Die Frau befand sich im Aufenthaltsraum, wo sie bereits den Kinderhochstuhl aufbaute. Ihr Picknickkorb war voll bis obenhin.

Rieche ich da etwa Brathuhn?

»Ich hoffe, ihr beide habt tüchtigen Hunger.« Mrs Braydens dunkelbraunes, schulterlanges Haar war von grauen Strähnen durchsetzt. Die Augen hinter den eckigen Brillengläsern waren hellbraun. Wie gewöhnlich trug sie einen unansehnlichen Hosenanzug.

Zeig bloß nicht, wie sehr du dich über Hühnchen freuen würdest. »Geht so.« Jo holte Thaddie aus dem Rucksack, setzte sich und rückte ihn auf ihrem Schoß zurecht. »Ich schätze, wir könnten schon was zu essen vertragen.« Sie schwang die Füße samt Kampfstiefeln auf den Tisch.

MizB stieß beim Anblick von Jos Outfit einen Seufzer aus: schäbige Jeans, fleckiges T-Shirt und ein schwarzes Hoodie. Die Frau hatte ihnen angeboten, ihre Kleidung zu waschen. Als ob Jo und Thaddie über eine Auswahl anderer Klamotten verfügten, die sie anziehen konnten, während sie warteten.

»Wir müssen reden, Jo.« Sie setzte sich, packte aber den Korb nicht aus.

»Oh, oh, Thaddie. Sieht so aus, als ob wir gleich eine Standpauke zu hören kriegen.« Jo zwinkerte ihm zu. »Was sagen wir zu MizB, wenn sie uns mit ihren Vorträgen nervt?«

Er grinste die Frau an, sodass sich Grübchen in seinem niedlichen Gesicht bildeten. Dann schrie er: »Leckmiss, leckmiss, leckmiss!«

Jo lachte, aber MizB fand das gar nicht komisch. »Ausgezeichnet, Josephine. Jetzt hat er sich also von dir das schmutzige Mundwerk abgeguckt.«

»Sein volles Potenzial an Schmutz hat er noch längst nicht erreicht. Aber das wird er noch. Denn mein kleiner Bruder ist brillant!« Er war zweieinhalb Jahre alt und ein kleines Genie.

Zumindest glaubte Jo, dass er so alt war. Vor dreißig Monaten hatte man sie am Stadtrand von Houston gefunden. Sie war in schwarze Gewänder gekleidet gewesen und hatte unverständliches Zeug vor sich hin gebrabbelt. Sie hatte Thaddie in den Armen gehalten und jeden angefaucht, der versuchte, ihn ihr abzunehmen. Sie hatte keinerlei Erinnerung an das, was vor diesem Tag geschehen war.

Die Ärzte hatten ihn als Neugeborenes und sie als acht Jahre alt eingeschätzt. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass ein Schädeltrauma ihren Gedächtnisverlust verursacht hatte.

Niemand hatte sich gemeldet, um sie abzuholen, keine Eltern, die an ihnen interessiert waren. Idioten.

Als Thaddie ihren Stimmungsumschwung spürte, ließ er seine Spidey-Puppe Jo einen Kuss auf die Wange geben. »Bussi!« Er lächelte wieder. Der Kleine zeigte zu gerne seine neuen Zähnchen.

Während Jo der Welt meistens eine grimmige Miene darbot, plapperte er unaufhörlich, grüßte jeden und erlaubte allen, mit seinem Spielzeug zu spielen. Wenn sie jemals ein eigenes Spielzeug besessen hätte, hätte sie es allein mit Thaddie geteilt.

»Bissu mein Feund?«, fragte er jeden. Und sobald er sie mit seinen großen, haselnussbraunen Augen anblinzelte, folgten begeisterte Ahs und Ohs.

Die Leute verliebten sich genauso schnell in ihn, wie sie Jo und ihr »mürrisches Verhalten«, ihr »kränkliches Aussehen« und ihre »verkniffene Miene« ablehnten.

»Er muss für die Vorsorgeuntersuchung zum Arzt«, sagte MizB. »Und er muss geimpft werden. Du übrigens auch.«

»Wenn Thaddie Sie nicht so gut leiden könnte, hätt’ ich Ihnen längst eine reingehauen. Das ist Ihnen schon klar, oder?« Sie wischte sich mit dem Ärmel über die laufende Nase. »Ihm geht’s gut. Uns geht’s geht.« Jo hatte nie vorgehabt, sich dermaßen von dieser Frau abhängig zu machen.

Vor einem Jahr war ihr die winzige Bibliothek wie ein gutes Versteck für einen Tag vorgekommen. Sie hatte vorgehabt, ein paar Comics zu klauen und Thaddie und sich auf der Toilette zu waschen, wie es auch die anderen Obdachlosen machten.

MizB hatte Jo und Thaddie Essen hingestellt und sich dann zurückgezogen, als ob sie Wildkatzen anlocken wollte.

Und das hatte auch funktioniert. Die Frau machte echt wahnsinnig gute Thunfischsandwiches.

Am nächsten Tag waren sie wiedergekommen. Und am nächsten, bis Jo MizB tatsächlich genug vertraut hatte, um Thaddie ab und zu für ein paar Stunden dort zu lassen.

Wann immer Jo gegen Bösewichte kämpfen musste.

Manchmal wurden die Kämpfe gefährlich. Sie blickte zum Fenster hinaus. Es ist viel zu riskant, hierzubleiben. Sie würde Geld für den Bus brauchen. MizB würde auf Thaddie aufpassen, und Jo würde ein paar Touristen um ihre Kröten erleichtern. Ihr Bestes tun, um deren Urlaub ein bisschen aufregender zu gestalten.

»Kriegen wir jetzt was zu essen, oder wie?« Eine komplette Mahlzeit für den bevorstehenden Trip wäre nicht schlecht.

»Nur Geduld.« MizB würde nicht eher ruhen, bis sie gesagt hatte, was ihr wichtig war.

Das Hühnchen roch wie frittiertes Crack. MizB war eine Zauberin! Aber eine, der die Heldin und ihr tapferer Helfer besser widerstehen sollten.

Sosehr Jo das Essen auch mochte, hasste sie es, wie Thaddie es herunterschlang. So, als ob er wüsste, dass er bei der nächsten Gelegenheit nur Tankstellenessen kriegen würde. Dadurch fühlte sie sich richtig mies.

Was würde Jo tun, wenn sie diese Stadt verließen? Wer würde dann für Jo auf Thaddie aufpassen? Wer würde ihnen jeden Tag etwas zu essen geben?

»Schon möglich, dass es euch einigermaßen gut geht«, sagte MizB. »Aber noch besser ginge es euch bei mir und Mr B.« Ihr Mann war ein rotgesichtiger Kerl, dessen Lachen klang, als ob es aus einem Fass käme. Er holte seine Frau jeden Tag von der Bibliothek ab und brachte sie auch morgens zur Arbeit. Er begleitete sie bis zur Tür, als ob sie irgendwie kostbar wäre. Offensichtlich gefiel es ihm gar nicht, dass sie in einer der schlimmsten Gegenden von Texas arbeitete.

Wenn die beiden glaubten, dass niemand sie sah, hakten sie ihre kleinen Finger ineinander. Weil sie total dämlich waren. MizB roch nach Zimt und Sonne. Mr B. nach Motoröl und Sonne.

Jo verspürte jedoch nicht den Drang, die beiden zu verprügeln, und das stellte bei ihr das Höchstmaß an Akzeptanz dar.

»Aber wir können euch beide nicht adoptieren, wenn ihr nicht wieder ins System zurückkehrt«, fuhr MizB fort.

Da es nicht den geringsten Hinweis darauf gab, dass ihre Eltern noch lebten, könnten Jo und Thaddie adoptiert werden. Die Braydens erfüllten alle Voraussetzungen dafür.

Doch Jo traute dem System nicht. »Und was passiert, wenn Sie und Mr B. uns nicht bekommen? Habe ich Ihnen schon mal von meinem ersten ›Pflegevater‹ erzählt? Am ersten Abend hat dieser Widerling seine Hand in meine Hose geschoben – noch ehe die verdammtenSpätnachrichten angefangen hatten.«

»Sseißkerl«, bestätigte Thad.

MizB schürzte die Lippen. »Dieser Mann ist die Ausnahme der Regel. Und du hättest ihn melden müssen. Sonst schickt man am Ende noch andere Kinder zu ihm.«

»Nee. Das wird nicht passieren.« Jo hatte das Haus des Scheißkerls angezündet, und das mit dem silbernen Zippo, das sie ihm bereits geklaut hatte – noch ehe der verdammte Spätfilm angefangen hatten.

Wie der geguckt hatte, als er sein Haus niederbrennen sah. Bei dem Gedanken daran musste sie immer noch lachen. Thaddie hatte in ihrem Versteck hinter den Büschen mit seinen Patschehändchen geklatscht. Feuer war eine kostenlose Unterhaltung. Fragt nur mal diesen Bandenchef …

»Will ich wissen, was passiert ist?«, fragte MizB.

»Nee.« Für sie würde es kein System geben. Sollte es den Braydens nicht gelingen, die Geschwister Doe zu adoptieren, würden Jo und Thaddie getrennt werden.

Die Ärzte hatten bei ihr so ziemlich alle gruselig klingenden Störungen und Beeinträchtigungen diagnostiziert. Thaddie hingegen war zu neunundneunzig Prozent perfekt.

Jos Augen und ihre Haut waren gelblich verfärbt. Thaddie hatte rosafarbene Wangen und strahlende Augen. Jedes Mal, wenn sie ihr Hoodie über den Kopf zog, fielen ihr mehr Haare aus. Seine ringelten sich zu Locken.

Innen wie außen war sie so schlecht und fehlerhaft, wie Thad gut und perfekt war. Das Einzige, was die Geschwister gemeinsam hatten, war die Farbe ihrer Augen: haselnussbraune Iris mit blauen Sprenkeln.

»Wenn ihr zu uns nach Hause kämt, wäre es für immer.« MizB sah leidenschaftlicher aus, als Jo sie je gesehen hatte. »Wir würden niemals zulassen, dass uns jemand euch wegnimmt. Wir wären eine Familie.«

Jos Meinung von der Frau stieg ein wenig. Dennoch sagte sie: »Sind wir jetzt fertig? Verdammte Scheiße, gib uns endlich was zu essen.«

MizB warf ihr einen strengen Blick zu, aber sie packte den Korb aus. »Du musst in die Schule gehen.«

»Das hat nicht funktioniert.« Jo konnte nicht lesen. Was die anderen Kinder schnell mitbekommen hatten. Ihre unbeholfenen Versuche, Freundschaften zu schließen, hatten nur zu Raufereien geführt. Ein Zeitvertreib, dem sie lieber außerhalb einer strukturierten Umgebung nachging.

Doch Jo hatte immerhin Thaddie. Das war das Einzige, was zählte.

MizB mischte auf einem Kinderteller Fleischstücke und Kartoffelbrei. Thaddie wurde ganz still. Seine Augen waren auf das Essen fixiert. Sein Magen knurrte – Jo schob das Kinn vor. Nicht vergessen: zwischen den Körben mit Essensrationen mehr Tankstellenfraß klauen.

Moment mal … Wenn sie in Richtung der Keys aufbrachen, würde es keine Essenskörbe mehr geben.

Thaddie versuchte schon, den Hochstuhl zu erklimmen, ehe die Frau die Maisbrotstückchen auf den Kartoffel-Fleisch-Brei gestreut hatte. Sie gab ihm das Essen nicht eher, bis er den Kinderlöffel von ihr angenommen hatte.

»So, wie wir es dir gezeigt haben, Thaddeus.«

»Wir?« Jo schnaubte. »Zwei Hände, zehn Finger. Wofür braucht er da ’n Löffel?«

Sobald Thaddie angefangen hatte, sich das Essen in seine Futterluke zu schieben, fing MizB wieder an. »Mr B. und ich, wir liegen jede Nacht wach, weil wir uns Sorgen um euch beide machen.« Sie lebte mit ihrem Alten in der Vorstadt. Mit ’nem riesigen Garten. Die Frau hatte Jo den Ort auf einer Karte gezeigt und ihr dann das Barbecue so lange vorenthalten, bis Jo die Adresse auswendig aufsagen konnte.

Wenn MizB nur einen Bruchteil von dem wüsste, was auf den Straßen hier vor sich ging …

Aber Jo sah alles.

Der hiesige Bandenchef war der Schlimmste. Die Leute von der Straße nannten ihn »Wall«, die Mauer, aufgrund seines durch Steroide erworbenen Körperbaus. Aber auch, weil er seine Nutten gerne von hinten fickte. Mit anderen Worten, man befand sich immer mit dem Rücken zu ihm. Jo nannte ihn Wally.

Er hing immer mit zwei Brüdern ab, die TJ und JT hießen. Oh wie schlau. Die Nutten nannten den älteren Bruder hinter seinem Rücken »Knuckle«, weil sein Schwanz so lang war wie das Stück zwischen zwei Fingerknöcheln. Der jüngere Bruder hatte nicht mal einen Körperteilspitznamen verdient. Der vierte Spezi wurde »Nobody« genannt. Mit anderen Worten: »Wer war das?« »Nobody.«

Die Mädchen, die Wally zu Hause besuchten, veränderten sich. Sie gingen als sie selbst hinein, dann hörte man laute Schreie, und hinterher kamen sie völlig verändert hinausgestolpert. Was auch immer diese vier in jenem Haus anstellten, irgendwie kauften sie den Mädels den Schneid ab. Was unverzeihlich war.

Jo verehrte den Kampf. Sie träumte davon, eine Comic-Superheldin zu sein – nur, um eine Entschuldigung dafür zu haben, Leute fertigzumachen. Da aber weit und breit keine Superkräfte in Sicht waren, hatte sie einen Ein-Mädchen-Guerillakrieg angezettelt, der so aussah: dem Ameisenhaufen einen kräftigen Tritt versetzen und schnell weglaufen.

Sie hatte klein angefangen. Ein Stück Butter unter dem Türgriff von Wallys Wagen. Ein harmloser Einbruch, um seinen Toilettensitz mit Superkleber einzuschmieren. Dann Sand im Tank des Monte Carlo.

Sie kam zwar mit den Risiken klar, aber sie musste auch an den Kleinen denken. Warum konnte sie also nicht damit aufhören? Es war, als ob sie eine Art Instinkt dazu zwänge, eine Beute ins Visier zu nehmen, sie zu verfolgen und zu verletzen.

Letzte Nacht hatte sie allerdings einen richtig großen Coup gelandet, der Wallys Kreislauf des Bösen ein Ende bereitet hatte. Sie grinste.

Als ein Auto durch eine nahe gelegene Seitenstraße rumpelte, verblasste ihr Grinsen. Viiiiel zu riskant. Sie konnte den Atem des Drachens spüren.

»Kommt doch zu uns, Josephine. Versucht es einfach mal«, sagte MizB. »Ich kann nicht ewig tatenlos zusehen, wie ihr immer wieder von hier verschwindet.«

Jo erstarrte. Sie warf der Frau denselben gruseligen Blick zu wie diesem Arsch von Pflegevater – den Blick, der ihn dazu gebracht hatte, seine Hand schleunigst wegzuziehen und sich zu verpissen. »Wenn Sie uns melden, werde ich Thaddie da rausholen, wie ich es immer tue, und dann bring ich ihn so weit weg, dass Sie ihn niemals wiedersehen. Ist das klar?« Das hast du doch sowieso schon vor, Jo.

Wie würde MizB reagieren? Vermutlich würde sie daran kaputtgehen. Was Jo egal war. So was von egal. Jo musste sich um sich selbst kümmern.

»Das glaube ich dir gern. Darum verbiete ich es mir auch jeden Tag, die Nummer des Kinder- und Jugendschutzes zu wählen.«

»Ich bin seine Mom«, sagte Jo, während sich Thaddie das Essen der Frau in den Mund schaufelte.

»Eine Mutter würde sich etwas Besseres für ihren Sohn wünschen«, sagte MizB leise.

Sie klang vernünftig, aber die Sache war die: Jo war wild und ungezähmt. Sie würde niemals unter einem Dach mit jemandem wohnen und dessen Regeln befolgen. Regeln galten für Jo nicht, und das war immer schon so gewesen.

Sie würde Thaddie nicht mit einer Frau teilen, die sich verzweifelt wünschte, seine Mutter zu sein.

Er gehört mir und nicht ihr. Er war Jos Nummer eins.

Doch ein kleiner Teil von ihr sagte: Thaddie ist nicht wie ich. Noch nicht. Manchmal träumte Jo davon, dass er bei den Braydens lebte. Dass die drei eine Familie waren.

Diese Träume machten sie fix und fertig, weil sie nicht darin vorkam.

Jo hatte die Nase voll. Sie schnappte sich einen Hühnchenschenkel und stand auf. »Ich muss los. Bin in ’ner Stunde oder so wieder da.« Rasch drückte sie Thaddie noch einen Kuss auf. Dann flüsterte sie ihm zu: »Falls die blöde Kuh irgendwas Komisches versucht, haust du sie ordentlich.«

Er nickte zufrieden, während er schmatzend sein Maisbrot kaute. »Tschö, JoJo.«

MizB brachte sie noch zur Tür. »Willst du dich wieder mal als Taschendiebin betätigen?«

»Genau. Wollen Sie, dass ich Ihnen irgendwas Spezielles mitbringe?«

Aber die Frau meinte es echt ernst. »Wie kannst du ein so unschuldiges und gutes Kind anfassen, wenn deine Hände nicht sauber sind?«

Jo schob sich das Hühnerbein in den Mund und hob beide Hände. »Sauberer werden die nie sein«, brachte sie mit vollem Mund heraus.

»Das ist nicht wahr, Josephine. Ich glaube, du hast vergessen, dass du eigentlich noch ein kleines Mädchen bist.«

»Ein kleines Mädchen? Ich war ja schon vieles, aber das ganz bestimmt nicht.«

Auf der Straße angekommen, äffte Jo sie nach: »Wie kannst du ihn nur anfassen? Bla, bla, bla.« Sie biss ein Stück von dem Hühnchen ab und hasste es, wie gut es ihr schmeckte.

Sie bog um die Ecke. Blieb wie angewurzelt stehen und schluckte heftig. Das Hühnerbein fiel ihr aus den schlaffen Fingern.

Der Lauf einer Waffe war mitten in ihr Gesicht gerichtet.

Wally.

Hinter ihm stand sein Trio von Arschlochfreunden. Sie sahen allesamt total weggetreten aus; ihre durchgeknallten Augen waren blutunterlaufen.

Wallys langes, strähniges Haar war angesengt, und ihm lief der Schweiß über das mit Brandblasen bedeckte Gesicht. »Die Leute sagen, dieses gruselige, blasse Mädchen will sich mit mir anlegen.« Er sprach undeutlich, und die Waffe in seiner verbundenen Hand zitterte. »Die Leute sagen, sie hätte sich letzte Nacht bei meinem Haus rumgetrieben. Also werde ich dieses gruselige, blasse Mädchen ein einziges Mal fragen: Warum ist mein gottverdammtes Haus letzte Nacht in Brand geraten – mit uns darin?«

Oh, Scheiße. »Hast du wieder die Kaffeemaschine angelassen?«

»Falsche Antwort, Miststück.« Er drückte ab und die ganze Welt wurde schwarz.

Wally hatte Jo mitten ins Gesicht geschossen! Wie hatte sie das überlebt? Und wo war sie jetzt? Verdammt, ihre Kopfhaut juckte wie verrückt. Sie kratzte sich, und ein zerdrücktes Stück Metall wuchs ihr … wuchs ihr aus der Stirn! Sie unterdrückte einen Schrei und knibbelte so lange daran herum, bis sie es herausgeholt hatte. Augenblicklich sah sie wieder scharf.

Sie betrachtete das Ding zwischen ihren Fingern. Erkannte es. Sie hatte soeben eine auf sie abgefeuerte Kugel aus ihrem Schädel geholt.

Sie fand noch andere, die sich in ihrem Haar verfangen hatten. Waren die auch aus ihrem Kopf gekommen? Sie tat sie zu den beiden, die sie im Mund gehabt hatte. Jetzt hielt sie sechs Kugeln in der Hand.

Aber ich bin noch am Leben. Ich bin … kugelsicher?

Ich bin eine Superheldin. (Insgeheim hatte sie es schon immer gewusst.)

Sie steckte die Kugeln in die Tasche und kniff die Augen zusammen. Es war Zeit, es ihnen heimzuzahlen. Sie sprang vom Tisch herab – oder versuchte es zumindest. Sie schwebte hinab, bis sie aufrecht dastand, aber ihre Füße berührten den Boden nicht.

Fassungslos starrte sie an ihrem Körper hinab. Sie trug noch ihre alten Klamotten, aber der schwache Umriss ihres Körpers flackerte. Sie warf einen Blick auf den Tisch. Darauf lag ein geschlossener, flacher Leichensack. Das hier war ein Leichenschauhaus? Auf weiteren Tischen lagen noch mehr Leichen in Säcken und warteten auf das, was in so einem beknackten Leichenschauhaus eben passierte.

Und da wurde ihr etwas klar.

Ich bin in diesem leeren Leichensack.

Weil ich gestorben bin.

Ich bin … ein Geist.

Ihr Blick schnellte hin und her. Wie zur Hölle sollte sie jetzt nur für Thaddie sorgen? Sicherlich hatte MizB ihn nach der Schießerei mit nach Hause genommen.

Jos Schießerei.

Wally und seine Bande haben mich umgebracht! Diese Scheißkerle! Sie ballte die Fäuste und schrie. Die Lampen über ihr zersprangen, Glas regnete herab.

Sie würde Wally so lange vollspuken, bis er den Verstand verlor. Sie würde sie alle in den Wahnsinn treiben. Sie musste ihnen wehtun – jetzt!

Plötzlich fühlte sie, dass sie sich bewegte, so als ob sie in die Luft hinaufgesaugt würde. Sie blinzelte. Die vorherige Umgebung war verschwunden und durch das ihr nur allzu bekannte Viertel ersetzt worden. Sie befand sich vor Wallys immer noch qualmendem Haus.

Sie hatte sich … hierher teleportiert? Aber natürlich! Weil sie sich rächen wollte. Geister machten so was. Sobald sie das erledigt hatte, würde sie Thaddie holen. Sie würden sich irgendwo eine unheimliche, verlassene Villa suchen, und dort würden sie glücklich bis an ihr seliges Ende leben und dieser ganze Scheiß.

Erster Schritt: Wally ins Visier nehmen. Sie begann, über die Risse im Bürgersteig zu gehen, besser gesagt zu schweben. Warum kam ihr diese Fortbewegungsweise nur so vertraut vor? Und warum drehte sie nicht durch wegen der Tatsache, auf einmal ein Geist zu sein?

Aber ihre neue Gestalt erschien ihr so richtig, als ob sie eher über ihre Existenz in den ganzen Jahren zuvor hätte ausrasten sollen.

Obdachlose Kinder und Ausreißer, andere Straßenratten wie sie, spähten aus Verschlägen und herrenlosen Autos. Sie hörte, wie sie nach Luft schnappten, als Jo sich die Straße entlangbewegte.

Also waren Geister für Menschen sichtbar. Ob sie wohl andere Geister treffen würde?

Sie hörte das Flüstern der Kinder. Sie wussten alle, dass Wally sie umgebracht hatte. Einige hatten gesehen, wie ihre Leiche in den Leichensack gesteckt worden war.

Eine Prostituierte an der Ecke sah sie nicht kommen und lief direkt in Jo hinein – oder besser gesagt durch Jo hindurch. Ihre Körper verhedderten sich ineinander, und plötzlich war Jo in ihr, machte ihre Bewegungen mit, als die Frau erschauerte.

Es war, als wäre Jo ein Einsiedlerkrebs in einer Muschel, die die Gestalt einer Hure hatte. Zwar konnte sie nichts über die Haut der Frau fühlen, aber sie konnte sie dazu bringen, sich zu bewegen. Wahnsinn!

Als Jo die Muschel verließ, sich von ihr löste, drehte sich die Frau mit entsetzter Miene um.

Es dauerte einen Moment, ehe ihr klar wurde, was sie gerade sah. »Oh mein Gott!« Sie taumelte ein paar Schritte zurück und bekreuzigte sich. »Du bist tot! Wall hat dich erschossen.«

»Hat wohl nicht geklappt.« Jos Stimme klang gespenstisch hohl. »Wo wohnt Wally jetzt?«

»Ein p-paar Häuser von seiner alten B-Bude entfernt«, stotterte die Frau.

Jo ging schwebend in diese Richtung zurück. Andere folgten ihr mit einigem Abstand und weit aufgerissenen Augen, als ob sie gar nicht anders könnten.

Sie fand das Haus – und der Drache bewachte die Höhle. Von innen drangen Stimmen, darunter auch Wallys.

Ihre Fingernägel wurden auf einmal länger und schärfer. Sie waren schwarz und taten weh. Geister haben Klauen?

Sie versuchte, sich in das Haus zu teleportieren, aber ihr Körper rührte sich nicht vom Fleck, also schwebte sie bis zur Veranda und blieb an der Haustür stehen. Ob sie wohl in der Lage war zu klopfen? Aber vermutlich würden sie ihr nicht öffnen. Vielleicht konnte sie sich ja in das Haus »geistern«, so wie in die Nutte.

Jo zuckte mit den Achseln und schwebte vorwärts – direkt durch die Tür hindurch. Treffer! Ab sofort musste sie nie mehr einbrechen, sondern nur noch hineinschweben.

In der Bude stand ein Couchtisch, der mit Waffen und Tütchen voller Heroin vollgepackt war. Sie hatten bereits sämtliche Waffen und Drogen ersetzt. Taschen voller neuer Klamotten lagen überall verstreut herum.

Diese Arschlöcher hatten es sich einfach ein paar Häuser weiter gemütlich gemacht. Seine Bude abzubrennen hatte absolut nichts gebracht.

Jo ballte die Fäuste. Sie war nur hergekommen, um der Gang einen Riesenschrecken einzujagen, ein bisschen zu stöhnen und buu-huu zu rufen, bis die Angsthasen davonrannten. Aber jetzt überkam sie eine mächtige Wut.

Ihre Klauen sehnten sich danach, jemanden zu zerfetzen.

Als die Lichter flackerten, blickten Knuckle und die beiden anderen auf. Sie entdeckten Jo. Ihre Münder bewegten sich wortlos, und sie machten einen Satz auf die Waffen zu.

Mit einem Schrei warf sie sich auf Knuckle. »Du willst mich erschießen?« Sie hieb mit ihren Klauen nach ihm. Fast rechnete sie damit, dass ihre Finger durch seinen Körper hindurchgleiten würden – doch dann erschienen vier tiefe Risse auf seinem Bauch.

Ihr blieb der Mund offen stehen. Ihre Klauen trieften von Blut. Sie konnte also körperlich werden, wenn sie es wollte?

Er hielt sich beide Hände vor den blutigen Bauch, aber seine Gedärme rutschten ihm wie Aale zwischen den Fingern hindurch. Erst trafen seine Knie auf den von Blut durchnässten Teppich auf, dann brach er zusammen.

Ich hab gerade einen Kerl umgelegt! Superhelden brachten keine Leute um. Nicht mal böse Leute.

Sie sollte laut schreien, aber das alles fühlte sich so natürlich an. Das bin ich. Ich geistere. Ich tue bösen Kerlen weh.

Nein, ich jage sie.

Mit einem Schlag wurde ihr etwas klar. Sie war schon immer auf der Jagd gewesen.

Darauf habe ich gewartet. Mein. Ganzes. Leben. Lang.

JT und Nobody überschlugen sich fast in ihrem Bemühen, zur Tür zu gelangen, die sie nur mit Mühe öffneten. Jo flog hinter ihnen her und erwischte sie auf der Veranda. Mit Leichtigkeit zog sie beide Männer wieder ins Haus. Sie zwinkerte den Kindern zu, die sich auf der anderen Straßenseite versammelt hatten, und schloss die Tür mit einem Fußtritt.

Die beiden kreischten wie verrückt, als Jo sie angriff. Sie sah alles wie durch einen roten Schleier, und eine Art animalischer Instinkt übernahm die Kontrolle. Blut spritzte, als sie zuschlug. Ihr drehte sich der Kopf.

Dann merkte sie, dass sich die beiden nicht mehr regten. Ich habe drei Kerle umgelegt.

Ihre Ohren zuckten, und sie hörte ein leises Stöhnen aus einem der hinteren Zimmer. Wally. Aller guten Dinge sind vier. Er musste aus seinem Versteck herausgespäht und zugesehen haben, wie Jo seine Gang erledigt hatte.

Sie geisterte durch die Tür in ein anderes Zimmer. »Oh, Waaally …« Unter dem Bett wurde ersticktes Keuchen laut.

Sie schwebte nach unten, bis sie sich genau auf seiner Höhe befand. »Pst!«

Sein Kopf fuhr herum, und in Todesangst schrie er auf. Wie eine Ratte krabbelte er auf der anderen Seite unter dem Bett hervor.

Sie richtete sich wieder auf. Nahm sich alle Zeit der Welt. Er richtete eine andere riesige Waffe auf sie und feuerte drauflos, leerte das ganze Magazin. Als die Kugeln einfach durch sie hindurchflogen und sich in die Wand gruben, bepisste er sich.

Sie wollte, dass er ihr in die Augen sah, dass er begriff, was er getan hatte. Sie spürte, dass sie sich bewegte, verschwand und direkt vor ihm wieder erschien. Praktisch. Sie schwebte ein bisschen höher, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. »Du hättest mich nicht erschießen sollen.«

»Ich t-tu’s n-nie wieder«, stotterte er.

»Falsche Antwort, Arschloch. Ich seh dich in der Hölle.« Denn das würde sie. Niemand konnte die Jagd dermaßen genießen wie sie und nicht am Ende dort landen.

Er schwang ein Schlagholz, das er hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte. Ihre Hand schoss reflexartig vor und schlug zu.

Blut spritzte aus seiner Kehle. Das Schlagholz fiel zu Boden, als er mit beiden Händen seinen Hals umklammerte. Trotzdem spritzten blutrote Fontänen hervor und ergossen sich über sie.

Ihre Füße berührten den Boden, ihr Körper verfestigte sich, als ob sie in seinem Blut duschen wollte. Mit einem Mal verspürte sie einen ungeheuren Appetit. Ihre Zähne schmerzten. Sie hätte schwören können, dass sie sich plötzlich schärfer anfühlten. Während er sie mit vor Schock glasigem Blick beobachtete, hob sie neugierig das Gesicht und öffnete den Mund.

Der erste Tropfen traf auf ihre Zunge. Köstlich! Sie verdrehte die Augen, als das Blut ihren Mund füllte.

Sie schluckte hörbar. Ich trinke Wallys Blut. Ein Teil von ihr war angewidert, doch als die warme Flüssigkeit ihre Kehle hinabglitt, wurde sie von einem Gefühl der Macht überflutet.

All ihre Sinne wurden mit neuem Leben überflutet, ihre Augen nahmen neue Farben wahr, als ob sie über den Infrarotblick aus den Comics verfügte. Das Summen weit entfernter Straßenlaternen erklang in ihren Ohren. Sie konnte die Köderfische unten an der Bucht riechen.

Als Wally zusammenbrach, hörte sie seinen letzten Herzschlag.

Sie stieß einen Schrei aus, als sich ihr Hoodie über ihrer Brust spannte und der Reißverschluss aufplatzte. Der Bund ihrer Jeans schnitt in ihre Hüften ein. Was passiert mit mir? Noch während sie ins Bad rannte, riss sie sich mit den Klauen die einengenden Klamotten vom Leib. Sie hatte das Gefühl, zu verbrennen. Ob das am Blut lag?

Sie griff in die Duschkabine und öffnete den Wasserhahn, so kalt, wie es nur ging. Während sie sich die Überreste der Gangmitglieder vom Leib schrubbte, fuhren ihre Hände über ihre Haut. Sie war auf einmal seidenweich, und die gelbliche Farbe verschwand.

Sie starrte auf ihren Körper hinab. Sie hatte zugenommen, war nicht länger krankhaft mager. Nirgendwo stachen Knochen hervor. Und was noch besser war: Sie hatte massenhaft Energie. Sie verließ die Dusche und trat mit federnden Schritten an das Waschbecken.

Sie starrte ihr Spiegelbild an. Ein geradezu unheimlich hübsches Mädchen mit glänzenden schwarzen Augen und einem noch schwärzeren Herzen starrte zurück.

Dunkle Schatten betonten ihre Augen, als ob sie jede Menge Eyeliner aufgetragen hätte, und ließen ihre Wangen hohl erscheinen. Ihre vollen Lippen waren blutrot.

Nur so zum Spaß versuchte sie, wieder ihre Geistergestalt anzunehmen. Sie wurde vollkommen unsichtbar. Dann ging sie eine Stufe zurück auf schwach. Es funktionierte! Die Ringe um ihre Augen vertieften sich und ihre Lippen wurden blass, doch sogar in dieser Ausführung war sie hübsch.

Und alles, was sie tun musste, um so auszusehen und sich so zu fühlen, war, anderen das Blut zu stehlen?

Sie war als Geist erwacht. Jetzt war sie auch noch eine Bluttrinkerin. Ein Vampir.

Nein, sie war keine Superheldin.

Jo betrachtete sich im Spiegel, als sie einen Fangzahn aufblitzen ließ. Verdammt, ich bin eine von den Bösen.

Ihr Herz tat einen Sprung. Das war die Geschichte ihrer Herkunft. Sie würde einmal zur Legende werden (insgeheim hatte sie auch das längst gewusst)!

Doch dann schwand ihre Freude dahin. Thaddie. Ich muss ihn holen. Scheiße, sie brauchte Klamotten. Sie durchwühlte die Tüten, bis sie JTs Einkäufe fand, der der Kleinste von der Gang war. Sie zog eine Jogginghose an, krempelte die Beine um und schnürte sich die Hose eng um die Taille, dazu schnappte sie sich noch einen Pulli.

Nachdem sie ihre Rache ausgekostet hatte, überwältigte sie nun der Drang, ihren Bruder zu finden. Ob sie sich wohl auch zu ihm teleportieren konnte?

Sie stellte sich ihn mit MizB in irgend so einem Vorstadthaus vor. Nichts. Jo gab sich alle Mühe, sich zu teleportieren. Und rührte sich nicht vom Fleck. Dann eben auf die gute altmodische Art und Weise. Sie rannte aus dem Haus und in die Richtung des Viertels, das MizB ihr auf dem Stadtplan in der Bibliothek gezeigt hatte. An der Autobahn vorbei, am Turm vorbei, dann am Weiher …

Und als Jo dachte, sie hätte die Maximalgeschwindigkeit erreicht, lief sie sogar noch schneller. Bäume und Häuser rauschten nur so vorbei. Sie bewegte sich wie eine Rakete.

Innerhalb weniger Minuten hatte sie den Rand des Viertels erreicht. Sie streckte das Gesicht dem Wind entgegen und witterte.

Thaddie. Ganz in der Nähe. Sie folgte seiner Duftspur zu einem schicken Haus. Dort sprang sie auf einen Baum und spähte in die Fenster. Da war er! Er schlief in einem Raum, der nach Gästezimmer aussah. Sie stellte sich vor, wie sie neben ihm auf diesem Bett saß – und im nächsten Augenblick tat sie es.

Hinter der Tür hörte sie das Gemurmel erwachsener Stimmen. Die Braydens.

Gott, Thaddie sah so klein und verletzlich unter den Decken aus. Die Spidey-Puppe hielt er mit seiner winzigen Hand fest. Was, wenn er im Thadpack gesteckt hätte, als Wally zuschlug? Was, wenn er … gestorben wäre?

Je mehr Jo von ihren Emotionen überwältigt wurde, umso mehr schwankte sie zwischen Geist und Körper hin und her. Sie musste Thaddie dort rausholen, ehe die Braydens sie sahen. »Wach auf, kleiner Bruder«, flüsterte sie.

Er öffnete blinzelnd die Augen und setzte sich auf.

»Wir müssen gehen, Thaddie.«

Er zog die Augenbrauen zusammen. Sie hörte, dass sich sein Herzschlag beschleunigte. »Du bist nich JoJo.«

So viel anders konnte sie doch nicht aussehen. »Ich bin’s, Kleiner.«

»Nich JoJo, nich JoJo«, wiederholte er immer wieder, während er von ihr zurückwich.

»Doch, ich bin’s. Spidey kennt mich.« Sie griff nach der Puppe, um von ihr einen Kuss auf die Wange zu empfangen.

Thad riss sie ihr brüllend aus der Hand. »Du bist nich JoJo! Nich JoJo! NICH JOJO!«

Verwirrt wich sie mit erhobenen Händen zurück. Die Tür wurde aufgerissen. Die Braydens.

MizB stürzte nach einem einzigen entsetzten Blick zu Thaddie, der immer noch auf dem Bett hockte. Mr B. schob die beiden hinter sich und beschützte sie mit seinem starken Arm.

Vor mir?

»Oh du liebe Güte«, murmelte MizB, während sich Thaddie an sie klammerte wie an einen Rettungsring. »Du bist t-tot.«

Jo nickte.

»Du musst ins Jenseits gehen.« Mr B. schluckte. »Oder was auch immer.«

Die drei wirkten wie … eine Familie.

Jos Stimme brach, als sie »Thaddie?« sagte.

Er wollte sie nicht einmal ansehen, sondern vergrub sein Gesicht an MizBs Hals. Jo streckte die Hand nach ihm aus, doch ihre Finger gingen glatt durch ihn hindurch. Immer wieder griff sie nach ihrem kleinen Jungen.

Die Braydens schirmten ihn ab. MizB kreischte: »Geh weg von ihm, du Geist oder … oder Dämon! Geh in die Hölle zurück, aus der du gekommen bist!«

Nein, Thaddie gehört mir! Als er laut losheulte, als ob er Schmerzen hätte, traten Jo die Tränen in die Augen. »Ich werde schon rauskriegen, was das alles zu bedeuten hat«, sagte sie zu den Braydens. »Und dann werde ich zurückkommen und ihn holen.«

»Nein«, flüsterte MizB.

Jo schwebte vorwärts. Sie sehnte sich danach, noch ein letztes Mal über Thaddies Locken zu streichen, doch sie fühlte nichts. Sie konnte ihn nicht berühren, konnte ihn nicht umarmen. Ihren Thaddie. Ein Schluchzen drang über ihre Lippen. Dann bin ich wohl doch gestorben.

Und das hier ist die Hölle.

2

Zehn Monate später

Es war endlich Zeit, ihren Jungen abzuholen.

Jo geisterte zum Haus der Braydens und stellte sich vor ein Fenster, suchte unter den Leuten nach ihm, die die Räume füllten. Sie waren alle schwarz gekleidet und sprachen mit gedämpfter Stimme.

Sie würde Thaddie noch heute Abend da rausholen. Sie hielt die Trennung einfach nicht länger aus, ohne sich die Haare auszuraufen …

In den ersten Monaten war sie ständig im Haus herumgegeistert, hatte über ihm geschwebt, während die Braydens ihn mit Tonnen von Spielzeug und einem Welpen und all den anderen Dingen verwöhnt hatten, die Jo ihm selbst gerne geschenkt hätte. Seine gewaschene Spidey-Puppe saß auf seinem Spielzeugregal, vergraben unter all den anderen Sachen.

Wenn Thaddie nach ihr gerufen hatte, war Jo im nächsten Moment bei ihm gewesen, ohne sich allerdings vollständig zu zeigen. Doch ihre Gegenwart schien ihn zu verstören.

Sie hatte den Thadpack in einem Schrank gefunden und zurückgestohlen. Und ihn wie eine Idiotin umarmt.

In den Monaten danach hatte sie versucht, sich zurückzuhalten, hatte aus der Ferne über ihn gewacht. Andere Kinder kamen zum Spielen vorbei. Er war immer so aufgeregt, wenn sie da waren. Endlich hatte er die Freunde, nach denen er sich so lange schon gesehnt hatte. Sie rannten durch den perfekten Garten der Braydens, und der Welpe hinter ihnen her.

Ihr kleiner Bruder rief immer seltener nach ihr.

Während Thaddie wuchs und gedieh und immer öfter lachte, war Jo der Verzweiflung nahe. Sie begriff nach wie vor nicht, was nun genau mit ihr los war. Genauso wenig bekam sie das Geistern unter Kontrolle – mal war sie ein Geist, dann wieder körperlich. Sicher, sie konnte direkt in sein Schlafzimmer geistern, aber wie konnte sie ihn entführen, wenn sie nur aus Luft bestand?

Fest entschlossen, dem Geheimnis ihrer Transformation auf den Grund zu gehen, war sie in die Stadt zurückgekehrt. Die Blutbank des Krankenhauses hatte sie wie magisch angezogen. Nachdem sie gierig einige Beutel Blut getrunken hatte, hatte sie ihren Körper zurückbekommen, war wieder massiv geworden.

Vermutlich machten das Vampire ebenso. Auch wenn sie sich schon fragte, warum sie nach wie vor fähig war, in die Sonne hinauszugehen.

Durch das Trinken hatte sie neue Kraft gewonnen und geübt, zwischen Geistermodus und Körper hin- und herzuwechseln. Nach einiger Zeit konnte sie sogar Gegenstände in eine Geisterform bringen. Alles, was sie trug, wurde wie sie zu Luft, und sobald sie es losließ, wieder fest: Handtaschen aus Autos, Kleidung aus Geschäften, eine Katze (die total ausrastete).

Sie hatte hart an ihren Fähigkeiten gearbeitet, bis sie davon überzeugt war, Thaddie entführen zu können.

Aber tief im Inneren wusste sie, dass er mit zwei Elternteilen und seinem geliebten Welpen besser dran war. Also hatte sie die Kugeln zurechtgefeilt, die sie »getötet« hatten, und sich daraus eine Kette gemacht. Jedes Mal, wenn sie in Versuchung kam, zu ihm zurückzukehren, berührte sie die Kugeln und rief sich in Erinnerung, dass sie damit nicht das Richtige tun würde.

MizB hatte Jo aus gutem Grund verbannt. Dabei wusste die Frau nicht mal, dass Jo eine Mischung aus Killergeist und Vampir war.

Stattdessen hatte sie viel Zeit im Leichenschauhaus verbracht, in der Hoffnung, dass noch jemand anders wie sie aus einem Leichensack herausschweben würde. Aber das war nie passiert.

Sie hatte sich so bemüht, wegzubleiben …

Und dann hatte sie letzte Woche gesehen, dass der Gerichtsmediziner an einer Leiche arbeitete.

Es war Mr B.

Er war bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Und auch er erhob sich nicht, sondern blieb tot.

Das war doch sicherlich ein Zeichen, dass Jo zurückkehren sollte. Oder?

Jetzt waren die Braydens nicht länger besser als Jo, nur weil sie zu zweit waren, und MizB würde gar nicht in der Lage sein, allein ein Kind aufzuziehen. Jo tat es leid, dass die Frau ihren Mann und Thaddie auf einmal verlieren sollte, aber sie konnte es einfach nicht länger ertragen.

Sie hatte beschlossen, Thaddie noch am heutigen Leichenschmaus für Mr B. teilnehmen zu lassen, aber dann würde es vorbei sein. Sobald MizB ihn ins Bett brachte, würde Jo zu ihm gehen. Sie hatte den Thadpack und alles andere schon dabei.

Sie konnte eine ebenso gute Mutter sein wie MizB. Sie konnte Thaddie beschützen, war sogar stark genug, ein verdammtes Auto zu heben. Problemlos konnte sie nun die Leute um ihr Geld erleichtern, also war sie auch in der Lage, ihm Spielzeug zu kaufen. Und sie hatte seit jener ersten Nacht nicht eine einzige Person mehr umgebracht. Manchmal zerquetschte sie in Notwehr einem Kerl die Eier wie Weintrauben, aber keine Morde mehr!

Sie verrenkte sich den Kopf. Wo war er nur? Bald würde die Sonne untergehen. Da! Gerade kam er ins Zimmer getrippelt. Er hatte einen kleinen schwarzen Anzug an, dessen Hose mit Hundehaaren übersät war.

Als sie vom Rucksack zu Thaddie blickte, wurde ihr klar, dass er da nicht mehr hineinpassen würde. Vielleicht könnte sie ja den Hund hineinstopfen.

Sie würde Thaddies Hand nehmen, und sie drei würden gemeinsam davongeistern.

Jetzt krabbelte er bei einer älteren Frau auf den Schoß. Jo hatte sie schon bei früheren Besuchen gesehen. Sie war MizBs Mutter, Thaddies … Oma. Die Alte erklärte ihm gerade, dass sie von jetzt an bei ihnen wohnen und im Haushalt helfen würde.

Ist das nicht fantastisch? Jo quetschte den Rucksack zusammen. Er gehört mir! Ihre Kette lag schwer und kalt um ihren Hals.

Sturmwolken trieben herbei. Donner grollte. Jo blickte in den Himmel hinauf. Im Gegensatz zu ihr sollte Thaddie besser nicht bei so einem Wetter draußen sein.

MizB kam in das Zimmer. Ihre Augen waren geschwollen. Sie musste sich wie der letzte Dreck fühlen, aber sie weinte nicht, und ihre Frisur war ordentlich.

Thaddie kletterte vom Schoß der alten Frau auf MizBs. Er blickte mit seinen großen, haselnussbraunen Augen zu ihr auf und fragte: »Mama, wohin ist Papa gegangen?«

Jo schwankte. Sie bekam keine Luft mehr. Mama? Tränen traten in ihre Augen und liefen ihr über die Wangen. So hatte er nicht mal Jo genannt.

Wenn sie ihn heute mitnahm, würde Thaddie einen Vater und eine Mutter verlieren. Würde ihn das nicht ein für alle Mal vermurksen?

Die Wolken öffneten ihre Schleusen, und der Regen fiel so schnell wie ihre Tränen. Regentropfen strömten durch sie hindurch. Sie musste wohl in den Geistermodus umgeschaltet haben, ohne es zu merken.

MizB legte ihre Arme um ihn. Eifersucht fraß an Jo, als er sich so vertrauensvoll auf MizBs Schoß zusammenrollte. Jo merkte, dass sie den Thadpack mit aller Kraft gegen die Brust gedrückt hielt.

MizB ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken und antwortete: »Oh, mein Süßer, weißt du das denn nicht mehr? Papa ist in den Himmel gegangen, er ist jetzt bei JoJo.«

Messer in den Bauch. Messer in den Bauch. Messer in den Bauch.

Jo stand mit blutendem Herzen da, während das Unwetter immer schlimmer wurde. Denn in dem Moment hatte sie einen Entschluss bezüglich Thaddies Zukunft gefasst.

Ich werde kein Teil davon sein.

Sie presste die Hand gegen das Fenster. Auch wenn kein Abdruck sichtbar wurde, wünschte sie sich, er würde sich zu ihr umdrehen, sie sehen.

Aber das tat er nicht.

Mit tränenüberströmtem Gesicht drückte sie den Thadpack noch fester an sich. Mit von Schluchzern erstickter Stimme flüsterte sie: »Auf Wiedersehen, Thaddie.« Sie drehte sich um, ohne die geringste Ahnung, wo sie hingehen sollte.

Bei Anbruch der Nacht geisterte sie über die einsame Landstraße, mit nichts als dem Unwetter als Begleitung …

3

Die Dimension von Tenebrous

Burg Perdishian, Regierungssitz der Anderreiche

Mächtige Wesen regten sich in der widerhallenden Festung, als Rune Darklight durch die gewaltige schwarze Burg schritt.

Er war der einzige Møriør, der in den letzten fünf Jahrhunderten wach geblieben war, und war mit der Aufgabe betraut, die anderen zu wecken, wenn Tenebrous es durch Zeit und Raum bis in die Nähe seines Bestimmungsortes geschafft haben würde: Gaia.

Auch als Erde bekannt. Rune hatte den telepathischen Ruf vor wenigen Momenten vernommen.

Mit den Stiefeln stampfte er über den uralten Steinfußboden, als er den Kriegssaal betrat: einen Raum mit einer Wand, die aus unzerstörbarem Glas bestand. Mitten im Zimmer befand sich ein riesiger Tisch in der Form eines Sterns.

Außerhalb des Glases rasten vor dem Hintergrund eines schwarzen Nichts Bilder diverser Welten vorbei, wie von einem Filmprojektor erzeugt.

Er nahm an einem der zwölf leeren Sitze am Tisch Platz und legte seine Stiefel auf der goldenen Tischplatte ab, während er auf seine Verbündeten wartete. Zumindest sollten fünf von ihnen kommen. Zwei Sitze würden leer bleiben, und vier Møriør würden weiterschlafen. Angesichts ihrer Natur war es am besten, noch damit zu warten, sie auf Gaia loszulassen.

Abyssian Infernas, Prinz von Pandämonia, war der Erste, der sich zu Rune gesellte. Sian, wie seine Landsmänner ihn nannten, war über zwei Meter zehn groß, muskulös und hatte langes, schwarzes Haar. Er trug Lederbänder über seiner breiten Brust und eine dunkle Hose.

Rune gab gerne zu, dass der Prinz der Höllen so frevelhaft gut aussehend war wie der Teufel, der ihn gezeugt hatte.

Sian wandte seine grünen Augen der Glaswand zu. »Gut, wir haben noch ein paar Tage Zeit, um uns vorzubereiten.« Er nahm seinen Platz am Tisch ein. »Ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf der Erde.«

»Es hat sich viel geändert, wie du schon bald sehen wirst.« Rune hatte den anderen im Laufe der letzten fünf Jahrhunderte als Augen und Ohren gedient und jedes Reich dokumentiert, das er besichtigt hatte. Sobald sich seine Verbündeten zusammengefunden hatten, würden sie in seine Erinnerungen eintauchen und ihre Sprache und ihr Wissen über diese neue Zeit, in der sie Krieg führen würden, auf den neuesten Stand bringen.

Sie sollten sich auf ein paar freizügige Szenen einstellen, denn Rune hatte die meiste Zeit damit verbracht, sich mit willigen Nymphen zu amüsieren.

Rein gewohnheitsmäßig zog er einen Pfeil aus dem Köcher, den er sich um die Wade geschnallt hatte. Er ritzte sich den Zeigefinger an der Pfeilspitze an und zeichnete mit seinem schwarzen Blut einige Symbole auf den Schaft. Mithilfe dieser dämonischen Runen war er in der Lage, seine Feydenmagie zu bündeln und einen gewöhnlichen Pfeil in einen Pfeil der Macht zu verwandeln.

Allixta, Herrscherin der Hexen und die letzte Møriør, trat ein. Sie schlenderte auf den Tisch zu. Wie sie sich überhaupt in so einem hautengen Kleid fortbewegen konnte, war Rune ein Rätsel. Eine Frage, über die noch Generationen grübeln würden. »Sind wir endlich angekommen?«

Curses, ihr Familiar, folgte ihr auf den Fersen. Die Kreatur war ein Panther des Anderreichs, so groß, dass seine Schnurrhaare ihre Schultern streiften.

»Nahe genug, um aufzuwachen«, erwiderte Rune.

Sie zupfte an der Krempe ihres übergroßen Hexenhutes und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Curses sprang auf den Tisch, und er zischte Rune an.

Rune fletschte seine Dämonenfänge und zischte zurück.

»Dafür musste ich aufwachen – Bannblut?« Allixta starrte erbost auf seinen Pfeil. »Warum vergießt du dein ekelerregendes Gift in der Gegenwart anderer? Beabsichtigst du, Anstoß zu erregen?«

Rune hielt inne. Als Dunkelfeyde besaß er giftiges schwarzes Blut, das sogar für Unsterbliche todbringend war. »Meine liebste Allixta, sollte ich Anstoß erregt haben, ist es unwissend geschehen – aber dennoch eine willkommene Entwicklung.«

Blace, der älteste Vampir, erschien urplötzlich auf seinem Sitz am Tisch, einen Kelch mit Blutmet in der Hand. Sein dunkelbraunes Haar war in einem akkuraten Zopf zurückgebunden, und er trug einen makellosen Anzug, auch wenn Hemd, Krawatte, Wams und Hose seit Jahrhunderten aus der Mode waren.

»Gutes Erwachen, Freund«, sagte Rune. Er mochte den Vampir. Blaces Ratschläge waren ihm stets willkommen. Der Vampir ging sparsam damit um und hatte für gewöhnlich recht.

Blace nahm einen kräftigen Schluck von seinem Trank. »Ich frage mich, welche Anblicke uns deine Gedanken diesmal zu bieten haben.«

Darach Lyka, der erste Werwolf, betrat den Raum, noch mitten in der Transformation aus seiner Wolfsgestalt begriffen. Der primordiale Wolf war lediglich mit einer altmodischen Hose bekleidet und trug einen zusammengeknüllten Waffenrock in der Faust. Rune hatte mit dem ruhigen, aber tiefgründigen Darach nicht viel gemeinsam – bis auf ihren Hass auf Allixta –, aber er respektierte ihn.

Darach hatte sich als bester Spurenleser der Welten und von unschätzbarem Wert erwiesen, wenn es um das Aufspüren magischer Gegenstände ging. Und bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen er seine Bestie bezwungen hatte und imstande war, ohne große Mühe zu kommunizieren, hatte er bewiesen, dass er zu geistreichen Erkenntnissen fähig war, und für einen Mann, der von den Toten auferstanden war, einen überraschenden Zynismus an den Tag gelegt.

Jetzt kämpfte Darach damit, seinen menschlichen Körper wieder anzunehmen und seinen an die drei Meter großen Werwolfkörper zu verdichten. Mit aufeinandergebissenen Fängen ballte er die Fäuste noch fester, während seine Knochen mit lautem Krachen ihren neuen Platz einnahmen.

Jede Verwandlung gestaltete sich als schwieriger. Eines Tages würde Darach sich in eine Bestie verwandeln und niemals als Mensch zurückkehren. Es sei denn, er fand einen Weg, um seine menschliche Gestalt zu behalten. Vielleicht im Reich Gaia?

Zusätzlich zu den übergreifenden Zielen der Møriør begehrte jeder Einzelne von ihnen etwas von der Erde und den mit ihr verbundenen Ebenen, war durch das gesamte Universum gereist, um sich etwas ganz Bestimmtes zu holen.

Die meisten glaubten, Rune würde den Thron seiner Heimatwelt begehren. Nein, sein Verlangen war wesentlich düsterer Natur. So dunkel wie sein unnatürlich schwarzes Blut …

Ihr Lehnsherr Orion – der Zerstörer – war der Letzte, der sich zu ihnen gesellte. Er war ein Wesen unbekannter Herkunft, aber Rune war davon überzeugt, dass er wenigstens ein Halbgott wäre. Vielleicht eine wahre Gottheit oder sogar eine Übergottheit.

Orions Aussehen und sein Geruch hatten sich verändert; er modifizierte sich regelmäßig. Heute war er ein groß gewachsener blonder Dämon. Bei ihrem letzten Treffen war er als schwarzhaariger Riese aufgetreten.

Ohne ein Wort trat er an die Glaswand. Er konnte ein ganzes Jahrzehnt stumm bleiben. Vor ihm schwebte jene Linie sich ständig verändernder Planeten vorbei, als die Festung nach und nach an ihnen vorbeizog.

Nachdem sich nun sämtliche erwachten Møriør versammelt hatten, begannen die anderen, in Runes Kopf einzudringen. Ihre geistige Verbindung war so stark, dass sie sogar auf telepathische Weise miteinander sprechen konnten.

Rune öffnete seine Erinnerungen weit für sie, bot ihnen Zugang zu fast allem, zumindest nach dem ersten Jahrtausend seines Lebens. Er tat alles, um jene frühe Zeit des Verrats und Betrugs zu verbergen.

Innerhalb weniger Momente hob Blace anerkennend eine Augenbraue. »Ein Dutzend Nymphen in einer Nacht?«

Rune grinste. Er hatte es mit Tausenden von ihnen getrieben, war ein Favorit aller Nymphenscharen weit und breit. Sie waren ausgezeichnete Informationsquellen. »Das war nur die erste Runde. Die wahre Orgie begann erst einen Tag später.«

Blace schüttelte betrübt den Kopf. »Ah, der Elan der Jugend.« Rune war sieben Jahrtausende alt – jung im Vergleich zu Blace. »Du hast dir deinen Beinamen ehrlich verdient.«

Rune der Unersättliche. Er polierte sich die schwarzen Klauen. »Herzensbrecher und Garant für überschäumende Orgasmen seit Äonen.«

»Mögen sich die Götter der Frauen erbarmen, die ihr Herz an dich verlieren«, sagte Sian. »Deine Bettgefährtinnen können mir fast leidtun.«

»Wenn eines meiner Flittchen dumm genug ist, mehr zu wollen, verdient sie allen Herzschmerz der Welten.« Er machte kein Geheimnis aus seiner Leidenschaftslosigkeit beim Sex. Zwar fühlte er körperliche Lust, aber keinen Drang zur Bindung, keine Verbindung – keine Emotionen. Außerhalb des Bettes allerdings sehr wohl. Ihm war das Vergnügen nicht fremd. Unmittelbar vor einer Schlacht spürte er Erregung. Er verspürte verwandtschaftliche Nähe zu den Møriør. Aber beim Sex … nichts.

Was irritierend war, da er einen Gutteil seines Lebens damit zubrachte.

»Flittchen?« Allixta grinste höhnisch. »Du bist eine solche Hure.«

Als ehemaliger Sklave war er Beleidigungen gewohnt. Die meisten machten ihm nicht das Geringste aus. Doch jetzt schärften sich seine Klauen, als er sich an die Worte erinnerte, die seine Königin vor so langer Zeit geäußert hatte: Du besitzt die schwelende Sinnlichkeit der Feyden und die sexuelle Kraft eines Dämons … Jetzt habe ich doch noch Verwendung für dich.

Alte Enttäuschungen ließen seine Stimme harsch klingen: »Wo wir gerade beim Thema Huren sind – bin ich eigentlich je dazu gekommen, dich zu vögeln, Hexe? Und wenn es mein Leben gälte, ich vermag mich einfach nicht zu erinnern.«

Darach unterdrückte ein harsches Lachen, während er seinen Rock überzog.

Allixta richtete ihren grünen Blick auf den Wolf. »Hast du etwas zu sagen, Köter?« Dann wandte sie sich Rune zu. »Vertrau mir, Bannblut, wenn ich deinen besudelten Körper lange genug ertragen könnte, um dich in mein Bett zu lassen, würdest du es niemals vergessen.«

Besudelt. Rune verabscheute sein Blut. Schlimmer noch, sie wusste, wie tief seine Abscheu reichte. Einige Dinge in seinem Kopf waren zu auffällig, als dass er sie vor neugierigen Blicken verbergen könnte.

Er griff in seine Tasche, auf der Suche nach dem Talisman, den er stets bei sich trug. Er war aus dem Horn eines dämonischen Ahnen geschnitzt und mit Runen beschriftet, die nicht einmal er entziffern konnte, und half ihm immer dabei, sich zu konzentrieren, erinnerte ihn daran, in die Zukunft zu blicken.

Plötzlich fuhr Sians Kopf hoch.

»Mein Bruder ist tot?« Sians Zwillingsbruder, der Vater der Schrecken, war so hässlich gewesen wie Sian makellos – was den Körper betraf.

Rune nickte. »Er wurde in einem Wettkampf getötet. Vor der jubelnden Menge ermordet.«

Blace schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Ein Primordial wie der Vater der Schrecken kann nicht getötet werden.«

»Er wurde erschlagen, von einem einfachen Unsterblichen«, erwiderte Rune. »Heutzutage kämpft in den Reichen Gaias nicht länger eine Spezies gegen die andere. Sie haben sich zu Armeen zusammengeschlossen. Und mehr noch, diese Unsterblichen töten nicht nur Primordiale. Sie ermorden sogar Götter.«

Allixta lächelte spöttisch. »Vielleicht hat dein schmutziges Blut inzwischen dein Gehirn verfaulen lassen. Gottheiten können nicht von Unsterblichen ermordet werden.«

Rune wandte sich von ihr ab und den anderen zu. »Diverse Götter sind ums Leben gekommen, alle im letzten Jahr. Einschließlich einer der Hexengottheiten.« Während Allixta noch vor Zorn geiferte, spulte Rune die Namen alter Gottheiten ab, die nun für alle Zeiten ausgelöscht waren. Er musterte Orions Schultern auf Anzeichen von Anspannung.

Was würde ein Gott wohl angesichts des Todes seinesgleichen fühlen?

Aber Orion starrte nur auf die Welten, die flackernd vorbeizogen.

»Warum vertraust du darauf, dass diese Informationen von deinen … Nymphen richtig sind?«, verlangte Allixta von Rune zu wissen.

»Weil ich sie gut in ihrer Lieblingswährung bezahle: harte Ficks mit einem strammen Schwanz. Und zufällig verfüge ich auf dem Gebiet über unermessliche Reichtümer.«

Ehe sie zu einer vernichtenden Antwort ansetzen konnte, sagte Blace: »Diese Morde sind tatsächlich geschehen. Lies seine Gedanken, Allixta. Die Informationen sind alle dort.«

»Sie scheinen miteinander verbunden zu sein«, meldete sich Sian zu Wort. »Es ist so, als ob jemand versuche, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ja sogar unsere Anwesenheit wünscht. Wer würde es wagen?«

»Eine Walküre namens Nïx die Allwissende«, antwortete Rune. »Die Primordiale ihrer Spezies.« Den Nymphen zufolge war es Nïx, die diese Morde eingefädelt hatte. »Sie ist eine Wahrsagerin und Wunscherfüllerin. Kurz davor, selbst zur Göttin zu werden.«

Orion machte aus Feinden oft Verbündete – so war es auch mit Blace, Allixta und zwei der schlafenden Møriør gewesen. Würde der Gott auch die primordiale Walküre anwerben?

Orion hob die Hand. Die Projektionen wurden langsamer, schließlich blieben sie bei dem Bild eines roten Planeten stehen. Er legte den Kopf auf die Seite, nahm Dinge wahr, die kein anderer wahrnehmen konnte.

Schwäche.

Er konnte die Verwundbarkeit eines Mannes, einer Burg, einer Armee erkennen. Einer ganzen Welt.

Der Zerstörer bog langsam die Finger, bis seine Hand eine Faust bildete. Der Planet begann, seine Form zu verlieren, er implodierte, als ob Orion ein Stück Pergament zerknittern würde.

Ahmte Orion die Zerstörung nach? Oder verursachte er sie?

Die Welt schrumpfte und schrumpfte, bis sie … verschwand. Ein ganzes Reich war weg. Seine Einwohner tot.

Orion drehte sich zu den anderen um. Seine Miene wirkte nachdenklich, aber seine Augen … dunkel und eisig, wie der Abgrund, aus dem Sian stammte. Sein unergründlicher Blick fiel auf Rune. »Bring mir den Kopf der Walküre, Bogenschütze.«

Kein Bündnis. Nur der Tod. Warum versuchte er nicht, Nïx umzustimmen? Es waren noch zwei Sitze am Tisch frei, und eine Hellseherin war immer eine Bereicherung. Es hieß in der Mythenwelt, dass sie eines der mächtigsten Orakel sei, das je gelebt habe.

Nur schade, dass sie nicht in der Lage war, in die eigene Zukunft zu sehen.

Rune tat seine Neugier mit einem Schulterzucken ab. Er liebte die Walküren sowieso nicht. Sie waren loyale Verbündete der Feyden, einer landnehmenden Spezies von Sklavenhaltern und Vergewaltigern.

So wirst du nun also gemäß deines Umgangs beurteilt, Nïx.

Rune wusste, dass sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durch die Straßen einer gewissen Stadt der Sterblichen streifte, wo stets die Sünde lockte. Ganz in der Nähe befand sich eine bedeutende Schar von Wassernymphen. Auch Baumnymphen gab es dort.

Sie hatten ihre Augen und Ohren in jedem Tümpel, jeder Eiche und jeder Pfütze.

Im Namen der Pflicht werde ich jegliche Information aus ihnen herausholen. Und Rune antwortete, wie er im Laufe der Jahrtausende schon so oft geantwortet hatte: »Es ist so gut wie erledigt, mein Gebieter.«

4

Gegenwart

New Orleans

»Oh ihr Götter, Rune, ich bin gleich so weit! Bittebittebitteohihrgötter, ja, ja, JAAAAAA!«

Als Jo mit ihrem Supergehör mitbekam, wie sich schon die dritte Frau – an ein und demselben Ort – auf dem Weg zur Ekstase die Lunge aus dem Leib schrie, war ihr Interesse geweckt.

Es war Zeit, mit dem Kerl, den sie gerade würgte, zum Ende zu kommen.

Sie hielt ihn gegen eine Ziegelmauer gedrückt, völlig unbeeindruckt von seinem Gezappel. Er war in ihr Territorium eingedrungen, und das mit einem Zuhälterstock.

Für Jo bedeutete der Anblick dieses mit Gold oder Diamanten aufgemotzten Macho-Symbols nur eins: Die Jagdsaison war eröffnet. Zusätzlich hatte der Scheißkerl damit auch noch eine Prostituierte verprügelt, ein Mädchen, das jünger als Jo war. Die Kleine saß zusammengekauert am Straßenrand und sah Jo beim Erteilen der Strafe zu, während ihre Wange immer dicker wurde.

»Wirst du noch einmal hierherkommen?«, fragte Jo, obwohl er gar nicht in der Lage war, zu antworten. Sie drückte zu, bis Dinge kaputtgingen – die Luftröhre dieses Kerls war zerquetscht. »Hm?«

Er starrte in ihre Augen und versuchte, den Kopf zu schütteln.

»Wenn doch. Bist du tot. Kapiert?« Er versuchte ein Nicken. »Und solltest du jemals wieder eine Frau schlagen, werde ich zu dir kommen. Wenn du aufwachst, werde ich über deinem Bett schweben, dein ganz persönlicher Albtraum.« Sie fletschte die Fänge und zischte.

Er begann zu urinieren, Berufsrisiko, also schleuderte sie ihn über den benachbarten Parkplatz.

Das Mädchen sah zu Jo auf. »Danke, Lady Shady.«

Mein Spitzname. Irgendwie hatte sich Jos zweites Ich in die gruselige Beschützerin von Prostituierten verwandelt. Hätte schlimmer kommen können. »Ja klar. Is schon okay.«

Als Jo sich den Dreck von den Händen wischte, hörte sie bereits den nächsten Schrei. »Rune! Rune! JA!«

Alle drei verzückten Frauen hatten den Namen von diesem Rune geschrien.