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**Die Elfenwelt ist nur einen magischen Sprung entfernt** Eben noch wurde die 16-jährige Lucy in ihrem Zuhause von Unbekannten angegriffen, als sie sich im nächsten Moment auf einer Wiese in einer fremden Welt wiederfindet. Ein Portal hat sie in ihre eigentliche Heimat, das Reich der Elfen, gebracht. Lucy will das alles nicht glauben, immerhin ist sie ein ganz normales Mädchen und soll jetzt plötzlich die verloren geglaubte Tochter des Elfenkönigs sein? Ohne mich, denkt sie. Doch die Frage nach dem Grund für den Angriff und die Sorge um ihre Familie bringen Lucy schließlich dazu, ihr Schicksal – zumindest vorübergehend – anzunehmen. Vielleicht liegt es aber auch an den eisblauen Augen von Daan, der stets überall da auftaucht, wo Lucy ist. Auch wenn in seinem Blick noch etwas liegt, das sie einfach nicht deuten kann… Mit »Prinzessin der Elfen« kreiert Nicole Alfa eine bezaubernde Geschichte über die Kraft einer verbotenen Liebe. Dabei entführt sie uns in das faszinierende Reich der Elfen, aus dem kein Leser je wieder zurückkommen möchte. //Alle Bände der zauberhaft-magischen Buchserie »Prinzessin der Elfen«: -- Prinzessin der Elfen 1: Bedrohliche Liebe -- Prinzessin der Elfen 2: Riskante Hoffnung -- Prinzessin der Elfen 3: Zerstörerische Sehnsucht -- Prinzessin der Elfen 4: Verratenes Vertrauen -- Prinzessin der Elfen 5: Verlorene Gefühle -- Sammelband aller 5 Bände der Bestseller-Fantasyserie »Prinzessin der Elfen«// Diese Reihe ist abgeschlossen.
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Nicole Alfa
Prinzessin der Elfen 1: Bedrohliche Liebe
**Die Elfenwelt ist nur einen magischen Sprung entfernt** Eben noch wurde die 16-jährige Lucy in ihrem Zuhause von Unbekannten angegriffen, als sie sich im nächsten Moment auf einer Wiese in einer fremden Welt wiederfindet. Ein Portal hat sie in ihre eigentliche Heimat, das Reich der Elfen, gebracht. Lucy will das alles nicht glauben, immerhin ist sie ein ganz normales Mädchen und soll jetzt plötzlich die verloren geglaubte Tochter des Elfenkönigs sein? Ohne mich, denkt sie. Doch die Frage nach dem Grund für den Angriff und die Sorge um ihre Familie bringen Lucy schließlich dazu, ihr Schicksal – zumindest vorübergehend – anzunehmen. Vielleicht liegt es aber auch an den eisblauen Augen von Daan, der stets überall da auftaucht, wo Lucy ist. Auch wenn in seinem Blick noch etwas liegt, das sie einfach nicht deuten kann …
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Vita
Danksagung
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© privat
Nicole Alfa schrieb bereits mit elf Jahren die Erstfassung für ihre Debütreihe. Nachdem sie ihre Manuskripte auf einer Plattform für Autoren hochlud und dort Zuspruch von ihren Lesern bekam, verfestigte sich ihr Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Oft lässt sie sich für ihre Charaktere und deren Schicksale durch ihre Umgebung, Erfahrungen, Musik oder Fotos inspirieren. Ihr Motto ist es, nicht aufzugeben, auch wenn andere sagen, dass es unmöglich ist.
Für Morle, Minka und Mikesch.
Ich werde euch immer im Herzen tragen.
So einz’ge Lieb’ aus großem Hass entbrannt!
Ich sah zu früh, den ich zu spät erkannt.
O Wunderwerk! ich fühle mich getrieben,
Den ärgsten Feind aufs zärtlichste zu lieben.
Ich schrecke hoch. Ein ohrenbetäubender an- und abschwellender Alarm dringt an mein Ohr. Zuerst denke ich, dass es mein Wecker ist und ich schon aufstehen muss. Doch dann bemerke ich das rote Licht der Alarmleuchte an der Wand neben meiner Zimmertür, die sich in einem monotonen Rhythmus um sich selbst dreht. Der Lärm dringt aus der Lautsprecheranlage über mir.
Ich runzle die Stirn und streiche mir müde meine Haare aus dem Gesicht. Dann sehe ich mich blinzelnd um. Die langen, schweren Vorhänge vor den Fenstern sind zurückgezogen, sodass ich in den dunklen Himmel blicken kann, in dem die Sterne leuchten.
Für heute Nacht war kein Probealarm angekündigt.
Mit klopfendem Herzen schlage ich die Decke zurück, springe aus meinem Bett und renne auf den Balkon links von mir zu. Krampfhaft umklammere ich den Anhänger meiner Kette – das fingergroße Abbild eines Mädchens, das eine Krone auf dem Kopf trägt. Er ist aus sandfarbenem Marmor gefertigt, lediglich die Augen bestehen aus grünen Edelsteinen. Die Figur stellt mich dar. Sie wurde mir von meinen Eltern zur Geburt geschenkt. Seitdem habe ich sie immer getragen. Sie ist wie ein Anker, an dem ich mich festhalten kann.
Sowie ich die Balkontür erreicht habe, mischen sich Stimmen und laute Schreie unter den Alarm, die mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagen. Ich habe Angst, dass das, was ich gleich sehen werde, schrecklich ist. Doch meine Neugier ist stärker.
Ich lege meine zitternde Hand auf die Türklinke, drücke sie hinunter und trete nach draußen. Den kalten Steinboden unter meinen nackten Füßen registriere ich kaum, als ich zum Geländer stürze. Dort stelle ich mich auf Zehenspitzen und stütze mich mit den Händen ab, um besseren Halt zu haben.
Kalter Wind streift mein Gesicht und zerzaust unsanft meine Haare. Angestrengt blicke ich nach unten auf das Palastgelände, das vom vollen Mond in ein übernatürlich helles Licht getaucht wird.
Vor Schreck bleibt mir die Luft weg. »Nein!«, hauche ich entsetzt.
Aus dem dichten dunklen Wald, der das Palastgelände umgibt, stürmen fürchterliche Wesen. Ihre Haut ist unnatürlich grau und faltig. Die Haare, so dünn wie Seide, fallen in langen, fettigen Strähnen über ihre Schultern. Sie haben große grüne Augen und eine runzelige Nase mit riesigen Nasenflügeln, die bei jedem Schnüffeln beben. Aber das Schlimmste sind die spitzen schiefen Zähne, die zu einem grässlichen Grinsen verzogen sind.
Sie sind groß, breit und stämmig gebaut, viel größer als alle Wesen, die ich kenne. Zerrissene Fetzen hängen anstelle von Kleidung an ihren Körpern. Ketten, die aus Zähnen bestehen, baumeln von ihren Hälsen.
In gebückter Haltung bewegen sie sich vorwärts. Jedoch hindert sie das nicht daran, mit ihren Schwertern, die sie in ihren riesigen Pranken halten, auf alle Bäume, Büsche und Wächter einzuschlagen, die ihnen im Weg sind. Sie weichen lediglich dem Springbrunnen und geflügelten Skulpturen aus, zertrümmern jedoch die kunstvoll angelegten Blumenbeete abseits der Wege, die von diesen gesäumt werden.
Sie sehen aus wie die Monster in den Büchern, die mir Mama und Papa immer zeigen. Die Monster, vor denen ich mich in Acht nehmen soll, weil sie böse sind. Sie haben sie als Orks bezeichnet.
Unsere Wachen heben ihre Schwerter und kämpfen tapfer, doch die Ungeheuer machen alles und jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellt. Immer mehr Wachen kommen aus dem Palast und dem angrenzenden Wohnheim für unser Personal gelaufen und ziehen mit lautem Gebrüll ins Gefecht. Immer mehr Monster stürmen mit lautem Kampfgeheul das Gelände. Schreie ertönen, Befehle werden gebrüllt, die im lauten Kampflärm untergehen. Es gibt zu viele Opfer.
Ich erschrecke, als plötzlich zwei geflügelte Wesen aufgeregt vor meinem Gesicht umherschwirren. Sie haben die gleichen spitzen Ohren wie ich, sind jedoch nicht größer als meine Handfläche. Unter ihren Kleidern aus Blättern schimmert die goldene beziehungsweise silberne Haut hindurch. Sie wirken so dünn, dass ich Angst habe, sie könnten zerbrechen, wenn ich sie berühre.
Ehe ich mich fragen kann, was sie hier machen, hebt eines der Wesen seine kleine Hand, als wolle es mich warnen.
Verwirrt sehe ich es an. Was willst du?, frage ich stumm.
»Lucy! Weg da!«, brüllt plötzlich eine männliche Stimme hinter mir.
Erschrocken drehe ich mich um. Vor mir steht ein Mann, in einen schwarzen Umhang gehüllt. Sein Gesicht liegt in der Dunkelheit der Kapuze. Ehe ich reagieren kann, packt er mich grob an der Schulter und zieht mich unsanft zu sich, zurück in mein Zimmer.
Keine Sekunde zu früh – denn hinter mir explodiert der Balkon. Durch die Druckwelle werde ich nach vorn geschleudert und pralle unsanft gegen die Wand, wo ich mir den Kopf und die Seite schmerzhaft stoße. Um nicht zu weinen, beiße ich die Zähne zusammen.
»Was …«, will ich den Fremden fragen, der sich neben mir aufrappelt. Doch die Frage, was hier los ist, bleibt mir im Hals stecken, als ich mich wieder aufrichte und erstarre.
Zitternd mache ich ein paar Schritte nach vorn an den Abgrund, wo vor wenigen Minuten noch der Balkon war. Denn wo ich eben noch stand, befindet sich nichts mehr. Als hätte es dort nie einen Balkon gegeben. Die Tür, die mich hinausgeführt hätte, ist zerstört, ebenso wie ein Teil der Wand, welche nur noch zum Teil steht. Stattdessen liegen Trümmer und Glassplitter auf der Wiese und in den Büschen.
Ein faustdicker Kloß bildet sich in meinem Hals. Es grenzt an ein Wunder, dass ich nicht auch dort unten liege oder von einem Trümmerteil getroffen wurde.
Plötzlich taucht eines der hässlichen Gesichter vor mir auf. Das Monster bleckt seine spitzen Zähne. Fauliger Atem, der mich zum Würgen bringt, strömt mir entgegen.
Panisch schreie ich wie am Spieß und stolpere zurück. Im selben Moment legt sich eine schwere Hand auf meine Schulter und ich werde unsanft weggestoßen, wodurch ich das Gleichgewicht verliere und zu Boden falle.
Mein Retter hält ein Schwert fest umklammert, mit dem er dem Eindringling mit einem gezielten Schlag den Hals durchtrennt.
Ich schlage mir die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien, als der blutende Körper zusammenbricht und der abgeschlagene Kopf daneben zu Boden fällt. Große giftgrüne Augen starren mich weit aufgerissen an.
Ein Schluchzer entfährt mir, gefolgt von Tränen, die ungehindert aus meinen Augenwinkeln entweichen. Ich ziehe die Knie an und umschlinge sie mit den Armen. »Das ist alles nur ein Traum«, murmle ich leise.
»Ich sagte doch: ›Weg da!‹«, fährt der Fremde mich wütend an und wendet sich zu mir um. Dabei rutscht ihm die Kapuze vom Kopf und entblößt sein schwarzes Haar, das zu allen Seiten absteht. Erst jetzt, wo er im Mondlicht steht, kann ich sein Gesicht erkennen und der Anblick jagt mir ein zweites Mal einen Riesenschreck ein. Er ist jung, hat ein markantes Kinn und trägt einen Dreitagebart. Eine sichelförmige Linie aus goldenen Punkten führt von seinem Kiefer zu seiner Schläfe. Was mich jedoch erschreckt, sind seine Augen. Iris und Augapfel scheinen zu einer gelb glühenden Masse verschmolzen zu sein, die an eine Flamme erinnert. Plötzlich verglüht die Farbe, als würde das Feuer erlöschen. Zurück bleiben stechend blaue Augen, die mich aufmerksam mustern.
Panisch rappele ich mich auf und stolpere vor ihm zurück.
Ich weiß, was er ist. Mama und Papa haben mir beigebracht, dass sie trotz der Friedensverhandlungen unsere Feinde sind.
Aber warum hat er mich gerettet?
Sein Gesichtsausdruck wandelt sich von zornig zu mitleidig. Ohne mich aus den Augen zu lassen, steckt er das Schwert, welches voller Blut ist, in die Halterung unter seinem Umhang, die er an einem Gürtel trägt. Langsam kommt er näher, wobei er die Hände in die Luft hält – als wolle er mir zeigen, dass von ihm keine Gefahr ausgeht.
»Es tut mir leid. Ich wollte dir das ersparen.«
Mein Blick fährt zu dem toten Körper und ich schluchze auf.
»Sieh nicht hin«, fügt er sanft hinzu. »Ich bin übrigens Gregor. Wir müssen sofort weg. Es hat einen Verräter in deiner Familie gegeben. Sie werden gleich den Palast stürmen.«
Ohne auf mich zu warten, stürmt er zu meiner Zimmertür und schiebt sich seine Kapuze wieder über den Kopf.
»Was meinst du? Wer hat uns verraten? Wer sind die? Und wo ist meine Familie? Sind sie in Sicherheit?«, rufe ich aufgelöst und habe plötzlich schreckliche Angst um meine Eltern und meine Brüder. Was, wenn sie ebenfalls von einem dieser Monster angegriffen wurden?
Alles in mir schreit danach, dem Fremden nicht zu vertrauen, weil ich genau weiß, was er ist. Da er mich aber gerade vor dem Monster gerettet hat und ich allein viel zu viel Angst habe, folge ich ihm zögernd auf einen leeren Gang hinaus.
Durch die hohen Spitzbogenfenster wirft der Vollmond sein Licht auf die hohen Steinstatuen, die zwischen den Säulen, die das Gewölbe über uns tragen, aufgereiht stehen.
Sie stellen Heerführer und Vorfahren meiner Familie dar. Hocherhobenen Hauptes halten sie Schwerter, Speere oder Pfeile und Bögen in den Händen – als würden sie etwas beschützen.
Sogleich frage ich mich, wo die Wachen sind. Sollten sie nicht schon längst hier sein, um mich in Sicherheit zu bringen? Was ist, wenn mein Retter zu den Angreifern gehört und mich in eine Falle lockt?
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folge ich dem Fremden. Wir hetzen den Gang entlang, begleitet vom monotonen Heulen der Alarmsirene, das im Palast widerhallt.
Weil ich keine Zeit hatte, mir Schuhe oder einen Mantel anzuziehen, friere ich in meinem dünnen Nachthemd. Dafür mache ich keine lauten Geräusche wie Gregors Stiefel, die bei jedem Schritt verräterisch von den Wänden zurückgeworfen werden.
Automatisch blicke ich aus einem der Fenster auf das Palastgelände. Der Kampf ist immer noch in vollem Gange. Aus dem Wald dringen mehr und mehr der unheimlichen Monstertruppen. Sie mischen sich nicht in den Kampf ein, sondern steuern direkt auf den Palast zu.
Hoffentlich sind Mama, Papa, Dylan und Danny in Sicherheit.
»Wir müssen uns beeilen«, verlangt Gregor. »Sie werden das Gebäude bereits von unten nach oben durchkämmen.«
»Aber laufen wir ihnen dann nicht entgegen? Wohin bringst du mich? Zu meiner Familie?«, frage ich. Ich will zu meinen Eltern und meinen Brüdern. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind, werden sie mich beschützen. Wir beschützen uns gegenseitig.
Ohne zu antworten, greift Gregor nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mit ihm zu stolpern.
Wir biegen um die nächste Ecke, als ein lautes Klicken ertönt. Gregor bleibt abrupt stehen. Da er mich hinter sich hergezogen hat, laufe ich direkt in ihn hinein. Seine Hand, die immer noch meine festhält, verkrampft sich.
Verwirrt sehe ich an ihm vorbei und erstarre. Vier Männer in schwarzen Uniformen haben ihre Schusswaffen auf uns gerichtet.
Wir sitzen in der Falle.
»Bleib ruhig«, ertönt Gregors Stimme in meinem Kopf.
Verwundert sehe ich ihn an. Er kann auch …?
»Wer seid ihr?«, will einer der Männer wissen. Sein Blick fällt auf mich. Ein grausames Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Ohne mich aus den Augen zu lassen, hebt er die Hand und spricht in sein Funkgerät. »Wir haben die Prinzessin. Sie ist im zweiten Stock, im Hauptgebäude.«
Ein eiskalter Schauer breitet sich auf meiner Haut aus. Mein Herz schlägt vor Angst schneller. Ich weiß nicht, was diese Männer vorhaben. Aber ich glaube nicht, dass sie mich zum Spielen einladen wollen.
Der Mann grinst uns hämisch an. Er und seine Leute haben die gleichen Tätowierungen wie Gregor. Während sie auf ihn zielen, schiebt der Anführer die Kapuze meines Retters zurück. Dann erstarrt er plötzlich. Seine Augen weiten sich ungläubig.
»Das … das kann nicht sein!«, stottert er und kneift verwundert die Augen zusammen.
Seine Komplizen scheinen ebenfalls überrascht. Unruhe macht sich zwischen ihnen breit und sie sehen sich unschlüssig an.
»Das ist doch … Ist das nicht Gregor?«, raunt ein anderer zweifelnd und mustert meinen Retter eingehend.
Der nutzt den Moment der Unachtsamkeit. Er hebt die Arme und stößt den Mann mit dem Funkgerät mit voller Wucht nach hinten. Der Rest wird durch einen heftigen Windstoß zurückgeschleudert, der meine schulterlangen Haare zerzaust. Ich schreie erschrocken auf. Die Männer prallen mit voller Wucht gegen die Wände, ihre Waffen fallen mit einem lauten Poltern zu Boden.
Verdattert sehe ich Gregor an. Das ist doch eigentlich nicht möglich. Erneut beschleicht mich ein ungutes Gefühl.
Wer ist er wirklich?
Mein Retter geht auf die am Boden liegenden Männer zu und sieht jedem in die leuchtenden Augen, die plötzlich ganz glasig werden. Ich weiche langsam zurück und stoße mit dem Rücken gegen eine kalte Statue. Irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.
»Ihr werdet dieses Zusammentreffen vergessen. Ihr habt wie befohlen den Gang bewacht, aber niemand außer euren Leuten ist vorbeigekommen. Verstanden?«
Die Männer nicken wie in Trance.
»Gut. Ihr geht jetzt zurück und sucht euren Trupp, sagt ihnen, dass ihr niemanden angetroffen habt und die Prinzessin verschwunden ist.«
Die Feinde nicken erneut. Wie in Trance heben sie ihre Waffen und marschieren den Gang hinunter. Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, verschwinden sie um die nächste Ecke.
Gregor wendet sich um, ohne mich weiter zu beachten. Während ich mit offenem Mund dastehe und ihn anstarre, tasten seine Augen die Wand neben uns ab, bis er schließlich bei einem breiten Ölgemälde einem meiner Vorfahren innehält. Das Bild ist an sich nichts Besonderes, immerhin hängen im Schloss mehrere dieser Exemplare mit Abbildern verschiedener Persönlichkeiten oder Landschaften. Doch er scheint wie ich zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Seine Lippen verziehen sich zu einem zufriedenen Lächeln, als er es beiseiteschiebt. Vor uns tut sich ein dunkler Gang auf, der etwa so groß ist, dass ein Erwachsener hindurchgehen kann.
Zögerlich starre ich in die Finsternis und schlinge mir die Arme um den Oberkörper. Die Dunkelheit bereitet mir Angst.
Gregor dreht seine Hand, sodass die Innenfläche nach oben zeigt. Innerhalb weniger Sekunden wächst eine kleine, flackernde Flamme heran, die über seinen Fingern schwebt.
Erschrocken über seine Fähigkeiten weiche ich vor ihm zurück. Damit hat er allerdings meinen Verdacht bestätigt, dass er diese besonderen Kräfte hat. Im Gegensatz zu mir scheint er sie perfekt zu beherrschen.
»Wer bist du?«, frage ich ihn erstaunt.
»Ich werde dich von hier wegbringen. Mehr musst du nicht wissen«, ist seine grimmige Antwort.
»Aber …«, will ich protestieren, doch er unterbricht mich, indem er eine Hand auf meine Schulter legt.
»Du musst mir vertrauen, okay? Ich bringe dich in Sicherheit. Aber uns läuft die Zeit davon.«
Gregor nickt mit dem Kopf zu dem Tunnel. Zögernd folge ich seinem Blick. Mein Herz pocht wie verrückt, als ich in das gähnende dunkle Loch schaue. Dort ist nichts außer eiskalte Dunkelheit, die mich zu verschlingen droht.
Ich will, dass dieser schreckliche Albtraum endlich vorbei ist. Ich will aufwachen und zu meinen Eltern. Zu Dylan und Danny. Sie wüssten, was zu tun ist.
»Feindliche Truppen wurden in eure Reihen eingeschleust. In genau diesem Moment durchsuchen sie das Gebäude nach dir und deiner Familie. Wir sitzen in der Falle. Wenn wir nicht durch den Gang fliehen, werden sie uns früher oder später finden. Dein Leben steht auf dem Spiel«, erklärt er. Dann packt er mich an der Schulter und stößt mich grob in die Dunkelheit.
Ich kann einen erschrockenen Aufschrei gerade noch unterdrücken. Aus Angst vor der Finsternis will ich umdrehen und wieder zurückrennen, aber da fällt der Bilderrahmen bereits zurück an seinen Platz. Damit verschwindet das letzte bisschen Mondlicht. Ich will schreien, dass ich hier raus will, aber da presst mir Gregor bereits eine Hand auf den Mund.
»Still«, ertönt seine Stimme in meinem Kopf. Seine glühenden Augen leuchten in der Dunkelheit, in der Hand hält er eine Fackel, die er mit seinem Feuer entzündet hat.
Ich verharre mucksmäuschenstill. Da höre ich es auch. Von der Ferne ertönen dumpfe Schritte und Befehle, als weitere Feinde durch den Gang laufen. Es gibt kein Zurück mehr.
Wir betreten eine enge Steintreppe, die uns immer weiter nach unten führt. Als ich eine Spinne an der Wand entdecke, schreie ich auf.
Erschrocken fährt Gregor herum. Als er sieht, weshalb ich geschrien habe, verfinstert sich sein Gesicht. »Willst du, dass sie dich finden?! Ich habe keine Lust, getötet zu werden, also halt die Klappe!«, flucht er leise.
Bestürzt über seine Worte weiche ich vor ihm zurück. Tränen treten mir in die Augen.
Genervt sieht er mich an. »Reiß dich zusammen!«
Eine weitere Träne rinnt über meine Wange, die ich schnell wegwische. Ich hasse es, zu weinen.
»Reiß du dich doch zusammen!«, gebe ich beleidigt zurück.
Gregor sieht mich aufgebracht an, doch dann wird seine Miene weich. »Es …« Er scheint mit sich zu ringen, während seine Augen den Boden absuchen. Es kommt mir so vor, als traue er sich nicht mich anzusehen. »Tut mir leid. Meine Aufgabe ist es, dich hier heil rauszubringen. Und das werde ich auch«, murmelt er etwas freundlicher. Bei den letzten Worten sieht er mir direkt in die Augen.
Überrascht über die plötzliche Wärme in seiner Stimme muss ich lächeln. Zögernd nehme ich seine Hand.
Gregor versteift sich und blickt wie versteinert auf mich herab. Als er das Lächeln in meinem Gesicht entdeckt, erwidert er es ungeschickt.
»Lass uns weitergehen«, meint er.
Das Feuer der Fackel und seine Augen sind die einzigen Lichter in der erdrückenden Dunkelheit. Die Flamme wirft tanzende Schatten an die unebene Steinwand, die uns auf dem Weg durch die Finsternis begleiten.
Schließlich gelangen wir an die Rückseite eines weiteren Bildes. Wir verharren still und lauschen. Als sich nichts regt, schiebt Gregor das Gemälde beiseite und wir betreten einen weiteren Gang. Links führt eine Tür nach draußen in den Garten. Doch mein Retter wendet sich nach rechts in Richtung Eingangshalle.
»Wieso gehen wir nicht nach draußen?«, frage ich und will schon zur Tür rennen, doch da umklammern seine überraschend warmen Finger mein Handgelenk.
»Wir müssen in die Eingangshalle, weil wir dort jemanden treffen«, erklärt er und zieht mich, ohne meine Antwort abzuwarten, mit sich, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als mit ihm zu stolpern.
Wir stürmen einen leeren Gang entlang, der bis auf eine Steinbank und weitere Statuenwächter leer ist. Dann erreichen wir endlich die Eingangshalle, die in bleierne Stille getaucht ist. Groß und dunkel liegt sie da. Kein einziges Licht brennt. Und nirgends stehen Wachen. Man hört nur die dumpfen Schreie und Schüsse von draußen.
Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken. Warum herrscht hier nicht helle Aufregung?
In der Mitte der Halle, vor der mächtigen Treppe, die nach oben führt, stehen zwei übergroße Statuen. Sie stellen einen Mann und eine Frau mit Flügeln dar, die hocherhobenen Hauptes über den Eingangsbereich zu wachen scheinen. Auf ihren Köpfen thronen Kronen, die ihren Stand verdeutlichen.
Das sind die Statuen meiner Eltern. Auch wenn sie nicht echt sind, geben sie mir das Gefühl, dass alles gut wird. Ich fühle mich ein wenig beruhigter.
Urplötzlich treten zwei Gestalten – ein Mann und eine Frau – aus den Schatten der Statuen. Ich weiche ängstlich zurück. Sie tragen keine schwarzen Uniformen wie die Männer zuvor. Beide sind mit Hosen bekleidet. Während die Frau einen langen Mantel trägt, hat sich der Mann eine Kapuzenjacke übergezogen. Beide haben ebenfalls eine Tätowierung im Gesicht, jedoch sehen ihre Zeichnungen anders aus als die von Gregor. Ineinander verschnörkelte Blumenranken ziehen sich unter ihren Augen und über ihren Brauen bis hin zu ihren Schläfen, wo sie sich fast berühren. Die Muster sind jedoch nicht golden, sondern haben die Farbe ihrer Augen.
»Lucy.« Die Stimme der Frau ist hell und klar.
Erleichterung macht sich in mir breit, als ich die beiden wiedererkenne. Es handelt sich um meine Tante Freya und meinen Onkel Delavar.
Freya breitet ihre Arme aus und ich laufe auf sie zu, um mich von ihr in eine warme Umarmung ziehen und in ihren blumigen Duft einhüllen zu lassen. Jetzt, wo sie da sind, habe ich nicht mehr ganz so viel Angst.
Sowie ich mich wieder von ihr löse, legt mir Delavar eine Hand auf die Schulter. »Alles wird gut«, meint er und lächelt sanft auf mich herab.
Wenn wirklich alles gut wird, warum sehe ich dann Sorge und Angst in seinen dunkelbraunen Augen aufflackern?
»Gregor«, wendet sich Freya an meinen Retter.
Er zuckt erschrocken zusammen, als er seinen Namen hört. Meine Tante breitet wie bei mir zuvor zur Begrüßung ihre Arme aus, als wären sie alte Freunde, die sich lange nicht gesehen haben. Doch Gregor tritt von ihr weg und ignoriert ihre Geste. Mir fällt auf, dass Delavar ihn und meine Tante aus zusammengekniffenen Augen mustert.
Gregor blickt sich hektisch um, als erwarte er, dass jede Sekunde weitere Feinde zu uns stoßen. »Ihr müsst euch beeilen. Sie werden gleich da sein und wenn sie mich erkennen, bin ich tot.«
Ich sehe ihn erschrocken an.
»Sie werden schon allein deswegen Verdacht schöpfen, weil du deine Magie verwendet hast. Und das hast du doch, oder nicht?«, meint Delavar sarkastisch, fast vorwurfsvoll, und fährt sich durch die braunen Haare. Er funkelt Gregor vernichtend an.
»Es war notwendig, aber das verstehst du nicht«, entgegnet Gregor wütend. »Ich setze im Gegensatz zu dir mein Leben aufs Spiel«, fügt er mit finsterer Miene hinzu, woraufhin Freya sich auf die Lippen beißt und schuldbewusst zu Boden blickt.
»Du bist nicht der Einzige, der sein verdammtes Leben aufs Spiel setzt! Du weißt genau, was los ist, wenn sie uns hier entdecken! Wir begehen alle Hochverrat!«, knurrt Delavar und tritt wütend auf Gregor zu. Der bleibt gelassen stehen und erwidert seinen Blick stur.
»Hört auf!«, mischt sich jetzt Freya ein und stellt sich zwischen die beiden. Mit ihren rotbraunen Haaren erinnert sie mich an die Flamme, die vorhin über Gregors Hand schwebte. Sie legt sanft ihre Hände auf die Brust meines Onkels und schiebt ihn von sich weg. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Euer kindisches Verhalten ist nicht mehr auszuhalten!«, fügt sie entnervt hinzu und sieht Gregor mit geschürzten Lippen und erhobener Braue an.
Der tritt schnell ein paar Schritte zurück, sodass er neben mir steht. Mir entgeht der traurige, fast sehnsüchtige Blick nicht, den er meiner Tante zuwirft. Mit zusammengepressten Lippen sieht er schließlich zu Boden.
Auf einmal ertönen Schritte, die die Erwachsenen verstummen lassen. Besorgt sehen sie sich an. Gregor schiebt mich unruhig zu meiner Tante und meinem Onkel.
»Du tust das Richtige«, meint Freya und für einen kurzen Moment meine ich so etwas wie Angst und Bedauern in ihren dunkelgrünen Augen zu erkennen.
Gregor ignoriert sie. Ich ringe kurz mit mir, doch dann trete ich vor und umarme ihn. Er versteift sich überrascht, lässt es aber widerwillig zu.
»Danke«, flüstere ich leise, sodass nur er es hören kann. Dann sehe ich ihn an. Für einen kurzen Augenblick breitet sich Wärme in seinen Augen aus. Aber der Moment ist schnell wieder vorbei und sein Gesicht verfinstert sich.
Er schiebt mich wieder zu den beiden. »Nehmt das kleine Monster mit und passt gut auf sie auf.«
Freya und Delavar nehmen mich an der Hand und Gregor verschwindet im Schatten der Halle, ohne sich noch einmal umzudrehen. Oder hat er es doch getan? Ich habe ganz kurz das Feuer in seinen Augen gesehen, das in der Dunkelheit aufflammte. Ich hoffe, er wird nicht entdeckt.
Neugierig schiele ich zu Freya, die ihm traurig hinterhersieht. Doch dann werden Stimmen in der Eingangshalle laut. Mehrere schwarz uniformierte Männer treten an das Geländer im ersten Stock, während andere mit Sturmgewehren im Anschlag durch die Eingangstür stürmen.
Ängstlich weiche ich zurück und verstecke mich hinter meinen Beschützern. Sie sind die einzige Mauer, die mich von den Feinden trennt. Panik macht sich in mir breit. Sie haben mich gefunden. Haben sie meine Eltern und meine Brüder auch?
»Händigt uns die Prinzessin aus und euch wird nichts geschehen!«, verlangt der Anführer der Truppe, ein breitschultriger Mann mit einer lang gezogenen Narbe, die von der Augenbraue quer über sein Gesicht bis zu seinen Lippen verläuft.
Seine Männer richten ihre Waffen auf uns und kreisen uns langsam ein. »Fliehen wird euch nichts bringen. Wir kriegen sie früher oder später.« Dann wendet er sich böse lächelnd an mich. »Willst du dem nicht ein Ende machen, Lucyana? Willst du denn nicht, dass es aufhört? Willst du, dass weitere unschuldige Leute wegen dir und deiner Familie sterben? Du brauchst nur zu uns kommen und es wird aufhören.«
Ich schiebe mich zwischen meinen Beschützern hindurch und halte seinem Blick wütend stand – auch wenn ich Angst habe. Aber meine Sorge um meine Familie ist stärker. Ich glaube ihm nämlich kein Wort. »Lieber fasse ich eine Spinne an!«
Der Mann scheint kurz verwirrt. Dann befiehlt er seinen Männern auf meine Tante und meinen Onkel zu schießen.
Wieder ist jemand wegen mir in Gefahr. Aber das lasse ich nicht zu. Ich werde auf sie aufpassen.
Ohne zu wissen warum, hebe ich die Arme. Energie durchströmt mich und breitet sich in meinem gesamten Körper bis in meine Fingerspitzen aus. Dann fließt sie aus meinen Händen und verwandelt sich in einen starken Luftstoß, der auf die Feinde zuströmt. Er ist so gewaltig, dass sie umgeworfen werden und ich zurücktaumele. Ich spüre, wie mich meine Kräfte verlassen. Erschöpfung macht sich in mir breit und ich schwanke. Meine Beine drohen unter mir wegzuknicken.
Freya und Delavar überlegen nicht lange. Während die Feinde sich wieder aufrappeln und ihr Anführer den nächsten Befehl zum Schießen gibt, holt meine Tante ein Amulett aus ihrer Manteltasche hervor, das den Raum in ein helles, gleißendes Licht taucht, sodass ich mehrmals blinzeln muss.
Ich höre noch, wie der Anführer brüllt: »Wir werden dich finden, Lucyana! Und dann wirst du dir wünschen, du wärst freiwillig mit uns gegangen!« Dann werde ich zurückgeworfen und alles verschwimmt.
Der Anführer gibt den nächsten Befehl zum Schießen. Er ruft mir etwas zu, das mir durch Mark und Bein geht. Ein gleißendes Licht blendet mich, dann werde ich zurückgeworfen und alles verschwimmt.
Erschrocken reiße ich die Augen auf und sehe mich mit klopfendem Herzen um. Die Worte hallen in meinem Kopf wider und jagen mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Mein Herz rast wie verrückt, sodass ich mir vorkomme, als wäre ich gerade laufen gewesen.
»Was? Wie? Wo?«, murmle ich und halte meine Hände in Kampfbereitschaft vor meiner Brust. Mit zusammengekniffenen Augen mustere ich die Umgebung. Doch da ist niemand. Keine schwarz gekleideten Männer. Kein Palast. Kein Gregor. Nur die hellgelben Wände meines Zimmers. Mein Kleiderschrank steht auch noch an Ort und Stelle, ebenso wie der Schreibtisch vor dem offenen Fenster.
Zitternd streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht. Dann lasse ich meinen Kopf erleichtert zurücksinken und atme langsam aus, um meinen schnellen Puls zu beruhigen. Ich habe nur geträumt. Schon wieder.
Automatisch fasse ich an den fingergroßen Anhänger, der an meiner Kette baumelt. Es ist derselbe wie aus meinem Traum.
Und wie immer frage ich mich, was er zu bedeuten hat, weil er sich so real anfühlt. Ganz im Gegensatz zu meinem Leben.
Anstatt auf eine normale Schule zu gehen, bekomme ich Privatunterricht von meiner Tante und meinem Onkel. Nicht nur in Mathe, Geschichte oder was man normalerweise in der Schule lernt. Nein, ich werde neben dem Konditionstraining vor allem in Selbstverteidigung trainiert. Lerne, wie ich mich bei einem Überfall oder Angriff am effektivsten verteidigen und schützen kann. Derek hat mir sogar beigebracht, wie ich mit einer Schusswaffe umzugehen habe. Anfangs schockierte es mich, da ich derartige tödliche Waffen nicht in die Hand nehmen wollte. Doch irgendwann schaffte er es doch, mich dazu zu überreden und mit mir zu üben auf Zielscheiben zu schießen, die er im Keller an die Wand hing.
Meine Eltern sind tot. Angeblich sind sie vor neun Jahren bei einem Autounfall gestorben. Erinnerungen an sie habe ich nicht, was mich traurig macht. Sollte man sich nicht wenigstens an irgendetwas erinnern? Zudem habe ich noch nie ihr Grab gesehen. Ilona und Derek sind bei diesem Thema sehr angespannt.
Manchmal frage ich mich, ob sie mir wirklich die Wahrheit über meine Eltern gesagt haben. Ich habe schon oft Schränke durchwühlt, nach Fotos und Hinweisen oder Beweisen gesucht, jedoch nichts gefunden. Nicht einmal Fotos von meinen Eltern. Dabei hätte ich gern gewusst, wie sie ausgesehen haben. Ob ich ihnen ähnlich sehe.
Das Verhalten meiner Tante und meines Onkels ist merkwürdig und sie sind oft so paranoid, dass ich sie am liebsten zum Psychologen schicken würde. Aber wahrscheinlich hat ihr Beruf sie zu dem gemacht, was sie jetzt sind.
Sie sind Personenschützer, werden von wichtigen Persönlichkeiten engagiert. Je nachdem, wo diese wohnen, ziehen wir dorthin. Einmal haben wir fünf Mal im Jahr den Ort gewechselt. Oft sehr überstürzt und plötzlich.
Jetzt wohnen wir seit einigen Wochen in irgendeiner Vorstadt in der Nähe von New York. Den Namen habe ich mir nicht gemerkt, weil es in einigen Monaten sowieso wieder woandershin gehen wird.
Es ärgert mich, dass ich noch nie ein richtiges Zuhause hatte. Ich hatte nie die Chance, das Leben eines normalen Teenagers zu leben.
Während andere Jugendliche in meinem Alter zur Schule gehen, habe ich Selbstverteidigungsunterricht mit Derek. Während Mädchen in meinem Alter mit einem Jungen ausgehen, sitze ich mit Derek und Ilona fest, weshalb ich mich wie eine Gefangene fühle.
Letztes Jahr wollte ich mit ein paar Mädchen und Jungs, die ich in Australien kennenlernte, auf eine Strandparty gehen. Derek und Ilona haben es natürlich nicht erlaubt, weshalb ich mich heimlich davonschleichen wollte. Allerdings haben mich die beiden abgefangen, als hätten sie bereits gewusst, was ich vorhatte.
Und das war nicht das erste Mal. Sie kennen mich anscheinend so gut, dass sie immer wissen, was ich vorhabe und was in mir los ist. Aus diesem Grund ist es sehr schwer, ihnen etwas vorzuspielen.
Als wäre mein Leben nicht schon verrückt genug, muss ich auch noch diesen verwirrenden Traum träumen. Ausgelöst wurde er durch gelb glühende Augen, die ich vor ein paar Tagen im Garten gesehen habe. Entweder war es ein Tier oder ich habe es mir nur eingebildet. Aber seitdem träume ich diesen immer wiederkehrenden Traum, der sich wie eine Erinnerung in mein Gehirn eingebrannt hat und mir eine Heidenangst einjagt.
Da ich so aufgewühlt bin, dass ich nicht mehr einschlafen kann, schlage ich die Decke zurück und ziehe fluchend meine Jeans und ein T-Shirt an. Dann laufe ich hinaus in den Flur. Von unten dringen leise Stimmen aus dem Fernseher an mein Ohr. Derek und Ilona sind also schon wach.
Sie sind sich so ähnlich und manchmal doch so gegensätzlich.
Derek ist derjenige, der meistens alles mit Humor nimmt, während Ilona sehr ernst ist. Mein Onkel lässt mir mehr durchgehen als meine Tante. Ich glaube, er hätte mir sogar erlaubt auf die Strandparty zu gehen, wenn ich mich nicht davongeschlichen hätte. Vermutlich wäre er mir dann nachgelaufen und hätte aufgepasst, damit mir nichts passiert. Seiner Meinung nach sind Jungen gefährlich für Mädchen in meinem Alter. Aber ich kann nicht verstehen, was so schlimm daran sein sollte, sich zu verlieben, einen Jungen zu küssen oder Erfahrungen zu sammeln. Der erste Kuss, das erste Date … Wie lange wünsche ich mir das schon.
Missmutig betrete ich die Küche. »Morgen«, murmle ich lustlos.
Ilona sitzt am Küchentisch und trinkt ihren Kakao. Derek steht, bekleidet mit einem engen dunkelblauen Shirt und einer locker anliegenden Jogginghose, an der Küchenzeile und gießt sich Kaffee auf.
Die beiden werfen sich vielsagende Blicke zu. Ich kann meine überragende Stimmung heute aber auch nicht verbergen. Sollen sie nur merken, dass mir etwas nicht passt. Es sind Sommerferien. Andere in meinem Alter sind jetzt auf dem Weg in den Urlaub, mit ihren Freunden oder ihrer Familie. Und was mache ich? Sitze zu Hause wie in einem Gefängnis fest und komme nicht raus. Und das finde ich ganz und gar nicht in Ordnung.
Leicht gereizt stelle ich mich neben Derek und schiebe ihn dabei unsanft zur Seite.
»Was soll das werden, junge Dame?«, fragt er mit strenger Stimme. Ich kann allerdings den amüsierten Ton heraushören, was meine Laune nur noch mehr verschlechtert. Super. Jetzt machen sie sich auch noch lustig über mich.
Genervt drehe ich mich um und blicke ihm in die dunkelbraunen Augen. »Was?«, fahre ich ihn finster an. Kann er mich nicht einmal in Ruhe lassen?
Ich weiß, dass ich ein wenig zickig reagiere. Aber der Traum ist nicht das Einzige, was mir zu schaffen macht.
Zuerst konnte ich aufgrund der Hitze in meinem Zimmer nicht einschlafen. Das Öffnen des Fensters um halb eins hat nichts gebracht. Und als ich dann endlich eingeschlafen bin, bin ich immer wieder aufgewacht, weil ich mir eingebildet habe vor meinem Zimmer etwas herumfliegen zu sehen. Es sah aus, als würden kleine Menschen mit goldener oder silberner Haut vor meinem Fenster schweben und mich anstarren. Sie sahen aus wie diese Flatterwesen aus meinem Traum. Und das wiederum erklärt, dass ich entweder einen weiteren Traum hatte oder es mir nur eingebildet habe.
Derek sieht mich stirnrunzelnd an und wirft Ilona einen vielsagenden Blick zu. Diese reißt ihre Augen überrascht auf.
Jetzt geht das wieder los. Die stumme Konversation, an der ich anscheinend nicht teilhaben darf. Aber dann wendet er sich wieder mir zu.
»Deine Laune heute bringt die Sonne wahrlich zum Strahlen«, meint er grinsend, während er sich mit seiner Tasse und der Morgenzeitung zu Ilona an den Tisch setzt. Mein Onkel haucht ihr einen Kuss auf die Stirn. Daraufhin wird sie so rot wie ihr Morgenmantel und sieht ihn lächelnd an.
Die beiden sind schon so lange zusammen und lieben sich noch so, als wäre es erst gestern gewesen. Sie sind auch noch relativ jung. Vor ein paar Wochen wurde Derek neunundzwanzig. Für mich sind sie manchmal eher wie Freunde als wie Pflegeeltern oder Verwandte. Vor allem Ilona ist mehr meine beste Freundin als meine Mutter, was die ganze Situation nur noch schlimmer macht.
So sehr ich die beiden auf den Mond schießen könnte, ich liebe sie so, als wären sie meine richtigen Eltern. Und ich finde es total süß, wie vertraut sie miteinander umgehen. Klar streiten sie sich immer mal wieder, das ist normal. Aber die Art, wie sie sich ansehen … Man merkt, dass sie sich wirklich lieben.
So etwas wünsche ich mir auch. Einen Freund, der mich so ansieht. Der mich zum Lächeln bringt, wie Derek es bei Ilona schafft. Aber dieses Glück ist mir nicht vergönnt, weil ich keine Jungs kennenlernen darf. Zumindest nicht bis zu einem gewissen Alter, wie Derek immer behauptet. Dabei bin ich mit meinen sechzehn Jahren doch alt genug Jungs kennenzulernen. Aber wenn es nach ihnen ginge, würde ich mit achtzig Jahren immer noch Jungfrau sein. Ich sehe mich schon in dem Alter einsam in meiner Wohnung sitzen, meine einzige Gesellschaft sind zwölf Katzen.
Missmutig hole ich den Milchkarton aus dem Kühlschrank, fülle eine Tasse bis zum Rand und stelle sie in die Mikrowelle. Während ich darauf warte, dass die Milch endlich warm wird, sehen Derek und Ilona mich aus den Augenwinkeln an. Da es mir ein wenig unangenehm wird, trommle ich nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Dabei werfe ich einen Blick durch das Fenster hinter der Spüle. Von hier aus kann ich auf den Garten blicken.
Derek achtet bei der Häuserwahl immer darauf, dass ein Garten vorhanden ist. Ilona ist eine richtige Pflanzen- und Tierfanatikerin. Sie kann mir jeden Namen eines Tieres und einer Pflanze nennen und liebt Gartenarbeit. Oft sitzt sie im Sommer draußen und bepflanzt Blumen- und Gemüsebeete, während Derek den Rasen mäht. Ich sitze dann mit einem Buch auf einem Hängesessel oder einer Schaukel und sehe ihnen dabei zu. Oft grillen wir abends und setzen uns gemütlich zusammen. In diesen seltenen Momenten fühle ich mich wie zu Hause angekommen. Als wären wir wirklich eine kleine, glückliche Familie.
Der Garten ist sehr groß und mit hohen Büschen und Bäumen bewachsen. Dahinter befindet sich ein riesiger Zaun, der Einbrecher abhalten soll. Insgeheim frage ich mich, ob er dazu da ist, mich hier festzuhalten.
Keiner sagt etwas, nur die Stimmen aus dem Flachbildfernseher durchdringen die unangenehme Stille. Es läuft irgendeine langweilige Nachrichtenshow. Die Meldungen interessieren mich so viel wie unser nächstes Wohnziel in ein paar Monaten. Die Nachrichtensprecherin, die gerade über den ach so tollen Spätsommer erzählt, der uns noch erwartet, kann diese erdrückende Stille nicht vertreiben. Denn ich werde ganz sicher nicht ins Freibad gehen dürfen. Zumindest nicht ohne pflegeelterliche Aufsicht.
Derek liest in der Zeitung und schlürft ab und zu von seinem Kaffee, meine Tante dreht ihre Tasse im Kreis. Ihre Augen wandern zu mir und begegnen meinem finsteren Blick. Soll sie nur merken, dass es mir überhaupt nicht passt, wie sie sich verhalten. Kurz sieht sie verletzt aus, aber dann leuchten ihre dunkelgrünen Augen strahlend auf, als hätte sie einen blendenden Einfall, der den heutigen Tag retten könnte.
»Willst du mit zum Einkaufen fahren? Danach können wir noch etwas Essen gehen«, schlägt sie vor und lächelt mich warm an. Wenn ich sie so fröhlich sehe, fällt es mir schwer, mich so rebellisch zu verhalten. Dabei will ich doch nur, dass sie mir mehr Freiheit geben. Ich will einfach nur wie ein normales Mädchen leben dürfen. Aber das alles ist nur Wunschdenken. Denn mein Leben wird das nicht zulassen.
Da ich froh bin, dass sie die Stille durchbrochen hat, nicke ich nur stumm.
Sie bedenkt mich mit einem hilflosen Blick. »Lucy, wir wissen, dass es ist nicht leicht für dich ist«, beginnt sie.
Innerlich stöhne ich auf. Jetzt geht das schon wieder los. Ich bin es leid, diese andauernden leeren Entschuldigungen zu hören. Deshalb lache ich höhnisch auf. »Ihr wisst, wie schwer es für mich ist? Dass ich nicht lache. Denn wenn ihr es wüsstet, würdet ihr mich nicht hier festhalten«, falle ich ihr ins Wort und schlage aufgebracht mit der Hand auf den Tisch, sodass die Tassen gefährlich wackeln.
Derek, der bisher teilnahmslos in seiner Zeitung gelesen hat, sieht auf. Sein Gesichtsausdruck zeigt, dass er nicht gerade begeistert über mein Verhalten ist. Wütend erwidere ich seinen Blick. Ich bin nicht diejenige, die das Leben anderer Personen versaut.
»Wir tun das nur zu deinem Besten«, versucht meine Tante mir zu erklären.
Empört reiße ich die Augen auf. »Zu meinem Besten? Wenn ihr das zu meinem Besten tun würdet, würdet ihr mich endlich rauslassen, ohne mich jedes Mal zu eskortieren!«, fahre ich sie aufgebracht an.
»Ich glaube, wir sollten gleich aufbrechen«, will Derek den Streit beenden und wirft Ilona einen warnenden Blick zu. Die erwidert ihn frustriert. Sie sehen sich lange an. Sehr lange.
Derek ist nicht sehr streitsüchtig. Er wiegelt lieber alles ab oder unterbricht die Diskussionen, während Ilona auf ihrer Meinung besteht. Aber dann wird ihr Blick weich und schließlich nickt sie. Danach sieht sie mir in die Augen.
»Es tut mir leid, Lucy.«
Schweigend sehe ich sie an, dann zu Derek, der mich nur stumm und nachdenklich beobachtet. So sehr ich ihnen auch meine Meinung sagen möchte: Ich habe keine Lust, den restlichen Vormittag allein in meinem Zimmer zu verbringen. Also schlucke ich meine Wut runter. Dann renne ich in den Flur und schnappe mir meine Kopfhörer, meinen iPod und den Autoschlüssel von der kleinen Kommode neben der Haustür. Erst da fällt mir auf, dass meine Milch noch in der Mikrowelle steht. Muss ich wohl mit leerem Magen aus dem Haus gehen …
Bevor noch irgendjemand etwas sagen kann, stürme ich die Einfahrt hinunter, an unserem Vorgarten vorbei, der mit hohen Bäumen, Büschen und Gestrüpp überwuchert ist. Bei unserem Auto angekommen entriegele ich die Türen und werfe mich auf den Rücksitz. Dort schalte ich die Musik ein und warte darauf, dass Derek und Ilona endlich nachkommen.
Ich werfe einen kurzen Blick zurück und kann durch das Küchenfenster sehen, wie Derek und Ilona miteinander diskutieren. Schuldgefühle überkommen mich. Sie streiten nur wegen mir. Aber sie müssen endlich verstehen, dass ich fast erwachsen und kein kleines Kind mehr bin.
Um die Langeweile zu vertreiben, summe ich die Melodie der Lieder und wippe mit den Füßen im Takt. Dabei wandert mein Blick über die fast menschenleere Straße.
Dieses Wohnviertel gefällt mir eigentlich ganz gut. Allerdings wohnen hier keine Jugendlichen in meinem Alter, mit denen ich mich treffen könnte.
Eine Frau mit kurzer Hose und Sport-BH joggt mit ihrem Hund an unserem Grundstück vorbei. Dann bemerke ich einen dunklen Range Rover mit schwarz getönten Scheiben, der in unsere Straße einbiegt und ein paar Häuser weiter parkt. Ich warte darauf, dass die Insassen aussteigen, aber niemand rührt sich.
In diesem Moment kommen Derek und Ilona aus der Haustür. Derek hat seine Jogginghose gegen eine dunkle Shorts getauscht, während meine Tante ebenfalls eine kurze Jeans und ein Shirt trägt. Ihre rotblonden Haare leuchten wie Flammen auf, als sie ins Sonnenlicht tritt.
Die Autofahrt verläuft schweigend. Derek lässt das Radio laufen und blickt immer wieder in den Rückspiegel. Ich weiß nicht, ob er den nachfolgenden Verkehr oder mich beobachtet. Ilona sieht mit zusammengepressten Lippen aus dem Fenster. Fast kommt es mir so vor, als würde sie sich zusammenreißen müssen, um nicht zu weinen.
Die Gewissheit, dass der Streit sie so sehr mitnimmt, verursacht einen Stich in meinem Herzen. Zerknirscht beiße ich mir auf die Unterlippe. Ich hasse es, wenn wir streiten. Sie geben sich ja Mühe mit mir. Aber ich halte dieses Leben nicht länger aus. Ich will mehr Freiheiten bekommen. Und das will ich ihnen klarmachen. Ich verstehe nicht, weshalb sie mich wie einen ihrer Schützlinge behandeln und nicht akzeptieren, dass ich alt genug bin, um auf mich selbst aufzupassen.
Derek biegt ab und fährt auf den riesigen Parkplatz vor einem Einkaufszentrum. Anscheinend denken alle, dass morgen die Welt untergeht, denn der Parkplatz ist komplett überfüllt, weshalb Derek zweimal herumfahren muss. Nachdem er endlich eine Parklücke gefunden hat, dackele ich den beiden lustlos nach. Dabei bemerke ich einen dunklen Wagen mit getönten Scheiben, der langsam an mir vorbeifährt. Für einen kurzen Moment bleibt mein Herz erschrocken stehen. Es sieht genauso aus wie das Auto, das in unserer Straße geparkt hat.
Merkwürdiger Zufall.
Die derzeitige Nervosität und Angespanntheit von Derek und Ilona geht auf mich über. Kopfschüttelnd halte ich nach den beiden Ausschau, die gerade einen Einkaufswagen holen. Ihre Paranoia und ihr Verfolgungswahn machen mich langsam krank. Ich drehe mich noch mal kurz um und sehe, dass der Rover einen Parkplatz gefunden hat. Aber niemand steigt aus.
Schulterzuckend folge ich Derek und Ilona, die am Eingang warten.
Das Gebäude ist riesig und besteht nicht nur aus einem Supermarkt, sondern auch aus einer Bäckerei, einem Café, einigen Fast-Food-Restaurants und mehreren kleinen Einkaufsläden. Wir steuern auf den Supermarkt zu.
Ich gehe gern einkaufen. Auch deswegen, weil ich dann endlich rauskomme. Aber lieber würde ich jetzt in einen Freizeitpark oder in den Urlaub fahren. Oder New York ansehen.
Wir machen meistens nur kleine Tagesausflüge. Aber in letzter Zeit sind die sehr selten geworden. Derek und Ilona sind sehr … nervös. Andauernd führen sie Telefonate und bewachen mich noch strenger. Ich hoffe nur, dass ich sie dazu überreden kann, mir mehr zuzutrauen.
Während ich mich von der Musik einlullen lasse, schlendere ich durch die Gänge und scanne mit den Augen die Regale ab. Um das eintönige Leben im Gefängnis abwechslungsreich zu gestalten, koche ich gern. Derek und Ilona haben nichts dagegen. Was häusliche Tätigkeiten angeht, lassen sie mir meinen Freiraum. Oft helfen sie mir und wir kochen zusammen. Diese Momente liebe ich am meisten: wenn wir etwas gemeinsam machen. Wie eine normale Familie. Leider sind diese Augenblicke in letzter Zeit rar geworden.
Meine Gedanken werden unterbrochen, als ich unsanft angerempelt werde. Dabei verheddern sich meine Kopfhörer mit dem Idioten, der in mich hineingelaufen ist, und fallen klappernd zu Boden.
»Kannst du nicht aufpassen?!«, fahre ich ihn entrüstet an und bücke mich, um meine Kopfhörer wieder aufzuheben. Im selben Moment geht er ebenfalls in die Hocke und hebt die Kopfhörer auf, sodass ich nur auf seine verwuschelten honigblonden Haare blicken kann. Meine Augen wandern von seinem Hinterkopf über seinen Körper, der unter einer Lederjacke und einer blauen Jeans versteckt ist.
Dann hebt er plötzlich den Kopf und drückt mir die Ohrhörer in die Hand. Mir wird augenblicklich wärmer. Ich blicke in dunkelblaue Augen, die mich ebenfalls mustern.
Diese eine Sekunde reicht, um mich komplett aus der Bahn zu werfen. Seine dunklen Augen scheinen mich geradezu zu durchbohren, als würde er in meine Seele schauen. Ein merkwürdiges Gefühl beschleicht mich. Die Zeit scheint plötzlich stehen zu bleiben. Es gibt nur noch ihn und mich. Unfähig etwas zu sagen, erwidere ich seinen Blick. So sehen wir uns eine halbe Ewigkeit an. Bis Ilonas Stimme diesen merkwürdigen Moment durchbricht.
»Lucy?«, ertönt ihre ungeduldige Stimme aus dem benachbarten Gang.
Genervt verdrehe ich die Augen. Sie muss aber auch die passendsten Momente unterbrechen. Ich drehe mich um. »Komme schon!«, brülle ich zurück, sodass es wahrscheinlich der ganze Supermarkt gehört hat. Als ich mich wieder umdrehe, ist der Typ verschwunden.
Gleichgültig zucke ich die Schultern und richte mich wieder auf. Allerdings lässt mich dieses komische Gefühl nicht mehr los.
Stirnrunzelnd werfe ich noch einen Blick in den leeren Gang.
Komischer Kerl.
***
Nachdem wir die Einkäufe im Auto verstaut haben und Derek mit einem Klienten telefoniert hat, setzen wir uns zum Mittagessen in ein Restaurant. Während ich auf meine heißgeliebte Pizza warte, halte ich nach dem mysteriösen Jungen Ausschau, aber er taucht nicht mehr auf.
Ilona und Derek tauschen immer wieder bedeutungsschwere Blicke. Ich beobachte sie mit zusammengekniffenen Augen. Mein Onkel sieht sehr aufgewühlt aus, was sich anscheinend auch auf Ilona überträgt. Derek klopft ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. Das habe ich von ihm. Ich tue das auch immer, wenn mir eine Situation unangenehm ist oder ich Ärger bekomme. Dazu sieht er sich immer wieder beunruhigt um, während Ilona ihn gezwungen anlächelt – als würde sie aus seinem Blick Kraft schöpfen. Dann streicht sie imaginäre Falten auf der Serviette glatt.
Eine Weile lang beobachte ich sie dabei. »Was ist?«, frage ich schließlich, als ich das stumme Gestarre und das merkwürdige Verhalten nicht mehr aushalte. Allerdings habe ich das Gefühl, dass ich nicht unbedingt wissen will, was schon wieder in ihnen vorgeht.
Ilona sieht mich mit großen Augen an, als wäre sie überrascht, dass ich gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt. Zugleich presst Derek seine Lippen zu einer geraden Linie zusammen. So sehen sie immer aus, wenn sie mir etwas beichten müssen, mit dem ich ganz und gar nicht einverstanden sein werde.
Aber bevor ich nachhaken kann, kommt die Bedienung mit meiner Pizza. Da ich heute noch nichts gegessen habe, denke ich nicht weiter darüber nach und widme mich lieber meinem Essen.
Als ich fast fertig bin, sehe ich auf. Derek kaut sehr lange auf seiner Lasagne und Ilona stochert mit ihrer Gabel in ihrem Salat. Obwohl sie direkt vor mir sitzen, wirken sie mit ihren Gedanken weit weg. Ich würde gern wissen, was sie so beschäftigt, dass ihnen der Appetit vergeht.
»Ist alles okay?«, frage ich ein wenig besorgt und beobachte die beiden zwischen zusammengekniffenen Augen.
Derek sieht auf und begegnet meinem Blick. Ich meine Sorgen in seinen Augen zu erkennen. Er legt einen schuldbewussten Gesichtsausdruck auf. Sofort wird mir schwer ums Herz. Ich ahne Übles.
»Du weißt, dass ich merke, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Sag es schon. Was ist los?«, hake ich ein wenig genervt nach. Mittlerweile erkenne ich es sofort, wenn sie mir etwas verheimlichen.
Kurz schleicht sich ein Lächeln auf sein Gesicht und ich glaube Stolz in seinen Augen aufflammen zu sehen. Aber der wird sofort durch einen besorgen Ausdruck verdrängt. Derek sieht mich schweigend an, als würde er abwägen, wie viel er mir anvertrauen kann. Schließlich beugt er sich mit verschränkten Fingern vor, sodass er mir direkt in die Augen sieht.
»Es wird immer schwerer, dir etwas zu verschweigen. Es bringt nichts, lange herumzureden, weil du es sowieso bald erfahren hättest«, beginnt er schließlich und mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. Dann schweigt er und wechselt einen fragenden Blick mit Ilona, als bräuchte er ihr Einverständnis, um weiterzureden. Dann seufzt er schwer, bevor er fortfährt. »Es ist so … Der Klient, der heute angerufen hat, kommt aus England«, beginnt Derek vorsichtig.
Ilona sieht ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sie wirkt zugleich empört als auch überrascht. Mein Onkel wirft ihr einen entschuldigenden Blick zu. Es kommt mir so vor, als hätte sie eine andere Antwort erwartet. Aber darüber mache ich mir keine weiteren Gedanken. Ich merke nämlich sofort, worauf er hinauswill, und bin erst einmal baff. Das ist jetzt nicht sein Ernst?!
»Wir sind doch erst vor ein paar Wochen hierhergezogen!«, protestiere ich und werde lauter.
Ilona sieht sich um und bittet mich leiser zu sprechen, weil ein paar Leute ihre Köpfe zu uns drehen. Andere werfen mir kritische Blicke mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Was sie denken, ist mir egal. Sollen sie nur schauen, wenn sie nichts Besseres zu tun haben. Sie können ruhig mitbekommen, was in meinem Leben abgeht.
Wütend blitze ich die beiden an. Vor ein paar Jahren noch bin ich aufgestanden und weggerannt, weil ich so zornig war. Mittlerweile weiß ich, dass das nichts bringt.
»Du wolltest doch immer in England leben. Wir können eine Rundreise machen. Du wolltest Stonehenge sehen …«, versucht Ilona Derek zu helfen.
»Ja, aber ich wollte niemals die ganze Zeit umherreisen. Warum können wir nicht einfach hierbleiben?«, frage ich und versuche den kommenden Streit zu vermeiden. Ich bin es langsam müde, mit ihnen zu diskutieren. Es bringt mehr, wenn wir offen miteinander reden.
Derek schweigt und wechselt einen kurzen Blick mit Ilona. Sie legt ihm ihre Hand aufs Knie und lächelt ihm aufmunternd zu.
»Das ist nicht so einfach, Lucy …«
»Schon gut«, murmle ich leise. »Es gibt sowieso nur einen Ort, an den ich will.« Dann sehe ich sie mit Tränen in den Augen an. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, sie wegzublinzeln. »Ich will nach Hause.«
Derek und Ilona sehen sich bestürzt an. Ich kann ihre schuldbewussten und traurigen Gesichter nicht länger ertragen. Ich verstehe nicht, warum wir nicht einfach hierbleiben. Sie könnten doch einen Job bei einem Sicherheitsdienst annehmen. Personal wie sie wird überall gesucht.
»Ich gehe zum Auto.«
Mir ist der Appetit vergangen. Ohne eine Antwort abzuwarten, stehe ich auf und gehe.
Dass wir schon wieder umziehen, nach nicht einmal fünf Wochen, in denen ich mich hier, so gut es ging, eingelebt habe, macht mich wütend. So wie ich ihre Überbehütung nicht nachempfinden kann, verstehe ich nicht, weshalb wir dauernd den Wohnort wechseln müssen. Es kommt mir so vor, als wäre der angebliche Schützling nur eine Notlüge. Ein Mittel zum Zweck. Immerhin habe ich noch nie einen ihrer angeblichen Auftraggeber gesehen.
Aber warum sollten sie mir etwas vormachen?
Kaum dass ich das Einkaufszentrum verlassen habe, lehne ich mich gegen eine Säule und warte darauf, dass sie rauskommen.
Frustriert kicke ich einen kleinen Stein weg, der meinen Füßen im Weg liegt.
Eine Familie geht an mir vorbei. Das kleine Mädchen spielt mit seinem etwas älteren Bruder Fangen, während ihre Eltern sie lächelnd im Auge behalten. Es versetzt mir einen Stich, sie so glücklich zu sehen. Sie erinnern mich an ein Leben, das ich nicht habe. Ein Leben, das ich mir wünsche. Ein Leben, das mir verwehrt wird.
Gestern habe ich ein merkwürdiges Gespräch mitbekommen. Ich wollte eigentlich in den Garten, aber dann hörte ich, wie Derek sich gedämpft mit jemandem unterhielt. Da ich von Natur aus neugierig bin, verharrte ich mucksmäuschenstill auf der Treppe und lauschte.
»Ja …«, sagte mein Onkel. Dann verstummte er kurz. Er hörte sich überhaupt nicht glücklich an, als er weitersprach. »Ja, ich weiß. Ich habe eine erhöhte Aktivität festgestellt. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass … Wir waren vorsichtig.«
Seine Stimme wurde immer lauter. Dann stand er auf einmal im Türrahmen der Küche. Seine Augen wanderten nach oben. Als er mich auf dem Treppenabsatz sah, fluchte er leise und warf mir einen finsteren Blick zu. Dann schloss er sofort die Tür und redete leiser, sodass ich ihn nicht verstehen konnte.
Gerade kam es mir auch so vor, als brenne ihm etwas Wichtiges auf der Seele. Aus welchem Grund hat er es mir nicht gesagt? Warum verhalten sie sich so seltsam?
Und dann fasse ich mir einen Entschluss: Ich nehme mir fest vor sie heute noch zu fragen. Dieses Mal will ich keine Ausreden hören. Sie sollen mir endlich die Wahrheit sagen.
Derek und Ilona lassen nicht lange auf sich warten. Sie bleiben vor dem Eingang in meiner Nähe stehen und scheinen mich noch nicht entdeckt zu haben.
»Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte. Sie will doch nur normal sein«, murmelt Ilona unglücklich und vergräbt das Gesicht in den Händen.
Es zerreißt mir das Herz, sie so zu sehen. Derek legt ihr eine Hand auf die Schulter und zieht sie an sich. Sie lehnt ihren Kopf an seine Brust, während er ihr beruhigend durch die Haare fährt und ihr einen Kuss auf den Ansatz haucht.
»Ich weiß«, murmelt er leise, sodass ich es fast nicht verstehen kann. »Aber sie ist eben nicht normal.«
»Wir müssen es ihr sagen. Warum hast du es vorhin nicht getan?«, fragt Ilona und sieht ihn entschlossen an.
Derek schüttelt den Kopf. »Ich konnte nicht. Was glaubst du, wie sie darauf reagieren würde? Mitten im Restaurant, unter so vielen Menschen? Das war nicht der richtige Zeitpunkt.«
Ilona sieht ihn einen Moment lang an, als würde sie ihm widersprechen wollen. Aber dann nickt sie. Wie immer, wenn sie keine Kraft mehr hat. »Du hast recht. Aber lange können wir es nicht mehr geheim halten.«
»Ich weiß«, murmelt Derek düster. »Aber ich habe Angst vor ihrer Reaktion.«
»Vor welcher Reaktion?«, rufe ich.
Die beiden sehen sich schockiert an, während ich an einer Frau mit einer Einkaufstasche vorbeigehe und mich vor ihnen aufbaue.
»Ich wüsste gern, was los ist.« Ich funkele meinen Onkel wütend an.
Ilona ist auf einmal kreidebleich und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich … Wir …«, stottert sie überrumpelt. Dann festigt sich ihr Blick und sie wendet sich Derek zu. Eindringlich sieht sie ihn an. Erneut habe ich das Gefühl, an einem stillen Gespräch beteiligt zu sein.
Mein Onkel zieht die Augenbrauen zusammen. Dann wandert sein Blick konzentriert über den Parkplatz. Verwirrt folge ich ihm, kann aber nichts Auffälliges entdecken. Wahrscheinlich haben sie wieder ihre fünf Minuten Verfolgungswahn.
»Lucy.« Derek klingt auf einmal sehr angespannt. Er legt eine Hand auf meine Schulter und sieht mich eindringlich an. »Stell jetzt bitte keine Fragen. Wir erklären dir später alles. Aber jetzt müssen wir sofort hier weg.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schiebt er mich vorwärts. Ich stolpere erschrocken mit. Dann übernimmt Derek die Führung. Ich muss schon fast rennen, um mit ihnen Schritt halten zu können. Verwirrt folge ich ihnen.
»Was ist denn los?«, rufe ich.
Weder mein Onkel noch Ilona antworten.
Mein Blick schweift zu dem schwarzen Range Rover, an dem wir gerade vorbeikommen. Als ich vor unserem Auto stehen bleibe, schiebt Derek auf einmal eine Hand in seine Tasche. Ich halte erschrocken die Luft an, als er sie wieder hervorzieht. Hat er jetzt den Verstand verloren?
Die Passanten in unserer Nähe schreien erschrocken auf und ergreifen Hals über Kopf die Flucht. Mit seiner Pistole zielt Derek auf die Vorderreifen des Wagens. Ein leiser Schuss ertönt, gefolgt von einem lauten Zischen, das von dem getroffenen Reifen kommt.
Entsetzt starre ich vom Auto zu Derek. »Bist du vollkommen verrückt geworden?!«, fahre ich ihn entsetzt an.
Bodyguard hin oder her – er beschützt gerade keinen Klienten.
Plötzlich bewegt sich etwas im Fahrzeug. Ich halte erstaunt den Atem an. Waren die Insassen die ganze Zeit im Auto? Das ist echt merkwürdig.
Türen werden geöffnet.