Professionelles Handlungswissen für Lehrerinnen und Lehrer -  - E-Book

Professionelles Handlungswissen für Lehrerinnen und Lehrer E-Book

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Beschreibung

Das Buch bereitet die aktuellsten Befunde der Lehr- und Lernforschung für die berufliche Praxis von Lehrern als Handlungswissen auf. Dabei zielt es auf die Gesamtheit der für die Lehrerprofesssionalität relevanten Bereiche: Es werden also nicht nur lerntheoretische und methodisch-didaktische Aspekte berücksichtigt, sondern die Schule auch als Institution behandelt sowie die psychosoziale Dimension des Lehrberufs (Umgang mit Stress, Classroom Management) dargestellt. Das Buch ist dabei nicht nur an den Bedürfnissen und der Praxis der Lehrer fokussiert. Es gibt vielmehr praxisbasierte Anregungen für die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in professionelles Handlungswissen für den Unterricht.

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Die Herausgeberin, die Herausgeber

Dr. Elsbeth Stern ist Professorin für Lehr- und Lern-Forschung an der ETH Zürich. Sie führt ein großes Forschungsteam und trägt die Gesamtverantwortung für die Lehrerinnen- und Lehrerausbildung an der ETH.

Dr. Henrik Saalbach ist Professor für Pädagogische Psychologie mit dem Schwerpunkt Lehren, Lernen und Entwicklung an der Universität Leipzig und in dieser Funktion auch mitverantwortlich für das Lehramtsstudium.

Lic. phil. I Peter Greutmann ist seit 2005 Geschäftsführer des ETH-Kompetenzzentrums für Lehren und Lernen (EducETH) und Dozent für Erziehungswissenschaften im Rahmen dieser Ausbildung. Er arbeitet seit 1993 als Gymnasiallehrer für Deutsch und Philosophie an der Kantonsschule Schaffhausen und betreut in diesem Rahmen auch Praktika von Lehrdiplom-Studierenden der Universität Zürich.

Peter Greutmann, Henrik Saalbach, Elsbeth Stern (Hrsg.)

Professionelles Handlungswissen für Lehrerinnen und Lehrer

Lernen – Lehren – Können

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031785-7

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-031786-4

epub:        ISBN 978-3-17-031787-1

mobi:        ISBN 978-3-17-031788-8

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort

 

 

 

Im Jahr 2006 wurde Elsbeth Stern auf die Professur für Lehr- und Lern-Forschung an die ETH Zürich berufen, und bis heute leitet sie in dieser Funktion ein Team aus Wissenschaftlern und Lehrern. Mit der Professur übernahm sie gleichzeitig die Gesamtverantwortung für die Lehrerinnen- und Lehrer-Ausbildung der ETH und hat zusammen mit ihrem Team den Ausbildungsgang neu gestaltet.

Die leitende Idee bei dieser Neugestaltung war klar: Es galt, die Befunde der empirischen Lehr- und Lern-Forschung so aufzubereiten, dass sie angehende Gymnasiallehrpersonen unterstützen, ihren Unterricht nach dem Stand der Forschung, also evidenzbasiert, vorzubereiten und durchzuführen. Möglichst hohe Lernwirksamkeit! Das war und ist der Leitgedanke, der letzten Endes all unseren Bemühungen in Forschung und Lehre zugrunde liegt.

In die Neukonzeption des Ausbildungsganges waren sehr viele Personen involviert, und zwar nicht nur Forscherinnen und Forscher, sondern auch Lehrpersonen, die ihre Erfahrungen aus der Praxis bei der Festlegung und bei der Gewichtung der Themen einbrachten. In einem mehrjährigen Prozess entstand dank dieser vielfältigen Ressourcen ein kohärentes Ausbildungskonzept, das gleichermaßen theoretisch fundiert und praxisbezogen ist.

Schon während dieses ganzen Prozesses (und auch während der zahlreichen Aktualisierungen und Verbesserungen) wurde geplant, die Inhalte einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Denn wir waren und sind davon überzeugt, dass das Wissen, das wir seit über 10 Jahren unseren Studierenden vermitteln, auch für erfahrene Lehrpersonen, für Schulleitungen, aber auch für Entscheidungsträgerinnen und -träger in der Bildungspolitik relevant ist. Als dann im Herbst 2017 der Kohlhammer-Verlag anfragte, ob wir Interesse hätten, unsere Expertise zu publizieren, rannte er offene Türen ein – und das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieser Anfrage. Auch wenn an der ETH Zürich nur Lehrerinnen und Lehrer für die MINT-Fächer am Gymnasium ausgebildet werden, sind die Inhalte dieses Buchs für Lehrkräfte aller Schulstufen und Fächer relevant. Dafür sorgte auch der Mitherausgeber Henrik Saalbach, der als Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Leipzig u. a. für die Ausbildung von Grundschullehrerinnen und -lehrer zuständig ist.

Weder die Neugestaltung der Lehre noch die Publikation dieses Buchs wären ohne das Engagement zahlreicher Personen möglich gewesen. Allen, die in irgendeiner Form mitgewirkt haben, sei an dieser Stelle unser Dank ausgesprochen. Insbesondere bedanken möchten wir uns bei Prof. Roland Grabner (Karl-Franzens Universität Graz) und Prof. Michael Schneider (Universität Trier). Zusammen mit Henrik Saalbach haben sie als Oberassistenten auf kreative Weise entscheidend an der Neukonzeption der Lehre mitgearbeitet. Des Weiteren gebührt unser herzlicher Dank den Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Anne Deiglmayr (Universität Leipzig), Dr. Peter Edelsbrunner (ETH Zürich), Dr. Sarah Hofer (Ludwig-Maximilians Universität München) und Prof. Dr. Lennart Schalk (PH Schwyz). Sie alle waren oder sind als Dozierende in die Lehrerinnen- und Lehrer-Ausbildung der ETH eingebunden und haben ihr großes Knowhow (und ihre Zeit!) für das Entstehen des Buchs eingebracht.

Ein besonderer Dank geht auch an Armin P. Barth, Mittelschullehrer für Mathematik und langjähriger Mitarbeiter am MINT-Lernzentrum der ETH Zürich, für seine wertvollen und motivierenden Rückmeldungen sowie die sorgfältige Lektüre des Manuskriptes.

Ein weiterer Dank geht an Claudia Boschung, die uns bei der Endredaktion mit vielen wichtigen Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen unterstützte.

Ebenfalls bedanken möchten wir uns bei Falco Kilchmann und Elisabeth Daix. Die beiden haben selbst die Ausbildung an der ETH Zürich absolviert und uns aus der Sicht von Studierenden kritisch-konstruktive Rückmeldungen zu einer frühen Fassung des vorliegenden Buchs gegeben. Ihre wertvollen Anregungen haben wir gerne aufgenommen.

Insgesamt gebührt allen Lehrdiplom-Studierenden unser Dank: Viele Rückmeldungen zu unseren Lehrveranstaltungen sind in deren permanente Verbesserung eingeflossen – und damit indirekt auch in die Gestaltung dieses Buchs. Last but not least sind wir dem Kohlhammer Verlag zu großem Dank verpflichtet. Ohne die Anfrage durch Klaus-Peter Burkarth wäre dieses Werk nicht entstanden und sein sorgfältiges Lektorat hat wesentlich zur Qualität beigetragen.

Somit übergeben wir das Werk der Öffentlichkeit. Möge es auf wohlwollende, interessierte, aber auch kritische Leserinnen und Leser in Universitäten, Schulen und der Bildungspolitik treffen. Möge es aber auch – und das bleibt unser eigentliches Desiderat! – den Weg in die Schulzimmer finden. Wir hoffen, einen Beitrag zur beruflichen Entwicklung und Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern und damit letztlich zum erfolgreichen Lernen der Schülerinnen und Schüler zu leisten. Mit diesem letzten Satz des Vorwortes möchten wir verdeutlichen, dass wir das gesamte Geschlechtsspektrum auf Schüler- und Lehrerseite ansprechen. Im Text selbst verzichten wir jedoch öfters auf die Nennung beider Geschlechter, um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen.

Zürich/Leipzig im Juni 2020

Peter Greutmann           Henrik Saalbach            Elsbeth Stern

1          Professionelles Handlungswissen von Lehrerinnen und Lehrern – eine Auslegeordnung

Peter Greutmann, Henrik Saalbach und Elsbeth Stern

»Obwohl mich das Fach Deutsch weniger als andere Fächer interessiert, hat es Frau F. geschafft, dass ich in diesen 4 Jahren mehr gelernt habe als in allen anderen Fächern. Für mich persönlich ist dies eine große Kunst! Deshalb danke ich Frau F. für die 4 spannenden, unterhaltsamen, lustigen und informativen Jahre.«

Bei diesem Zitat handelt es sich um eine Rückmeldung einer Schülerin oder eines Schülers nach vier Jahren Unterricht an einem Schweizer Gymnasium. Die Aussagen sind im Rahmen einer anonym durchgeführten Klassenbefragung entstanden – und sie sind (mit Ausnahme des Namens der Lehrperson) nicht fingiert.

1.1       »Teachers make a difference«

In den drei Sätzen kommt aus Schülersicht zum Ausdruck, was auch in der einflussreichen Hattie-Studie (Hattie, 2009) klar wird: Neben vielen wichtigen Erkenntnissen über die Wirksamkeit verschiedener Lehrmethoden, individuellen Merkmalen der Schüler oder strukturellen Merkmalen des Bildungssystems war ein Kernbefund, dass die Lehrperson tatsächlich sehr wichtig für den Lernfortschritt ist: Mit ihrem Unterricht haben Lehrerinnen und Lehrer einen entscheidenden Einfluss darauf, wie und in welchem Ausmaß ihre Schüler ihre Intelligenz investieren.

Die besondere Bedeutung der Lehrperson mag dem einen oder der anderen sicher als Binsenweisheit erscheinen. Tatsächlich spielte diese aber in öffentlichen Debatten zur Verbesserung des Bildungssystems lange kaum eine Rolle. Hier wurde hauptsächlich der Bedeutung der Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler oder strukturellen Merkmalen des Bildungssystems (wie etwa das mehrgliedrige Schulsystem, Eigenschaften der Schulleitung oder die Klassengröße) Beachtung geschenkt.

Manchen Lehrpersonen mag auch die (im Grunde falsche) Überzeugung in die Karten gespielt haben, dass sie oder er eigentlich keinen großen Einfluss auf den Lernerfolg der Schüler hat. Die Verantwortung wurde gerne auf die unzulänglichen kognitiven Voraussetzungen oder die fehlende Motivation der Lernenden, die mangelhafte Erziehung durch die Eltern oder die falsche Bildungspolitik abgeschoben. Die Hattie-Studie zeigt uns aber deutlich, dass es durchaus auf die Lehrperson ankommt: Teachers make a difference!

Gleichzeitig wissen wir aus anderen Studien, dass damit gerade nicht eine angeborene Lehrerpersönlichkeit gemeint ist und dass es nicht reicht, nur über einen ausgezeichneten fachlichen Wissensstand zu verfügen oder für sein Fach zu »brennen«. Das entscheidende Merkmal für die Unterrichtsqualität und damit für das erfolgreiche Lernen der Schülerinnen und Schüler sind die professionellen Kompetenzen der Lehrpersonen, also zum Beispiel ihr Wissen über das Lernen ganz allgemein, über lernwirksame Methoden und über eine konstruktive Klassenführung. Aus dieser Befundlage ergeben sich mindestens zwei wichtige Konsequenzen.

Erstens müssen sich die Lehrpersonen ihrer Verantwortung für dieLernprozesseder Schülerinnen und Schüler bewusst werden und ihr professionelles Handeln entsprechend gestalten. Nach unserer Auffassung sind die Zeiten, in denen Lehrpersonen so unterrichten können, »dass es einfach zu meinem persönlichen Stil passt«, endgültig vorbei. Dazu liegen zu viele und empirisch zu gut abgesicherte Befunde zum menschlichen Lernen aus der Lehr- und Lern-Forschung sowie aus der Kognitionspsychologie vor. Nur wenigen käme es heute noch in den Sinn, in einem medizinischen Notfall eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen, die oder der aus einer persönlichen Vorliebe heraus nach den Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts diagnostiziert und behandelt. Vielmehr erwartet man eine professionelle Behandlung nach dem state of the art der medizinischen Forschung – und der ist in jedem Fall evidenzbasiert. Genauso gibt es in der seit rund einem halben Jahrhundert betriebenen empirischen Lehr- und Lern-Forschung mittlerweile eine große Zahl von stabilen Befunden zum menschlichen Lernen, denen man sich unseres Erachtens als professionelle Lehrperson schlicht nicht mehr entziehen kann.

Zweitens müssen Lehrpersonen durch eine adäquate Aus- und Weiterbildung auch tatsächlich in die Lage versetzt werden, dieses professionelle Handeln zu entwickeln. Und gerade an diesem Punkt setzt das Konzept für das vorliegende Buch an. Als vor rund 15 Jahren die Lehrpersonenausbildung an der ETH Zürich neu strukturiert werden musste, haben wir uns als Team intensiv mit der Frage beschäftigt: Welches fachübergreifende, professionelle Handlungswissen können wir auf welche Weise den angehenden Lehrpersonen mit auf ihren beruflichen Weg geben? Wir sahen uns also mit der Herausforderung konfrontiert, die aktuellen Befunde der Lehr- und Lern-Forschung einschließlich entwicklungspsychologischer Inhalte in nur vier Modulen mit insgesamt 30 Kreditpunkten zu vermitteln. Daher mussten wir uns auf die Inhalte beschränken, die aktuellen Befunden zufolge als die am relevantesten gelten, um lernwirksamen Unterricht vorzubereiten und durchzuführen.

In dem vorliegenden Buch haben wir die Inhalte des erziehungswissenschaftlichen Teils der Lehrpersonenausbildung an der ETH Zürich (Lehrdiplom für Maturitätsschulen) so aufbereitet, dass sie einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Bei der Auswahl der Inhalte haben wir uns auf die Themen konzentriert, die in aktuellen bildungswissenschaftlichen Studien, wie etwa der Hattie-Studie, als besonders wichtig und relevant identifiziert wurden. Wir sind überzeugt, dass sich das Buch daher sehr gut für angehende Lehrpersonen aller Schulstufen während des Studiums zur Entwicklung einer konzeptuellen Wissensbasis oder zur Prüfungsvorbereitung eignet. Es kann ebenso von Lehrpersonen während des Berufseinstiegs beigezogen werden, um das Vorwissen zu aktivieren bzw. zu aktualisieren und dieses bei den Lektionsplanungen oder bei anderen Gelegenheiten im Schulalltag zu verwenden. Schließlich sei es auch erfahrenen Lehrpersonen empfohlen, um etwa ihre Lehrerfahrungen vor dem Hintergrund der aktuellen Befundlage mit dem Ziel einer professionellen Weiterentwicklung zu reflektieren.

Alle Autorinnen und Autoren sind aufgrund ihrer Forschungstätigkeit wie auch aufgrund ihrer teilweise langjährigen Unterrichtstätigkeit vor allem an Gymnasien davon überzeugt, dass das in diesem Buch zusammengetragene Wissen, wenn es sich denn in der alltäglichen Praxis spiegelt, einen großen Unterschied machen kann. Nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für den Erfolg der Lehrpersonen selber als professionell agierende Expertinnen und Experten im Schulzimmer!

1.2       Das Angebot-Nutzungs-Modell und der Aufbau des Buchs

Das Unterrichten ist eine außerordentlich komplexe und herausfordernde Aufgabe (Xiaodong, Schwartz & Hatano, 2005; Stern, 2009). Deshalb suchten wir nach einem konzeptuellen Rahmenmodell, in das sich die Erkenntnisse der Lehr- und Lern-Forschung gut einordnen ließen. Gleichzeitig sollte das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren im Lehr-Lern-Geschehen verdeutlicht werden. Wir wählten dafür eine modifizierte Variante des Angebot-Nutzungs-Modells (Fend, 1981; Helmke & Weinert, 1997; Helmke, 2010). Abbildung 1 zeigt eine für die ETH-Lehrpersonenausbildung angepasste und erweiterte Version des Modells.

Dazu nur so viel: Das Ziel von schulischem Unterricht ganz allgemein ist in diesem Modell der Ertrag, also die Kompetenzen, die die Schülerinnen und Schüler erwerben. Wie umfangreich und tiefgehend diese Kompetenzen sind, hängt wesentlich davon ab, wie die Schülerinnen und Schüler Lerngelegenheiten im Klassenzimmer nutzen. Diese Nutzung wiederum basiert auf dem Angebot, das ihnen während der Schulstunden gemacht wird – und damit sind wir beim wesentlichen Faktor angelangt, der Lehrperson. Deren Fachwissen und ihre Fähigkeit, das Fachwissen pädagogisch-didaktisch aufzubereiten und zu einem lernwirksamen Angebot zu bündeln, beeinflusst entscheidend, wie die Schülerinnen und Schüler das Angebot nutzen – und somit wiederum, wie viel sie lernen!

Um die Einleitung nicht zu überladen, belassen wir es an dieser Stelle mit dieser groben Vereinfachung, die nichtsdestotrotz den Kern des Modells und auch unserer ganzen Bemühungen, professionell unterrichtende Lehrpersonen auszubilden, zusammenfasst. Alle acht Kapitel dieses Buchs lassen sich im Angebot-Nutzungs-Modell verorten (was in den folgenden kurzen Kapitelzusammenfassungen auch geschieht). Aber die von uns in diesem Buch vorgelegte Reihenfolge der Kapitel orientiert sich nicht primär am Modell, sondern vielmehr an der beruflichen Realität von Lehrpersonen (unserem Zielpublikum). Das heißt: Die Kapitel 3 bis 6 decken gewissermaßen alle

Abb.1: Das Angebot-Nutzungs-Modell

Aspekte der Unterrichtsvorbereitung ab, während die Kapitel 7 und 8 die Unterrichtsdurchführung im engeren Sinne im Blick haben. Eine Sonderstellung nehmen die Kapitel 2 (kognitionspsychologische Grundlagen) und Kapitel 9 (wissenschaftstheoretischer Exkurs zur Lehr- und Lern-Forschung) ein.

Kapitel 2: Wer lehren will, muss das Lernen verstehen. DiekognitionspsychologischenGrundlagen des menschlichen Lernens

Kapitel 2 (Kap. 2) befasst sich im Wesentlichen mit dem Lernprozess selbst und dessen Ergebnis, dem Ertrag des Lernens, also den verschiedenen Wissensformen, die sich die Schülerinnen und Schüler aneignen. Der Text bildet sozusagen die begriffliche Grundlage für alle nachfolgenden Kapitel. Wir sind der Auffassung, dass Lehrpersonen eine Vorstellung davon haben sollen, wie menschliches Lernen ganz allgemein und somit auch das schulische Lernen funktioniert. Nur dann sind sie in der Lage, entsprechende Lernumgebungen zu gestalten und vor allem auch nachvollziehen zu können, was während des Unterrichts in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler vor sich geht.

Kapitel 3: Die lang-, mittel- und kurzfristige Planung schulischer Lerngelegenheiten

Im Kapitel 3 (Kap. 3) richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Planung des Unterrichts oder, bezogen auf unser Modell, auf die Gestaltung des Angebots durch die Lehrperson. Dabei beginnen wir mit einer langfristigen Perspektive (dem Erstellen eines Semesterplans) und zoomen stufenweise zur didaktischen Planung kleinerer Einheiten, bis hin zur einzelnen Schulstunde. Als zentrales Planungsinstrument führen wir eine neue Lernzieltaxonomie ein (die PUT), die Lehrpersonen darin unterstützen soll, Lernziele und die Wahl der Unterrichtsmethoden aufeinander abzustimmen.

Kapitel 4: Unterricht methodisch lernwirksam gestalten

Das vierte Kapitel (Kap. 4) führt Kapitel 3 unmittelbar fort, da die Unterrichtsmethoden hier detailliert behandelt werden (der Fokus bleibt also bei der Gestaltung des Angebots). Auch hier gehen wir zuerst auf die didaktischen Großformen (Direkte Instruktion bzw. Kooperative Lernformen) und ihren möglichst lernwirksamen Einsatz im Unterricht ein. Dann widmen wir uns den Feinheiten bei deren Ausgestaltung. Wir stellen vier Techniken der KognitivenAktivierung vor und referieren, welche Gesichtspunkte beim Stellen vonFragen und beim Formulieren von Aufgaben zu berücksichtigen sind. Auch die wichtigsten Befunde zum Thema Hausaufgaben fassen wir zusammen. Da wir in diesem Buch weitgehend fach- und inhaltsunabhängige Themen behandeln, möchten wir bereits an dieser Stelle auf die Unterrichtseinheiten des MINT-Lernzentrums verweisen. Hier werden unter anderem in den Fächern Chemie, Mathematik und Physik Unterrichtseinheiten entwickelt, die auf Erkenntnissen der Lehr- und Lern-Forschung beruhen. Die daraus entstandenen Bücher und Artikel können auf der Homepage des MINT-Lernzentrums eingesehen werden (Link: https://educ.ethz.ch/lernzentren/mint-lernzentrum.html).

Kapitel 5: Das individuelle Lernen unterstützen

Wenn wir hier den Anspruch verfolgen, die in der Lehr- und Lern-Forschung festgestellten Befunde zur Lernwirksamkeit von Unterricht für die schulische Praxis aufzuarbeiten, dann spielt das Kapitel 5 ( Kap. 5) eine Schlüsselrolle. Es wird aufgezeigt, inwiefern Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler effektiv darin unterstützen können, das Angebot aufgrund der je individuell vorhandenen Lernvoraussetzungen möglichst optimal zu nutzen. Mit dem sogenannten FormativenAssessment steht nämlich ein hochwirksames Mittel zur Verfügung, damit dies tatsächlich gelingt. Das Kapitel thematisiert einerseits ganz allgemein, wie man mit der zum Teil ausgeprägten Heterogenität in Klassen umgehen kann, ohne sich selber zu überfordern; andererseits wird auch eine Reihe von Techniken des Formativen Assessments vorgestellt, die zumeist recht niederschwellig, aber hoch lernwirksam im Unterricht einsetzbar sind.

Kapitel 6: Lernleistung bewerten: Summatives Assessment

Das Kapitel 6 ( Kap. 6) befasst sich schließlich mit dem Ertrag des Lernens, also mit dem Wissen, das die Schülerinnen und Schüler durch die Nutzung der Lernangebote erworben haben (sollen). Wenn wir auch immer wieder betonen, dass der Lernprozess im Zentrum des schulischen Lehrens stehen soll, so ist uns natürlich auch bewusst, dass die Beurteilung und somit auch die Selektion nach wie vor eine zentrale Aufgabe von Lehrpersonen ist. Dieser Tatsache trägt das Kapitel 6 unter dem Begriff SummativesAssessment Rechnung. Auf der theoretischen Grundlage der Psychometrie legen wir dar, welche Anforderungen Tests bzw. Prüfungen eigentlich auch in schulischen Kontexten genügen müss(t)en. Darüber hinaus führen wir Lehrpersonen anhand von neun Schritten durch den gesamten Prozess von der Konzeption über die konkrete Gestaltung bis hin zur Korrektur und kritischen Prüfung einer Prüfung selbst.

Kapitel 7: Klassenführung: Die Voraussetzungen für effektives Lernen schaffen

Mit dem Kapitel 7 ( Kap. 7) – Klassenführung – betreten wir gleichsam das Schulzimmer, womit die Lehrperson selber (im Modell die Kästchen ganz links) in den Fokus rückt: Die Vorbereitungsphase ist beendet, die Glocke signalisiert den Unterrichtsbeginn, Sie stehen vor einer Gruppe von Kindern oder Jugendlichen und müssen diese während einer oder mehrerer Lektionen zum Lernen anleiten. Nach einem kurzen Abriss über die Geschichte der Forschung zu diesem Thema legen wir dar, welche Maßnahmen einer Lehrperson zur Verfügung stehen, wenn es darum geht, Unterrichtsstörungen präventiv zu verhindern oder aber, falls sie auftreten, möglichst wirksam zu intervenieren, um sie wieder zu beenden. Dabei bleibt immer das Ziel, eine gute Beziehung zur Klasse aufrecht zu erhalten und somit die Basis zu schaffen, damit der (aufwändig) vorbereitete Unterricht (das Angebot) möglichst lernwirksam durchgeführt, d. h. genutzt werden kann.

Kapitel 8: PsychosozialeAnforderungenim Lehrberuf

Auch in Kapitel 8 ( Kap. 8) steht nicht primär das Lehren und Lernen im Fokus, sondern die Lehrerinnen und Lehrer als Personen. Unterrichten ist eine komplexe Angelegenheit – der Lehrberuf ist somit unbestritten eine sehr vielseitige und abwechslungsreiche Profession; langjähriger Schuldienst kann aber auch anstrengend und unter Umständen belastend sein. Der Autor dieses Kapitels ist selbst langjähriger Lehrer und weiß, wovon er redet. Daher widmen wir ein ganzes Kapitel den psychosozialen Anforderungen, mit denen Lehrpersonen gerade auch am Anfang ihrer Tätigkeit konfrontiert sind. Wir zeigen auf, mit welchen Stressoren man es bei der Berufsausübung zu tun hat und wie sie produktiv bewältigt werden können. Zentrale Faktoren, um dieses Ziel zu erreichen, sind einerseits die Fähigkeit, mit allen am Schulleben Beteiligten in schwierigen Situationen kompetent zu kommunizieren, und andererseits, sich selbst beim Arbeiten so zu regulieren, dass man dem permanenten Handlungsdruck nicht ins Messer läuft.

Kapitel 9: Wissenschaftstheoretischer Hintergrund: Die Methoden der empirischen Lehr- und Lern-Forschung

Lehrpersonen stehen jeden Tag vor einer Vielzahl von Entscheidungen: Was will ich vermitteln? Welche Lernziele sollen erreicht werden? Welche Methode ist dafür geeignet? Wie gehe ich mit den beiden Störenfrieden in der hintersten Reihe um? Usw. Die seit rund 5 Jahrzehnten betriebene Lehr- und Lern-Forschung versucht, auf solche Fragen evidenzbasierte Antworten zu liefern, um damit Lehrpersonen letztlich darin zu unterstützen, Entscheidungen nicht einfach aus dem Bauch heraus, sondern aufgrund von empirisch überprüften Befunden (man nennt dies auch evidenzbasiert) zu treffen. Auf solchen Befunden basieren auch unsere Ausführungen in den Kapiteln 2–8. Doch wodurch ist diese Forschungsrichtung selbst geprägt, welches sind ihre Methoden, wie verlässlich und wie praxisrelevant sind die durch sie hervorgebrachten Resultate? Das letzte Kapitel ( Kap. 9) gibt einen Abriss über dieses faszinierende Forschungsgebiet, zeigt aber auch dessen Probleme und Grenzen auf. So werden interessierte Lehrpersonen in die Lage versetzt, eigenständig Fachartikel (auch kritisch) zu rezipieren und den Wahrheitsgehalt von Medienberichten zu Bildungsthemen einzuschätzen.

Es mag sein, dass Sie als Leserin oder Leser im vorliegenden Buch ein Kapitel über die sogenannte »Digitalisierung« vermissen. Natürlich ist es uns auch bewusst, dass dieser Trend unaufhaltsam ist, nicht nur in der Schule. Und natürlich ist gegen den gezielten Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien im schulischen Unterricht nichts einzuwenden, im Gegenteil. Nichtsdestotrotz ist es für uns aus kognitions- und lernpsychologischer Sicht völlig klar: Ob man nun als Hilfsmittel die Wandtafel oder aber ein digitales Gadget nach dem neusten Stand der Technik einsetzt, ist zunächst einmal zweitrangig. Entscheidend ist in jedem Fall, dass etwa die Fachinhalte auf Lernziele heruntergebrochen werden, dass die Lehrperson an das bei den Schülerinnen und Schülern bestehende Vorwissen anknüpft und eine zur Erreichung der Lernziele adäquate Methode auswählt. Wenn diese Arbeit nicht professionell geleistet wird, dann bringt auch der Einsatz noch so elaborierter Technologien keinen Vorteil vor dem traditionellen Unterricht mit Papier und Wandtafel.

1.3       Wie man dieses Buch nutzen kann

Wir haben es im vorangehenden Kapitel schon mehrfach betont: Unterrichten ist ein komplexes Handwerk, das Unterrichtsgeschehen ein von zahlreichen und letztlich wohl niemals ganz überschaubaren Faktoren bestimmter Prozess. Niemand kann in jeder Lektion alle Faktoren berücksichtigen, die perfekte Lektion gibt es nicht. Das heißt aber keinesfalls, dass man als Lehrperson nun resigniert die Segel streichen soll – im Gegenteil! Je differenziertere Kenntnisse man über alle im Schulzimmer auftretenden Phänomene hat, desto größer wird in einer (evtl. auch kritischen) Entscheidungssituation die Zahl an günstigen Handlungsoptionen. Oder wie es der erfolgreiche Harvey Specter in der Anwaltsserie Suits einmal (notabene sinngemäß) zu seinem kongenialen Juniorpartner unnachahmlich sagte:

»Einer hält dir eine Pistole an die Schläfe. Tust du, was er sagt? Falsch! Du nimmst ihm die Pistole weg. Oder du ziehst eine größere Pistole. Oder du sagst, er bluffe nur. Oder du tust eine andere von 146 weiteren Möglichkeiten, die du hast!«

Was heißt das nun für dieses Buch? Jedes Kapitel stellt einen Faktor – oder genauer: ein Bündel von Faktoren – des Unterrichtsgeschehens dar, und zwar in einer weitgehend in sich abgeschlossenen Form. Allerdings ergibt sich erst aus dem Buch als Ganzem ein Gesamtbild, das alle Aspekte des Unterrichtens abdeckt und zueinander in Beziehung setzt. Daher sehen wir auch mehrere Möglichkeiten für die Lektüre.

•  Die einzelnen Kapitel können je nach Interesse jedes für sich gelesen werden. (Ihre von der Sache her unvermeidliche Verwobenheit haben wir mit zahlreichen Verweisen wenigstens ansatzweise einzufangen versucht.)

•  Angehenden Lehrpersonen, die noch in Ausbildung sind und am Anfang ihrer Berufsbiographie stehen, können und sollten das Buch zunächst einmal als Ganzes lesen. Damit erhalten sie einen Überblick über alle relevanten Aspekte, die ihren beruflichen Alltag prägen werden. Wenn sie dann tatsächlich (etwa bei einer Stellvertretung oder einem ersten Lehrauftrag) in ein Klassenzimmer treten, dürften zunächst einmal die Kapitel 2 (Planung), 3 (Methoden) 7 (Klassenführung) und 8 (Psychosoziale Anforderungen) oberste Priorität haben.

•  Bei erfahrenen Lehrpersonen (auch bei uns selber!) sehen wir die berufliche Weiterentwicklung in kleinen Schritten. Man fokussiert auf einen bestimmten Aspekt seines Schulalltags, konsultiert das entsprechende Kapitel – und transferiert das erworbene Wissen auf die eigene konkrete Situation. Das klingt einfach, ist aber anspruchsvoll genug – und gelingt wahrscheinlich auch nicht immer (jedenfalls nicht beim ersten Mal…). Ein Beispiel: Eine Klasse hat sich über die inhaltliche Ausgestaltung und Beurteilung einer Prüfung beschwert. Nun könnte man das abtun als »pubertäres Quengeln« – oder aber man nimmt die Aussagen zunächst einmal ernst, informiert sich anhand von Kapitel 9 darüber, wie man eine valide Prüfung konzipiert – und gestaltet die nächste einmal minutiös nach dem von uns vorgeschlagenen Leitfaden. Und noch ein zweites Beispiel: Seit Wochen »regt man sich über zwei dauernd schwatzende Schülerinnen in der hintersten Reihe auf«. Statt sich weiter aufzuregen, lese man Kapitel 7.3 über die Prävention von Unterrichtsstörungen und setze in den folgenden Lektionen zwei, vielleicht auch drei oder vier Maßnahmen um…

•  Für Schulleitungen und Personen aus der Bildungsadministration oder Bildungspolitik kann das Buch oder können zumindest ausgewählte Kapitel dazu beitragen, die Evaluation der Lehrkräfte zu überdenken. Unseres Erachtens sind wir es den Schülerinnen und Schülern schuldig, möglichst lernwirksamen Unterricht zu bieten, der wesentlich auf professionell agierenden Lehrpersonen beruht. Unter diesem Gesichtspunkt bieten die einzelnen Kapitel zahlreiche, evidenzbasierte Handreichungen, um mit den Lehrpersonen zusammen die Qualität des Unterrichts zu reflektieren und gegebenenfalls zu verbessern.

2          Wer lehren will, muss das Lernen verstehen: Die kognitionspsychologischen Grundlagen des menschlichen Lernens

Elsbeth Stern

2.1       Einleitung

Das vorliegende Buch befasst sich im Wesentlichen mit der Haupttätigkeit von Lehrpersonen, dem Lehren in einem so genannten institutionellen Kontext, also dem Unterrichten an verschiedenen Arten von Schulen. Unser Hauptanliegen besteht darin, angehenden und praktizierenden Lehrpersonen alle wesentlichen Instrumente in die Hand zu geben, um ihre Lernumgebungen so zu gestalten, dass die Schülerinnen und Schüler maximal davon profitieren können. Alle Kapitel dieses Buchs zielen darauf ab, die Lernwirksamkeit des Unterrichts zu optimieren.

Um aber einsichtig zu machen, weshalb die von uns zusammengetragenen und erläuterten Instrumente gemäß den aktuellen Befunden der empirischen Lehr- und Lern-Forschung tatsächlich lernwirksam sind, ist es uns auch ein Anliegen, die wichtigsten Ergebnisse aus der Kognitions- und Lernpsychologie zum Wissenserwerb darzustellen. Anders gesagt: Nur wer verstanden hat, wie Menschen lernen, insbesondere wenn es um anspruchsvolle Inhalte geht, hat auch ein Begründungswissen dafür, weshalb gewisse Maßnahmen in der Unterrichtsgestaltung einen größeren Effekt haben als andere.

Im Sinne des Angebot-Nutzungs-Modells ( Kap. 1,  Abb. 1) gesprochen: Das vorliegende Kapitel 2 befasst sich damit, wie Schülerinnen und Schüler (bzw. Menschen ganz allgemein) schulische Lernangebote auf der Grundlage ihrer kognitiven und motivationalen Ausstattung nutzen. Nachdem im Kapitel 2.2 ( Kap. 2.2) der dem Buch zugrunde liegende allgemeine Begriff des Lernens eingeführt wird, geht es im Kapitel 2.3 ( Kap. 2.3) zunächst darum, einen Begriff von Lernen darzulegen, der sich auf das Verhalten abstützt (behavioristische Theorie). Zudem wird ein Bezug zum schulischen Unterricht hergestellt, der dann im Kapitel 7 ( Kap. 7) zum Thema Klassenführung vertieft wird. Anschließend stellen wir ein von uns entwickeltes Modell der menschlichen Informationsverarbeitung vor, anhand dessen die verschiedenen Formen des schulischen Lernens im Sinne von Wissensaufbau verortet werden können ( Kap. 2.4). Im Kapitel 2.5 ( Kap. 2.5) schließlich gehen wir auf den Zusammenhang von Intelligenz und Wissensaufbau ein, wobei auch die Bedeutung der Motivation für das schulische Lernen erörtert wird. Auf das Thema der Emotionen bei Lehrpersonen und bei Schülerinnen und Schülern wird im Kapitel zur Klassenführung, genauer im Kapitel 7.4.3 ( Kap. 7.4.3), eingegangen.

2.2       Der Begriff des Lernens

Unter Lernen verstehen wir im vorliegenden Buch den »… Prozess, bei dem es zu überdauernden Änderungen im Verhaltenspotenzial als Folge von Erfahrungen kommt« (Hasselhorn & Gold, 2013, S. 35). Lernen vollzieht sich also in der Interaktion zwischen einem Individuum und seiner Umgebung und ermöglicht es allen Lebewesen, die sich im jeweiligen Lebensumfeld stellenden Anforderungen und Herausforderungen zunehmend besser zu bewältigen (Stern, Schalk & Schumacher, 2016).

Von Lernen spricht man nicht bei zufällig auftretendem Verhalten, sondern nur bei einer klar umgrenzten, auf ein Problem ausgerichteten und nachhaltigen Veränderung, die allerdings von Rückschlägen begleitet sein kann. Wir alle kennen aus der persönlichen Lernerfahrung solche Rückschläge: Gestern konnten wir flüssige englische Sätze produzieren, und heute fallen uns selbst einfache Vokabeln nicht ein. Die im Lernprozess aufgebauten Gedächtnisspuren zerfallen auch schnell wieder, wenn sie nicht genutzt werden.

Lehrpersonen können nicht in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler hineinschauen. Damit ist es unmöglich, einen Lernprozess und den Lernerfolg direkt zu beobachten. Lehrpersonen müssen also indirekt überprüfen, ob der Unterricht zum Ziel geführt hat, zum Aufbau von Wissen und Kompetenzen. Diese indirekte Überprüfung funktioniert über die Beobachtung und Analyse des Verhaltens. Dazu gehören im schulischen Kontext bspw. die mündliche Beteiligung, das Beantworten von Fragen oder das Lösen von Problemen und Testaufgaben (sogenannte Assessments ( Kap. 5 und  Kap. 6)). Das Verhalten in solchen Anforderungssituationen wird als Performanz bezeichnet. Durch diese beobachtbare Leistung wird dann auf die zugrunde liegende Kompetenz, auf Lernprozesse und Lernerfolg geschlossen (im Detail dazu Blömeke, Gustafsson & Shavelson, 2015).

2.3       Lernen als Verhaltenssteuerung

Viele Formen des Lernens laufen bei Menschen und Tieren vergleichbar ab. Dazu gehören Konditionierungsprozesse, die darin bestehen, dass Reize und Reaktionen, die vorher unverbunden waren, im Gedächtnis gekoppelt werden.

Bei der klassischenKonditionierung steuern die Reize das Verhalten: Es geht um die Identifikation von Merkmalen aus der Umwelt, die auf positive oder negative Konsequenzen hinweisen und dem Individuum damit einen Verhaltensvorteil verschaffen können. Hinweise auf Gefahren ermöglichen eine rechtzeitige Flucht, und Hinweise auf Ressourcen bieten einen Vorsprung vor Konkurrenten.

Beim operantenKonditionieren kann ein Individuum durch sein Verhalten das Auftreten von Reizen steuern. Folgt auf ein Verhalten eine positiv erlebte Konsequenz, wird es erneut gezeigt; folgt hingegen eine als Strafe erlebte Konsequenz, wird es unterlassen.

Konditionierung spielt auch beim schulischen Lernen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie kann sehr viel zu einem geordneten Unterricht beitragen oder aber so manches Desaster auslösen, wenn die Lehrperson die Mechanismen nicht durchschaut. So muss man wissen, dass Strafreize grundsätzlich ungeeignet sind, den Aufbau von erwünschtem Verhalten zu fördern, weil sie Flucht- und Vermeidungsverhalten auslösen. Werden beispielsweise Hausaufgaben als Strafe angedroht, muss damit gerechnet werden, dass sie nur sehr oberflächlich ausgeführt und zudem noch emotional negativ besetzt werden. Möchte man, dass sich ein schwatzender Schüler am Unterrichtsgeschehen beteiligt, reicht es nicht, ihn für das Schwatzen zu bestrafen, sondern man muss parallel dazu erwünschtes Verhalten aufbauen (etwa durch positive Verstärkung in Form von Belohnung).

Inwiefern die sogenannten operanten Lernprinzipien (Skinner, 1953) zur gezielten Verhaltenssteuerung im Klassenzimmer wichtig sind, wird im Detail im Kapitel 7.4.4 ( Kap. 7.4.4) im Zusammenhang mit dem Thema Klassenführung aufgezeigt.

2.4       Lernen als Aufbau von Wissen

Menschliches Lernen geht aber weit über Konditionierung hinaus. Beim schulischen Lernen steht der Erwerb von Wissen im Mittelpunkt, welches über Symbolsysteme wie Sprache, Schrift und mathematische Zeichen vermittelt wird. Zwar kann gewisser Schulstoff durch Konditionierung erworben werden, zum Beispiel das Einmaleins oder die Vokabeln einer Fremdsprache. Wer die Aufgabe »7 x 3 =« richtig mit »21« beantwortet, wird gelobt. Auch einen Grundwortschatz englischer Vokabeln kann man so erwerben.

Wenn aber im Kopf der Schülerinnen und Schüler lediglich von außen gesteuerte, in ihnen gleichsam automatisch ablaufende Prozesse (Assoziationen) aufgebaut werden, dann wird unflexibles und deshalb häufig unbrauchbares, sogenanntes träges Wissen erworben. Wenn das kleine Einmaleins durch Verstärkung der richtigen Antwort auswendig gelernt wurde, kommt zwar die Antwort auf »4 x 8 =« wie aus der Pistole geschossen, aber die Schülerinnen und Schüler wissen nicht, dass man die Zahl nur verdoppeln muss, wenn man »4 x 16 =« ausrechnen soll. Wenn man im GedächtnisAssoziationen wie »Stuhl – chair, Tisch – table oder Teppich – carpet« gespeichert hat, dann bedeutet das nicht automatisch, dass man diese Vokabeln auch nutzen kann, um sinnvolle englische Sätze zu bilden.

Die besondere geistige Kompetenz des Menschen besteht aber gerade darin, nicht nur in diesem Sinne rein assoziativ zu lernen. Wir bauen nicht einfach nur Verbindungen im Gedächtnis auf, die von außen gesteuert werden. Vielmehr ist der menschliche Geist in der Lage, Wissenselemente aktiv und ohne äußeren Anstoß so zu konstruieren und/oder umzustrukturieren, dass sie auch zur Bewältigung von Aufgaben herangezogen werden können, zu deren Lösung wir bisher keine Anleitung bekommen haben.

Gerade in der Schule geht es somit darum, Kinder und Jugendliche bei ihrer eigenen (Re-)Konstruktion von Wissen zu unterstützen, das in einem kulturellen Kontext entstanden und anspruchsvoll ist. Sie müssen die Schrift, die Mathematik oder naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten zwar nicht erfinden – das haben kluge Menschen vor ihnen getan –, aber sie müssen sie für sich konstruieren und in ihr eigenes Wissensnetzwerk einbauen. Da dieser Prozess sehr komplex ist, führen wir im folgenden Kapitel ein Modell ein, das den Wissensaufbau besser fassbar macht.

2.4.1     Das 3-Speicher-Modell des Gedächtnisses

Obwohl Menschen Jahrtausende brauchten, um die in westlichen Ländern übliche Lautschriften zu entwickeln, können die meisten Kinder nach wenigen Monaten Schulbesuch lesen. Auch wenn das arabische Zahlensystem erst vor etwa 1200 Jahren entwickelt wurde, können fast alle Grundschulkinder dividieren und verstehen, dass die Null eine Zahl ist. Wollen wir den Erwerb solcher Kompetenzen verstehen, müssen wir den Lernbegriff erweitern: Es geht nicht nur um Konditionierung, Assoziation und Verhaltensänderung, sondern vor allem um Wissenskonstruktion.

Um den Prozess der Wissenskonstruktion zu veranschaulichen, haben wir ein Modell der menschlichen Informationsverarbeitung entwickelt, das alle im Folgenden genutzten Begrifflichkeiten zur Informationsverarbeitung und dem Lernen in einen Zusammenhang stellt. In dessen Zentrum stehen drei Typen von Gedächtnis.

In der Wissenschaft herrscht Einigkeit darüber, dass das menschliche Gedächtnis am besten durch ein 3-Speicher-Modell beschrieben werden kann. Dieses wurde in den Grundzügen bereits 1968 durch die Psychologen Atkinson und Shiffrin vorgestellt. Demnach gibt es

•  ein Ultrakurzzeitgedächtnis (englisch: Sensory Memory)

•  ein Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis, das aktuelle Information verarbeitet und zielgerichtetes Verhalten ermöglicht sowie

•  ein Langzeitgedächtnis für die längerfristige Abspeicherung von Information.

Jedes Lebewesen braucht ein Ultrakurzzeitgedächtnis, das zunächst einmal alle eingehenden Sinnesreize aufnimmt. Dieses Gedächtnis ist artenspezifisch, da sich unterschiedliche Spezies in ihrem Wahrnehmungsspektrum unterscheiden. Das Spektrum an wahrnehmbaren Tönen ist beispielsweise bei Hunden größer als bei Menschen, während Menschen ein differenzierteres Spektrum an visuellen Reizen haben.

Für alle Spezies gilt: Von den eingehenden Sinnesreizen wird nur ein Bruchteil weiter verarbeitet. Welcher Reiz das Rennen macht, hängt von der Intensität der eingehenden Reize, vom Motivzustand und den Emotionen des Lebewesens ab. Gefahren signalisierende Reize werden prioritär wahrgenommen, und ein hungriges

Abb. 2: An menschlichem Lernen beteiligte Gedächtnisprozesse und geistige Ressourcen (entwickelt von Elsbeth Stern und Lennart Schalk).

Lebewesen wird Hinweise auf Nahrung bevorzugt weiterverarbeiten. In einer klassischen Untersuchung von Georg Sperling (1960) konnte gezeigt werden, dass bei Menschen visuelle Information nach etwa 250 Millisekunden zerfällt, wenn sie nicht zielgerichtet verarbeitet wird.

Wie wird nun von einem Lebewesen ausgewählt, welchen Reizen im Ultrakurzzeitgedächtnis Aufmerksamkeit geschenkt wird und ob sie in das Langzeitgedächtnis gelangen? Die hierfür zuständige Instanz wird Arbeitsgedächtnis genannt. Es ist das wichtigste Konstrukt der wissenschaftlichen Psychologie und so zentral wie etwa das Atom in der Chemie oder die Zelle in der Biologie.

Während davon ausgegangen werden muss, dass alle Lebewesen eine Instanz haben, die zwischen dem Ultrakurzzeit- und dem Langzeitgedächtnis vermittelt, spricht vieles dafür, dass Struktur und Funktion des Arbeitsgedächtnisses ganz wesentlich für die Unterschiede in der geistigen Leistungsfähigkeit zwischen Menschen und anderen Lebewesen verantwortlich sind. Seit längerer Zeit ist bekannt, dass das Frontalhirn an Arbeitsgedächtnisfunktionen maßgeblich beteiligt ist. Menschen, die aufgrund von Unfällen oder Gehirnkrankheiten Schädigungen in diesem Bereich aufweisen, fällt es schwer, längerfristige Ziele zu verfolgen, da sie sich von allen möglichen Reizen ablenken lassen. Anders ausgedrückt: Das gezielte Ausblenden von nicht zielführender Information ist diesen Menschen nicht oder nur sehr schwer möglich. Bildgebende Verfahren wie EEG (Elektroenzephalografie) und fMRI (funktionelle Magnetresonanztomographie), die strukturelle und funktionale Merkmale und Vorgänge im Gehirn erfassen, belegen die Bedeutung des Frontalhirns für das Arbeitsgedächtnis und damit für die Bewältigung von Aufgaben, die die Steuerung von Aufmerksamkeitsfunktionen erfordern.

Kern der Arbeitsgedächtnisfunktionen ist es, eingehende Information in das bestehende Wissen zu integrieren. Daraus wiederum werden Handlungen initiiert, welche die Bewältigung der gerade anstehenden Anforderungen ermöglichen. Um handlungsfähig zu bleiben, muss jedes Individuum aus der großen Flut an eingehenden Reizen eine Auswahl treffen. Die begrenzte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist deshalb höchst funktional, stellt aber für das Lernen eine besondere Herausforderung dar.

Der Zugang vom Ultrakurzzeitgedächtnis zum Arbeitsgedächntnis kanninzidentell (also unbeabsichtigt bzw. zufällig) oder aber intentional (absichtlich) gesteuert sein. Bei intentional gesteuerten Prozessen verfolgt das Individuum ein Ziel. Es wird deshalb bevorzugt Information auswählen, die das Erreichen des Ziels unterstützt. Hat sich eine Person entschieden, den Inhalt eines Textes zu verstehen, wird sie nicht auf die Farbe der Buchstaben achten. Die intentional gesteuerte Begrenzung des Arbeitsgedächtnisses ermöglicht somit ganz wesentlich die Konzentrationsfähigkeit.

Allerdings hätte kein Lebewesen eine Überlebenschance, wenn das Arbeitsgedächtnis völlig »dicht« machen könnte. Für Hinweise auf drohende Gefahren sowie auf besondere Belohnungen muss ein Weg offenbleiben. Unerwartete und besonders intensive Informationen werden über den inzidentellen Weg weitergeleitet. So wird man sich als konzentrierte Leserin oder als konzentrierter Leser vielleicht nicht daran erinnern, ob die Schrift eines Textes blau oder schwarz war. Sind die Buchstaben hingegen in leuchtendem Pink, wird dies auch demjenigen Lesenden auffallen, der sich ganz auf den Inhalt konzentrieren kann. Neben dem intentionalen wird es also immer auch den inzidentellen Weg geben, über den Informationen in das Arbeitsgedächtnis gelangen.

Dass Lernen ein Langzeitgedächtnis voraussetzt, geht schon aus der im Kapitel 2.2 ( Kap. 2.2) eingeführten Definition hervor: Erfahrung muss gespeichert werden, ansonsten wäre eine nachhaltige Verhaltensänderung gar nicht möglich. Das gilt für die Ameise wie auch für den Menschen. Die Gehirne aller Lebewesen müssen flexibel genug für den Aufbau neuer Reiz-Reaktions-Verbindungen im Langzeitgedächtnis sein. Gleichzeitig ist das Gehirn eines Lebewesens bei seiner Geburt kein völlig unbeschriebenes Blatt, sondern enthält bereits Information, welche die Anpassung an die zukünftige Umwelt erleichtert. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von festverdrahteten Strukturen im Informationsverarbeitungssystem, die weder durch Erfahrung erworben noch durch diese modifiziert werden können. Optische Täuschungen wie z. B. die Müller-Lyer Täuschung (siehe dazu unten die Abbildung 3) ( Abb. 3) sind Beispiele dafür. Selbst wenn wir beide Strecken mit dem Lineal messen und feststellen, dass sie gleich lang sind, sehen wir sie als unterschiedlich lang. Dieses zunächst scheinbar problematische Phänomen hat aber eine wichtige Funktion, da es uns beim Tiefensehen unterstützt, wie Abbildung 4 ( Abb. 4) zeigt. Obwohl im zweidimensionalen Bild Wand B kürzer ist als Wand A, wissen wir, dass in der dreidimensionalen Realität Wand A und B gleich lang sind und der dargestellte Raum einem Quader entspricht.

Abb. 3: Müller-Lyer-Täuschung. Ist die untere Linie wirklich nicht länger als die obere?

Abb. 4: Kein schiefer Raum: Dank der Müller-Lyer-Täuschung können wir in zwei Dimensionen dargestellte dreidimensionale Räume korrekt verarbeiten.

Neben festverdrahteten Strukturen gibt es auch vorverdrahtete Strukturen, die flexibler sind und durch Erfahrung geformt werden. Im Tierreich spricht man auch von Instinkten oder von Prägungslernen, wie es beispielsweise von dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz nachgewiesen wurde. Frisch geschlüpfte Graugänse folgen dem ersten bewegten Objekt, das sie sehen – typischerweise die sich aus dem Nest erhebende Mutter. Unter artifiziellen Bedingungen, also wenn die Gänse künstlich ausgebrütet wurden, folgten sie beispielsweise den Stiefeln von Konrad Lorenz. Es war also gerade nicht ein festverdrahtetes Vorstellungsbild einer erwachsenen Gans, welches die Kleinen in der Natur dazu bringt, ihrer Mutter zu folgen, sondern eine flexiblere, aber bereits vorgeprägte Struktur, nämlich einer Bewegung zu folgen – von welchem Objekt auch immer.

Dass Tiere mit Instinkten geboren sind, wird seit langem akzeptiert. Seit einigen Jahrzehnten wissen wir aber auch, dass Menschen nicht völlig unvorbereitet auf die Welt kommen, sondern mit Grundlagen ausgestattet sind, dem sogenannten »Kernwissen«. Dieses erleichtert eine Anpassung an die zu erwartende soziale und physische Umgebung. Aus den Blickbewegungen von Säuglingen lässt sich ableiten, dass sie der Sprache, Veränderungen von kleinen Mengen und Bewegungen von Objekten besondere Aufmerksamkeit schenken (Pauen, 2012).

Auf der Grundlage dieses Kernwissens lernen Kinder beispielsweise ohne professionelle Instruktion in ihrem natürlichen Umfeld das Verstehen und Produzieren von sprachlichen Inhalten sowie das Zählen von diskreten Mengen. Zudem haben sie eine Vorstellung davon, wie sich in der physikalischen Welt feste Gegenstände zueinander verhalten. So reagieren bereits wenige Monate alte Kinder mit weit aufgerissenen Augen auf physikalisch unmögliche Szenarien, in denen beispielsweise ein fester Gegenstand ohne Halt in der Luft zu hängen scheint. Dies erklärt z. B., warum Babys von Mobiles fasziniert sind. Wie genau das angeborene Kernwissen für das weitere Lernen genutzt wird, wird noch kontrovers diskutiert (mehr dazu bei Pauen, 2012), aber es ist unbestritten, dass Menschen auf der Grundlage des Kernwissens vieles von dem, was zur Bewältigung des Alltags benötigt wird, ohne große Anstrengung und ohne gezielte Unterstützung erwerben können.

Die Tatsache, dass Säuglinge und Kleinkinder beiläufig so vieles lernen können, worauf sie im Laufe der Evolution vorbereitet wurden, kann zu Fehleinschätzungen der allgemeinen Lernfähigkeit im Kindesalter und einem unrealistischen Anspruch an Frühförderung führen. Manchmal geistern Vorstellungen durch die Medien, wonach unsere Umwelt die unbegrenzte Lernfähigkeit von Kindern gezielt zerstöre, weil es zu wenig oder die falsche Anregung gebe. Spätestens mit Schuleintritt sei dann die Lernmotivation zerstört.

Solche falschen Vorstellungen entstehen, wenn nicht zwischen biologisch vorbereiteten Kompetenzen und dem Erwerb von Kulturtechniken unterschieden wird. Letztere haben sich erst vor wenigen Jahrtausenden, Jahrhunderten oder Jahrzehnten entwickelt, also lange nach dem Zeitpunkt, an dem sich das menschliche Genom weitgehend stabilisiert hat. Der Erwerb von Kulturtechniken setzt ein effizient funktionierendes Arbeitsgedächtnis voraus, welches sich jedoch erst im Laufe der Kindheit entwickelt und seine vollständige Funktionsfähigkeit erst in der Adoleszenz erreicht. Auch das lässt sich durch Befunde aus der Hirnforschung belegen.

2.4.2     Die Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses

Vor den Zeiten von mobilen Online-Karten und Navigationstechnologien musste man in einer fremden Stadt oft nach dem Weg – z. B. zu einem Museum – fragen und bekam etwa die folgende Antwort: »Gehen Sie bis zur nächsten Strasse geradeaus, biegen Sie links ab und dann gleich wieder rechts. Nach 100 Metern kommt eine Ampel, da müssen Sie wieder links gehen und dann nochmal rechts. Dann gehen Sie direkt auf das Gebäude zu.« Man bedankte sich für die Auskunft, hatte sich noch den Anfang der Instruktion merken können, und wenn man einmal links und einmal rechts abgebogen war, musste man erneut fragen. Die gesamte Wegbeschreibung hatte die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses überschritten.

Das Beispiel soll veranschaulichen: Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist begrenzt, und in einer solchen Situation ist das natürlich hinderlich. Aber diese Begrenzung ist der Tatsache geschuldet, dass im Arbeitsgedächtnis parallel Prozesse ablaufen müssen, die uns ermöglichen, selbst gesetzte oder von der Umgebung eingeforderte Ziele zu verfolgen. Das erfordert selektive Aufmerksamkeit: Aus der Umgebung sollte nur Information aufgenommen und weiterverarbeitet werden, welche der Erreichung des Ziels dient. Ist die relevante Information einmal identifiziert, muss sie im Arbeitsgedächtnis gehalten werden, bis das Ziel erreicht wird, z. B. durch Wiederholung oder durch Vorstellungsbilder. Um effizient agieren zu können, muss ein Individuum also gleichzeitig parallel zur Selektion der eingehenden Informationen im Langzeitgedächtnis nach Informationen suchen, welche ebenfalls zur Erreichung des Ziels beitragen können (Wiedererkennen). Auch diese Informationen müssen aktiviert und im Arbeitsgedächtnis gehalten werden.

Zudem müssen irrelevante Reize aus der Umgebung ausgeblendet werden. Stellen wir uns eine Studentin vor, die in eine Vorlesung gehen möchte. Eigentlich ist sie müde und würde lieber etwas anderes machen. Sie weiß, in welchem Gebäude die Vorlesung stattfindet, muss aber noch den Raum suchen. Bis sie im Hörsaal angekommen ist, wird ihr Arbeitsgedächtnis gefordert. Sie hat eine ungefähre Ahnung von dem Aufbau des Gebäudes. Dieses Wissen wird aktiviert, also in das Arbeitsgedächtnis geladen. Gleichzeitig muss sie die Raumnummer im Arbeitsgedächtnis halten und sich vergegenwärtigen, in welchem Stockwerk sie sich gerade befindet und welche Treppe man sinnvollerweise nimmt. Unterwegs sieht sie Freunde, die sich gemütlich mit einem Kaffee niedergelassen haben. Sich nicht zu ihnen zu setzen, sondern in den Hörsaal zu gehen, erfordert die gezielte Unterdrückung von Bedürfnissen nach sozialem Austausch. Einmal im Hörsaal angekommen, sollte sie den Prozess des Wegfindens aber vollständig aus ihrem Arbeitsgedächtnis entfernen und dieses auf die Verarbeitung der Vorlesungsinhalte einstellen.

Nur wenige selbst gesetzte oder von der Umwelt vorgegebene Anforderungen basieren auf einem einzigen Ziel. Sie lassen sich vielmehr durch eine Zielhierarchie beschreiben, in der es ein übergeordnetes Ziel gibt, das in Unterziele aufgeteilt ist. Das stellt besondere Herausforderungen an das Arbeitsgedächtnis, da für die unterschiedlichen Ziele verschiedene Informations- und Wissenselemente mit unterschiedlichen Prioritäten im Arbeitsgedächtnis gehalten werden müssen.

Mit anderen Worten: Die unterschiedlichen Elemente sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten relevant und dementsprechend muss ihr Aktivierungsniveau an den Zeitverlauf angepasst werden. Ein Beispiel dazu: Wenn der Plan gefasst wurde, für acht Personen eine anspruchsvolle Mahlzeit zuzubereiten, ist die Aktivierung der Personenzahl bei manchen Unterzielen – z. B. dem Einkaufen oder bei der Entscheidung, wann man genug Kartoffeln geschält hat – relevant. Ist man hingegen gerade dabei, die Sauce Hollandaise vorzubereiten, muss man sich darauf konzentrieren, das Gerinnen der Eier zu verhindern. Deshalb ist gerade nicht relevant, wie viele Personen zum Essen kommen. Aber die Information darf nicht ganz in Vergessenheit geraten, da sie später wieder aktualisiert werden muss. Gleichzeitig muss das Arbeitsgedächtnis noch irrelevante Information hemmen. Der Lärm eines vorbeifahrenden Zuges muss zunächst als ungefährlich erkannt und dann ausgeblendet werden. Das Eigelb beim Zubereiten der Sauce Hollandaise erinnert vielleicht an einen Sonnenuntergang – aber wenn die Sauce gelingen soll, darf man sich diesen Erinnerungen nicht hingeben. Aus den Beispielen wird deutlich, dass das Arbeitsgedächtnis die Funktion hat, zwischen im Langzeitgedächtnis gespeicherter und eingehender neuer Information zu vermitteln. Wie das genau geschieht, wird von der zu bewältigenden Anforderung und dem damit verbundenen Ziel bestimmt.

Man kann sich das Arbeitsgedächtnis als ein flexibles Beleuchtungskonzept vorstellen, mit mehreren dimmbaren Glühbirnen. Die maximale Helligkeit (die der Arbeitsspeicherkapazität entspricht) ist vorgegeben und kann entweder auf viele oder auf wenige Glühbirnen verteilt werden. Entsprechend variiert die Helligkeit der einzelnen Glühbirnen. Ist man gerade sehr fokussiert, leuchten nur wenige Glühbirnen sehr hell, lässt man den Geist wandern, leuchten viele Glühbirnen stark gedimmt. Information, die für ein Unterziel erst zu einem späteren Zeitpunkt benötigt wird, entspricht einer gedimmten Glühlampe. Erlischt eine Glühlampe, welche eine noch benötigte Informationseinheit repräsentiert, wird die Anforderung nicht angemessen bewältigt.

Wenn wir bei dieser – stark vereinfachenden – Analogie bleiben, dann zeigt sich das Ausmaß von geistiger Leistungsfähigkeit zum einen in der zur Verfügung stehenden maximalen Helligkeit und zum anderen in der Geschwindigkeit, in der die Beleuchtungsstärke variiert werden kann. Menschen unterscheiden sich in der Kapazität, der Flexibilität und der Geschwindigkeit, mit der sie Information verarbeiten können. Im folgenden Kapitel ( Kap. 2.4.3) geht es zunächst um die Frage, wie man durch Lernen die Effizienz des Arbeitsgedächtnisses steigern kann.

2.4.3     Lernen als Verdichtung von Wissen: Chunking und Prozeduralisierung

Lernen ganz allgemein, insbesondere auch schulisches Lernen, heißt, die bestehende Wissensbasis so zu verändern, dass eine bessere Anpassung an die Erfordernisse der Umgebung ermöglicht wird. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass es von der Repräsentation des Wissens im Langzeitgedächtnis abhängt, wie effizient die Arbeitsgedächtnisfunktionen für das Lernen und Problemlösen genutzt werden. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist zwar begrenzt, aber wenn Wissen effizient im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, können im gleichen Zeitraum größere Mengen aktiviert werden; man kann dann, salopp gesagt, schneller denken. Dies setzt allerdings vorangegangene Lernprozesse voraus, in denen Wissen durch wiederholte Aktivierung verdichtet wird.

Chunking

Verdichtung entsteht zunächst einmal durch Chunking (Bündelung) von Information. Einzelne Wissenselemente werden zu übergeordneten Einheiten zusammengefasst. Ein Beispiel: Wer die Ziffern 91119893101990 hört, wird sich diese kaum auf Anhieb merken können. Im Allgemeinen kann ein Mensch nur sieben bis neun Ziffern spontan im Arbeitsgedächtnis halten. Ergänzt man die Zahlenreihe hingegen mit Punkten, sieht man, dass es sich bei den Ziffern um zwei wichtige Daten der jüngsten deutschen Geschichte handelt, nämlich den Tag des Mauerfalls in Berlin und den Tag der deutschen Wiedervereinigung. Dann kann man die Zahlenreihe problemlos noch Jahre später reproduzieren: 9.11.1989 3.10.1990.

In der Kognitionspsychologie wird diese Vergrößerung der Gedächtniskapazität durch Komprimierung des Wissens als Chunking (Bündelung) bezeichnet. Einzelne Reize, die zuvor als eigene Einheiten abgespeichert waren und deshalb einzeln für die Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis aktiviert werden mussten, werden durch wiederholte gemeinsame Aktivierung gleichsam fest zusammengeschweißt. Handlungen rufen sich gegenseitig auf, das Arbeitsgedächtnis wird trotz großer Informationsmengen nur geringfügig belastet.

Bleiben wir bei der schon oben ( Kap. 2.4.2) verwendeten Glühlampenanalogie: Für die Aktivierung einer gebündelten Wissensrepräsentation wird weniger Lichtenergie gebraucht als für die Aktivierung aller einzelnen Elemente. Verdichtung von Wissen durch gemeinsame oder zeitlich benachbart aktivierte Stimulus- und Reaktionselemente spart Arbeitsspeicherkapazität und erlaubt eine schnellere Aktivierung und Deaktivierung von komplexeren Wissens-Netzwerken.

Unserer Fähigkeit zur Bündelung verdanken wir es, dass wir in Sekundenschnelle das Wort Mississippidampfschifffahrtsgesellschaftskapitän lesen können. Geübte Leserinnen und Leser erkennen Buchstaben auf einen Blick und haben so enge Assoziationen zwischen Buchstaben und Lauten aufgebaut, dass beides zusammen aktiviert wird. Ein im Lesen ungeübter Mensch hingegen muss jeden Buchstaben in einen Laut übertragen und daraus mühsam ein Wort konstruieren. Es wird Arbeitsspeicherkapazität gebunden, die für das Sinnverständnis nicht mehr zur Verfügung steht.

Daraus folgt: Aus Texten lernen können nur Menschen, die Buchstabenansammlungen als Wortbilder gespeichert haben, so dass sie das Arbeitsgedächtnis voll für das Inhaltsverständnis nutzen können. Das erfordert zunächst sehr viel Übung. Dabei lernt man, wie bestimmte Buchstabenkombinationen in Laute und Silben und schließlich in Worte umgesetzt werden. Nebenbei werden auch andere Merkmale der Wörter abgespeichert, z. B. der Anfangs- und der Endbuchstabe sowie die Wortlänge. Mit diesen Wissensnetzen ausgestattet, können geübte Leserinnen und Leser problemlos den unten als Zitat dargestellten Text lesen. Ungeübte Leser hingegen können dies nicht. Sie haben die richtig geschriebenen Wörter entweder nicht häufig genug gesehen, oder sie haben sie nicht so detailliert verarbeitet, dass sie die Merkmale zu größeren Einheiten – also Wörtern – gebündelt haben. Sie erkennen dann trotz der Redundanz der Sprache diese bei leichten Abweichungen nicht wieder.

Ehct ksras! Gmäess eneir Sutide eneir Uvinisterät ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wort snid, das ezniige, was wcthiig ist, dass der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoion snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsinöldn sein, tedztorm knan man ihn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, weil wir nicht jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snderon das Wort als gzeans enkreenn. Ehct ksras! Das ghet wicklirh! Und dfüar ghneen wir jrhlaeng in die Slhcue!

Lernen aus Texten setzt das Worterkennen voraus. Müsste man Buchstabe für Buchstabe identifizieren und daraus das Wort konstruieren, würde keine Arbeitsspeicherkapazität für den Inhalt bleiben.

Die Verdichtung von Wissen durch Chunking muss möglichst fehlerfrei erarbeitet werden, wenn man sich geistige Flexibilität erhalten möchte. Das soll am Beispiel der arithmetischen Grundoperationen verdeutlicht werden. Menschen, die nicht über ein gut vernetztes Zahlenwissen verfügen – die also zum Beispiel nicht sofort abrufen können, was die Hälfte von 70 ist oder was 27 plus 5 ergibt –, stehen schon im Alltag schnell vor Problemen. Es ist deshalb wichtig und richtig, dass in der Primarschule viel Zeit auf Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division verwendet wird. Dabei können unterschiedliche Strategien zum Einsatz kommen. Das Ergebnis von 5 + 3 = kann ermittelt werden, indem von Grund auf gezählt wird: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8. Man kann auch ab 5 aufzählen: 6, 7, 8. Bei jeder Berechnung wird eine Verbindung zwischen 5 + 3 = und 8 hergestellt. Wenn diese Verbindung eine gewisse Assoziationsstärke erreicht hat, wird »8« aktiviert, bevor die Rechenoperation abgeschlossen ist. Es wurde also Wissen so verdichtet, dass die Abrufstrategie zum Tragen kommt.