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Mit einem Schrei fuhr der kleine Luigi aus dem Albtraum hoch. Durch das große Balkonfenster direkt vor ihm fiel das bleiche Licht des Vollmonds. Es tauchte das weitläufige Schlafzimmer in silberne, geheimnisvolle Düsternis. Voller Angst starrte er auf die totenbleiche Nonne, die ihn durch das Fenster aus böse anstarrte. Im nächsten Moment stand sie am Fußende des Bettes, ohne dass er gesehen hätte, wie sie dorthin gekommen war. Eisige Kälte erfüllte das Schlafzimmer. Komm zu mir, raunte eine Stimme in seinem Kopf. Luigi wollte schreiend davonlaufen, war jedoch dem hypnotischen Zwang, der in der Stimme mitschwang, nicht gewachsen. Langsam kroch er aus dem Bett ...
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Flucht in die Hölle
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: poidl / shutterstock
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-6415-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Flucht in die Hölle
von Christian Schwarz
Mit einem Schrei fuhr der kleine Luigi aus dem Albtraum hoch. Durch das große Balkonfenster direkt vor ihm fiel das bleiche Licht des Vollmonds. Es tauchte das weitläufige Schlafzimmer in silberne, geheimnisvolle Düsternis. Voller Angst starrte er auf die totenbleiche Nonne, die ihn durch das Fenster aus böse anstarrte. Im nächsten Moment stand sie am Fußende des Bettes, ohne dass er gesehen hätte, wie sie dorthin gekommen war. Eisige Kälte erfüllte das Schlafzimmer.Komm zu mir,raunte eine Stimme in seinem Kopf. Luigi wollte schreiend davonlaufen, war jedoch dem hypnotischen Zwang, der in der Stimme mitschwang, nicht gewachsen. Langsam kroch er aus dem Bett …
Luigi ging zu dem unheimlichen Wesen hin, das die Kälte des Jenseits verstrahlte und nach Moder und Fäulnis stank. Er fürchtete sich zu Tode, aber ihm blieb keine Wahl. Seine Gedanken jagten sich. Bisher hatte er dieses Wesen lediglich als huschenden Schatten in den düsteren Winkeln gesehen, als schwarzes Schemen in den langen dunklen Gängen der Abtei. In seinen Träumen allerdings hatte der böse Schatten ihn verfolgt. Und ihm angekündigt, ihn zu holen. Nun passierte es. Ganz real. Luigi kam es keinen Augenblick in den Sinn, er könnte schlafen.
Heute sah er zum ersten Mal, was sich hinter dem Schatten verbarg. Eine Nonne! Der Junge wusste genau, dass sie längst tot war. So blutleer, so unglaublich bleich konnte kein lebender Mensch sein. Ihr von der Haube gerahmtes Gesicht war hübsch und makellos. Er fragte sich, warum sie so jung hatte sterben müssen. Dann war sie sicher ein Geist …
Die tote Nonne streckte fordernd ihre rechte Hand aus. Luigi ergriff sie. Sie fühlte sich wie ein Eisblock an. Aber doch stofflich. War sie wirklich ein Geist? Luigi wollte seine Hand zurückziehen. Die Nonne war schneller. Mit einem Schraubstockgriff umschloss sie die seine. In diesem Moment erlosch die wispernde lockende Stimme.
Luigi war voller Panik. Er starrte auf das Bett, in dem sich seine Mutter hin und her warf. Sie brabbelte im Schlaf. So als ob sie zu ahnen schien, was gerade passierte. Und doch nicht eingreifen konnte.
Mami, hilf mir, wollte Luigi schreien, schaffte es aber ebenso wenig, wie er sich der Nonne entziehen konnte.
Komm mit, du kleine Kröte, hörte er die Stimme erneut. Sie klang direkt in seinem Kopf auf. Die Nonne ging auf die Schlafzimmertür zu und zog ihn mit sich. Luigi stolperte hinter ihr her. Er warf einen letzten verzweifelten Blick auf seine Mutter, die jetzt schwer atmend auf dem Rücken lag. Für einen Moment glaubte Luigi ein schreckliches dämonenhaftes Wesen auf ihrer Brust sitzen zu sehen. Es beugte sich über sie und steckte die lange Zunge, die aus seinem Maul hervorschoss, zwischen ihre Lippen.
Die alte Holztür mit den rostigen Scharnieren öffnete sich leise quietschend. Jäh stieg die Hoffnung in Luigi hoch, dass seine Mutter davon erwachte und ihn aus seiner fürchterlichen Lage befreite. Vergebens. Die Nonne zog ihn stattdessen durch den langen Gang, der in flackerndes Licht getaucht war. Das verwirrte den Jungen zusätzlich. Denn das Licht stammte von brennenden Fackeln, die in eisernen Halterungen steckten und, gegenüber der Fensterfront, eine lange parallele Reihe bildeten.
Im Gang vor den Schlafzimmern hatte es doch noch nie Fackeln gegeben! Normalerweise wurde er von elektrischem Licht beleuchtet. Auch der gelbe Teppich auf dem Boden fehlte plötzlich. Stattdessen ging Luigi barfuß über nackten, kalten Stein. Aber das fiel ihm erst in diesem Moment auf. Seltsamerweise hingen die gerahmten Urlaubsfotos, die seine Mutter hier aufgehängt hatte, noch zwischen den Fackeln. Nur daran erkannte er den Gang überhaupt noch. Und an den modernen Fensterrahmen auf der gegenüberliegenden Seite, die seine Mutter vergangenes Jahr hatte einbauen lassen. Obwohl das sehr teuer gewesen war. Warum plötzlich Kreuzrippengewölbe an der Decke zu sehen waren, konnte er sich ebenfalls nicht erklären.
Luigis Angst wandelte sich endgültig in Grauen, als er bemerkte, dass die Nonne neben ihm keineswegs ging. Sie schwebte vielmehr eine Handbreit über dem Boden! Also musste sie doch ein Geist sein. Aber ihr Griff war nach wie vor unglaublich hart.
Die Nonne führte ihn das schmale, zweimal die Richtung ändernde Treppenhaus hinab in die Eingangshalle. Sie war dunkel. Nur der Vollmond, der durch die Fensterfront hereinfiel, erhellte sie. Luigi warf einen Blick nach draußen. Im großen Hof, der von zwei anderen Abtei-Gebäuden begrenzt wurde, nahm er eine Gestalt wahr, die ihn noch wesentlich mehr entsetzte, als die Geisternonne.
Il Diavolo – der Teufel! Gut und gerne drei Meter groß. Leicht gebückt stand er im Hof und starrte sie durch die Scheibe aus unglaublich tückischen schwarzen Augen an. Nein, vielleicht war es doch nicht der Teufel. Den stellte Luigi sich anders vor. Aber ein Dämon musste das schreckliche Wesen schon sein. Der Junge sah ein tiefschwarzes Skelett, das durch eine durchsichtige Haut schimmerte. Der Kopf wirkte wie ein Totenschädel, obwohl auch er mit Haut überzogen war. Und er schien gläsern zu sein! Denn Luigi konnte in den Schädel hineinschauen. Er bemerkte rote Lichter, die sich wild hin und her bewegten.
Der Dämon verschwand aus Luigis Blickfeld, da die Nonne ihn weiterzog. Sie hatte überhaupt nicht auf das schreckliche Wesen reagiert.
Wo bringt sie mich hin? Luigi sah es sogleich. Ihr Weg führte aus der Eingangshalle in einen langen Seitengang hinein, von dem aus die Gewölbe zu erreichen waren. Auch in diesen Gang fiel das Mondlicht durch Oberfenster herein. Luigi nahm die elektrischen Lampen mit Glaskugeln an den Wänden wahr. Für einen Moment glaubte er den Gang flimmern zu sehen. Täuschte er sich? Oder staken jetzt anstatt der Lampen tatsächlich erloschene Fackeln in Wandhalterungen?
Im letzten Drittel des Gangs, auf der rechten Seite, war normalerweise eine mächtige Tür aus schweren Eichenbohlen. Sie verschloss den Zugang zu den Gewölben. Statt dieser Tür glaubte Luigi plötzlich eine mannsgroße, zweiflügelige, schwere Eisentür zu bemerken, die mit silbernen Nieten besetzt war. Wie von Geisterhand öffnete sie sich, als sie davorstanden. Was Luigi dann zu sehen bekam, war endgültig zu viel für seinen kindlichen Verstand. Der Junge wäre am liebsten ohnmächtig geworden. Die magische Kraft, die auf ihn einwirkte, verhinderte es.
***
Vassagos Welt
Der uralte Erzdämon war fasziniert von der goldenen Elfe. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen ganz genau. Kedlin bewegte sich geschmeidig durch die Schreienden Berge, ein Gebirgsmassiv, das sich an die weite Ebene anschloss. Ihren Langbogen, den sie Zerstörer nannte, trug sie auf dem Rücken, ebenso den dazugehörigen Köcher, in dem goldene Pfeile steckten. Jeden Einzelnen hatte sie aus dem Stängel einer im Licht des Vollmonds gepflückten Lilie gefertigt und sieben Tage und Nächte lang in Drachenblut gehärtet. Nur wenige lebende Wesen konnten den Geschossen wiederstehen, auch starke Dämonen nicht. Das Erstaunliche war, dass die Macht der Pfeile direkt von Kedlins magischer Kraft abhing. Und die wuchs täglich um ein Vielfaches. Die goldene Elfe konnte es fast schon mit einem Erzdämon aufnehmen.
Und sie wird noch stärker werden, dachte Vassago. Auch wenn sie mir nicht gefährlich werden kann, so ist es doch besser, sie auf der eigenen Seite zu wissen …
Vassago kannte als Einziger die Hintergründe. Denn nur er konnte erkennen, was Kedlin wirklich war. Ein atemberaubendes Wesen aus dem Abgrund der Zeiten, das es eigentlich längst nicht mehr geben durfte.
Kedlin übte sich täglich im Umgang mit ihren Waffen, um immer besser zu werden. Sie hatte Vassago gebeten, immer stärkere Dämonen auf sie loszulassen. Dabei ging es auf Leben und Tod, denn ihre Gegner hatten den Befehl, sie zu töten.
»Nur so kann ich gleichzeitig meine Instinkte und Sinne schärfen«, hatte sie gesagt. »Sollte mich einer der Gegner töten, dann habe ich es auch nicht anders verdient.«
Vassago wusste, dass keiner der ausgesandten Dämonen mehr in der Lage war, die goldene Elfe zu töten. Sie selber zweifelte ständig an sich, weil sie sich ihrer wahren Herkunft nicht bewusst war.
Aber irgendwann wird sie es erfahren. Bald schon. Und sie wird mich zum mächtigsten Wesen des Universums machen …
Vassago grunzte zufrieden. Kedlin stieg gerade geschmeidig durch einen schmalen, himmelhohen Felskamin, obwohl sie ihre hauchzarten Elfenflügel hätte benutzen können, um auf das windumtoste Plateau darüber zu kommen. Sie zog den Weg über die steilen Felsen vor, weil sie wusste, dass der Gegner sie hier angreifen würde.
Kedlin bewegte sich im oberen Drittel des Kamins. Ihr Schwert Allesfresser hielt sie mit der Klinge nach oben in der rechten Hand. Ständig schaute sie nach oben in den rötlichen Himmel und in den Abgrund unter ihr. Sie konnte die beiden Krasuen, die auf sie lauerten, noch nicht sehen. Aber Vassago sah die Dämonen. Sie bestanden aus den Köpfen wunderschöner Menschenfrauen, aus deren Halsstümpfen die verschiedensten Organe hingen, darunter lange Gedärme, blutgefüllte Mägen und pulsierende Herzen.
Die Krasue mit den langen schwarzen Haaren lauerte am oberen Ende des Felsenkamins. Dort schwebte sie im toten Winkel in der Luft und fuhr immer wieder die Stilaugen aus, um kurz in den schmalen Spalt zu schauen. Die blonde Krasue mit der Narbe im Gesicht lauerte hingegen am unteren Eingang des Kamins. Vassago war auf die Taktik der beiden Organdämonen gespannt.
Als sich Kedlin unter einem leichten Felsüberhang befand, der ihr ein wenig Mühe bereitete, schlug die schwarzhaarige Krasue zu. Schrill schreiend ließ sie sich in den Kamin fallen. Wie eine Kanonenkugel sauste sie nach unten.
Kedlin reagierte blitzschnell. Sie riss ihr Schwert hoch und hielt es in die Flugbahn. Die Krasue hatte damit gerechnet. Sie wich aus und setzte sich auf den Felsüberhang. Kedlins Stich ging ins Leere.
Neben Kedlin fiel das an drei starken Sehnen hängende Herz der Krasue über den Felsen. Kedlin schlug mit der Faust danach, doch das Herz wich aus. Dabei begann es stärker zu pulsieren. Und sauste wie ein Pendel heran! Das Herz traf die Elfe direkt an der Schläfe. Sie musste das Gefühl haben, von der Faust eines Arenakämpfers getroffen zu werden. Vassago wusste, wie viel Wucht hinter den Schlägen der Krasuen steckte. Tatsächlich wurde ihr Kopf zur Seite geworfen. Aber sie hielt sich und verlor auch ihr Schwert nicht.
Nun griff die blonde Krasue von unten an. Schreiend flog sie nach oben. Und knallte Kedlin zwischen die Beine! Die Elfe zuckte zusammen und trat nach unten. Sie traf nicht, denn die Krasue ließ sich sofort absinken. Stattdessen zuckte ein langes Darmstück wie eine Peitsche nach oben – und wickelte sich um Kedlins Hals!
Die Elfe gurgelte. Ihre Augen traten aus den Höhlen, als die Krasue zudrückte. Die über Kedlin Lauernde nutzte ihre Chance und verpasste der Elfe zwei weitere brutale Schläge mit dem Herzen.
Kedlin verkniff es sich, sich an den Hals zu fassen und zu versuchen, die Darmschlinge zu lockern. Sie neutralisierte die magischen Kräfte, die in sie flossen, mit einem Zauber, den sie mit den Fingern der linken Hand in die Luft malte. Die blonde Krasue unter ihr brüllte auf, als das Darmstück plötzlich golden schimmerte, ließ aber nicht los. Im Gegenteil. Der Zauber war zu schwach gewesen. Die Krasue verstärkte ihre Bemühungen noch, pumpte einen weiteren Schwall tödlicher magischer Energie in Kedlins Körper. Vassago spürte, dass sie sich in einer lebensgefährlichen Lage befand. Er verspürte Angst um sie und spielte mit dem Gedanken, einzugreifen.
In diesem Moment schien Kedlin regelrecht zu explodieren. Ein goldener Schein löste sich von ihrem Körper und bildete eine Sphäre, die sich schlagartig ausdehnte und die beiden Krasuen umschloss. Diese begannen wie irr zu brüllen und zu zucken. Mit einem letzten Aufbäumen versuchten sie Kedlin noch einmal anzugreifen. Vergeblich. Das goldene Licht durchdrang ihre Körper und ließ sie erlahmen. Die blutgefüllten Mägen platzten. Das Blut wurde von dem goldenen Licht vollkommen absorbiert, während die Haut der Krasuen pechschwarz zu werden begann. Vassago freute sich diebisch über die Panik in ihren Augen, als das Leben aus ihnen wich und sie allmählich verdorrten. Als das goldene Leuchten erlosch, fielen zwei unförmige schwarze Klumpen mit Tentakelresten daran in die Tiefe.
Kedlin war anscheinend zu erschöpft, um ihren wilden Siegesschrei auszustoßen, wie sie es sonst immer tat. Schwer keuchend hing sie im Felskamin. Der Kampf hatte ihre letzten Kräfte gefordert.
Vassago bewunderte ihre Taktik, die äußerst riskant gewesen war und die er heute zum ersten Mal bei ihr gesehen hatte. Kedlin schien herausgefunden zu haben, dass ihr Körper einen starken magischen Abwehrmechanismus besaß, der sich erst bei akuter Lebensgefahr aktivierte. Sie hatte sich also bewusst in Todesnähe gebracht, um den Mechanismus zu testen. Damit eröffneten sich ihr völlig neue Möglichkeiten im Kampf, ihre Macht nahm um ein weiteres Stück zu. Es war an der Zeit, sie in ihren ersten lebensgefährlichen Einsatz zu schicken.
Vassagos ledriges Teufelsgesicht mit den unzähligen Falten und den mächtigen Hörnern erschien riesengroß über den Schreienden Bergen. Es füllte den kompletten Horizont aus, während Kedlin gerade keuchend auf das Plateau stieg und sich dort auf den felsigen Boden sinken ließ. Ihr Schwert legte sie neben sich.
Der Erzdämon lachte brüllend. »Gut gemacht, Kedlin. Ich bin zufrieden mit dir, du wirst von Tag zu Tag eine bessere Kämpferin! Ich habe eine Aufgabe für dich, die du umgehend erledigen wirst.«
»Natürlich, Dämon. Du hast mir das Leben gerettet, ich stehe nach wie vor in deiner Schuld. Aber nicht mehr lange. Dann werden die Karten neu gemischt.« Sie lächelte höhnisch, erhob sich geschmeidig und breitete ihre Flügel aus. »Was soll ich also für dich erledigen, Dämon?«
»Wechsle auf die Erde über und suche meinen alten Freund, den Erzdämon Agares auf. Betäube ihn und bringe ihn hierher in meine Welt, denn ich habe ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden.«
»Und warum?«
Es gab keinen Grund, ihr die Antwort zu verweigern, im Gegenteil. Je mehr sie wusste, desto eher würde sie sich als Verbündete Vassagos fühlen, was ganz sicher nicht schaden konnte. Natürlich würde er die Karten nicht vollkommen auf den Tisch legen. »Ich habe erfahren, dass Agares ein Tor in LUZIFERS neue Hölle geöffnet und Zarkahr dorthin geschickt hat«, antwortete Vassago. »Da mir die Existenz begehbarer Tore bisher nicht bekannt war, will ich unbedingt erfahren, wie Agares das bewerkstelligt hat. Und da er ähnlich stark ist wie ich, werde ich ihn nur hier in meiner eigenen Welt zu einer Antwort zwingen können. Du musst also sehr vorsichtig sein, Kedlin, wenn du ihn angreifst.«
»Das werde ich. Keine Sorge, Dämon.«
»Gut. Fühlst du dich bereit oder brauchst du eine Pause?«
»Ich bin bereit, Dämon.« Die goldene Elfe reckte stolz den Kopf in die Höhe und grüßte mit ihrem Schwert.
Wieder lachte Vassago. Und versetzte Kedlin auf die Erde. Nachdem sich das Weltentor wieder geschlossen hatte, zog er sich in seine Klause zurück.
Es ist gefährlich für mich, wenn Übergänge in die neue Hölle existieren. Das kann ich nicht zulassen, weil LUZIFER sonst meine Pläne stören oder gar unmöglich machen könnte. Wie immer dieses Höllentor auch geöffnet wurde, ich muss es künftig verhindern. Und dazu ist mir jedes Mittel recht.
***
Château Montagne, Frankreich
»Die Post, Mademoiselle.«
Nicole Duval stellte ihre Schwimmbewegungen ein und trat das Wasser. »Na, jetzt spannen Sie mich nicht unnötig auf die Folter, William. Ist’s heute dabei?«
»Ich wäre geneigt, Ihre Frage mit einem deutlichen Ja zu beantworten«, erwiderte der Butler von Château Montagne, noch etwas würdevoller und geschraubter als sonst.
»Dann wäre ich geneigt, mich tierisch zu freuen.« Nicole lächelte, zog sich prustend aus dem Pool und trocknete sich ab. William wartete so lange unbewegt. Dann drückte er ihr ein paar Briefe und ein Päckchen in die Hand. Sie hatte ihn vor vier Tagen angewiesen, ihr umgehend die Post zuzustellen, sobald er sie in Händen hielt, egal, wo immer sie sich gerade aufhalten mochte. Einzige Ausnahme: das stille Örtchen. Denn sie erwartete eine Sendung, auf die sie unheimlich neugierig war.
»Die Rechnungen unserer Lebensmittellieferanten und den Vollstreckungsbescheid vom Finanzamt können Sie behalten«, sagte sie, schob die Briefe weg und schnappte sich lediglich das Päckchen.
»Derartige Dinge hätte ich selbstverständlich umgehend aussortiert«, behauptete William todernst, dem es indes niemals eingefallen wäre, den Herrschaften irgendwelche Post vorzuenthalten.
Nicole fragte sich immer wieder, wie der Butler so ruhig, nachgerade gleichgültig bleiben konnte, wenn sie, lediglich mit Badeschlappen und einem Ring bekleidet, vor ihm stand.
William entfernte sich dezent.
Sie setzte sich auf die Liege und begann gespannt, das Päckchen aufzureißen. Der Absender bestätigte ihr, dass es sich um das sehnlich erwartete neue Haarkleid handelte.
»Wow«, entfuhr es ihr, als sie die violette, hüftlange Löwenmähnenperücke in der Hand hielt. Der eigentliche Gag daran waren die linksseitig eingelassenen gelben Strähnen, die ihre Initialen bildeten.
Nicole stülpte sich das edle Teil sofort über den Kopf. »Atemberaubend«, flüsterte sie selig, »einfach atemberaubend. Frauen, sperrt eure Männer ein. Nicole Duval ist in der Stadt.«
Sie kicherte, weil es für sie ohnehin keinen anderen als Zamorra gab, schlüpfte in ihre engen Jeans, zog eine leichte Bluse mit einem nach dem Jugendschutzgesetz völlig inakzeptablen Ausschnitt über und ging in den Fitnessraum des Chateaus. Dort, so wusste sie, plagte sich gerade besagter Zamorra mit diversen Kampfsportübungen herum. Normalerweise machte sie mit, doch heute war ihr nicht danach.
Der Professor, nur mit einer halblangen, gelben Sporthose bekleidet, übte gerade Kendo, die abgewandelte, moderne Art des ursprünglichen japanischen Schwertkampfes und hier die Kihon-waza, die Grundübungen. Mit schweißbedecktem Oberkörper wirbelte er das Übungsschwert aus vier Bambuslamellen, das Shinai, durch die Luft, holte weit aus und zog den Schlag bis in Kniehöhe eines imaginären Gegners durch. Ein lauter Schrei rundete die präzise Aktion ab.
Nicole klatschte anerkennend. »Super gemacht, Chéri.«
»Äh, wer sind Sie? Und warum nennen Sie mich Chéri?« Zamorra, kaum außer Atem, grinste sie an.
»Hallo, ich bin’s doch, deine Nici.«
Er musterte die gelben Strähnen. »Ah ja, tatsächlich. ND. Nur wo Nicole Duval draufsteht, ist auch Nicole Duval drin. Du siehst heute so … fremdartig aus. Hast du ein neues Haarwuchsmittel ausprobiert?«