1,99 €
Schöpfung
Es war vier Uhr morgens, als der hochgewachsene, ganz in Schwarz gekleidete Mann über den Stortorget, den ältesten Platz Stockholms, schritt. Wäre ihm jemand begegnet, er hätte die plötzlich aus dem Nebel auftauchende Gestalt als düster, nachgerade unheimlich empfunden, als jemand, dem man besser auswich. Noch mehr, wenn er bemerkt hätte, dass die eleganten Lackschuhe nicht das kleinste Geräusch auf den feuchten Pflastersteinen verursachten. Aber es gab niemanden zu dieser frühen Stunde, der dem Mann hätte begegnen können ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 152
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Schöpfung
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Sergey Nivens; Paradise studio/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-7960-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Schöpfung
von Christian Schwarz
Gamla Stan, Stockholm, Schweden
Es war vier Uhr morgens, als der hochgewachsene, ganz in Schwarz gekleidete Mann über den Stortorget, den ältesten Platz Stockholms, schritt. Wäre ihm jemand begegnet, er hätte die plötzlich aus dem Nebel auftauchende Gestalt als düster, nachgerade unheimlich empfunden, als jemand, dem man besser auswich. Noch mehr, wenn er bemerkt hätte, dass die eleganten Lackschuhe nicht das kleinste Geräusch auf den feuchten Pflastersteinen verursachten. Aber es gab niemanden zu dieser frühen Stunde, der dem Mann hätte begegnen können …
Der Düstere konnte die wunderbaren alten Häuser mit ihren farbigen Fassaden, auf die er zuschritt, so deutlich sehen wie an einem klaren Sonnentag, aber sie interessierten ihn nicht. Er kannte sie ohnehin in- und auswendig. Dabei war er durchaus an den Sehenswürdigkeiten der Altstadt interessiert, nun, an einer bestimmten zumindest. Er betrat Kåkbrinken, eine schmale Gasse zwischen den mehrstöckigen Häusern und ging sie rund dreißig Meter entlang, bis sie die Prästgatan kreuzte. Der Düstere blieb stehen und betrachtete sinnend das Haus, das direkt im Knickpunkt der beiden Gassen stand. Es war uralt. Älter noch als der große Runenstein von unregelmäßiger Form, der am Sockel der Hauswand eingelassen war und von einem schiefstehenden, in den Boden eingemauerten Kanonenrohr geschützt wurde. Der Verputz um den Runenstein war abgeschlagen worden und zeigte, dass er in rote Ziegel und große Feldsteine eingebettet war. Der Runenstein war nicht mächtiger als ehedem, das ganz sicher nicht. Aber seine magische Signatur hatte sich verändert, der Düstere spürte es genau, auch wenn er lange nicht mehr hier gewesen war. Die magischen Schwingungen, die er erwartet hatte, fand er jedoch nicht vor.
»Trotzdem muss ich äußerst vorsichtig sein«, murmelte er. Aus seinen Nasenlöchern und seinem Mund floss plötzlich finsterer Nebel, der sich vor seiner Brust zu einer schwarzen, brodelnden Wolke zusammenballte. Langsam senkte sich die Wolke, hüllte den Runenstein ein und durchdrang ihn.
In diesem Moment explodierte der Runenstein förmlich in einer Lichtflut aus hunderttausend Farben. Irisierende Blitze zuckten durch die Wolke und begannen, deren schwarze Farbe aufzulösen. Der Düstere schrie entsetzt. Mit dieser magischen Wucht, die seinen Geist zu zerfetzen drohte, hatte er trotz allem nicht gerechnet!
Er musste sein ganzes magisches Können aufbieten, um den Angriff, der eigentlich eher ein Verteidigungsschlag war, zurückzuweisen. Als es ihm gelungen war, seinen Geist aus der Magischen Erkundungswolke herauszuziehen, erloschen die irisierenden Blitze. Der Runenstein hüllte sich wieder in Nebel und Dunkelheit, die allmählich dem heraufziehenden Morgen wich.
Der Düstere hechelte vor Schmerz und Wut. Er drehte sich dreimal blitzschnell um seine Längsachse und fädelte sich schwefelstinkend in die nächste Paraspur ein.
☆
Zuvor
Was hatten Vassago und die Elfe Kedlin miteinander zu tun? Asmodis, der Ruhelose, der im Nichts Gestrandete, interessierte sich brennend dafür. Weil ihn das unbestimmte Gefühl plagte, dass diese verborgene Beziehung auch für ihn wichtig sein könnte. So informierte er sich immer wieder per Dreifingerschau über Kedlins Tun – wie auch jetzt wieder. »Was ist das?«, murmelte er, während die plötzliche Erregung rote Feuerräder in seinen Augen rotieren ließ. »Das … kann doch nicht möglich sein«, murmelte er, über alle Maßen fasziniert. Der Erzdämon konnte seinen Blick nicht mehr von der Bildfläche wenden, die Szenen aus dem Reich des Zwergenkönigs Alviss zeigte. »Doch, natürlich kann es das … Ich werde es herausfinden. Wenn ich aber recht behalten sollte, was ist dann?« Die Furcht, die ihn plötzlich ansprang wie ein tollwütiger Höllenhund, ließ ihn schaudern.
☆
Stockholm
Lisa Rix kam auch ganz gut ohne ihren Freund Aaron Davenport durch den Tag. Ein Stockholm-Trip war immer der Traum der 23-jährigen Londonerin gewesen, vor allem ein Besuch im Kungliga Slottet, dem Königsschloss, das zu den größten weltweit zählte. Denn Lisa war nicht nur Anhängerin der britischen Royals, auch die schwedische Königsfamilie hatte es ihr angetan. Damit konnte nun Aaron wiederum überhaupt nichts anfangen. Ihr Deal lautete nun: Sie schaute sich das Schloss alleine an, während Aaron, glühender Fan des Fußballvereins FC Arsenal, einen »Fußballtag« einlegte und sich ein Spiel der Allsvenskan, der ersten schwedischen Fußballliga, reinzog.
Das war ein guter Deal, ein sehr guter Deal sogar, weil dann niemand herummeckerte, sie ständig zum Weitergehen drängte und ihr die gute Laune vermieste. Und sie die ganze Zeit daran erinnerte, dass es im Süden unter glühender Sonne jetzt sicher viel schöner wäre als im kühlen, leicht verregneten Stockholm, denn das Klima kenne man ja zur Genüge von der Insel, das brauche man im Urlaub nicht auch noch. Dieses Jahr hatte aber sie sich durchgesetzt. Dazu hatte allerdings die Möglichkeit für Aaron, ein Fußballspiel besuchen zu können, nicht unerheblich beigetragen …
Lisa schaute sich den morgendlichen Wachwechsel auf dem riesigen Platz vor dem Schloss an. Dann kaufte sie sich eine Eintrittskarte für die königlichen Gemächer, die Schatzkammer und das Tre-Kronor-Museum. Obwohl sie sich ausgiebig in der schwelgenden Pracht umsah, war sie doch relativ frühzeitig fertig. In der Schatzkammer gab es außer einigen Kronen und Schwertern nicht viel zu sehen, das Tre-Kronor-Museum, in dem das märchenhafte Vorgängerschloss, das 1697 einem Großbrand zum Opfer gefallen war, thematisiert wurde, interessierte sie nur mäßig. So nahm sie eine Fähre nach Djurgården, der grünen Lunge der Stadt. Auf der Insel, die einst königliches Jagdrevier gewesen war, gab es heute einen Vergnügungspark und zahlreiche Museen. Lisa interessierte sich vor allem für das ABBA-Museum, da sie schon immer Fan der weltberühmten Pop-Gruppe gewesen war. Im Gegensatz zu Aaron, der das schwedische Quartett nicht leiden konnte.
Lisa genoss das ABBA-Museum, danach blieb noch Zeit für das Kinderliteratur-Museum Junibacken direkt gegenüber. Es war vor allem den Büchern Astrid Lindgrens gewidmet. Lisa hatte Pippi Langstrumpf schon immer gemocht, im Gegensatz zu …
Sie lächelte.
Was haben Aaron und ich eigentlich überhaupt gemeinsam, ging es ihr durch den Kopf, während sie stolz das weiße ABBA-Sweatshirt mit den aufgedruckten Konterfeis ihrer Idole glattzog, das sie sich geleistet hatte. Wenig, aber sie liebte ihn trotzdem, weil er sehr fürsorglich, zärtlich und mit einem sonnigen Gemüt versehen war. Und, nicht ganz unwichtig, sehr gut aussah …
Gegen Abend nahm Lisa die Fähre zurück. Sie bummelte noch durch das wunderbare Gamla Stan, wie die Altstadt auf Schwedisch hieß und genoss den Betrieb in den schmalen, mittelalterlichen Gassen mit seiner unüberschaubaren Anzahl an Souvenirläden, Restaurants und Cafés. Tausende von Menschen waren noch unterwegs. Da Aaron nicht vor halb zehn Uhr zurücksein würde, ging Lisa noch essen und trank zwei Bier dazu. Zehn Minuten vor halb zehn brach sie schließlich auf.
Der Menschenstrom hatte sich verlaufen, in den gepflasterten Gassen herrschte jetzt gähnende Leere. Nur noch wenige Nachtschwärmer waren draußen unterwegs, immerhin herrschte in einigen Lokalen noch Betrieb. Ein kühler Wind wehte durch die von Straßenlaternen beleuchteten Gassen. Lisa fröstelte und zog den Mantel zu. Dann ging sie zum Stortorget, wo sie sich verabredet hatten. Für einen Moment dachte sie an die drei verschwundenen Menschen. Das musste ganz hier in der Nähe passiert sein, unweit des Stortorget auf jeden Fall.
Lisa fröstelte noch mehr. Und zuckte zusammen, als unvermutet ein älterer Mann aus einer Nebenstraße auftauchte. Aber er war harmlos, er hatte zwei Begleiterinnen dabei.
Lisa atmete durch und lachte sich selber aus. Dadurch verscheuchte sie das mulmige Gefühl, das sie plötzlich überfallen hatte. Zumindest für einen Moment.
»Mach dir bloß keine Sorgen um mich, das ist ja lächerlich, ich komme schon zurecht. Du glaubst doch nicht, dass ich Angst davor habe, abends alleine durch Gamla Stan zu gehen«, hatte sie zu Aaron gesagt. Aber das war am helllichten Tag gewesen.
Und jetzt war es Nacht.
Und sie war alleine.
Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster nach. Das monotone Geräusch trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Einmal glaubte sie, der Widerhall anderer Schuhe würde sich in den der ihren mischen. Sie blieb kurz stehen und lauschte mit klopfendem Herzen. Aber da war nichts.
Lisa war heilfroh, als sie endlich den Stortorget betrat. Sie sah Aaron sofort. Er saß auf dem Löwen vor dem mächtigen Brunnen. Aber was hatte er da auf dem Kopf? Als er sie bemerkte, stand er auf, winkte und kam auf sie zu. Sie begrüßten sich mit einem innigen Kuss.
»Na, wie war’s?«, fragte er und hielt ihre Hand.
»Wunderschön, so ganz ohne dich«, gab sie zurück. »Sag mal, was ist denn das für eine Mütze?« Sie war rot und hatte das Wappen irgendeines Fußballvereins auf der Seite.
»Gut, was?« Aaron grinste zurück. »Eine Strickmütze von Djurgårdens IF. Das ist der Stockholmer Club, der gegen Östersund gespielt hat. Und …«
»Viel hässlicher geht’s ja wohl nicht«, fauchte sie. »Noch eine Fußballmütze, die irgendwo rumliegt und Staub fängt. Die wievielte ist das schon? Die dreihundertzweiundachtzigste oder so? Und den Schal hast du dir auch noch dazugekauft. Das dürfte der siebenhundertzwanzigste sein. Reine Geldverschwendung.«
»Ach komm, reg dich wieder ab.« Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Die Sachen waren ja nicht teuer. Ganz anders als in London. Und ich werde die Mütze immer wieder mal aufsetzen, ich finde die überhaupt nicht hässlich.«
»Doch, ist sie.«
»Und wenn? Das Leben ist doch viel zu kurz, um sich über hässliche Mützen aufzuregen.« Er grinste erneut, nahm den schwarzen Schal mit der Aufschrift Djurgårdens IF und dem gelb-rot-blauen Vereinslogo in beide Hände, hob ihn über den Kopf, als sei er im Stadion, sagte »Olé, olé!« und ließ ihn wieder sinken. Dann drückte er sie an sich. »Lass mir doch den Spaß.«
»Das Leben zu kurz? Ja klar. Du bist siebenundzwanzig und hast das Beste noch vor dir.« Ihr Ärger flaute tatsächlich wieder ab, sie lächelte zurück, zumal sie sich plötzlich an das ABBA-Sweatshirt erinnerte, das sie unter ihrem Mantel trug.
»Jetzt gehen wir noch in eine Bar am Stureplan, würde ich vorschlagen und feiern unseren letzten Abend hier. Und Morgen hat uns dann der Alltag wieder«, sagte Aaron. »Na ja, übermorgen. Der Reisetag zählt noch als Urlaub.«
Lisa nickte. »Stureplan, ja. Genau das machen wir. So schön es hier auch war, irgendwie freue ich mich schon wieder auf zu Hause und vor allem auf Gina. Die wird meinen Eltern mächtig auf den Keks gegangen sein.« Sie kicherte. Gina war ihre altenglische Bulldogge, die sie über alles liebte. Gina würde sich vor Freude im Kreis drehen, schnaufen und jaulen, als sei Frauchen zehn Jahre weggewesen.
Händchenhaltend gingen sie über den Platz auf die schmalen sechsstöckigen bunten Häuser zu, die ihn auf der Westseite begrenzten. Sie tauchten in eine Gasse ein, die Kåkbrinken hieß. Leer und verlassen lag sie da, Lisa sah keinen Menschen weit und breit. Im künstlichen Licht wirkte der schmale Schlauch zwischen den hohen Häusern sogar ein wenig unheimlich. Die Straße fiel etwas ab.
»Schau mal, das ist ja irre. Da steht ein eingemauertes Kanonenrohr«, sagte Aaron plötzlich, blieb stehen und klopfte darauf. »Die spinnen, die Schweden.«
»Ich habe davon gelesen«, erwiderte Lisa. »Dahinter befindet sich ein Runenstein. Und da ist er auch schon.« Sie ließ Aaron los und beugte sich nach vorne. Dann kicherte sie. »Von den drei hässlichen Zwergen daneben stand da aber nichts. Wer hat die denn dahingestellt? Die sehen ja aus wie diese deutschen Gartenzwerge. Aber total verformt im Gesicht. Die sind irgendwie unheimlich. Das ist doch sicher ein Scherz.«
»Aber du bist ja so schön«, erwiderte eine tiefe, etwas kratzige Stimme.
Lisa fuhr zurück. Es lief ihr eiskalt über den Rücken. »Was … was war denn das gerade?«, krächzte sie. »Hast du das auch gehört?«
Aaron sah sich nervös um. »Ja, da hat einer geredet. Aber ich seh keinen.« Er grinste. »Sicher ein verborgener Lautsprecher. Die wollen die Passanten nervös machen. Versteckte Kamera auf Schwedisch.« So selbstsicher wie er klang, war er nicht. Das merkte Lisa seiner Stimme an.
»Redet keinen Stuss«, klang die Stimme erneut auf, während sich die Zwerge zu bewegen begannen. Lisa und Aaron prallten zurück.
»Nein, das … das gibt’s nicht«, murmelte sie verstört.
»Natürlich gibt es uns«, erwiderte der breiteste der drei. Er hatte die knielangen Haare zu einem Zopf geflochten, an dessen Ende eine eiserne Kugel hing. Wie die beiden anderen auch trug er einen wilden Bart und derbe grünbraune Kleider und Stiefel. In den Gürteln der Zwerge steckten Messer und Äxte.
»Das ist unheimlich. Komm, wir hauen ab …« Aaron nahm Lisa an der Hand und zog sie mit sich. Sie kamen nur zwei Schritte weit, dann hatte Lisa plötzlich das Gefühl, in zähem Sumpf zu gehen und nicht mehr vorwärts zu kommen. Aaron ging es nicht anders.
»Halt, hiergeblieben!«, zischte der Zwerg. »Wo wollt ihr hin? Ich sagte doch, dass ihr mit uns kommt.«
Der Albtraum begann jetzt erst so richtig. Eine starke unsichtbare Kraft zwang Lisa und Aaron in die Horizontale. Plötzlich schwebten sie knapp über dem Pflaster. Lisa schrie und wimmerte vor Panik und bat die unheimlichen Gesellen, sie gehen zu lassen, da sie sich selber nicht befreien konnte. Aber die kicherten nur hämisch und begannen die schwebenden Menschen auf den Runenstein zuzuschieben!
Zwei junge Männer erschienen und kamen die Straße herab. »Helfen Sie uns!«, schrie Lisa voller Panik auf Englisch. Aber die Männer nahmen keine Notiz von ihnen. Nur eine Armlänge entfernt gingen sie an ihnen vorbei, ohne sie wahrzunehmen!
Das konnte doch nicht sein. Lisa war sicher, schlecht zu träumen und gleich aufzuwachen. Aber konnte man einen Albtraum als solchen erkennen, wenn er einen gerade heimsuchte?
»O-oh, die haben euch ja gar nicht gesehen«, sagte der Wortführer und seine Stimme triefte nun vor Häme. Er trat direkt vor Lisas Gesicht. Nun erst bemerkte sie, wie unerträglich er stank. Nach Moder, Fäulnis und Rauch. »Können sie auch gar nicht, denn wir haben euch ein wenig unsichtbar gemacht.« Er kicherte.
»Ihr verdammten Schweine!«, schrie Aaron und grunzte selber wie ein solches. Wut und Angst ließen seine Stimme überschlagen. »Lasst uns sofort frei, oder es passiert was!« Er keuchte, dann war er ruhig, so, als habe er eingesehen, wie lächerlich seine Drohung angesichts der Umstände klang.
»Was … habt ihr mit uns vor?«, fragte Lisa.
»Oh, seht uns ruhig als eure Wohltäter an. Ihr habt die einmalige Chance, etwas wirklich Großes zu erreichen. Aber ein bisschen müsst ihr euch dann schon anstrengen. Umsonst gibt’s das nicht.«
Lisa konnte lediglich die Augen bewegen. Sie schwebte nun zwischen Runenstein und Kanonenrohr. Plötzlich blitzte der Runensteil grell auf. Eine unglaublich böse Aura breitete sich aus, hüllte Lisa ein und ließ sie vor Grauen ohnmächtig werden.
Gleich darauf erlosch das Leuchten wieder. Die momentane Bevölkerungszahl Gamla Stans hatte sich erneut um zwei verringert.
☆
Kneipe »Zum Teufel«, Zamorras Dorf, Loiretal, Frankreich
»Was hast du denn da für eine Beule am Kopf, Pierre?«, fragte Marie-Claire Boulez, die stolze Besitzerin des Krämerladens im Dorf. Sie kam nur sehr selten in die beste, weil einzige Dorfkneipe am Ort. Und noch seltener war die 65-Jährige am Stammtisch zu finden. Der hieß mit Zweitnamen Montagne-Tisch. Hauptsächlich deswegen, weil Professor Zamorra die ersten Rechte daran hatte und sich damit revanchierte, dass er alle am Tisch Sitzenden freihielt, wenn er und Nicole mal wieder Zeit fanden, Zum Teufel zu gehen.
So wie heute.
»Ja«, sagte Nicole Duval, »das würde mich auch interessieren. Ich schau schon die ganze Zeit drauf, aber bisher war ich zu schüchtern, zu zurückhaltend und zu höflich, um dich danach zu fragen.« Sie kicherte. »Klärst du uns auf, Pierre? Oder lässt du uns unwissend sterben?«
»Unwissend sterben? Das sagt ausgerechnet die, die uns alle anderen, den werten Herrn Professor natürlich ausgenommen, möglicherweise um Jahrtausende überleben wird. Im Übrigen glaube ich nicht, dass der Sauhaufen am Tisch da noch groß aufgeklärt werden muss«, gab Mostache, der Wirt grinsend zurück, während er, hinter der Theke stehend, sorgfältig ein Glas reinigte. »Ihr wisst doch alle, wie’s geht. Oder wo kommen sonst die ganzen missratenen Kinderchen her? Na ja, Pater Ralph natürlich nicht. Der darf das schon von Amts wegen nicht wissen …«
Pater Ralph, nach Zamorra der bestaussehende Mann am Tisch, spielte mit den Fingern der linken Hand Klavier auf der Tischplatte und fixierte den Wirt mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Eines kannst du mir glauben, Pierre. Auch wenn die Praxis diesbezüglich notwendigerweise unter den Tisch fallen muss, so bin ich theoretisch doch stets auf dem aktuellsten Stand der Dinge. Wie sollte ich mich sonst um die Belange meiner Schäfchen kümmern können?«
»Du hast neuerdings Schafe, Pater?«, fragte Dorfschmied Charles Goudon scheinheilig. »Das war mir bisher entgangen. Und die klärst du tatsächlich auf?«
Damit löste er zunächst verblüffte Blicke und dann eine Runde brüllendes Gelächter aus.
»Ha, ha, sehr witzig«, erwiderte Pater Ralph und strich sich seine Soutane glatt. »Natürlich habe ich alle wichtigen Bücher über die Aufklärung gelesen …«
»Voltaire, Kant, Locke, klar«, erwiderte Zamorra nun und nahm genießerisch einen Schluck Rotwein, der aus den eigenen Weinbergen stammte. »Aber ich glaube, wir sind ein bisschen vom Thema abgekommen. Pierre wollte uns doch erzählen, wie er zu seiner Beule gekommen ist …«
»So, wollte er das, der Pierre?«, brummte Mostache. »Na gut, dann beuge ich mich der monetären Gewalt, weil ihr mir sonst ganz sicher das Trinkgeld verweigern werdet.«
»Das würden wir. Ganz bestimmt sogar«, bestätigte André Goadec, Zamorras größter Weinbergpächter.
»Also gut«, gab Mostache zurück, schaute das Glas gegen das Licht an und stellte es auf die Theke zurück. »Gestern Nacht kam meine bessere Hälfte, meine Charlotte, im Bett zu mir rüber gekrochen, kuschelte sich an mich und sagte: Pierre, mein Täubchen, mein Schnäuzelchen, wir haben schon länger keinen Sex mehr gehabt. Da habe ich erwidert: Du vielleicht. Woraufhin sie aufstand, sich eine Pfanne besorgte und sie mir empört über den Schädel zog.«
Eine weitere Lachsalve fegte durch den Gastraum.
»Du verscheißerst uns doch, Pierre«, sagte Gerard Fronton, von allen nur Malteser-Joe genannt, schließlich. »Das ist ein Witz, den ich schon vor fünfzig Jahren erzählt habe.«
»Ja. Damals sicher genauso schlecht wie heute«, warf Charles ein.
»Ihr seid mir einfach zu … kindisch«, sagte Marie-Claire, stand auf und setzte sich an den Nebentisch, wo die Tageszeitung lag. »Da tue ich doch lieber was für meine Bildung.« Sie schlug den Le Progrès