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London im Jahre 20xx: Mitten in der Nacht bekommt Professor Lewis einen Anruf seines alten Bekannten, Professor Moore. Dieser will ihm unbedingt etwas zeigen, was kein Mensch jemals gesehen hat. Übertreibt Moore wieder einmal? Lewis macht sich auf den Weg. Als er, beim Schein von Fackeln, in einem Kellerlabor mit dem Ergebnis jahrzehnter Forschungsarbeit konfrontiert wird, befällt ihn Entsetzen. Madeeha - die Sekretärin von Moore - findet einen Hinweis auf ein «Projekt Golem». Sie versucht, die Bedeutung zu entschlüsseln und es gelingt ihr, in das Labor einzudringen. Dort macht sie eine Entdeckung und steht große Ängste aus. Beim verzweifelten Versuch, die Tür wieder zu öffnen, springen Gittertüren auf. Premierminister Abercrombie und seine Regierung stehen bald vor einer unerhörten Herausforderung. Wie werden sie reagieren? Eines Abends begegnet Madeeha Professor Moore wieder, doch sie sind nicht allein…
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Seitenzahl: 260
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Paul Baldauf
Projekt Golem
London-Roman
© 2020 Paul Baldauf
Autor: Paul Baldauf
Cover-Foto: TheDigitalArtist, auf www.pixabay.com, lizenzfrei
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN: 978-3-347-13270-3 (Paperback)
ISBN: 978-3-347-13271-9 (Hardcover)
ISBN: 978-3-347-13272-6 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Kapitel 1 — London, Downing Street 10
06. Dezember 20XX
Premierminister John Abercrombie trat vor einen Spiegel, zog die Augenbrauen hoch, blinzelte und fokussierte. Ja, das kann sich sehen lassen! Der neue anthrazitfarbene Anzug, eine Maßanfertigung, saß tadellos. Diese Mischung aus Eleganz und legerem Schnitt überzeugte ihn. Vielleicht sollte ich doch die Fliege anziehen? Seine Mundwinkel gingen nach unten. Warum besteht Hellen darauf? Fühle mich immer so eingeschnürt um den Hals. Er kniff die Lippen zusammen und schüttelte leicht den Kopf. Da hörte er die Schritte seiner Frau, die ihn um eine Handlänge überragte. Der Premierminister blickte nach unten. Seine Schuhe glänzten. Hellen, in elegantem Abendkleid, eine Perlenkette um den Hals, trat neben ihn. Sie musterte ihn und bewegte dabei den Zeigefinger hin und her.
„Du weißt, was noch fehlt?“
Ihr Mann atmete durch und seufzte auf. Widerstand war zwecklos. Resigniert ließ er zu, dass sie ihm beim Anziehen der Fliege half.
„Ouch, nicht so eng!“
Hellen half nach.
„Ist es so besser?“
„Wann, sagtest du, kommen sie?“
„Gegen 19.00 Uhr.“
„Und wer hat mir den kleinen Empfang reingedrückt?“
Er drehte sich auf dem Absatz um und verzog verdrießlich das Gesicht.
„Ist doch schon eine kleine Tradition mittlerweile: 6. Dezember.“
„Der Botschafter von Indien kommt auch. Wenn du mir einen Gefallen tun willst: Unterhalte dich mit ihm. Er redet zu viel.“
Sie betrachtete das von zahlreichen Falten überzogene Gesicht ihres Mannes, seine gedrungene Gestalt und blickte durch seine Hornbrille in grau-blaue Augen. Er sah müde aus.
„Ist Lucie noch da?“
„Nein, ich habe sie nach Hause geschickt. Sie hat im «State Dining Room» alles vorbereitet.“
„Ich freue mich schon auf Christopher“, sagte er sarkastisch. Seine Gedanken verweilten bei Christopher Lloyd. Mit dem dynamischschneidigen Oppositionsführer der «Tories» lieferte er sich in den letzten Monaten heftige Debatten, im wahrsten Sinne des Wortes einen Schlagabtausch.
„Die alte Nervensäge! Hoffentlich fängt er nicht wieder mit dem Gesetz an, das wir vor einiger Zeit endlich durchbekommen haben! Am besten, du schiebst ihm immer wieder eine Platte mit Häppchen zu, damit er Ruhe gibt.“
„Welches Gesetz?“
Ein Hausangestellter trat auf leisen Sohlen hinzu, entschuldigte sich und besprach sich im Flüsterton mit Frau Abercrombie. Dann trat er, einvernehmlich nickend, den Rückzug an.
„Na, ja, dieses Gesetz über – lass mich nachdenken – «Reproduktive Forschung und Genetik-Design im Mensch-Tier-Grenzbereich» – oder so ähnlich. Mein Gedächtnis lässt nach.“
„Klingt kompliziert.“
Der Premierminister blies die Backen auf, trat näher, besann sich und wiegelte ab.
„Alles halb so wild. Das Kind muss einen Namen haben. Das war die Kurzfassung. Für die genaue Bezeichnung habe ich meine Fachleute. Gar nicht auszudenken, wenn man sich um alles selbst kümmern müsste! Biologie, Naturwissenschaften, waren noch nie meine Stärke.“
John Abercrombie brach in überraschend lautes Gelächter aus, das jedoch bald wieder versackte, wie ein Motor, dem der Sprit ausgeht. Auf dem blassen länglichen Gesicht seiner Frau, dem eine Ponyfrisur eine besondere Note verlieh, zeichneten sich Spuren von Bestürzung ab. Sie schnitt eine Grimasse.
„MENSCH-TIER-Grenzbereich: Ist das nicht grauenhaft?“
Ihr Mann rückte seine Brille zurecht und schüttelte entschieden den Kopf. Dabei gestikulierte er mit einer seiner breiten Hände.
„Nein, nein – wie soll ich sagen: Die Grenzen sind ja in der ganzen Natur fließend. Kein Grund zur Beunruhigung, im Gegenteil!
Wir haben das eingehend, lange genug, bis ins Detail diskutiert und renommierte Experten hinzugezogen. Gegenüber der Gesetzesvorlage der Vergangenheit – 2008 war das, glaube ich, noch unter einem gewissen «Gordon Brown», falls dir der Name etwas sagt, auch schon wieder ganz schön lange her – war man bezüglich dieser Thematik noch vorsichtiger. Kein Wunder, beim damaligen Stand der Wissenschaft.
Aber irgendwann“ – er räusperte sich – „muss man die Zeichen der Zeit erkennen und voranschreiten! Wir haben es uns wahrlich nicht leicht gemacht und einen – wie ich finde – wirklich guten Kompromiss gefunden: «Freiheit der Forschung», ja! Aber innerhalb von genau festgelegten Grenzen.
Inzwischen sind wir weiter, haben Vorurteile abgelegt. Das Potential der Anwendung solcher Forschungsergebnisse ist – wenn die Forschung erfolgreich ist, woran ich keinen Zweifel habe – kaum abzuschätzen. Ich sage nur eins: «Unheilbare Krankheiten.» Das wurde uns immer wieder eindringlich und glaubhaft versichert, dass dies der Antrieb all dieser wissenschaftlichen Bemühungen ist. Unsere Forscher werden eine neue Ära einleiten. Wenn erst einmal ein größerer Durchbruch erzielt ist, werden nach und nach immer mehr Krankheiten besiegt werden! Wir sind auf diesem Gebiet, soweit ich weiß, führend in der Welt. Da kann man schon stolz sein.“
Nun hörten sie beide das Geräusch vorfahrender Wagen. Der Premierminister sah seine Frau an und legte einen Finger auf die Lippen.
„Kein Wort darüber, ja? Sonst zettelt Lloyd wieder ein Wortgefecht an. Als ob es keine anderen wichtigen Themen gäbe! Ich sag’s ja, diese Tories!“
Zwei Hausangestellte traten hinzu und bewegten sich zur Eingangstür. Es läutete. Der politische Führer seines Landes drückte sein Kreuz durch und nahm eine Haltung an, die er, in Anbetracht seiner herausgehobenen Position, für angemessen hielt. Dann winkte er seine Frau – „Hellen!“ – gravitätisch herbei. Die Eingangstür öffnete sich. Beide zeigten ein gut einstudiertes Lächeln und John Abercrombie beschrieb mit seinem rechten Arm einen Halbbogen:
„Seien Sie willkommen, bitte, treten Sie ein. Sie sind die Ersten!“
Kapitel 2 – London-Richmond
Der Wecker klingelte. Madeeha schreckte auf, rieb sich die Augenlider und kam langsam zu sich. Dann stieß sie die Zudecke resolut zur Seite. Seit Beginn ihrer Arbeit in diesem Laboratorium, musste sie sich an einen ganz anderen Rhythmus gewöhnen, eine Umstellung, die ihr immer noch schwerfiel.
Mit zwei Wörtern aktivierte sie einen Schalter: Lichter erhellten daraufhin den Raum. Sie stieg aus dem Bett und griff nach ihrem leichten Morgenmantel. Dann beugte sie sich zu ihrem Nachttisch, nahm ihren kleinen «Communicator» an sich, aktivierte das Gerät per Fingerabdruck und sprach: „C“. Nun hörte sie, von der angrenzenden Küche kommend, das Geräusch der eingeschalteten Kaffeemaschine und sprach laut und klar „S“. Kurze Zeit später hörte sie schon das vertraute Geräusch fließenden Wassers aus der Dusche.
Während Wasser über ihren Körper rann, kehrten ihre Gedanken wieder zu ihrer Arbeitsstelle zurück. Sie war noch immer darüber erstaunt, wie leicht sie diesen Job bekam.
Meine Arbeitszeit ist sehr unregelmäßig, bei vergleichsweise guter Bezahlung. Versteht kein Mensch: Einmal soll ich früh kommen, dann spät, manchmal Dienst über Nacht. Am besten, ich denke gar nicht darüber nach, debattiere auch nicht mit ihm. Hauptsache, er zahlt. Wird ein zerstreuter Professor sein.
Seit ihr Mann vor ein paar Jahren von einem Heimatbesuch zunächst nicht zurückgekehrt und Monate später einer heimtückischen Krankheit erlegen war, bewohnte sie das kleine Apartment allein. Ihre Eltern lebten in einem anderen Stadtteil Londons, zusammen mit ihrem Bruder. Weder sie noch er wussten, worin genau ihre Arbeit bestand. Sie hatte ihnen erzählt, dass sie – zusammen mit einer Buchhalterin – einem Professor bei der Büroarbeit helfe und damit waren alle zufrieden.
Während Madeeha sich einseifte, kam ihr Professor Dr. Moore in den Sinn. Seltsamer Typ…Manchmal scheint er gar nicht richtig da zu sein, wie wenn er in die Ferne blicken würde. Verheiratet? Er hat so etwas Unruhig-Gehetztes im Blick. Möchte wissen, woran er forscht. Die Räume im Untergeschoss…Ich soll aufpassen, dass kein Unbefugter Zutritt erlangt und darf die Räume auf keinen Fall betreten. Angeblich wegen «nötiger Keimfreiheit» von Bakterienkulturen. Alle Leute, mit denen er im Labor zu tun hat und ausgewählte Besucher sind in seiner Datenbank erfasst, erlangten erst Zutritt, nachdem das Lasergerät ihre ID auf dem Chip abtastete. Aber er lässt längst niemand mehr hinein.
Was verbirgt sich hinter dieser mehrfach gesicherten Tür? Was bedeutete dieser verschlüsselte Hinweis, den ich auf einem Notizzettel von ihm fand: «PROJEKT GOLEM»? Es war durchgestrichen, aber ich konnte es noch entziffern. Wenn ich daran denke, wie einmal an der Haupteingangstür die Zugangskontrolle nicht funktionierte, Unbekannte, darunter auch Journalisten und Gentechnik-Gegner, bis zum 2. Stock vordrangen…Dabei steht oben vieles leer. Jemand schlug Alarm, nahm die Leute fest, ermittelte ihre Identität und übergab sie später der Polizei.
Es floss kein Wasser mehr.
Sie trat aus der Dusche und begann, sich abzutrocknen.
Kapitel 3
Professor Dr. Moore verließ den Fahrstuhl, nachdem ihm dort eine computergenerierte Stimme «Angenehme Nachtruhe!» wünschte.
„Nachtruhe?“ murmelte er, „wie schreibt man das?“
Dann schritt er in erhöhtem Tempo durch einen schmalen Gang, öffnete eine Glastür und betrat einen rundumlaufenden Balkon. Vom zehnten Stock aus war die Aussicht grandios. In der Ferne erkannte er das Parlamentsgebäude, das immer noch populäre – «London Eye» genannte– Riesenrad, früher eines der Wahrzeichen Londons und die Themse. Mit einer Hand fuhr er hastig in die Innentasche seines weißen Kittels und fingerte eine Zigarettenschachtel und Streichhölzer heraus. Er genoss den ersten Zug und stieß Rauch aus, während ihn ein nie zuvor mit dieser Intensität erlebtes Gefühl unsagbarer Genugtuung überkam. Er neigte den Kopf zurück und lehnte sich an der Wand an. Über London war schon die Nacht hereingebrochen. Aber «Nacht» oder «Tag», was bedeutete das für ihn, einen Mann, der in ganz anderen Kategorien dachte.
Wenn ich mir vorstelle, dass noch niemand davon weiß…Er spürte mit einer gewissen Beklemmung, dass es ihm zusehends schwerer fiel, sein Geheimnis für sich zu behalten. Professor Moore nahm einen weiteren Zug an der Zigarette und blickte erneut in die Weite.
Ein guter Schachzug, dass ich die Räume im Untergeschoss als «Lager für Büromaterial und Einrichtungsgegenstände» deklariert habe. Auch die schalldichte Isolierung, getarnt als Wärmedämmung, war eine gute Idee. Sonst hätte eines Tages vielleicht doch noch jemand irgendwelche Laute gehört. Offiziell arbeite ich in den oberen Etagen, an vergleichsweise harmlosen Projekten.
Zehn Jahre harter Arbeit, davor die Studienzeit: London, Harvard. Gar nicht zu reden von intensiver Weiterbildung, oft bis in die Nacht oder bis zum Morgengrauen. Dabei immer nur EIN ZIEL vor Augen, das ich anderen gegenüber – zumindest in den ersten Jahren – nie formuliert habe. Nun fühle ich mich wie ein Bergsteiger, der nach langem, äußert mühsamem Aufstieg endlich den Gipfel des höchsten Berges der Welt erreicht hat und dem sich eine einmalige, grandiose Aussicht bietet, ein Anblick, der anderen verschlossen ist.
Er zerdrückte den Zigarettenstummel mit dem Absatz. Nein, der Vergleich hinkt natürlich. Damit lässt sich noch nicht einmal die Mondlandung vergleichen!
Nun überkam ihn erneut eine Unruhe und innere Bewegtheit, die in eine Art Rausch übergingen. Das müsste gefeiert werden! Doch mit wem? Vor seinem geistigen Auge tauchte die Gestalt von Professor Dr. Frank Lewis auf. Er bemühte seine Erinnerung und ließ Gespräche und Begegnungen mit ihm Revue passieren. Dabei war er sich bewusst, dass sein alter Bekannter eine der seltenen Personen war, die man als verschwiegen bezeichnen konnte.
Kapitel 4
Bevor Madeeha Kaffee trank, sprach sie noch schnell ihre Musikanlage an: „Mahia!“ Als das Lied wieder verklang, machte sie sich fertig.
Wenn sie für eine Nachtschicht eingeteilt war, holte sie ein Fahrer, ein freier Mitarbeiter, in einem unauffälligen Auto ab. Madeeha bemerkte bald, dass er nicht gesprächig war. Dies war ganz in ihrem Sinne, brauchte sie doch eine ganze Weile, bis sie so richtig wach wurde. Zuweilen sah sie, wie er in rundumlaufende Rückspiegel blickte. Dann wieder sah er stur vor sich hin, während er einen Stadtteil Londons durchquerte. Sie blickte dann durch die Scheibe hinaus, betrachtete Straßenszenerien, Lichter von Reklamen, Schaufenstern und Ampeln, aufkreuzende Taxis oder Passanten. Sie sah Nachtschwärmern nach, die in kleinen Gruppen zusammenstanden oder orientierungslos durch die Straßen liefen.
Vor dem großen Gebäude angekommen, in dem das Forschungslabor untergebracht war, stieg sie aus dem Wagen. Der Fahrer stieg mit ihr aus, lüftete seine Mütze und wechselte ein paar belanglose Worte. Er wartete, bis sie im Inneren des Gebäudes verschwand, stieg wieder ein und fuhr davon.
Sie aktivierte einen Schalter und durchschritt einen schmalen Gang. Wie still es hier um diese Uhrzeit ist! Sie näherte eine Chipkarte einem Control-Display am Fahrstuhl. Ein Signal erklang als Zeichen, dass sie als berechtigte Nutzerin identifiziert war. Sie trat näher, sprach „D“ und der Fahrstuhl setzte sich, aus einem oberen Stockwerk kommend, in Bewegung. Ob Professor Moore noch da ist? Die Tür der Aufzugkabine öffnete sich:
«Good morning!»
Danach setzte leise, beruhigend wirkende Musik ein. Der Aufzug beförderte sie nach oben. Als sie sich der zu einem Flur führenden Eingangstür näherte, tauchte ER plötzlich auf. Madeeha erschrak, bemühte sich jedoch, sich nichts anmerken zu lassen und setzte ein Lächeln auf.
„Guten Morgen, oder sollte ich besser sagen: Gute Nacht?“
Er signalisierte ihr mit einer Geste, ihm zu folgen. An seinem Schreibtisch angekommen, bat er sie, Platz zu nehmen.
„Bitte, überprüfen Sie diesen Stapel Eingangsrechnungen und veranlassen Sie – wenn die Forderungen stimmig sind – jeweils die Zahlung. Wenn Sie fertig sind, dürfen Sie früher gehen. Sie können heute im Büro meiner ehemaligen Sekretärin – auf dem gleichen Flur, am Ende des Ganges, links – arbeiten.“
Sie war überrascht, verbarg jedoch ihre Gefühle und wartete, ob ihm noch etwas einfallen würde. Warum will er heute nicht, dass ich unten, in meinem Büro, arbeite? Er sah sie aus tiefliegenden, dunklen Augen, an.
„Ich muss noch ein Schriftstück aufsetzen. Danach fahre ich auch nach Hause.“
„Einverstanden. Danke, Herr Professor. Ich nehme den Ordner und die ganze Ablage einfach mit. Darf ich?“
Professor Moore rückte etwas zur Seite. Mit ihr habe ich einen guten Fang gemacht. Sie ist willig und stellt keine dummen Fragen. Als sie außer Reichweite war, stand er hastig auf und ging im Raum hin und her.
„Time!“
An einer Wand tauchte ein Display auf, das die Uhrzeit in den wichtigsten Städten der Welt zeigte. Die blau hervorgehobene Ortszeit von London wurde in der Anzeige vergrößert, leuchtete dreimal auf und das ganze Bild verschwand. Er löschte das Licht. Nun war der Raum nur noch von einer kleinen Lampe erhellt. Professor Moore setzte sich und legte seine Fingerspitzen zusammen. Nach kurzem Zögern beugte er sich nach vorn und näherte sich seinem Communicator.
„Phone Frank.“
Die Verbindung baute sich langsam auf, während auf dem Display alle ihm zugehörigen Daten auftauchten.
„Hallo?!“
Die Stimme von Professor Dr. Frank Lewis klang rau und unwirsch. Frank war nicht zu sehen, er musste die Bildübertragungsfunktion deaktiviert haben.
„Ich bin es, Frank. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“
„Der Stimme nach bist du: John, JOHN MOORE? Weißt du, wie spät es ist?!“
„Ich musste dich einfach anrufen, ich muss mit dir reden!“
Professor Lewis fühlte, wie Unmut in ihm aufstieg. Wie lange schon hörte er nichts mehr von John und nun rief er ihn an, einfach so, mitten in der Nacht!
„Hör zu: Wir können reden, natürlich! Lass uns morgen Abend in einen Pub deiner Wahl gehen. Ich spendiere dir auch gerne ein Bier. Aber vielleicht kannst du nachvollziehen, dass es Leute gibt, die nachts Schlaf brauchen: Ich bin nicht mehr der Jüngste!“
„Ich weiß, aber es ist eine Ausnahmesituation: Ich muss dir etwas erzählen und zeigen, was auf der ganzen Welt noch kein Mensch gesehen hat! Glaube mir: Du wirst es nicht bereuen, wenn du dich aufraffst. Ich trage es schon die ganze Zeit mit mir herum. Nun ist der Zeitpunkt gekommen.“
„Eine «Weltpremiere»? Trägst du da nicht ein bisschen dick auf? Nimm es mir nicht übel, aber ich kenne deinen Hang zur Maßlosigkeit, John. Deine Energie und dein Pathos habe ich immer bewundert, aber ich bin hundemüde! Andererseits fürchte ich, dass du mir jetzt ohnehin die Nachtruhe geraubt hast! Warum hast du dich die ganzen Jahre über nie gemeldet?
Um was geht es denn, altes Haus?“
Professor Lewis rieb sich die Augen, richtete sich halbwegs auf und schob sich, mühsam und umständlich, ein Kissen in den Rücken. „Hör zu, Frank: Ich war unglaublich beschäftigt, deshalb hast du so lange nichts von mir gehört. Versprich mir: Kein Mensch darf auch nur eine Silbe davon erfahren! Ich weiß, dass du absolut vertrauenswürdig bist. Aber ein unbedachter Satz, der Kreise zieht, und es geht eine Bombe hoch.“
„Eine Bombe? Bist du in eine Verschwörung verwickelt oder was?“
Professor Lewis lachte in sich hinein.
„Ich schicke dir ein Foto des Firmengebäudes mit Adresse, damit du weißt, wo ich mittlerweile arbeite und ein Taxi. Wie ich dich kenne, bevorzugst du bestimmt noch die «altmodische» und ebenerdige Art, mit leibhaftigem Fahrer. Kannst du dich gleich auf den Weg machen? Um die Bezahlung brauchst du dich nicht zu kümmern, das erledige ich. Wie lange brauchst du, um dich anzuziehen?“
John klang beinahe atemlos. Professor Lewis schüttelte den Kopf.
„Also gut, in einer guten halben Stunde bin ich startklar. Aber nach deiner Ankündigung erwarte ich schon etwas ganz Besonderes! Wenn ich feststelle, dass du mich wegen eines alten Huts aus dem Bett gezerrt hast, kannst du etwas erleben!“
Kapitel 5
Madeeha vergewisserte sich, dass Professor Moore in seinem Büro saß und schlich zum Aufzug. Im ersten Stock angekommen, nahm sie den Weg über eine Treppe, die bis in das Untergeschoss führte. Leise setzte sie einen Schritt vor den anderen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Wenn er jetzt auftaucht, wüsste ich gar nicht, was ich ihm erzählen soll. Sie schlich voran und näherte sich einem Bereich, von dem aus eine massive Tür zu erkennen war.
Kein Mensch weit und breit. Gibt es diese Leute vom Sicherheitsdienst hier überhaupt noch? Er erwähnt sie von Zeit zu Zeit, doch bekomme ich sie gar nicht zu Gesicht. Sie ging, so leise und schnell sie konnte, zurück. Im Aufzug, auf dem Weg nach oben, wurde sie aufgeregt. Wenn er in der Zwischenzeit in dem mir zugewiesenen Arbeitszimmer vorbeikam, bemerkte, dass ich nicht da war, oben vor dem Aufzug steht, auf mich wartet? Was sage ich dann? Der Fahrstuhl erreichte fast lautlos sein Ziel. Sie trat hinaus und stellte erleichtert fest, dass niemand zu sehen war. Sie huschte zurück ins Büro, nahm sich schnell Ablage und Rechnungen vor und lauschte. Ein Blick auf den Schreibtisch: Nein, er hat nicht versucht, mich zu erreichen. Sie atmete erleichtert auf. Warum wollte er verhindern, dass ich heute im Untergeschoss bin? Die Arbeit habe ich in einer halben Stunde erledigt. Warum soll ich so früh wieder nach Hause? Irgendetwas stimmt hier nicht. Sie stützte einen Ellbogen auf, fasste sich mit einer Hand ans Kinn und dachte nach. Dann widmete sie sich ihrer Arbeit. Als alles erledigt war, machte sie sich auf den Nachhauseweg.
Professor Lewis lehnte sich in dem gut gepolsterten Taxi zurück und lauschte der sanften Stimme des Navigationsgerätes. Der Fahrer stellte erst etwas leiser, dann schaltete er es aus.
„Kenne die Strecke, ist ein ziemlich hohes Gebäude, wenn mich nicht alles täuscht. Ich glaube, da bin ich schon mal hingefahren.“
Professor Lewis räusperte sich.
„Der Anrufer hat schon bezahlt, E-money-transfer, großzügiges Trinkgeld. Der kann öfter bei mir anrufen!“
Der Taxifahrer schob seine karierte Kappe in die Stirn und lachte jovial. Als er kein Echo erntete, blickte er nochmals in den Rückspiegel. Es sah ganz danach aus, dass sein Fahrgast kurzfristig eingeschlafen war. Als er wieder zu sich kam, war das Gebäude, in dem sein alter Bekannter, Professor Moore, arbeitete, schon in Sichtweite.
„Noch etwas früh, so mitten in der Nacht, wie?“
Der Taxifahrer war neugierig geworden, fragte er sich doch, was um alles in der Welt einen älteren Herrn dazu antrieb, sich um diese Uhrzeit zu einem derartigen Gebäude fahren zu lassen.
„Kann man so sehen.“
Professor Lewis gähnte demonstrativ. Der Fahrer sollte erst gar nicht auf die Idee kommen, dass er hier für ein Kurzinterview zur Verfügung stand.
Professor Moore sprach das Kürzel, das eine Kommunikationsverbindung zu Madeeha aufbaute. Sie nahm nicht ab.
„Sehr schön, auf dem Nachhauseweg.“
Er ging in den Nebenraum. Auf das Wort «open» hin, öffnete sich ein Kühlschrank. Er entnahm ihm eine Flasche Krimsekt. Dann bewegte er sich auf eine kleine Anrichte zu, über der er auf einem Regal zwei geeignete Gläser entdeckte. Als er wieder in seinem Büro war, meldete sich Frank.
„Ich stehe unten. Kannst du aufmachen?“ „Warte ein paar Sekunden, dann geht die Tür auf. Bleibe in der Vorhalle, ich komme.“
Professor Moore spürte, wie seine Spannung anstieg. Wie gut, dass mir die Idee kam, Frank anzurufen. Er drückte auf einen Schalter, die Haupteingangstür öffnete sich. Während er zum Aufzug ging, kamen Erinnerungen an seinen Besucher an die Oberfläche seines Bewusstseins. Erlebnisse seiner Studienzeit tauchten wieder auf, Szenen von Begegnungen in Harvard und London. Auch wenn Frank schließlich eine andere Laufbahn einschlug, sich später besonders in Biophysik und Bionik einen Namen machte, so zählte er doch zu der fast schon aussterbenden Spezies von Menschen, die auf vielen Gebieten der Naturwissenschaft beschlagen waren und sich, von der Höhe umfassender Allgemeinbildung aus, zu breit gefächerten Themen kompetent äußern konnten.
Unten angekommen, erkannte er ihn schon von weitem. Professor Moore beschleunigte seinen Schritt. Als er sich einem sichtlich gealterten Mann gegenübersah, war er für kurze Zeit fast gerührt.
„Danke, dass du gekommen bist, Frank!“ Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern. „Mensch, lass dich ansehen: Wie lange ist es her, seit wir uns zuletzt trafen?“
„Sieben, acht Jahre?“
„Ich glaube länger. Hauptsache, wir sehen uns endlich wieder. Komm, lass uns erst einmal hochfahren.“
Oben angekommen, trat Professor Lewis an die breite Fensterfront und blickte hinaus in die Weite. Dann sah er sich im Raum um. Sein Gastgeber deutete auf einen schweren Ledersessel.
„Komm, nimm erst einmal Platz.“
Professor Lewis konnte es immer noch nicht ganz glauben. Nun saß er hier, mitten in der Nacht einem alten Bekannten, zu dem der Kontakt abgerissen war, in einem relativ dunklen Büroraum gegenüber, weil angeblich eine «Sensation» auf ihn wartete. Er sah sich nochmals um. Eine Weltpremiere? Erlaubte John sich einen üblen Scherz?
„Warte auf mich, bin gleich wieder da.“ Professor Lewis sah ihm nach. In Gedanken überflog er einen Kalender. Nein, John hat irgendwann im Winter Geburtstag, wenn ich mich recht erinnere, das kann nicht der Grund sein. Er hörte, wie sich dessen Schritte entfernten und wie er in einem unweit gelegenen Raum hantierte. Da kehrte er schon wieder zurück. John hielt eine Flasche Sekt und zwei Gläser in der Hand, kam näher und stellte sie in Reichweite auf einen kleinen Tisch. Dann entkorkte er und goss zielsicher in beide Gläser. Frank warf einen Blick auf das Etikett – Krimsekt? – dann auf John, der ihm noch eine Erklärung schuldig war.
„Ich habe vergessen zu fragen, ob du um diese Uhrzeit Sekt trinkst.“
„Selten, John…Nun rück schon heraus mit der Sprache. Was ist los, was gibt es zu feiern?“
„Lass uns erst einmal anstoßen. Du wirst ein Glas brauchen. Nachher gehen wir nach unten, das Rätsel wird sich lösen. Du wirst sehen, ich habe nicht übertrieben.“
Nun verriet schon John’s Stimme, dass er sich in Ausnahmestimmung befand. Franks Spannung und Gefühl der Irritation wuchs. „Auf dich, Frank, auf unser Wiedersehen, auf die freie Forschung!“
Sie stießen an und nahmen einen ersten Schluck.
„Auf die «freie Forschung» sagtest du?“ John schien es, als habe er aus Franks Stimme Argwohn herausgehört. Er führte sein Sektglas erneut an den Mund und trank es zügig fast leer. Frank bemerkte dies. Was war mit John los?
„Freie Forschung: Ganz frei ist sie ja nicht, zum Glück nicht. Der Gesetzgeber zieht ihr Grenzen. Meiner Ansicht nach sollten sie manchmal deutlich enger gezogen werden.“ John winkte ab.
„Ich weiß – darin kam ich mit dir ja nie auf eine Linie. Ich will dir wahrlich nicht zu nahetreten, aber das hat natürlich auch mit deiner, hm, wie soll ich sagen? «Weltanschauung» zu tun.“
John biss sich auf die Lippen. Er wusste, dass Frank zu den selten gewordenen Wissenschaftlern zählte, die noch christlich orientiert waren. Zumindest war dies vor einem Jahrzehnt so. Vermutlich war es besser, das Thema gar nicht erst zur Sprache zu bringen. Der Einstieg war etwas missglückt.
„Noch einen Schluck?“
Er wartete die Antwort nicht ab und füllte Franks Glas bis an den Rand.
„Arbeitest du hier oben, in diesem Stockwerk?“
„Ja, das heißt, auch. Nachher wirst du es sehen und verstehen. Du bist der Einzige, Frank,“ – er trank sein Glas hastig zu Ende – „zumindest zunächst, dem ich alles anvertraue.“
Frank verhielt den Atem und betrachtete möglichst unauffällig die Gesichtszüge seines Gegenübers. Bisher sprach John noch in Rätseln oder wie jemand, der unter Schlafentzug leidet.
„Du sagtest, wir gehen nach unten?“
„Ja, in einen Raum im Untergeschoss. Dort hat – seit einiger Zeit – kein Mensch mehr Zutritt.“
„Also fasse ich es erst einmal als Ehre auf. Du machst es spannend.“
Frank betrachtete erneut Johns Gesicht. Es wirkte auf ihn überspannt. Vielleicht war er einfach nur überarbeitet? Auch seine Stimme fiel ihm auf. Zuweilen hörte sie sich an, als sei sie aus dem Lot geraten. Professor Moore überprüfte den Pegelstand der Sektflasche. War es leichtfertig, Frank hierher zu bestellen? Ich habe doch die ganzen Jahre über den Mund gehalten. Andererseits, irgendwann muss es ja doch heraus. Ich werde es sowieso nicht lange geheim halten können, das würde ja auch gar keinen Sinn machen. Ob Frank noch einen Ton herausbringen wird? Und wenn er nicht Wort hält, sein Schweigen bricht?
„John? Geht es dir gut? Woran denkst du?“ Professor Moore stand auf.
„Möchtest du noch etwas essen, bevor wir nach unten gehen?“
„Du meinst, ich sollte mich vorher noch stärken? Ein Sandwich wäre nicht schlecht.“
Professor Moore entfernte sich. Sein Besucher hörte seine Schritte. Kurze Zeit später kam er mit einem großen Käsesandwich zurück.
„Danke, John. Ganz schön groß das Gebäude.“
Professor Lewis begann zu essen.
„Einige Stockwerke stehen momentan weitgehend leer. Ein Pharmazieunternehmen war früher einmal an dem Haus interessiert, aber dann zerschlugen sich die Verhandlungen, angeblich wegen zu alter Bausubstanz.“
Für einige Zeit trat Stille ein. Professor Lewis verdrückte sein vorzeitiges Frühstück. Dann gab Professor Moore das Signal und blickte seinen alten Bekannten bedeutungsschwer an. Seine Stimme klang monoton und angespannt:
„Bist du soweit? Komm, lass uns hinunterfahren.“
Ein Aufzug fuhr lautlos nach oben und hielt an. Eine Klangwelle breitete sich aus. Die beiden stiegen ein. Sekunden später waren sie am Ziel, die Tür öffnete sich, Professor Moore ging voran.
„Ganz schön dunkel hier unten.“
Professor Lewis sah sich nach beiden Seiten um.
„Warte, bin gleich wieder da.“
Professor Moore tastete sich an der Wand entlang und verschwand in einem kleinen Nebenraum.
Warum macht er kein Licht? Es dauerte eine Weile und Professor Lewis hörte Schritte. Als er in den Händen von John zwei brennende Fackeln sah, war er mehr als erstaunt.
„Ich dachte, ihr seid hier an die moderne Zivilisation angeschlossen. Funktioniert das Licht nicht? Was willst du mit FACKELN?“
Nun, da John sie in die Höhe hielt, konnte Frank sein von vielen Falten durchzogenes Gesicht besser erkennen.
„Alles klärt sich gleich auf.“
Er kam näher, blieb unmittelbar vor Frank stehen und blickte ihn durchdringend an. Auf einmal sprach er leiser, so als wolle er vermeiden, dass jemand zuhöre.
„Ich habe festgestellt, dass sie weder Neonnoch Laserlicht mögen. So kam ich auf die Idee mit den Fackeln.“
Frank trat einen Schritt zurück. Er betrachtete Johns längliches und hageres Gesicht, sein zurückgekämmtes, etwas streng wirkendes Haar.
„SIE? Wen meinst du mit SIE?“
Nun spürte Frank, wie ihn zusehends eine starke Unruhe erfasste.
„Hier entlang, wir sind gleich da.“
Vor der Eingangstür zum Labor im Untergeschoss angekommen, schob John einen Chip in ein Abtastgerät. Seine Finger bewegten sich, als tippe er etwas ein. Sekunden später öffnete sich die Tür einen Spalt und schob sich langsam und nahezu lautlos zurück. Im Inneren war es dunkel. Frank verhielt den Atem. John ging langsam voraus und hielt die Fackeln nunmehr etwas tiefer. Frank versuchte vergeblich, etwas zu erkennen. Doch langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und die ungewohnte Lichtquelle. Auf einmal hörte er Laute und erschrak.
„Ich habe etwas gehört, du auch? Was ist das? Es hörte sich seltsam an! Sag doch etwas!“
John drehte sich um und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Wir sind gleich da. Sie haben bemerkt, dass jemand kommt.“
„SIE? Wer ist SIE, John?!“
John schien seine Frage zu überhören und ging schneller. Nun waren, noch in einiger Entfernung, Geräusche zu hören, die nach Bewegung klangen. Dann hörte Frank wieder ähnliche Laute wie zuvor. Er konnte sie nicht einordnen, seine Beklemmung wuchs.
„Hier, den Gang entlang.“
Wenn seine Stimme beruhigend klingen sollte, so erreichte er nicht sein Ziel. Am Ende des Ganges angekommen, ging John nach links. Nun schien es Frank, als habe er einige Gitterstäbe erkannt. Die Geräusche wurden lauter. Woran erinnern mich dieses Gescharre, diese seltsamen Laute?
„Schließe die Augen, wir sind gleich da. Ich sage dir, wann du sie wieder aufmachen kannst. Gib mir deine Hand.“
Frank schloss widerwillig die Augen. Am liebsten hätte er wieder den Rückzug angetreten. Was kommt jetzt? John nahm ihn an der Hand und zog ihn noch ein paar Schritte weiter.
„Was du gleich sehen wirst, hat – außer mir – noch nie ein Mensch gesehen: Du kannst… JETZT… die Augen aufmachen!“
John hielt nun beide Arme weit ausgestreckt, sodass der Schein der Fackeln einen ganzen Umkreis erhellte. Frank wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück, seine Augen waren weit geöffnet. Er war bleich geworden und schnappte nach Luft.
„Was sagst du nun? Siehst du, der Schein der Fackeln irritiert sie nicht.“
Frank war, als lege sich Entsetzen wie eine Schlange um seinen Hals. Er schaute starr geradeaus, danach nach beiden Seiten. Dann blickte er, wie gebannt, durch Stabreihen in Käfige, betrachtete Gestalten, die am Boden kauerten, starr in seine Richtung schauten und seinem Blick standhielten. Ein Schrei erstickte in seiner Kehle. Der seltsam starre, durchdringende und unheimlich wirkende Blick jener Wesen hielt ihn im Griff. Frank wandte seine Augen mit Mühe ab, richtete sie auf John und stammelte:
„WER oder WAS ist das, wer sind SIE?“
Er war nochmals zurückgewichen und bemühte sich, nicht in ihre Richtung zu sehen. Nun waren wieder jene seltsamen Laute zu hören, deren Bedeutung er nicht einschätzen konnte und die anders klangen als alles, was er zuvor jemals gehört hatte.
„Du brauchst keine Angst zu haben, sie sind ja hinter Gitter.“
„Ich habe dich etwas gefragt, John! Gib mir Antwort oder zeige mir sofort den Weg zum Ausgang!“
Ihm war, als habe sich ein unsichtbares Etwas auf seine Brust gelegt und nehme ihm langsam den Atem.
„Wer SIE sind? Ich weiß noch nicht, wie ich sie nennen soll: Es ist eine neue Art!“
Frank spürte, wie sie ihn wieder ansahen, er fühlte es nahezu körperlich. Es war als hingen sie an ihm mit ihren Blicken. Erwarteten, erhofften sie etwas von ihm?
„Eine neue Art? Was sagst du da, John?!“
„Ich glaube, du hast mich gut verstanden, hast richtig gehört: Es war ein verdammt langer Weg. Wenn ich die Studienzeit hinzurechne, fast ein Vierteljahrhundert. Ich habe nie aufgegeben, trotz aller Rückschläge. Vielleicht hast du einen Vorschlag, wie ich diese Art nennen könnte? ICH bin ihr Schöpfer! Weißt du, was das bedeutet?“
„Die ART?“
Frank hatte ihn auf einmal an der Schulter gepackt und das Wort laut herausgeschleudert. Sogleich hörte er, wie die Kreaturen in den Käfigen darauf reagierten. Es hörte sich an, als fühlten sie sich gestört und würden gereizt. Klang dies eben nach Zähneknirschen?