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Der bayerische Hellseher und Rutengänger Alois Irlmaier (1894 bis 1959) war einer der bedeutendsten europäischen Propheten des 20. Jahrhunderts. Im Ersten Weltkrieg wurde er in einem Bunker verschüttet. Drei Tage und Nächte schwebte er zwischen Leben und Tod und hatte in dieser Zeit erste Visionen. Im Zweiten Weltkrieg brachten ihm viele tausend Menschen Fotos von ihren Angehörigen an der Front. Und wenn Irlmaier diese Soldatenbilder betrachtete, konnte er genaue und stets zutreffende Angaben über das Schicksal des betreffenden Soldaten machen. Nach dem Zweiten Weltkrieg trug Alois Irlmaier dank seiner Sehergabe entscheidend dazu bei, eine ganze Reihe spektakulärer Kriminalfälle zu lösen; Fälle, bei denen die Polizei aus eigener Kraft nicht weitergekommen war. In seinen letzten Lebensjahren schließlich hatte Irlmaier Visionen, die offenbar bis weit ins 21. Jahrhundert reichen. Unter anderem erschaute er einen Papstmord und den Zusammenbruch der katholischen Kirche, einen weltweiten Nuklearkrieg und außerdem verheerende Klimaveränderungen in Europa. Im vorliegenden Roman gelingt dem Autor eine packende Schilderung des Lebens und der Visionen von Alois Irlmaier; zudem gibt Manfred Böckl tiefe Einblicke in die Geheimnisse des Paranormalen. Der Anhangteil des Buches enthält sämtliche Prophezeiungen Alois Irlmaiers.
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Seitenzahl: 405
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Manfred Böckl
Prophet der Finsternis
Leben und Visionen des Alois Irlmaier
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-95587-724-8
© SüdOst-Verlag in der Battenberg Gietl Verlag GmbH, Regenstauf
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
www.gietl-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
PrologGalizien/Herbst 1916
Erstes Buch: Der Rutengänger(1899 – 1918)
Der Feenstein
Die Ruine
Der Rutengänger
Der Weltkrieg
Zweites Buch: Die dunkle Madonna(1918 – 1939)
Die Heimkehr
Die Schreckensnacht
Die dunkle Madonna
Die Schleiergestalten
Drittes Buch: Die Große Schauung(1939 – 1957)
Die Bombennächte
Der visionäre Kriminalist
Die Große Schauung
Das Kesseltreiben
EpilogFreilassing/Frühsommer 1959
AnhangDie Prophezeiungen Alois Irlmaiers
Nachwort
Galizien/Herbst 1916
Die Waldlichtung am Nordrand der Karpaten hätte idyllisch wirken können, wären da nicht die zersplitterten Baumleichen und der beißende Pulverqualm gewesen, den der Wind von der unregelmäßig feuernden österreichischen Haubitzenbatterie ein Stück weiter hinten herantrieb. Hinzu kamen die fauligen Ausdünstungen der Schlammlöcher, die sich mit dem scharfen Gestank des Kordits mischten und ganze Wolken von Schmeißfliegen auszubrüten schienen. Außerdem war da das Orgeln der russischen Granaten, welche immer wieder über den Forst hinwegrauschten, um Sekunden später im rückwärtigen Frontabschnitt zu detonieren.
„Zur Hölle mit diesem verfluchten Galizien!“, knurrte einer der drei Soldaten, die auf ein paar leeren Munitionskisten am Rand der geschändeten Waldblöße hockten und soeben die letzten Reste Erbseneintopf aus ihren Kochgeschirren gekratzt hatten. Unbehaglich rieb er seinen schütteren Bart. „Ich hab’s im Urin, dass wir heute noch gewaltig Zunder kriegen werden!“
„Mal’ den Teufel nicht an die Wand!“, versetzte der Korporal neben ihm. „Seit dem Morgen ist’s ruhig hier vorne. Der Iwan deckt lediglich die Nachschublinien ein, und wenn du mich fragst, wird’s auch noch eine Weile so bleiben.“ Der Unteroffizier wandte sich dem dritten Mann zu: einem Gefreiten mit scharf ausgeprägter Nase, kantigem Kinn, schmalen Lippen und ungewöhnlich dunklen, fast schwarzen Augen. „Oder was meinst du, Irlmaier?“
Der Gefreite setzte zu einer Antwort an, unterbrach sich aber, weil erneut mehrere großkalibrige russische Geschosse über das Waldstück heulten und fast gleichzeitig auch die Haubitzen feuerten. Erst als der Lärm wieder abflachte, entgegnete er kurz angebunden im oberbayerischen Idiom: „Weiß ich’s? Ich weiß bloß eines: Der Krieg ist ein Wahnsinn!“
Die beiden anderen Uniformierten nickten, dann zog der Korporal einen Fetzen Zeitungspapier und ein Päckchen Tabak aus der Tasche. Während der Machorka – er stammte aus dem Brotbeutel eines gefallenen Kosaken – auf das Papier rieselte, las der Unteroffizier murmelnd einige Zeilen aus dem deutschen Heeresbericht vor: „Im Westen nichts Neues! Materialschlacht an der Somme dauert an, dennoch gibt sich der Chef des Generalstabes, General Falkenhayn, zuversichtlich …“
„Ganz genau die gleiche Soße wie hier im Osten“, unterbrach der Bärtige. „Die Chargierten spucken große Töne, und wir Grabenschweine können im Dreck verrecken!“
„Wär’s dir lieber, die Russen würden zu einer weiteren Offensive antreten?“ Geschickt rollte der Korporal seine Zigarette, dann setzte er hinzu: „So wie vor vier Monaten, Anfang Juni, als der Iwan um ein Haar den gesamten Südabschnitt der Front überrannt hätte und mehr als dreihunderttausend Gefangene machte, ehe wir ihn mit Mühe und Not wieder zum Stehen bringen konnten! – Nein, da ist’s immer noch besser, es bleibt beim Stellungskrieg; wenn’s sein muss, den ganzen Winter hindurch und bis ins neue Jahr 1917 hinein.“
„Weihnachten in Galizien! Das hat uns gerade noch gefehlt!“ Der Infanterist, der zwischen dem Gefreiten und dem Unteroffizier saß, griff nach seinem Kochgeschirr und hängte es ans Koppel. „Stille Nacht zwischen Juden, Polacken und Ukrainern in einem dieser verlausten Dörfer, sofern wir überhaupt ein Ruhequartier von innen sehen werden!“ Abrupt stand er auf und marschierte quer über die Lichtung davon: auf einen der Unterstände zu, die sich unmittelbar hinter den Schützengräben in regelmäßigen Abständen über das morastige Gelände verteilten.
„Dabei hatten wir geglaubt, der Krieg wäre in ein paar Monaten vorbei, als wir Anno vierzehn ins Feld rückten“, murmelte der Korporal. „Und jetzt sind’s schon gut zwei Jahre, dass wir hier draußen …“
Er erstarrte, im nächsten Moment kam sein entsetzter Schrei: „Achtung! Feuerüberfall!“
Unmittelbar darauf gellte der Warnruf Irlmaiers zu dem Bärtigen hinüber, der inzwischen etwa zwanzig Schritte entfernt war: „Weg, Richard! Du rennst direkt in die …“
Der Rest ging in einem ohrenbetäubenden Heulen unter; einen Herzschlag später explodierte die Granate genau neben dem Infanteristen. Die Detonation schleuderte eine Schlammfontäne und blutige Fleischfetzen gen Himmel; gleichzeitig brachte die ungeheure Druckwelle den Gefreiten und den Unteroffizier zu Fall.
Taumelnd kamen die beiden Soldaten wieder auf die Beine und hasteten auf den nächstgelegenen Bunker zu, während nun abermals eine Salve der schweren russischen Geschosse heranorgelte. Auch diesmal gab es Tote und Verwundete; Irlmaier und der Korporal jedoch schafften es mit knapper Not, den Unterstand zu erreichen.
Der Gefreite voran, hechteten sie ins Innere des Erdbunkers, prallten dort gegen die Leiber anderer Uniformierter. Einige keuchende Atemzüge lang blieben sie wie gelähmt liegen; dann trieb ein gurgelnder Todesschrei, der von draußen hereindrang, sie zur hinteren Wand des Unterstandes. Zusammengekauert drückten sie sich dort gegen den glitschigen Lehm und hofften, der Bunker würde ihnen auch diesmal den Schutz bieten, den sie zum Überleben benötigten.
Nach ein paar Minuten, die dem zweiundzwanzigjährigen Alois Irlmaier wie eine Ewigkeit erschienen, sah es tatsächlich so aus, als sei das Schlimmste überstanden. Die Granateinschläge entfernten sich; das Feuer schien sich jetzt auf einen benachbarten Frontabschnitt zu konzentrieren.
„Verdammt, das war knapp!“, stieß der Unteroffizier atemlos hervor. Er erhob sich aus seiner knienden Stellung, rutschte aus, fand Halt an einer der Balkenverstrebungen des Unterstandes und reichte dann dem Gefreiten die Hand, um ihm ebenfalls auf die Beine zu helfen. Auch die vier Soldaten, die sich bereits zuvor im Erdbunker aufgehalten hatten, lösten sich aus ihrer Erstarrung. Einer von ihnen, der am Uniformärmel eine Rot-Kreuz-Binde trug, stolperte fluchend zum Ausgang, durch den das Brüllen der Verletzten und die hektischen Rufe nach Sanitätern hereindrangen.
„Der Richard … Ich habe ihn nicht mehr rechtzeitig warnen können!“ Fassungslos keuchte Alois Irlmaier die Worte heraus, umklammerte dabei den Unterarm des Korporals.
„Keiner hätte es gekonnt!“ Unwillig versuchte der andere, die Hand des Gefreiten abzuschütteln. Als der Zweiundzwanzigjährige seinen Griff nicht lockerte, schnauzte der Unteroffizier: „Reiß dich zusammen, Mann!“
„Nein!“ Der Schrei Irlmaiers ließ den Korporal zusammenfahren – aber der zutiefst erschrockene Ausruf galt nicht ihm, sondern dem Sanitätssoldaten, dessen Gestalt sich jetzt als scharf umrissene Silhouette direkt im Bunkereingang abzeichnete. Fast im selben Augenblick schlug mit infernalischem Heulen erneut eine Granate ein. Purpurrot glühende Lohe umhüllte den Sanitäter gleich einer blasphemischen Aura; einen Sekundenbruchteil später war dort, wo der Mann eben noch gestanden hatte, nur noch brodelnde Schwärze: ein Auf bäumen und Bersten der Erde, das eine Lawine aus Lehmbrocken, Gestein und Balkentrümmern in den Unterstand schleuderte.
Alois Irlmaier hatte das Gefühl, als presse ein ungeheuerlicher Hieb ihm die Luft aus den Lungen; noch während der fürchterliche Schlag ihm den Atem raubte, schienen die tonnenschweren Massen des zusammenbrechenden Bunkers ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen und sein Gebein zu zermalmen. Etwas Hartes traf seinen Schädel; der letzte Gedanke, den der Gefreite zu fassen vermochte, war zugleich der grauenhafteste seines kaum mehr als zwanzigjährigen Daseins: Verschüttet! Bei lebendigem Leibe begraben!
Irgendwann, nach Minuten oder Stunden, kehrte das Bewusstsein des jungen Soldaten zurück – und mit der Erinnerung an den Volltreffer auf den Unterstand kam jäh die Panik. Der zerschlagene Körper verspannte sich, versuchte gegen die grausame Last, die ihn zu zerquetschen drohte, anzukämpfen. Als Alois Irlmaier begriff, dass dies unmöglich war und er noch nicht einmal frei durchatmen konnte, brach ihm eiskalter Schweiß aus. Die salzige Flüssigkeit biss in seine Augen, brannte dort bald unerträglich und bewirkte zuletzt eine Kraftanstrengung, die aus äußerster Verzweiflung geboren war. Die Adern an Stirn und Hals des Gefreiten drohten zu platzen; dann gelang es ihm, den Kopf um einige Zentimeter zu drehen.
Blut rieselte über sein Gesicht; der warme Dunst mischte sich mit dem bitteren Geruch verbrannten Holzes: eines Balkens, der sich zwischen Wange und Schulter Irlmaiers durch Lehm und Steintrümmer gerammt und dabei einen Hohlraum gebildet hatte. Der Spalt war nur schmal, doch durch eine weitere übermenschliche Anstrengung schaffte der Verschüttete es, Mund und Nase dorthin zu bringen. Fieberhaft rang er nach Luft; nach wie vor erlaubte der Druck, der seine Rippen einschnürte, nur qualvoll flache Atemzüge – aber plötzlich fühlte der Gefreite das kaum wahrnehmbare Fächeln, das über seine Haut strich. Mit seinem ganzen Sein konzentrierte er sich auf den dünnen Sauerstoffstrom, saugte ihn in sich ein; nach einer Weile klärte sich sein Denken.
Er machte sich die Lage seiner Gliedmaßen bewusst; stellte fest, dass er zusammengekrümmt begraben war: in ähnlicher Stellung wie ein Ungeborenes im Mutterleib. Für einen Moment glaubte er, sich des Weichen und Behütenden zu entsinnen, das ihn einstmals, in seinem frühesten körperlichen Werden, umhüllt hatte. Um so schlimmer empfand er gleich darauf wieder die Realität des zusammengeschossenen Bunkers, der für ihn und die anderen, von denen kein Lebenszeichen mehr kam, zur mörderischen Falle geworden war.
Todesangst und manchmal ein kurz aufflackerndes irrationales Gefühl des Geborgenseins wechselten während der folgenden Stunden ab; während der vielen Stunden, die sich zu lichtlosen Ewigkeiten dehnten. Anfangs fluteten noch Schmerzwellen durch sein teils panisches, teils schon betäubtes Hinundhergerissensein; später schienen ihm die Beine, der Rumpf, die Arme und der Brustkorb abzusterben. Zuletzt blieb allein der kaum spürbare Luftstrom, der ihn fadendünn mit dem irdischen Dasein verband; eine zitternde Nabelschnur, welche aus dem verborgenen Geäder der Erde direkt in sein Gehirn reichte.
Wieder verstrich Zeit: Sekundenbruchteile und Ewigkeiten, die nach gewöhnlichen Maßstäben nicht länger messbar waren. Der zwischen Steintrümmern, Lehm und Balken eingequetschte Klumpen aus menschlichem Fleisch und zerfetztem Uniformtuch gab jetzt kein Lebenszeichen mehr von sich. In der Psyche des Verschütteten jedoch veränderte sich im Verlauf der unsäglichen Tortur etwas. Alles, was das wahre Sein des Agonierenden ausmachte, konzentrierte sich nun, wie von langsam sich wiegenden Wellen getragen, auf einen winzigen und zugleich grenzenlosen Punkt sehr tief in seinem Gehirn. Und von dort aus erfolgte irgendwann so etwas wie ein Ausbruch auf höherer mentaler Ebene, der ihn befreite.
Er erblickte die geschändete Waldlichtung und sah die frischen Granattrichter neben den alten Schlammlöchern. Er erkannte die Gefallenen seiner eigenen Einheit, zusätzlich aber weiter vorne im Stacheldrahtverhau die Leichen in den feindlichen Uniformen, die vor dem Feuerüberfall noch nicht dagewesen waren. Die Blöße im Forst lag jetzt menschenleer da, in der Ferne allerdings wurde heftig gekämpft. Dort hingen Rauchwolken über dem Boden, explodierten Schrapnells – und dies alles spielte sich unter einer Sonne ab, die sich widernatürlich schnell über einen in wechselnden Farben changierenden Himmel bewegte.
Dann, als die Schatten länger wurden und Dämmerung den Horizont verschattete, lösten die Konturen des Frontabschnittes sich auf und wurden zu flutendem Nebel. Einen Lidschlag später – der Gefreite schien plötzlich hoch über der galizischen Erde zu schweben – verwichen die tief unten liegenden Bergkämme der Nordkarpaten im samtig fließenden Dunst. Eine andere Landschaft nahm Konturen an: höhere Gebirgsschroffen unter jetzt wieder strahlend blauem Firmament, dazwischen sanfte, von Wäldern umsäumte Weideflächen; dann und wann ein Dorf mit behäbigen Bauernhöfen, die sich um eine barocke Kirche gruppierten.
Und nun, in seiner tiefen Bewusstlosigkeit, bewegte der lebendig Begrabene die Lippen und formte mühsam ein Wort: „Scharam …“
Erstes Buch
DER RUTENGÄNGER
(1899 – 1918)
Die Wallfahrtskirche war sein Ziel: der Barockbau von Maria Eck mit seinem Zwiebelturm, der runden Apsis und der vorgesetzten kleinen Kapelle, welcher sich auf dem höchsten Punkt des Moränenhügels über dem oberbayerischen Dorf Scharam erhob. Mit glänzenden Augen rannte der Fünfjährige über eine ausgedehnte, von einem Gatterzaun umgebene Rinderweide in Richtung auf den Sakralbau. Er verschmähte den geschotterten Pfad, der sich ein wenig weiter rechts schlängelte; vielmehr hastete er direkt auf einen Findlingsstein zu, welcher ein paar Dutzend Schritte unterhalb des Kirchenschiffes aus der hier steil abfallenden Hangmatte ragte. Atemlos erreichte er den Felsblock, zögerte kurz und streckte dann die Hand aus, um ihn zu berühren.
Nach einer Weile bewog ihn etwas, sich mit seinem ganzen Körper an den Menhir zu lehnen. Weil die Kühle und Ruhe des Steins ihn auf seltsame Weise zu behüten schien, vergaß er vorübergehend auf den Sakralbau und ließ den Blick wandern. Ihm zu Füßen lag der Einödhof seiner Eltern; jenseits des Anwesens und tiefer im Tal reihten sich in etwa einer Viertelstunde Entfernung die Höfe des Weilers entlang der Landstraße auf. Dahinter öffnete sich der Talboden ins leicht gewellte Voralpenland hinaus; ganz fern im Nordwesten erkannte der Bub mit den ungewöhnlich dunklen Pupillen die graublauen Fluten des Chiemsees. Er erinnerte sich daran, was die Großmutter ihm erst kürzlich über das Gewässer erzählt hatte, und murmelte: „Drei Inseln hat’s dort, auf der größten steht das Königsschloss …“ Kaum hatte er das geheimnisvolle letzte Wort ausgesprochen, fiel ihm ein: „Und ein anderer mit einer Krone schläft schon seit tausend Jahren drüben im Untersberg …“
Der Fünfjährige löste sich ein wenig von dem Findling, damit er nach Südosten schauen konnte, wo die Flanken und Grate der Salzburger Alpen an diesem sonnigen Spätvormittag scheinbar zum Greifen nahe waren. Zwar vermochte er den Untersberg nicht zweifelsfrei auszumachen, aber er war sich völlig sicher, dass jener Kaiser Barbarossa, von dem die Ahne ihm ebenfalls berichtet hatte, tatsächlich irgendwo dort im Gefels verborgen sein musste: ein urgrauer Alter, dessen silberweißer Bart bereits mehrmals um den Tisch gewachsen war, an dem der Gekrönte schlummerte. „Und die Raben, die um den Berg fliegen, werden ihn eines Tages wieder aufwecken“, flüsterte der Bub; gleich darauf packte ihn der Übermut. Er begann, mit den Armen zu schlagen und um den Menhir zu tanzen: war in seiner Phantasie jetzt selbst zu einem der großen schwarzen Vögel geworden.
Mehrmals hintereinander umkreiste er den erratischen Block – unvermittelt hatte er das Gefühl, wirklich zu schweben. Es war, als würde etwas sich von ihm lösen und den erdverhafteten Teil seines Ich schwerelos umwirbeln. Gleichzeitig lief ein halb schmerzliches, halb beglückendes Prickeln durch seine Gliedmaßen: stieg von den Zehen über die Füße, Waden und Schenkel hoch, bis es seinen ganzen Leib erfasst hatte und ihn wie Espenlaub zittern ließ. Nachdem er seine erste Verblüffung überwunden hatte, genoss er das nie zuvor gekannte Gefühl. Reglos stand er jetzt da; dennoch schwirrte dieses Feine, das mit seinem Körper verbunden war, noch immer um den Menhir. Die unsichtbare Kraft, die das Wunder auslöste, schien aus dem rissigen Felsblock, aber ebenso aus der von einem dünnen Moosteppich bedeckten Erde zu strömen – und im selben Augenblick, da dem Buben dies bewusst wurde, meinte er, ein Rauschen zu vernehmen, das aus unergründlicher Tiefe heraufdrang.
Ehe er freilich dem Rätsel nachzuspüren vermochte, kam die Ernüchterung. Eine ungehaltene Frauenstimme ließ ihn zusammenzucken: „Wie oft hab’ ich dir’s schon gesagt, dass du nicht allein auf den Berg laufen sollst, Loisl!“
Hastig trat der Fünfjährige ein paar Schritte vom Findlingsstein weg; ein letzter Schauer schüttelte ihn, dann war nur noch ein taubes, sich blitzschnell verflüchtigendes Ziehen in seinen Gliedmaßen. Mit verkniffenen Lippen und trotzig vorgerecktem Kinn blickte er Theresia, der Magd auf dem elterlichen Anwesen, entgegen, die den Hang heraufhastete. Ehe sie zu einer weiteren Schelte ansetzen konnte, erinnerte er sich an die Wallfahrtskirche, die ursprünglich sein Ziel gewesen war. „Ich hab’ bloß nach Maria Eck gewollt!“, verteidigte er sich. „Zur Muttergottes beten, so wie es auch die Großmutter jeden Tag tut …“
„Sie geht zur Vesperzeit und nicht unmittelbar vor dem Mittagessen, das weißt du genau!“, versetzte die junge Frau mit der gerafften Leinenschürze über dem dunkelblauen Kittel, doch ihr Tonfall klang jetzt weniger schroff. Dann, während sie die letzten Schritte bis zu ihm zurücklegte, fügte sie versöhnlich hinzu: „Kannst die Madonna ja heute ein andermal zusammen mit der Oma besuchen. – So, und jetzt beeil dich, sonst wird der Apfelstrudel kalt, bis wir unten auf dem Hof sind.“
Kaum hatte die Dienstmagd seine Leibspeise erwähnt, leuchteten die Augen des Fünfjährigen auf. Er vergaß, was er im Bannkreis des Menhirs erlebt hatte, griff nach der Hand Theresias und zog sie mit sich. Wenig später erreichten sie den Einödhof; gerade noch rechtzeitig, ehe vom Turm der Wallfahrtskirche das Zwölfuhrläuten einsetzte und seinen Widerhall drüben in Siegsdorf fand.
Die anderen waren bereits um den großen Tisch in der Wohnküche des Bruckthaler-Anwesens, wie der seit vielen Generationen überkommene Hofname lautete, versammelt. Im Herrgottswinkel, unter dem mit Palmzweigen geschmückten Kruzifix und dem bunt bedruckten Abreißkalender, der das Datum des 12. August 1899 zeigte, saß der vierzigjährige Bauer Alois Irlmaier. Seine fünfunddreißigjährige Gattin Anna hatte ihren Platz neben ihm, aber ums Tischeck herum: dem mächtigen gemauerten Herd zu. An der gekalkten Wand ihr gegenüber hockten die Großeltern des fünfjährigen Loisl; das Austragspaar, welches das Zuhaus draußen auf dem Hofplatz bewohnte, doch zu den Mahlzeiten gewöhnlich in die Küchenstube herüberkam. Ganz unten an der einfachen Tafel schließlich standen die Schemel für das Gesinde: den Stallknecht und die Magd, die sich jetzt hastig setzte. Der Bub wiederum drückte sich an der Seite seiner Mutter auf die Bank und beeilte sich, fromm die Hände zu falten, um so den drohenden Tadel des Vaters womöglich abzuwenden.
Tatsächlich schoss der Bauer zwar einen scharfen Blick auf seinen Sprössling, besann sich dann aber und begann, das Vaterunser zu murmeln. Sein Weib und die Übrigen fielen ein; kaum war das „Amen“ verklungen, schurrten von allen Seiten die Teller auf die in der Tischmitte stehende gusseiserne Strudelform zu. In festgelegter Abfolge teilte Anna Irlmaier die nach Äpfeln und Zimt duftenden Hefeteigschnitten aus. Ihr Gemahl kam als Erster an die Reihe, danach die Alten, der Bub und die Dienstboten; ganz zuletzt dachte die Bäuerin auch an sich.
Für eine Weile waren in der Wohnküche einzig die Essgeräusche zu vernehmen. Schließlich legte der Hofbesitzer die Gabel weg und lehnte sich zurück; augenblicklich erhoben sich auf dieses Zeichen hin die Magd und der Knecht und verließen den Raum, um draußen wieder an ihr Tagewerk zu gehen. Die Bäuerin räumte das Geschirr ab und begann, am Spülstein zu hantieren; die Großeltern und der fünfjährige Loisl hingegen blieben, während der Bauer nun nach der Zeitung griff, noch sitzen.
Zunächst las Alois Irlmaier, die dunklen Brauen angestrengt zusammengekniffen, lautlos. Erst als sein betagter Vater sich auffordernd räusperte, zitierte er aus dem Journal: „Bereits fünfzehn Motorwagen in der Residenzstadt in Gebrauch! Nachdem schon im April des gegenwärtigen Jahres das Münchner Brüderpaar Daniel und Hermann Beissbarth, welches in der Thierschstraße eine Faktorei betreibt, ein Wartburg-Automobil erwarb und damit in der königlichbayerischen Metropole ein Zeichen für die unaufhaltsam heraufdämmernde neue Zeit setzte, haben sich mittlerweile weitere vierzehn Bürger dazu entschlossen, einen Motorwagen zu kaufen. Aus Hofkreisen freilich verlautet, dass Seine Königliche Hoheit, Prinzregent Luitpold, sich abfällig über die Benzinkutschen geäußert und erklärt habe, niemals von den Kaleschen des Wittelsbachischen Marstalles lassen zu wollen …“
„Recht hat der Prinzregent! Teufelszeug ist’s, was sie da erfunden haben!“, räsonierte der grauhaarige Austragsbauer.
„Der Kapuziner, der vergangene Woche in Maria Eck die Bußpredigt gehalten hat, meinte sogar, es könnte deswegen ein göttliches Strafgericht über unser Land kommen!“, fiel die Großmutter ein.
„So schlimm wird’s nicht gleich werden“, versetzte der Besitzer des Bruckthaler-Hofes. „Eher schon“, sein schwieliger Zeigefinger tippte auf einen anderen Artikel, „fliegen in Südafrika bald die Fetzen …“
„Die Buren?“, schnappte der Alte. „Zeigen sie’s den Engländern jetzt endlich?“
„Es schaut ganz nach einem Krieg aus“, bestätigte der Bauer. „Der burische Generalkommandant Krüger hat im Oranje-Freistaat und in Transvaal Milizarmeen aufgestellt und soll zum Losschlagen bereit sein. Andererseits sind eine Reihe britischer Regimenter in der Natal-Provinz gelandet und haben die ständigen Garnisonen dort verstärkt, so dass es vielleicht wirklich nur noch eine Frage von Wochen ist, bis es auf dem Schwarzen Erdteil zum Blutvergießen kommt.“
„Ich hätte nichts dagegen, wenn die Engländer einmal das Laufen lernen müssten!“, feixte der Austrägler. „Überall auf der Welt haben sie ihre Kolonien, ums Verrecken kriegen sie den Rachen nicht voll …“
„Wir Deutschen sind nicht viel besser“, unterbrach ihn sein Sohn. „Ich frage mich, was wir in Südwest- und Ostafrika, Togo, Kamerun, Neuguinea oder auf den Marshallinseln zu suchen haben? Und letztes Jahr hat sogar noch ein Teil von China preußisch werden müssen, weil der Kaiser Wilhelm in Berlin sich einbildet, er müsste es den Briten gleichtun. – Manchmal kommt’s mir ganz so vor, als seien unsere Fürsten seit der Reichsgründung Anno einundsiebzig größenwahnsinnig geworden!“
„Gescheiter wär’s allemal gewesen, wir Bayern wären selbständig geblieben und hätten uns nicht mit den Preußen eingelassen“, stimmte der Grauhaarige zu. „Und was die Chinesen angeht, gebe ich dir auch recht. Bei denen hätten wir wirklich keine Kolonie gründen müssen.“
„Aber wir Kleinen dürfen halt leider nicht mitreden, wenn es um die große Politik geht“, beendete der Hof besitzer, während seine Mutter abgeklärt dazu nickte, das Gespräch. Er legte die Zeitung beiseite und wandte sich Loisl zu: „Auf der Waldweide hinter Maria Eck muss ein Stück Zaun repariert werden. Gehst du mit hinauf und hilfst mir dabei?“
„Ja, das tu’ ich gern“, erwiderte der Fünfjährige freudig.
„Bist ein braver Bub“, lobte ihn seine Großmutter, griff über den Tisch und tätschelte zärtlich seine Hand.
Wenig später marschierten der Einödbauer und sein Sohn los. Der Erwachsene schleppte den Werkzeugkasten; Loisl trug den Zaundraht, mit dessen Hilfe sie das morsch gewordene Stück der Koppeleinfriedung ausflicken wollten. Das erste Wegstück blieb der Bub brav auf dem geschotterten Pfad, der zur Wallfahrtskirche führte. Im oberen Drittel des Hanges jedoch schien ihn plötzlich der Rappel zu packen. Ehe sein Vater ihn zurückhalten konnte, rannte er querfeldein davon: auf den Findlingsstein zu, wo er kurz vor dem Mittagsläuten sein seltsames Erlebnis gehabt hatte.
Jetzt, da er ihn abermals vor Augen hatte, zog ihn der Menhir mit unwiderstehlicher Macht an. Er achtete nicht auf die Rufe des Bauern, hetzte wie besessen über die Hangmatte – und ein paar Schritte vor dem Felsblock spürte er erneut das halb beglückende, halb peinigende Prickeln, das seinen Körper durchströmte. Dann aber, im selben Moment, da er den Stein berührte, kam der Schock. Etwas, das gleichermaßen siedendheiß und eiskalt war, durchzuckte ihn schmerzhaft. Die Linke, in der er den dünnen Draht hielt, begann konvulsivisch zu zittern; zwei, drei gejagte Herzschläge später war der ganze Arm verkrampft und trommelte rhythmisch gegen seinen Leib.
Loisl taumelte, glitt auf dem abschüssigen Boden aus, kam zu Fall und rutschte ein paar Meter talwärts. Eine Erdfurche fing ihn auf; verstört kam er wieder auf die Beine und wurde sich bewusst, dass das Bedrohliche ihn nicht länger in seinem Bann hielt. Nur ein unendlich feines Sirren schien noch in der Luft zu hängen und ebenso aus dem Zaundraht zu dringen, den er nach wie vor mit seiner schweißnassen Hand umklammerte. Doch auch das verlor sich, als er nun zurück zu dem Erwachsenen flüchtete, der ihn mit den verblüfften Worten empfing: „Was ist bloß in dich gefahren, Bub?! Du hast dir hoffentlich nicht weh getan, wie es dich beim Feenstein dort drüben hingeworfen hat!“
„Nein“, log der Fünfjährige. „Es ist mir nichts passiert …“ Das geheimnisvolle Wort, das er soeben vernommen hatte, half ihm, den ausgestandenen Schrecken zu überwinden. „Aber was ist das Papa – ein Feenstein?“
„Ein Felsen halt, vor dem kleine Ausreißer wie du sich besser hüten sollten“, erwiderte der Einödbauer augenzwinkernd. „Und jetzt komm weiter, sonst werden wir mit der Arbeit am Koppelzaun vor dem Vesperläuten nicht mehr fertig.“
Loisl gehorchte; schweigend und in sich gekehrt lief er neben seinem Vater her, bis sie die Wallfahrtskirche hinter sich gelassen hatten und an der Weggabel dahinter in Richtung auf die Waldweide abgebogen waren. Dort freilich vermochte er nicht länger an sich zu halten und brachte die Rede abermals auf den rätselhaften Menhir: „Sind vielleicht die kleinen Leute dort daheim, im Feenstein?“
„Wer hat dir denn von denen erzählt?“, wollte der Bergbauer wissen.
„Die Großmutter sagt, dass sie manchmal in der Nacht auf den Almwiesen tanzen“, antwortete der Bub. „Und vielleicht tun sie’s ja auch bei dem Felsen – und vielleicht sogar am Tag?“
„Was du dir so zusammenphantasierst!“, versetzte der Erwachsene kopfschüttelnd. Er wechselte den Werkzeugkasten von der einen Hand in die andere, dann murmelte er: „Aber so unrecht hast du möglicherweise gar nicht einmal. Die kleinen Leute, von denen es heißt, nur ein Sonntagskind sei imstande, sie zu sehen, könnten den Feen schon irgendwie ähnlich sein. Auf jeden Fall behaupten die Alten in Scharam, unsichtbare Wesen träfen sich zuzeiten zum Reigen beim Feenstein, und dann solle sich ein sterblicher Mensch besser nicht dorthin wagen …“
„Weil sie ihn packen – oder wie?!“, stieß der Fünfjährige erregt hervor.
Sein Vater zuckte die Achseln. „Darüber weiß ich nichts. Ich habe bloß immer wieder bemerkt, dass die Rinder, wenn sie auf der Weide unterhalb von Maria Eck sind, den seltsamen Felsen meiden. Doch das kann natürlich auch einen ganz einfachen Grund haben. Schließlich wächst direkt am Feenstein kein Gras, sondern nur dürftiges Moos – und wahrscheinlich bist du vorhin deswegen auch ausgeglitten.“
„Ja, ganz schrecklich rutschig ist’s dort gewesen!“, rief Loisl ein wenig zu schrill. Gleich darauf griff er nach dem Ärmel des Erwachsenen und begann zu zerren.
„Kannst es wohl gar nicht mehr erwarten, bis wir zur Waldweide und an die Arbeit kommen, was?“, scherzte der Einöder. „Das lobe ich mir, denn das beweist, dass einmal ein richtiger Bauer aus dir werden wird.“
Wenig später hatten die beiden ihr Ziel erreicht, und der Bub versah brav seinen Handlangerdienst. Kurz vor dem Vesperläuten war der Zaun repariert; nach einem letzten zufriedenen Blick auf sein Werk erklärte der Hofbesitzer: „So, das hält jetzt wieder für eine Weile. Und wir haben uns den Feierabend ehrlich verdient.“
Einträchtig wanderten sie zurück zur Bergkuppe, auf der die Wallfahrtskirche stand, und dann hinunter ins Tal. Diesmal hielt sich der Fünfjährige eng an der vom Felsblock abgewandten Seite seines Vaters, als sie den Feenstein passierten. Dennoch glaubte er, wiederum das lockende und zugleich bedrohliche Sirren in seinem Blut zu spüren, und instinktiv wusste er, dass er – trotz allem – schon bald heimlich zu dem Menhir zurückkehren würde.
***
Mehrmals noch suchte der Bub mit den dunklen Augen im Lauf der nächsten Monate den Feenstein auf. Der in seinem Alter ganz natürliche Drang, die Welt um sich herum entdecken und begreifen zu wollen, trieb ihn dazu. Zwar vermochte er das Rätsel nicht zu lösen, stellte aber eines fest: Der Zauber wirkte stets, freilich auf unterschiedliche Art. Manchmal, wenn Loisl sich vorsichtig dem Felsen näherte, schüttelte es ihn so heftig wie bei den beiden ersten Malen, bei anderen Gelegenheiten wieder berührte ihn das Unbekannte lediglich so sanft, als kitzle eine Feder über seinen Leib – immer aber war die verborgene Kraft fühlbar. Irgendwann begann der fünfjährige Sohn des Einödbauern zu vermuten, dass es sich damit wohl ähnlich wie mit dem großen gemauerten Herd in der Küchenstube des Hofes verhalten müsse. Auch der Kochstelle war nicht anzusehen, was sich hinter ihren Ziegeln abspielte; kam man ihr jedoch zu nahe, so begann die versteckte Glut, mehr oder weniger stark auf der Haut zu brennen.
In der Phantasie des Kindes formte sich eine Vorstellung aus, die seine eher rationalen Beobachtungen mit den geheimnisvollen Geschichten, die er von der Großmutter gehört hatte, verband. Loisl malte sich aus, dass die Wesen, die im oder unter dem Zauberstein hausten, ihn neckten und ihren Schabernack mit ihm trieben, ohne indessen wirklich gefährlich zu sein. Diese Imagination deckte sich mit dem, was er sowieso schon über die Kleinen Leute, Feen oder Elfen zu wissen glaubte: Sie lebten in einer unsichtbaren Welt, die irgendwo hinter der gewöhnlichen versteckt war; manchmal jedoch packte sie aus irgendeinem Grund der Mutwille, dann machten sie sich bemerkbar. Dies geschah an besonderen Orten wie dem Felsen unterhalb von Maria Eck; deshalb schlugen die Rinder, aber auch die meisten Menschen einen scheuen Bogen um den rissigen Stein, und die Dörfler bezeichneten den Platz als nicht geheuer.
Während der geschwisterlos heranwachsende Bub sich mit derartigen Rätseln herumschlug, drehte das Jahr 1899 sich in seinen Herbst. Als schließlich das Laub in den Hausgärten und an den Berghängen in phantastischen Farben zu leuchten begann, bewahrheitete sich, was der Besitzer des Bruckthaler-Anwesens bereits im August vermutet hatte. Im Süden des afrikanischen Kontinents kam es zum Burenkrieg; bis Weihnachten hatten die Milizen des Generalkommandanten Krüger die Briten in mehreren Schlachten geschlagen. Im Februar 1900 allerdings wendete sich das Blatt. Die Engländer besiegten die holländischen Kolonisten am Paardeberg, machten dort mehr als viertausend Gefangene und besetzten im März die wichtige Stadt Bloemfontein. Von da an vermochten die Buren, nur noch hinhaltenden Widerstand zu leisten. Bald fiel der Oranje-Freistaat, und im Juni sah sich Krüger gezwungen, nach Europa zu reisen, um dort auf diplomatischem Parkett für seine Sache zu kämpfen.
Ebenfalls im Sommer dieses Jahres 1900 fanden sich die europäischen Großmächte unvermittelt in einen weiteren Kolonialkonflikt verwickelt. In China brach der Boxeraufstand los; nach der Ermordung des deutschen Gesandten von Ketteler in Peking stürmten deutsche, britische, französische, russische, österreichische, italienische sowie japanische und amerikanische Truppen die Metropole Tientsin. Im August wurde Peking eingenommen, Anfang 1901 fielen auch die bis dahin noch von den Freiheitskämpfern kontrollierten Städte Schanhaikwan und Tse-king-wan. Im Verlauf der folgenden Monate wurde die chinesische Regierung so lange unter Druck gesetzt, bis sie sich bereit erklärte, Reparationen in Höhe von 1,3 Milliarden Goldmark und weitere Kriegsentschädigungen in Form von Handelsprivilegien an die Sieger zu leisten.
Kaum war diese Meldung auch in dem oberbayerischen Journal veröffentlicht worden, das der Postbote dreimal wöchentlich auf den Hof der Familie Irlmaier brachte, wurde die westliche Welt durch die Nachricht von einem Attentat in den Vereinigten Staaten erschüttert. „In Buffalo haben sie den amerikanischen Präsidenten William MacKinley erschossen“, las der Scharamer Einödbauer in der zweiten Septemberhälfte aus dem Blatt vor. „Und jetzt ist sein Vize nachgerückt, ein gewisser Theodore Roosevelt.“
„Eine gewalttätige Bande sind sie, die Amis! Gut, dass sie bei uns nichts zu sagen haben“, kommentierte der grauhaarige Austrägler.
Sein Weib nickte, dann wandte die Alte sich dem mittlerweile siebenjährigen Loisl zu, der sein Mittagessen heute ungewöhnlich rasch hinuntergeschlungen hatte und nun unruhig auf der Bank hin und her rutschte. „Was hast du denn vor, weil du gar so aufgekratzt bist?“, wollte sie wissen.
„Es wird wohl daran liegen, dass er mit dem Knecht hinüber nach Siegsdorf zum Hufschmied darf“, ließ sich Anna Irlmaier vom Spülstein her vernehmen. Sie lächelte ihrem Sohn zu. „Also, lauf schon, sonst fährt der Sebastian noch ohne dich los.“
Wenig später rollte das Fuhrwerk vom Hof; an der Deichsel ging der braune Wallach, der frisch beschlagen werden musste. Auf der Ladefläche des Leiterwagens standen ein Dutzend Kornsäcke, die unterwegs in Eisenärzt zur Mühle gebracht werden sollten, und auf dem Bock saßen einträchtig nebeneinander der Knecht und der Bub. Das erste Wegstück bis zum Pfarrdorf Eisenärzt kannte Loisl bereits. Seit einem Jahr marschierte er die drei Kilometer dorthin täglich zur Schule; brach gegen sechs Uhr morgens auf und kehrte, falls der Lehrer ihn nicht nachsitzen ließ, kurz vor dem Mittagsläuten zur Einöde zurück.
An der Mühlenrampe, wo das Getreide abgeladen wurde, packte der Siebenjährige nach Kräften mit an. Anschließend lenkte Sebastian das Gefährt weiter nach Norden, nach ungefähr einer Stunde war der Marktflecken Siegsdorf erreicht. Behäbig lag er am äußersten Rand der Chiemgauer Berge; die gediegenen Anwesen der Ortsbauern und Handwerker sowie mehrere Gastwirtschaften umrahmten den Kirchplatz mit dem großen steinernen Brunnen im Zentrum. Der Leiterwagen rumpelte über das Kopfsteinpflaster und bog hinter der Pfarrkirche in eine Gasse ab, die hinunter zur Traun führte. Einen Steinwurf vom Ufer entfernt stand die Schmiede; der Inhaber war zugleich als Stellmacher tätig und versah soeben das Rad einer hochgebockten Kutsche mit einem neuen Eisenreifen.
„Eine halbe Stunde wird’s noch dauern“, rief er dem Knecht des Bruckthaler-Hofes zu, als dieser sein Fuhrwerk zum Stehen brachte. „Kannst den Braunen inzwischen ausschirren und ihn im Kreis herumführen, dann ist er nachher am Amboss um so frommer.“
Sebastian befolgte den guten Rat; wie bereits während des Aufenthalts bei der Mühle ging ihm der Siebenjährige dabei zur Hand. Nach einer Weile jedoch wurde ihm das Dahintrotten an der Seite des Wallachs zu langweilig. „Du rufst mich schon, gell, wenn’s so weit ist“, warf er dem Knecht hin, dann rannte er davon: auf den Fluss zu, der ein Stück weiter zwischen einzeln stehenden Erlen dahinströmte.
Loisl folgte dabei einem Graben, durch den die Abwässer des Handwerksbetriebes in die Traun geleitet wurden. Kurz vor der Einmündung der Rinne in das größere Gewässer überschattete einer der Bäume den Weg; ein gegabelter Zweig verhedderte sich in der Strickweste des Buben und brach ab. Der Siebenjährige zerrte an dem dünnen Ast, bekam ihn frei und wollte ihn wegwerfen. Als er aber entdeckte, dass die Gabel ungewöhnlich regelmäßig geformt war, besann er sich anders. Er fasste den v-förmigen Spross an beiden Enden, hielt ihn vor sein Gesicht, spähte hindurch und fixierte auf diese Weise ein Entenpaar, das draußen auf dem Fluss schwamm.
Das Spiel faszinierte ihn, und er begann, mit seinen Möglichkeiten zu experimentieren: brachte den Zweig näher an sein Antlitz heran, bewegte ihn dann wieder weg, bis er ihn mit ausgestreckten Armen hielt. Dann, genau in dem Moment, da die Schwimmvögel optisch exakt im Gabelzweig gefangen waren, machte die Rute sich selbständig. Zuerst war es nur ein ganz leichtes Zittern, das über den Bast zu laufen und sich über Loisls Finger und Unterarme fortzusetzen schien. Gleich darauf, als er seine Aufmerksamkeit unwillkürlich darauf konzentrierte, verstärkte sich das Phänomen. Jetzt bebte der dünne Ast richtiggehend; die Spannung, die aus dem Holz hervorbrach, wurde förmlich greifbar – und wiederum ein paar Herzschläge später schnellte der Zweig mit unwiderstehlicher Macht nach oben.
Für einen Augenblick sah es aus, als würde der dunkeläugige Bub mit der gegabelten Rute ringen. Er tat ein paar taumelnde Schritte auf den Fluss zu; ganz so, als zerrte ihn das steil zum Firmament ragende Holz dorthin. Erst als er strauchelte und dadurch aus der Richtung stolperte, löste sich der Bann. Der Erlenzweig senkte sich und hing gleich darauf wieder lose in den Händen Loisls, der nun entgeistert auf ihn starrte.
Die Verblüffung des Siebenjährigen indessen hielt nicht lange an, denn jetzt erinnerte er sich an den Feenstein und die dort wirksamen unsichtbaren Kräfte. Instinktiv brachte der Bub sie mit dem in Verbindung, was ihm soeben hier auf der Uferwiese widerfahren war. Aus dieser Assoziation heraus, die ihm sagte, dass es auch an diesem Ort eine ganz bestimmte Quelle der geheimnisvollen Energie geben müsse, hob er den Gabelzweig erneut, hielt ihn, ebenso wie zuvor, mit ausgestreckten Armen vor sich und drehte sich abermals zur Traun. Tatsächlich begann das Holz wiederum zu zucken und schlug, nachdem Loisl nunmehr fast schon gezielt die präzise Richtung gesucht hatte, jäh himmelwärts.
Diesmal schaffte der Sohn des Scharamer Einödbauern es, die Einzelheiten des seltsamen Geschehens bedeutend bewusster wahrzunehmen. Er stellte fest, dass das Prickeln, welches durch seinen Körper lief, sich tatsächlich mit dem vergleichen ließ, das er vom Menhir her kannte. Außerdem fand er, als er einen dritten Versuch anstellte, eine Eigenheit im Verhalten der Rute heraus: Nur dann, wenn ihre Spitze direkt auf die Stelle zeigte, wo die Enten gründelten, war ihr Drang nach oben unwiderstehlich; drehte er die Fäuste, in denen er die auseinanderstrebenden Enden hielt, nur ein klein wenig nach links oder rechts, ließ die Spannung sofort nach. Und schließlich, nachdem er dies mehrmals ausprobiert hatte, gewann er eine zusätzliche Erkenntnis: Sobald der gegabelte Zweig in seinen Händen wie durch Zauberkraft hochpeitschte, wies sein vorderer Auswuchs nicht nur auf die schwimmenden Vögel, sondern gleichermaßen auf die Mündung des von der Schmiede kommenden Abwassergrabens in den Fluss.
Ein Verdacht stieg in ihm hoch – und bestätigte sich, als der Siebenjährige ein Stück vom Bach weglief und sich dem Rinnsal dann langsam wieder näherte. Zunächst schienen seine Hände lediglich totes Holz zu umklammern, dann aber, etwa fünf Meter vor dem Graben, setzte das Kitzeln und unmittelbar darauf das Vibrieren ein; mit dem nächsten Schritt kam der Ausschlag. Freilich war er diesmal nicht so scharf wie an der vorigen Stelle – woraus Loisl eine weitere Einsicht gewann. Die rätselhafte Kraft musste zwar mit dem Abwassergraben zu tun haben, hing jedoch offensichtlich auch mit der Traun zusammen, denn am stärksten war sie dort, wo beide Gewässer sich vereinigten.
Zwei-, dreimal überprüfte der Bub diese Vermutung: ging mit seinem Erlenzweig ganz gezielt auf die Mündungsstelle zu und spürte das Hochrucken wieder ebenso heftig wie anfangs. Zuletzt, nachdem er eine Weile wie in Trance dagestanden hatte, flüsterte er: „Am Wasser liegt’s! Irgendwo in den Strudeln, wo man sie nicht sehen kann, müssen die Unsichtbaren hausen. Und je mehr Wasser da ist, um so wilder schüttelt es die Rute …“
Ehe er intensiver darüber nachdenken konnte, ließ ihn ein Ruf vom Schmiedeanwesen her aufschrecken: „Beeil dich, Loisl, wenn du sehen willst, wie wir den Braunen beschlagen!“
„Ich komm schon, Sebastian!“, erwiderte der Siebenjährige und rannte los.
Wenig später interessierte ihn nur noch der Wallach, der jetzt mit flach angelegten Ohren vor der Tür zur Werkstätte stand und misstrauisch auf den Amboss und die drinnen fauchende Esse äugte. Der Knecht wies den Buben an: „Stell dich so vor das Ross, dass es dich sehen kann, und dann redest du ihm gut zu.“
Loisl gehorchte, tatsächlich wurde der Braune ruhiger. Nun hob Sebastian mit geschicktem Griff die linke Hinterhand des Tieres auf und zog den zottigen Huf nach oben. Rasch war der Schmied mit der Zange zur Stelle; er entfernte das verbrauchte Eisen und machte sich dann mit Hilfe eines kleinen, krummen Messers daran, das Horn nachzuschneiden. Der Siebenjährige spürte, wie der Wallach sich verkrampfte; er schaffte es aber, ihn durch Streicheln und leise Worte abzulenken. Auch während der Handwerker das neue, noch glühende Hufeisen anpasste und der bittere Geruch aufstieg, machte das Pferd keine Sperenzchen; ebenso blieb es fromm und schnaubte lediglich dann und wann ängstlich, als der Schmied die frischen Nägel einschlug.
„Du stellst dich gar nicht dumm an. Dich könnte ich später einmal als Lehrling gebrauchen“, lobte der Handwerker den Buben, nachdem der Knecht das Bein des erleichtert grohnenden Braunen freigegeben hatte.
„Ja, der Loisl hat eine Hand für die Rösser und die anderen Tiere im Stall“, nickte Sebastian. „Aber als künftiger Bauer auf dem Bruckthaler-Hof muss er schließlich auch mit der vierbeinigen Kreatur umgehen können.“
„So ist’s“, bestätigte der Schmied, dann griff er neuerlich nach der Nagelzange.
Wieder bemühte der Siebenjährige sich, den Wallach so ruhig wie möglich zu halten; nach ungefähr einer Stunde schließlich waren alle vier Eisen aufgebracht. Probeweise wurde der Braune einige Male im Hof auf und ab geführt; nachdem die Männer auf diese Weise festgestellt hatten, dass der neue Beschlag das Pferd nicht behinderte, bezahlte der Knecht des Scharamer Einöders den Handwerker und spannte das Ross wieder vor den Leiterwagen.
Die Sonne stand bereits tief über den Bergen im Westen, als Sebastian und Loisl heimkehrten. Kaum war der Wallach ausgeschirrt, getränkt und gefüttert, erklang von Maria Eck herunter das Vesperläuten. Aus diesem Grund war es dem Buben heute nicht mehr möglich, das auszuführen, was er sich im Stillen wünschte: mit dem gegabelten Zweig, den er mit nach Hause gebracht hatte, zum Feenstein hinaufzulaufen. Doch er nahm sich vor, das Experiment unbedingt gleich morgen nachzuholen.
Tatsächlich wurde wahr, was der Siebenjährige intuitiv erwartet hatte. Sobald er sich dem rissigen Felsblock näherte und eine gewisse Distanz unterschritt, schlug die Erlenrute noch stärker als auf der Uferwiese hinter der Siegsdorfer Schmiede aus. Wäre er durch seine Erfahrung – vor allem mit dem Zaundraht, den er zwei Jahre zuvor bei seinem ersten diesbezüglichen Kontakt mit dem Menhir in der Hand gehalten hatte – nicht vorgewarnt gewesen, hätten die heftigen Vibrationen, die seinen ganzen Körper schüttelten, ihn wohl abermals von den Beinen gefegt. So aber vermochte er die Macht, die im Feenstein verborgen war und jetzt mit nie gekannter Kraft auf den Gabelzweig reagierte, zu bemeistern.
Mehr noch: Bald lernte Loisl, ihre Grenzen genau auszuloten. Es war ein erregendes Abenteuer für ihn, den Felsen wieder und wieder zu umrunden und so den Bannkreis zu bestimmen, den die unsichtbaren Wesen offenbar nicht überschreiten konnten. Wagte er sich dann einmal mehr über die magische Linie, spürte er sofort das feine Kitzeln auf seiner Haut; das Kitzeln, das sich schon einen einzigen Schritt weiter zum erregenden Prickeln steigerte. Und wiederum ein kleines Stück näher zum Menhir schienen gespenstische Fäuste nach dem Holz zu greifen, um seine eben noch waagrecht nach vorne ragende Spitze mit unwiderstehlicher Kraft gen Himmel zu biegen; so vehement, dass der Bub anfangs fürchtete, das Holz könnte zerbrechen. Am seltsamsten freilich war das Phänomen, das sich zeigte, wenn Loisl ganz an den Feenstein herantrat. Dann nämlich hatte er das Gefühl, als ströme etwas Irisierendes aus der vertikal vibrierenden Rute: ein Zauber, der – jetzt unvermittelt völlig schwerelos – bis zum Firmament reichte und ihn ebenfalls emporheben wollte.
So jedenfalls empfand der Siebenjährige es und konnte vielleicht auch deswegen an diesem Nachmittag nicht genug von seinem Spiel bekommen. Erst als wiederum das Vesperläuten vom Turm der nahen Wallfahrtskirche erscholl, kehrte er zum Hof zurück. Auf die Fragen der Erwachsenen, wo er sich so lange herumgetrieben habe, antwortete er ausweichend und blieb für den Rest das Abends in sich gekehrt.
Am folgenden Tag zog er neuerlich los, begnügte sich aber diesmal nicht damit, das Areal um den Menhir zu erkunden, sondern lief mit seinem Erlenzweig kreuz und quer durch die Gegend. Er begann in Maria Eck, wo er an bestimmten Stellen, besonders an der Apsis des Sakralbaues, ebenfalls deutliche Rutenausschläge registrierte. Nicht anders war es im Bergwald jenseits der Wallfahrtskirche; hier entdeckte er mehrere Plätze, die nach außen hin völlig unscheinbar wirkten, den gegabelten Spross jedoch abermals, wenn auch schwächer, zucken ließen. Als Loisl dem Phänomen, das ihm mittlerweile fast schon wie etwas Vertrautes vorkam, weiter nachspürte und sich von der Rute über Stock und Stein führen ließ, stieß er tief im Forst auf eine Quelle. Zwischen Felstrümmern und Farnwedeln sprudelte sie aus der Erde, und der Zweig war heftig hochgeschnellt, noch ehe der Bub den Born tatsächlich erblickt hatte.
„Wieder das Wasser“, murmelte er. Allerdings machte ihm diese Erkenntnis nun einen Widerspruch bewusst, und er setzte nachdenklich hinzu: „Aber wenn es das Wasser ist, warum dreht sich das Holz dann auch beim Feenstein und bei der Kirche?“ Darauf fand er zunächst keine Antwort; schließlich jedoch vermutete er, wie schon an der Traun, die Wesen, die den Zauber verursachten, müssten eben sowohl in Felsen oder besonderen Gebäuden als auch in den Gewässern verborgen sein.
Damit gab er sich zufrieden; in der Nacht nach seiner Entdeckungsreise, als er unruhig in der Dachkammer des Bruckthaler-Anwesens schlief, erschienen ihm die geheimnisvollen Geschöpfe im Traum. Winzig waren sie und strahlten dennoch eine Macht aus, die alles Menschliche übertraf. Obwohl ihre Gesichter und selbst ihre Gestalten im Ungewissen blieben und sie wie hinter feinen Schleiern, Nebelschwaden oder durchscheinenden Kristallen zu vibrieren schienen, war das blendende, sprühende Licht, welches sie wie eine Aura umgab, so intensiv, dass es die Augen schmerzte und der träumende Bub den Blick rasch wieder abwenden musste. Als er die Wesen, nachdem er wie durch einen betäubenden Wirbel getrieben war, von neuem zu schauen versuchte, waren sie verschwunden.
Die Enttäuschung darüber ließ den Siebenjährigen im Schlaf aufstöhnen. Gleich darauf erwachte er und starrte verstört in das Dunkel der Kammer, während die Erinnerung an das, was er gesehen hatte, jetzt in Sekundenschnelle verwich und nichts zurückließ als quälende Leere: das Wissen um eine fast schon greifbar gewesene Einsicht, die ihm nun, wie zum Hohn, wieder verwehrt war.
Als der Sohn des Einödbauern am Nachmittag darauf erneut zum Feenstein lief, erlebte er eine weitere Enttäuschung. Der Erlenzweig, der gestern noch so kraftvoll ausgeschlagen hatte, zeigte diesmal keine Reaktion, obwohl Loisl selbst nach wie vor das Kitzeln und Prickeln auf seiner Haut spürte. Wieder reflektierte der Siebenjährige; dann wurde ihm bewusst, dass der Zweig ausgetrocknet war, und daraus gewann er eine weitere wichtige Erkenntnis. Probeweise nämlich suchte er nach einem frischen Spross, fand ihn in einem Haselgesträuch, das nahe der Wallfahrtskirche wuchs – und erlebte das Phänomen wie zuvor. Nach einigem Nachdenken zog er daraufhin den einzig logischen Schluss und formulierte ihn in Gedanken so: Mit dem toten Holz klappt’s nicht; leben muss es und im Saft stehen …
***
Im Verlauf der folgenden Monate fand der Bub diese Erfahrung vielfach bestätigt. Während der Burenkrieg in Südafrika sich hinzog, bis das Blatt sich erneut zugunsten der holländischen Siedler wendete und es im Mai 1902 zum Friedensschluss mit dem Britischen Empire und zur Errichtung der weitgehend unabhängigen Territorien des Oranje-Freistaates und Transvaals kam, spürte Loisl mit wachsender Faszination den Rutenausschlägen nach. Immer ausufernder zog er seine Kreise um den Einödhof, den Weiler Scharam oder die Wallfahrtskirche Maria Eck und wurde dabei fast regelmäßig fündig. Er entdeckte weitere Steinformationen, wo die geheimnisvollen Kräfte vibrierten; machte tief im Walddickicht Quellen und Rinnsale ausfindig, zu denen sich sonst höchstens einmal ein Jäger verirrte. Nach jedem derartigen Erlebnis empfand er ein tiefes Glücksgefühl; so, als befände er sich in innigem Einklang mit etwas, das er nicht zu benennen vermochte, das ihn aber – ungeachtet alles Rätselhaften – gleich einer zutiefst mütterlichen Ausstrahlung berührte.
Natürlich konnte dieses Tun den Erwachsenen auf dem Bruckthaler-Anwesen nicht verborgen bleiben. Noch im Spätherbst 1901 hatte deswegen am Tisch in der Küchenstube eine Aussprache stattgefunden. Nachdem der Bauer seinen Sprössling zur Rede gestellt und Loisl davon berichtet hatte, wie ihm die besonderen Eigenschaften des Gabelzweiges am Ufer der Traun erstmals bewusst geworden waren, äußerte Anna Irlmaier: „Ein Onkel väterlicherseits von mir, Gott hab ihn selig, hat die seltene Gabe ebenfalls besessen. Seiner Lebtag lang ist er mit der Wünschelrute unterwegs gewesen.“
„Dann sieht es ganz so aus, als hätte unser Bub die Fähigkeit geerbt“, fiel die Großmutter ein. „Es ist von deinem Vatersbruder auf ihn gekommen, und man weiß ja schließlich auch, dass solch ein besonderes Talent, das man mit dem Verstand nicht erklären kann, meistens eine Generation überspringt.“
„Etwas Böses ist auf jeden Fall nicht dran“, nahm nunmehr der grauhaarige Austrägler das Wort. „Ganz im Gegenteil waren diejenigen, die das Muten beherrscht haben, zu allen Zeiten hoch angesehen.“
„Warum?“, wollte der Siebenjährige wissen.
„Weil sie zum Beispiel helfen konnten, wenn auf einem Hof ein Brunnen versiegt war und ein neuer gegraben werden musste“, erklärte sein Vater.
Die Augen des Buben leuchteten auf. „Glaubst du, das könnte ich auch lernen?“
„Vielleicht später einmal“, beschied ihn die Mutter. „Vorerst ist’s wichtiger, dass du in der Schule etwas lernst! Aber wenn du in deiner freien Zeit mit der Wünschelrute herumlaufen willst, haben wir nichts dagegen.“
So war es im Spätherbst 1901 besprochen worden, und in der Folge hatte sich die getroffene Regelung eingespielt. In der Dorfschule von Eisenärzt leistete der aufgeweckte Sohn des Einödbauern mehr als die meisten anderen Kinder; zudem ging er seinem Vater oder dem Knecht nach Kräften bei der Arbeit im Stall und auf den Feldern zur Hand. Doch wann immer seine Zeit es erlaubte, suchte er sich einen Gabelspross, und ließ sich von seinem Instinkt treiben, bis er einmal mehr einen der außergewöhnlichen Plätze ausfindig gemacht hatte, wo der Pflanzenspross plötzlich lebendig zu werden schien.
Das ganze Jahr 1902 und weiter bis zum Hochsommer 1903 ging das so; dann hatte der nunmehr neunjährige Loisl eine Begegnung, die sein künftiges Dasein entscheidend prägen sollte.
Die Hügelkuppe lag eineinhalb Gehstunden von Scharam entfernt auf den Hochfelln zu, doch noch immer ein beträchtliches Stück unterhalb dieses Berggipfels. Der Neunjährige war durch Mischwald aufgestiegen; jetzt befand er sich bereits in der Zone der Nadelbäume, und als er eine nur noch mit Latschenkiefern bewachsene Schneise erreichte, erblickte er jenseits einer kleinen Klamm das seltsam abgeplattete, nach Süden hin leicht ansteigende Plateau, das an einer Stelle in einen jäh aufragenden Felssporn auslief. Aber nicht allein die ungewöhnliche Topographie der Erhebung ließ ihn stutzen; es war vor allem sein Instinkt, der ihm sagte, dass er dort drüben mit der Rute fündig werden könnte.
Wenig später allerdings, nachdem er sich durch die Schlucht gekämpft und die gegenüberliegende Hügelflanke erklettert hatte, erlebte er eine Überraschung völlig anderer Art. Denn im Zentrum der abgeflachten Kuppe stieß er auf Mauerreste: von Ginstergestrüpp und Moos überwucherte Bruchsteingefüge, die offenbar vor sehr langer Zeit das Fundament eines größeren Gebäudes gebildet hatten. Als er das Areal genauer untersuchte, fand er unter Laub und Humus eine langgestreckte schmale Fläche, die noch immer mit Steinplatten belegt war. Ohne Zweifel handelte es sich um einen Flez, wie es ihn auch im Bruckthaler-Anwesen gab; einen Korridor, der sich einstmals durch das ganze Haus gezogen und den Zugang zu den links und rechts liegenden Wohnräumen und Stallgewölben ermöglicht hatte. Seither freilich, Loisl spürte es genau, mussten Jahrhunderte verstrichen sein; viele Menschenalter, in denen der Platz zur Wüstung geworden und die Natur allmählich wieder zu ihrem Recht gekommen war.
„Ein Bauernhof ist das früher gewesen“, murmelte der Bub. „Ein schöner Hof, aber heute erinnert sich wahrscheinlich niemand mehr an ihn …“
Die Vorstellung hatte etwas Erregendes; es war ein Gefühl, als hätte er verbotenes oder verschollenes Land betreten. Und dieses Terrain