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Die »Letzte Generation« löst Beifallsstürme und Spendenfluten aus. Gleichzeitig provoziert sie Selbstjustiz auf blockierten Kreuzungen, drastische Urteile strafwütiger Gerichte und Hetztiraden bis zum Terrorismusvorwurf. Der langjährige Umweltaktivist und engagierte Unterstützer provokanter Aktionen Jörg Bergstedt zeigt in seiner ebenso hellsichtigen wie lustvoll Partei ergreifenden »Analyse goes Streitschrift« die existenzielle Bedeutung solch spektakulärer Maßnahmen für einen positiven gesellschaftlichen Wandel auf. Er verfolgt die historischen Linien solchen Protests bis zurück in die Anfänge unserer Zeitrechnung und liefert einen Abriss der spannendsten provokanten Aktionen der letzten Jahrzehnte. In diesem Zusammenhang beleuchtet er auch die konstante Bedrohung dieser Protestformen durch Stillstand und Ritualisierung und die ambivalente Rolle von Nichtregierungsorganisationen. So vermittelt Bergstedt nicht zuletzt auch das: ein pointiertes Verständnis von provokanten Aktionen als unzureichend anerkannter Kunstform und einem Gestaltungsmittel mit massiver politischer Schlagkraft. Ein unverhohlener Aufruf. Mit zahlreichen Abbildungen und teilweise in Farbe gedruckt
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Seitenzahl: 147
Jörg Bergstedt
Provoziert!
Die Bedeutung provokanter Aktionen für den politischen Protest
ISBN (Print) 978-3-96317-347-9
ISBN (ePDF) 978-3-96317-904-4
ISBN (ePUB) 978-3-96317-905-1
Copyright © 2023 Büchner-Verlag eG, Marburg
Bildnachweis Cover: https://letztegeneration.de
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Inhalt
VorwortKapitel 1: Aktionen, die aufregen – und das auch sollen!Kapitel 2: Ein bisschen Theorie zu politischer EinmischungWer regiert wie und warum?Einen Sturm entfachen: Sei Anstoß zur Veränderung!Kapitel 3: Kritik am eingebetteten ProtestAbhängigkeiten und DrehtüreffekteDetailveränderung im SystemBegleitfolklore des UnabwendbarenUnd dennoch kann das nützlich sein …Kapitel 4: Veränderungswille und unabhängige InterventionIdee und WirkungVarianten und UnterschiedeDas Ziel: Bedingungen verändernUmgang mit Staatsmacht und »anderer Seite«Wie entsteht der nötige Druck?Kapitel 5: Kreative Aktionsmethoden unter der LupeQualitätskriterien für provokante AktionenUnberechenbarkeit und WeiterentwicklungWas fördert Kreativität und Handlungsfähigkeit?Aufhören, bevor es zu Ende istKapitel 6: RechtsfragenPräventiv- und OrdnungsrechtStrafrechtVersammlungsfreiheitSubversiver RechtsgebrauchKreativer UmgangRechtfertigender NotstandGerichte als BühnenDas Recht verändernKapitel 7: RückblickeVerdampt lang her: Provokante Aktion im AltertumSitzenbleiben als Aktionsform: Rosa ParksWas fliegt denn da? Tomaten und Torten42,195 Kilometer gegen das PatriarchatEine Ohrfeige schreibt GeschichteAnti-AtomGentechnikTierrechteHambi bleibt!GrenzenlosDiskriminierung unter der GürtellinieWolf im Schafspelz: Undercover in die Höhlen der LöwenDanniAbseilen und festkleben: Die Hauptschlagadern des Landes stilllegenGeht auch lokal: Verkehrswende in GießenKapitel 8: Das FazitKapitel 9: Blick in die ZukunftZum AutorAuswahl seiner VeröffentlichungenAusgewählte Vorträge des AutorsAusgewählte FilmeEndnoten»Viele Menschen denken, dass ziviler Ungehorsam ein Problem darstellt, weil er Aufruhr verursacht und die Ordnung stört. Wir leben in Zeiten, in denen die Ordnung, die wir haben, falsch und zerstörerisch ist. Sie muss gestört werden, weil sonst Menschen sterben. Weil wir sonst zulassen, dass das System mit seinem Glauben an stetiges Wachstum uns etwas raubt, das unglaublich kostbar und unwiederbringlich ist. Weil sie nicht freiwillig damit aufhören werden. Und weil wir nicht hinnehmen können, dass das System dazu führt, dass die Mehrheit im Namen der Ordnung bestohlen, belogen und unterdrückt wird. Wir müssen es nur endlich auch tun, statt weiter zu hoffen, dass wir unser Recht und unsere Zukunft schon bekommen werden, wenn wir es denen, die jetzt noch an der Macht sind, nur recht machen. Der zivile Gehorsam ist das Problem, nicht der zivile Ungehorsam. Lasst uns handeln, statt zu hoffen.«1
Die Gruppe war ziemlich neu, eroberte aber im Herbst 2022 schnell die Schlagzeilen. Die »Letzte Generation« löste Beifallsstürme und Spendenfluten aus, provozierte gleichzeitig Selbstjustiz auf blockierten Kreuzungen, drastische Urteile strafwütiger Gerichte und Hetztiraden bis zum Terrorismusvorwurf durch diejenigen, die von der Naturzerstörung profitieren und ihre Privilegien nicht aufgeben wollen. Wie immer machten sich Analyst*innen jeglicher Zunft daran, das Phänomen und die Reaktionen zu erklären. In Kommentaren, Vorträgen und anderen Beiträgen förderten sie viele brauchbare und ähnlich viele absurde Erklärungsversuche zutage. Immer aber blieb eine Leerstelle: Medien und Forschung betrachten gesellschaftliche Phänomene erst ab dem Zeitpunkt, ab dem sie eine gewisse Größe beziehungsweise Sichtbarkeit erreichen. Doch die spannendste Phase jeglicher politischer Intervention liegt davor. Castor-Blockaden, Haus-, Feld- und Waldbesetzungen, der Busboykott gegen die Apartheid, Tortenwürfe, das Ende des § 219a – sie alle haben irgendwann und irgendwo begonnen. Die Kampagnen wurden wirksam, weil Wenige, manchmal sogar Einzelne einen Entschluss fassten und dann ihre Idee und ihr Thema entweder sehr zielgerichtet aus dem Nichts in die öffentliche Wahrnehmung brachten oder schlicht Glück hatten, zur richtigen Zeit am richtigen Ort entdeckt zu werden von denen, die aus der Mücke dann den Elefanten machten.
Geschichtsschreibung ist eine Form der Herrschaftsausübung. Die daran beteiligten Player stellen Abläufe und Wichtigkeiten dar, wie es ihnen nützlich erscheint oder zu ideologischen Vorprägungen passt. So überhöhten große NGOs2 ihre Beiträge zu den Kämpfen um den Hambacher oder Dannenröder Wald, gegen Atomkraft oder Gentechnik, um neue Mitglieder und Spenden einzuwerben. Parteien nutzen erfolgreiche Aktionen für Wahlkampfzwecke. Und viele Journalist*innen, Buchautor*innen und Historiker*innen beginnen ihre Rückblicke mit den ersten großen Aktionen, die eine breite Öffentlichkeit erreichten.
Dieses Buch habe ich aus einer anderen Perspektive geschrieben. Ich nehme sie ein, weil ich dabei war – und zwar sehr oft von Beginn an. Ich kenne die Momente, die Euphorie, Ängste und die Zweifel der Vorbereitung. Ich war Teil der oft sehr zähen Anfänge, die immer wieder neue Impulse, Ideen für Aktionen und Versuche erforderten, bis der Durchbruch in die breite Öffentlichkeit gelang. Ich habe die Niedergeschlagenheit erlebt, solange das nicht klappte. Als die Tage, Wochen oder Monate lang und länger wurden, der Frost in die Baumhäuser oder der Frust in die Gruppendialoge kroch. Manche Kampagnen sind erfolglos einfach sanft entschlummert, haben nie den Sprung in eine breite Wahrnehmung und daher auch nicht in irgendeine Geschichtsschreibung geschafft.
Viele fehlen auch in diesem Buch, weil ich eine andere Lücke füllen will, die in den meisten Darstellungen fehlt: Wie gelangen die Anfänge? Was zeichnet erfolgreiche Aktionen aus, die Themen anstoßen oder gesellschaftliche Auseinandersetzungen auf ein neues Niveau heben? Mein Ziel ist dabei mindestens ein Doppeltes: Zum einen sollen die bisherigen Analysen und Rückblicke ergänzt oder zum Teil auch korrigiert werden – und zwar dort, wo die Leistung der großen und prominenten Player überhöht wurde, die Betrachtung mitunter sogar ganz auf sie reduziert wird. Denn der größte Zauber liegt in den Strategien, mit wenigen Menschen die Startpunkte zu setzen. Dass das oft gelingt, führt dann zum zweiten Anliegen des Buches: Mut zu machen, dass die Handlungsstärke der Einzelnen viel höher ist, als viele denken und große Player im Werben um Spenden und Mitglieder oft weiszumachen versuchen. Es können ein, zwei oder auch drei Menschen reichen, um an einem Ort mit der richtigen Wahl der Mittel etwas zu verändern: Themen zu setzen, Debatten zu starten, Veränderungen zu bewirken.
Ich berichte und bewerte in diesem Buch aus der Binnensicht des Teilnehmenden. Es ist daher auch eine sehr deutsche oder zumindest mitteleuropäische Sicht. Ich kenne die Anfänge, die Enttäuschungen und die Freude, das ständige Ringen nach neuen Ideen und das Entwickeln von Aktionsmethoden und Strategien hierzulande. Niveauvolle Aktionen basierten stets auf einer genauen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, kalkulierten die Reaktionen von Staat, Firmen und möglichen Gegenparteien ein und gestalteten aus all dem das, was dann den Durchbruch in der öffentlichen Wahrnehmung schuf. Daher bin ich überzeugt: Das wichtigste Know-how und gleichzeitig die spannendste politische Praxis ist die Kunst, etwas zu beginnen und dann groß und wirkmächtig zu machen. Es braucht mehr »Aktionskünstler*innen«, die sich diese Fähigkeiten aneignen und in die Gesellschaft einbringen. Möge dieses Buch den Mut zu und das Niveau von Aktionen heben, damit der wahrscheinlich vielen bekannte Satz umgeschrieben werde zu:
Viele kleine Leute, die an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun und groß werden lassen, können das Gesicht der Welt verändern.3
Saasen, im Frühjahr 2023
Jörg Bergstedt, verfasst in der Projektwerkstatt, https://provoziert.siehe.website
Plötzlich waren sie da: Viele junge Menschen, aber auch einige ältere. Die meisten von ihnen mit guter Ausbildung, zum Teil Doktor- oder sogar Professorentiteln – oder auf dem Weg dorthin. Erst saßen sie nur auf Straßen: Abfahrten von Autobahnen, eigentlich harmlos. Die Polizei hätte sie da sitzenlassen können, den Verkehr umleiten. Es wäre kaum aufgefallen. Jede Demo behindert irgendwo den Verkehr, weil es kaum noch öffentliche Flächen gibt, die nicht vom Automobil dominiert sind. Wer öffentlich agieren will, bremst also fast immer irgendwo den Verkehrsfluss. Eigentlich Alltag, aber diesmal eben nicht. Die Polizei räumte, verhaftete. Die Aktivist*innen rückten mit ihren Aktionen den Autobahnen näher, saßen schließlich auf diesen – und klebten sich fest. Jetzt lief ein Fass über. Nach Jahrzehnten der in Deutschland und umgebenden Staaten sonst üblichen eher harmlosen, ritualisiert wirkenden Protestformen für Lohnerhöhungen, gegen Sozialabbau, Abschiebungen oder Umweltzerstörung begriffen immer mehr Menschen, dass mit solcher Begleitfolklore des Unabwendbaren nicht einmal kleine Teile von dem erreicht werden konnten, was das Ziel war. Beflügelt vom überraschend schnellen Erfolg des Widerstands gegen die Agrogentechnik4 besetzten zunehmend mehr Menschen auch Baustellen von Tierfabriken, Wälder gegen Kohleabbau, dann die Bagger selbst, strömten schließlich zu Tausenden in Tagebaue oder radelten auf Autobahnen. Als im Oktober 2018 die Polizei den Hambacher Forst räumte, hatte die Bewegung eine Stärke erreicht, die diejenigen zu nerven begann, die in den Jahren der relativen Ruhe Arbeits- und Bürger*innenrechte abbauten, sozialen Kahlschlag verübten und die eigenen Profite ins völlig Maßlose erhöhten. Corona verschaffte ihnen eine gewisse Atempause, nur die Besetzung im Dannenröder Wald trotzte den Einschränkungen und dem Drehen an der Verbotsschraube für Versammlungen. Mit sehr fantasievollen Konzepten für den Gesundheitsschutz konnte dort jedoch ein spektakuläres Format aufrechterhalten werden. Zusammen mit den parallel zur Räumung stattfindenden Abseilaktionen5 sorgte es für einen Aufreger, der den später folgenden Anklebeaktionen sehr ähnlich war. In ihnen kann man daher den Anpfiff für den Angriff auf die Hauptschlagadern des kapitalistischen Wirtschaftsbetriebs und seines ebenso fatalen wie rücksichtslosen »Weiter so!« sehen. Seitdem sind Autobahnen – bisher weitgehend Tabuzonen des politischen Protests – zum Hauptschauplatz politischer Auseinandersetzungen geworden.6
Das auf Massenverkehr angewiesene und von ihm lebende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem reagierte schnell und hart: Schon am 26.10.2021 schickte es eine Reihe von Aktivist*innen für mehrere Wochen ins Gefängnis, die während der Räumung des »Danni« an Seilen über Autobahnen rund um den Frankfurter Flughafen schwebend für Klimaschutz, eine Verkehrswende und gegen den Neubau der Autobahn A49 protestierten.7 Zwar gelang es der Szene von Autobahnabseiler*innen mit einer geschickten Strategie, ihre Aktionsform per Verwaltungsklagen als Versammlungsform zu legalisieren8 und damit derartige, faktisch standgerichtliche Eskalationen zu verhindern. Als dann aber die Gruppe »Letzte Generation«9 mit der abgewandelten Form des Anklebens eine sehr ähnliche Strategie zum Massenphänomen machte, war es mit jeglicher Zurückhaltung vorbei. Aus dem eher moralisch als politisch argumentierenden Haufen gut situierter Bildungsbürger*innen und ihrem Nachwuchs, die nach konsequenterem Regierungshandeln geradezu bettelten und in ihren Forderungen irritierend zurückhaltend waren, wurde in den Augen heiß laufender Regierungsmitglieder und Massenmedien wahlweise eine Terrorbande, eine kriminelle Vereinigung oder – eher taktisch formuliert – eine Rufschädigung der in deren Augen guten, nämlich harmlosen politischen Akteur*innen. Sie verhängten einerseits, wo dies ging, wochenlangen Unterbindungsgewahrsam10 und forderten hohe Strafen,11 und appellierten andererseits an politische Gruppen, zu zurückhaltenderen Aktionsformen zurückzukehren. Einen Höhepunkt setzte der wichtigste Jurist des Landes, der als Verfasser des wichtigsten Strafrechtskommentars12 die Auslegung von Gesetzen durch die Gerichte erheblich und sehr direkt beeinflusst, als er prügelnde Selbstjustiz durch betroffene Autofahrer*innen für gerechtfertigt hielt und deren Straflosigkeit propagierte.13
So bitter viele dieser Reaktionen für diejenigen sind, die mit ihren Aktionen zumindest ihre Karriere und ihre Freiheit riskieren, so scheint in der Ablehnung dennoch das auf, was das Ziel der Aktionen ist: die Gleichgültigkeit durchbrechen und die handelnden Eliten im politischen, wirtschaftlichen und medialen Raum zu einer Auseinandersetzung mit dem zwingen, was hinter der Intervention in den öffentlichen Raum steht. Doch ist das für die Sache tatsächlich produktiv? Und notwendig?
Dieses Buch geht genau diesen Fragen nach: Braucht politischer Protest die direkte Aktion, ein provokantes, Aufmerksamkeit erzeugendes Eingreifen in die gesellschaftlichen Abläufe, um relevante Wirkung zu erzielen? Was wären die Atomproteste ohne Schienenblockaden und Bauplatzbesetzungen? Was der Widerstand gegen die Agrogentechnik ohne Feldbefreiungen und -besetzungen? Wo ständen wir in der Kohleausstiegsdebatte, wenn es die Besetzung des Hambacher Forstes und der Bagger nicht gegeben hätte? In der Geschichtsschreibung ist die Antwort klar, denn oft bleibt die Erinnerung am Ende nur an solch spektakulären Höhepunkten hängen. Das überhöht zwar die direkte, kreative Aktion, die ihre volle Wirkung auch erst in der Vielfalt unterschiedlicher Vorgehensweisen entfaltet. Doch scheint sich eines immer wieder zu bestätigen: Ohne die provokante Aktion sind Kampagnen und Proteste regelmäßig erfolglos, weil sie nicht einmal den Level der breiten Wahrnehmung erreichen. Stimmt also der Satz:
»Direkte Aktion ist nicht alles, aber ohne kreative, provokante Protestformen ist alles nichts«?
Die Bedeutung provokanter Aktionen kann nicht beurteilt werden ohne einen analytischen Blick auf das politische Geschehen und die Art, wie politische Veränderungsprozesse angestoßen werden und verlaufen. Grundsätzlich weisen alle herrschaftsförmigen sozialen Gebilde – seien es Institutionen, Vereine, Firmen oder Staaten – eine starke Tendenz auf, den Status quo zu erhalten und gegenüber Veränderungen zu verteidigen. Zwar sind Modernisierungen möglich und oft sogar im Interesse derer, die vom Status quo profitieren, aber sie stellen in der Regel nicht die grundsätzlichen Verhältnisse infrage. Dieser strukturelle Konservativismus ist herrschaftstheoretisch einfach zu erklären. Denn zum einen erfordern Veränderungen in komplexen sozialen Gefügen viel Zeit und Kraft. Zum anderen ist selbsterklärend, dass die jeweils herrschenden Verhältnisse vor allem von denen geprägt werden, die Nutznießer*innen ihrer Regeln und Strukturen sind – sei es in Form von Profiten, Macht und/oder Privilegien.
In Diktaturen und Oligarchien bilden recht einheitliche Kreise die Schicht der Profiteure. In Demokratien entsteht hingegen eine plurale Oberschicht, in der es immer wieder zu Antagonismen, also unterschiedlichen Interessen und politischen Zielen kommt. In Rechtsstaaten wirkt dabei das hohe Gewicht von Gesetzen und anderen formalen Regeln als Besonderheit. Sie begrenzen zunächst die Willkürlichkeit der Machtausübung. Diese kann sich in der praktischen Ausführung der Regeln allerdings wieder ausdehnen, da jedes Recht die praktische Auslegung erfordert – und für die gibt es nur sehr ungenaue Vorgaben. Nachteilig am System des Rechtsstaates ist seine Schwerfälligkeit. Viele Gesetze, die heute noch gelten, stammen aus dem Kaiserreich und der Nazizeit – auch und gerade im Strafrecht. Das führt zu dem benannten strukturellen Konservativismus. In ihrer Gesamtheit reagiert die Gesellschaft sehr verzögert auf äußere Notwendigkeiten und bremst damit oft neue Ideen aus.
Das ist doch ganz klar: die Regierung. Die ist doch dafür gewählt. Oder? Leider nein – so einfach ist es nicht. Es gehört zum Wesen der Macht, im sozialen Gefüge der Gesellschaft oder ihrer Subräume zu diffundieren,14 sich hier und dort zu massieren, an anderen Stellen abzuschwächen, neue Erscheinungsformen zu gebären und immer, wenn es nötig oder nützlich wird, ins Gewaltförmige zu mutieren. Herrschaft auf die Existenz und das Wirken einzelner Personen an den Schalthebeln zu reduzieren, ist eine häufige, aber arge Vereinfachung. Zwar sind es stets konkrete Personen, die als Funktionseliten15 mit privilegierten Handlungsmöglichkeiten das Geschehen wesentlich dominieren, aber diese können abgewählt, gefeuert oder ermordet werden, ohne dass sich große Veränderungen ergeben. Es scheint also zumindest nicht nur an den konkreten Personen zu liegen. Eher wirkt es so, als wären alle Menschen weitgehend austauschbar. Offenbar sind sie durch den sozialen Druck und die Beziehungssysteme, in denen sie sich bewegen, quasi genötigt, ihre jeweilige Rolle auszufüllen und das zu tun, was von ihnen an dieser Stelle erwartet wird. Insofern sind viele der Erklärungsmodelle, die Anhänger*innen vereinfachter Welterklärungen16 gerne verbreiten, schon mal obsolet. Weder Bill Gates noch George Soros beherrschen die Welt nach ihrem persönlichen Gusto. Auch Freimaurer, Grüne, CDU oder Monsanto agieren nicht im luftleeren Raum, sondern sind Getriebene bestimmter Interessen oder gesellschaftlicher Stimmungen. Nicht einmal die Linken oder die AfD können also das verwirklichen, was in ihren Programmen zu lesen ist. Erstere haben das in ihren Regierungsbeteiligungen bereits nachdrücklich bewiesen, indem sie sich bis zur Unkenntlichkeit an alles anpassten, was auch von anderen Parteien erwartet worden wäre.
Zu den Funktionseliten gehören alle, die formale Macht besitzen. Sie besetzen Ämter, die aufgrund formaler Regelungen mehr Durchsetzungskraft verleihen als andere. Das gilt für Richter*innen gegenüber Angeklagten, für die Polizei gegenüber den von ihnen kontrollierten Personen und für Dienstvorgesetzte gegenüber ihren Untergebenen, ebenso für Eltern gegenüber ihren Kindern, Schulämter gegenüber Direktor*innen, Direktor*innen gegenüber Lehrer*innen, Lehrer*innen gegenüber Schüler*innen und Vereinsvorsitzende gegenüber den Vereinsmitgliedern. Als Besitzer*in oder Chefredakteur*in in den Medien bestimmen sie die Wahrnehmung von Geschehnissen.
Ebenfalls zu den Funktionseliten sind all diejenigen zu rechnen, deren besondere Macht auf ökonomischen Verhältnissen beruht. Sie können sich mit Geld die Arbeitskraft, den Körper oder den Besitz anderer aneignen, die sich im Kampf ums Überleben auf diese Weise verkaufen müssen. Sie können auf ihren Grundstücken Hausrecht ausüben oder mit ihren Produktionsmitteln Gewinne erwirtschaften (lassen), was anderen nicht möglich ist. Mit Anzeigenaufträgen nehmen sie Einfluss auf die Inhalte in Medien. Sie schränken damit die Allmacht der Inhaber*innen formaler Privilegien in Redaktionen und Verlagsleitungen ein – ein mitunter durchaus angespanntes Verhältnis bis zu offener Konkurrenz.
Die Deutungseliten17 als zweite große Gruppe der herrschenden Sphären einer Gesellschaft bestimmen die Sprach- und Denkkulturen – in der philosophischen Debatte auch als Diskurse18 bezeichnet. Sie haben privilegierte Möglichkeiten, Themen bekannt zu machen und Geschehnisse in einer bestimmten Interpretation darzustellen. Ein prägnantes Beispiel sind Redakteur*innen in Medien, Talkmaster in beliebten Fernsehshows oder Nachrichtensendungen wie Heute und Tagesschau